Kiss the Dragon: Wenn Liebe zum Vermächtnis wird
Von May Sparkle
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Über dieses E-Book
Fantasy Gay Romance für Frauen.
Archäologie war für die Studentin Zoe bis jetzt bloße Theorie. Unerwartet wird sie auserwählt, ihre Professorin Milena auf eine Ausgrabungsstätte nach Kreta zu begleiten.
Gemeinsam begeben sich die beiden Frauen auf eine mystische Entdeckungsreise, die sie zu ihrem wahren Schicksal führt. Denn auf den Spuren der mächtigen Drachenkrieger, die einst in Griechenland den Göttern gedient haben sollen, begegnen sie nicht bloß einigen angestaubten Funden, sondern einer zu Fleisch gewordenen Kriegerin aus längst vergangenen Zeiten, die ihr (Liebes)leben auf den Kopf stellt.
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Buchvorschau
Kiss the Dragon - May Sparkle
1. Glaube
„Draconis Imperialis. Der Legende nach die vorherrschende Spezies der Königsgarde, erklärte Milena ihren Studenten. „Meiner Schätzung nach, ließ sich das griechische Götterreich Siebenhundert vor Christus von übermenschlichen Kriegern beschützen.
Sie klickte auf die kleine Fernbedienung. Das Bild eines mächtigen Drachen prangte auf der Leinwand.
„Ähm, entschuldigen Sie", murmelte eine Studentin aus der ersten Reihe, die vorsichtig ihre Hand hob. Es handelte sich um Zoe. Eine ihrer besten Studentinnen.
„Ja, bitte?", forderte Milena sie auf, ihre Frage zu stellen.
„Aber in den Geschichtsbüchern steht über diese Königsgarde gar nichts geschrieben. Kein einziges Wort."
Milena schmunzelte triumphal. „Das ist vollkommen richtig, Sie haben recht. Denn was ich Ihnen heute präsentiere, sind die Ergebnisse meiner jahrelangen Arbeit als Archäologin. Ich forsche nun schon seit über einem Jahrzehnt daran, einen Beweis für die Existenz der Drachengarde zu finden. Eigentlich wollte ich mit der Bekanntgabe meines erfolgreichen Fundes bis zum Ende der Vorlesung warten, aber da es hier sehr ungeduldige Studenten zu geben scheint, weihe ich Sie sofort in meinen Plan ein."
Milena warf der angespannt dreinblickenden Studentin einen herausfordernden Blick zu. „Direkt im Anschluss an diese Vorlesung mache ich mich auf den Weg zu einer neuen Ausgrabungsstätte, die ich höchstpersönlich leiten werde. Ich biete einem meiner besten Studenten an, gemeinsam mit mir an der Ausgrabungsstätte zu arbeiten und das Geheimnis der Draconis Imperialis durch unseren Fund der Welt zu offenbaren."
Zoe schluckte schwer, ihre Finger zitterten vor Anspannung. „Und wie werden Sie sich für einen Studenten entscheiden?"
Milena schloss die Augen, balancierte auf ihren Zehenspitzen und vollführte eine geschmeidige Drehung. Sie hob ihren filigranen Zeigefinger und deutete wahllos in die Menge der erstarrten Studenten. Dann öffnete sie ihre Augenlider. „So wie es aussieht, zeigt das Rad des Schicksals geradewegs auf Sie, Zoe."
Die Studentin mit der Milena das Gespräch führte, erschrak.
„Ich soll Sie begleiten?"
„Betrachten Sie diese Mission als ihr persönliches Los in die Welt der Archäologie, meine Liebe."
Zoe blickte Milena an, als suche sie in ihrem Gesicht nach einem Anker, an dem sie sich festhalten konnte. „Meinen Sie ... also, sofort?"
„Nein, nein, beschwichtigte Milena ihre Studentin, „Sie haben eine Woche Zeit, um mir zu folgen. Was sagen Sie? Nehmen Sie die Herausforderung an, die mächtigste Königsgarde in der Geschichte Griechenlands zu erforschen?
„Ja ... natürlich", murmelte Zoe unsicher.
Milena schüttelte den Kopf. „Wie bitte?" Der Studentin mangelte es offensichtlich an Selbstbewusstsein. Das würde Milena ihr an Ort und Stelle austreiben.
„Ja, ich begleite Sie", sagte Zoe nun etwas lauter.
„Wunderbar, dann sehe ich Sie nach der Vorlesung", schloss Milena die Diskussion ab und wandte sich wieder an den gesamten Vorlesungssaal, ohne die auserwählte Studentin nochmals direkt anzusehen.
Sie predigte weiterhin über ihre Forschung und berichtete über ihre jahrelange Suche nach den Draconis Imperialis, der wahrscheinlich mächtigsten Rasse der Vorzeit, deren Existenz bis vor Kurzem ein gut behütetes Geheimnis war. Doch Milena hatte es endlich aufgedeckt. Die letzte Ausgrabung, die sie in Griechenland geleitet hatte, brachte erstaunliche Funde zum Vorschein. Sie grub schon seit langem nach einem Beweis und dieses Mal hatte sie ihn tatsächlich gefunden. Sie schilderte ihr Erlebnis den Studenten, die allesamt an ihren Lippen hingen.
„Während der Ausgrabung schimmerte der Himmel für den Bruchteil einer Sekunde smaragdgrün und die Sonne verfinsterte sich für einen kurzen Moment, als ich meine Hand nach dem verborgenliegenden Schatz ausstreckte. Milena übertrieb natürlich maßlos. Sie liebte es, ihre Klasse zu foppen. Ein weiterer Klick auf die Fernbedienung folgte und zeigte ein Bild einer Ansammlung von wirr aussehenden Lederriemen. „Dieses Gewand konnten wir wohlbehalten freilegen
, erklärte sie den Studenten, während sie auf die Abbildung in ihrer Präsentation deutete. „Ich weiß, auf den ersten Anblick erscheint der Fund wie eine konfus verknotete Ansammlung alter Gürtel. Aber beim genaueren Hinsehen ... Milena klickte erneut und zeigte eine Vergrößerung des knappen Gewandens. „Wie Sie sehen, trug die Königsgarde die Kleidung von Amazonen. Mein Team und ich nehmen an, dass es sich eventuell um einen, uns bis dato unbekannten Kriegerstamm handeln könnte. Diese Lederkluft bedeckte lediglich die wichtigsten Stellen des Körpers. Durch das geringe Gewicht der Montur entstanden wichtige Vorteile im Kampf. Bewegungsfreiheit zum Beispiel.
„Aber ..."
Milena sah in die Runde. Erneut war es Zoe, die ihren Vortrag störte.
„Ja?"
Zoe kiefelte an ihrer Unterlippe. Sie schluckte, fand aber doch kurz darauf ihre Stimme. „Aber, ist es nicht unwahrscheinlich, dass diese Kriegerrasse ihren Körper dermaßen wenig Schutz gab? Ich meine ... diese Lederriemen ... sie geben null Sicherheit."
Milena nickte. Weshalb sie vermutete, dass die Königsgarde keinerlei Schutz brauchte, wollte sie jedoch nicht vor der gesamten Klasse verraten. Deshalb deutete sie auf einen weiteren Studenten, der seine Hand erhoben hatte.
„Was erwarten Sie, bei der nächsten Ausgrabung zu finden?", fragte der Student, dessen Namen sie nicht kannte. Sie deutete Zoe, ihr Gespräch später fortzusetzen, und widmete sich der Beantwortung der anderen Frage.
„Dieses Mal führt mich die Reise nach Kreta. Durch die Ausgrabungen in Thessaloniki konnte ich Spuren auf die umliegenden Inseln Griechenlands nachverfolgen. Denn so wie es aussieht, schlug dieser Stamm seine Wurzeln bereits Sechstausend vor Christus auf Kreta. Stellen Sie sich das vor. Wie Sie daraus schließen können, hat dieser Stamm schon sehr weit vor der Gründung der Königsgarde existiert. Sie wurden also nicht als Krieger in diese Welt geboren, sondern dazu gemacht. Eine höchst spannende Erkenntnis, finden Sie nicht? Ich erhoffe mir von der vor mir liegenden Ausgrabung, einen endgültigen Beweis für die Existenz der Draconis Imperialis zu finden. Einen unwiderlegbaren Beweis, um genau zu sein, der gleichzeitig die Macht dieser überaus beeindruckenden Spezies aufzeigt. Denn bis jetzt baue ich lediglich Wolkenschlösser, die immer wieder zu Staub zerfallen, müssen Sie wissen. Meine Kollegen nehmen mich aktuell nicht gerade ernst. Aufgrund ihrer letzten Worte sah sie verlegen auf die Uhr. Die Zeit verlief wie immer auf Hochtouren, wenn sie vor ihren Studenten sprach. „Unsere Zeit ist leider um, ich breche an dieser Stelle ab und danke Ihnen fürs Zuhören. Weitere Berichte erhalten Sie in der nächsten gemeinsamen Vorlesung, nachdem ich gefunden habe, wonach ich suche.
Selten aber doch geschah es, dass sich ihre Studenten erhoben und Applaus auf Milena niederregnen ließen. So auch heute. Sichtlich beeindruckt von ihrem Forscherdrang, wie sie um jeden Preis versuchte, ihre Theorie über die Königsgarde aus längst vergangener Zeit zu beweisen, klatschten sie zum Abschied auf ihre Tische. Doch längst nicht jedem erging es wie ihren fleißigen Studenten. Kollegen, unter anderem ihr eigener Vater, ebenfalls Archäologe, hielt ihre Mutmaßungen für puren Schwachsinn. Er behauptete, sie hätte sich in ein Hirngespinst verrannt, dem nun ihre Karriere demnächst komplett zum Opfer fallen würde. Immerhin hatte man sie bereits an einen Lehrstuhl gebunden, den sie gar nicht haben wollte. Doch Milena wusste, dass sie recht behalten würde. Sie würde ihrem Vater und der restlichen Welt beweisen, dass sie keineswegs falsch lag. Und das würde ihr mit der Hilfe ihrer besten Studentin gelingen. Natürlich hatte sie ihre Begleiterin nicht durch reine Willkür ausgewählt. Milena wusste genau, auf wen ihr Finger zeigen würde. Denn Zoe hatte sich bereits letztes Semester durch ihr Talent und ihren Wissensdurst hervorgehoben, als Milena die halbstarke Klasse ihres Vorgängers übernahm.
Sie unterrichtete noch nicht lange, nicht einmal ganz ein Jahr. Doch ihre Studenten vergötterten sie bereits innerhalb weniger Vorlesungen. Jedenfalls durchwegs die männlichen, wobei sie sich für deren Beifall kaum interessierte. Gerade ihre beste Studentin schien nicht völlig von Milena überzeugt zu sein. Ständig warf sie Kritik ein, sobald Milena von neuen Funden berichtete. Zoe verhielt sich in ihrer Gegenwart zwar stets zurückhaltend, als hätte sie etwas zu verbergen. Als wolle sie Milena nicht die Wahrheit spüren lassen, wie Zoe über sie dachte. Doch nun bekam Milena die einmalige Chance, Zoe bei dieser Ausgrabung zu beweisen, was sie alles erreichen konnte, wenn sie an Milenas Seite stand. Zoe würde sie nach der Zeit in Kreta niemals wieder dermaßen zweifelnd ansehen. Dessen war sich Milena sicher.
„Entschuldigung", murmelte Zoe wie aufs Stichwort in Milenas Rücken. Milena wandte sich ohne zu zögern zu ihr um. Ihre schokoladenbraunen Korkenzieherlocken sprangen bei der Drehung förmlich durch den Raum. Leider erwischte sie Zoe mit ihrer Haarpracht mitten im Gesicht.
„Oh, Verzeihung", sagte Milena mit vorgehaltener Hand. Selten war ihr etwas peinlich. Doch jetzt gerade würde sie am Liebsten im Boden versinken.
Zoe hielt die Augen geschlossen und zog eine verkniffene Grimasse. „Nichts passiert, nuschelte sie und unterdrückte ein Niesen. „Sie haben wirklich schönes Haar.
Zoe hielt sich hastig eine Hand vor den Mund. „Entschuldigung, ich wollte nicht aufdringlich wirken."Nun standen sie sich beide mit vorgehaltener Hand gegenüber.
Milena konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Na, immerhin wissen Sie jetzt schon, wie meine Haare schmecken, lachte sie auf und ihre Locken hüpften auf ihren Schulter auf und ab. „Glauben Sie mir, das wird bei der Ausgrabungsstätte sicherlich des Öfteren passieren.
Zoe riss ungläubig die Augen auf. „Wegen dem Wind", erklärte Milena schnell, bevor ihre Studentin noch dachte, sie wäre verrückt.
„Oh, entkam es Zoe, „kein Problem. Verzeihen Sie.
„Sind Sie ein schüchterner Mensch?, fragte Milena ganz offen. „Denn Sie dürfen bei unserer Suche nicht so kurz angebunden sein, Zoe. Und bitte entschuldigen Sie sich nicht ständig. Wir werden gemeinsam im Dreck wühlen, da ist nicht viel Platz für Höflichkeiten.
Milena kramte in ihrer Tasche und überreichte Zoe ein Stück Papier. Doch die Studentin kam nicht auf die Idee, danach zu greifen. „Das Flugticket. Dann streckte sie ihr die leere Hand auffordernd entgegen. „Ich heiße übrigens Milena. Wir werden uns ab sofort die höfliche Anrede verkneifen. Denn nun sind wir gleichgestellte Kolleginnen, die -wie bereits erwähnt- demnächst gemeinsam im Dreck nach uralten Schätzen wühlen werden.
Zoe grabschte nach dem Ticket und griff nach Milenas Hand. Ihr entwischte ein Lächeln. Das erste, seit sie Milenas Vorlesung besuchte. Dieses Mädchen schien selten glücklich zu sein. Das war Milena bis heute noch gar nicht richtig aufgefallen. Doch jetzt, wo sie Zoe mit dem Lächeln im Gesicht direkt vor sich sah, wurde ihr diese eigentlich unübersehbare Tatsache bewusst. Zoe zog meist eine ernste Miene.
„Dann freue ich mich auf unsere gemeinsame Ausgrabung, Milena. Und ich verspreche ... etwas offener zu sein", sagte Zoe mit stolz erhobenem Kinn. Doch die Hand, die Zoe ihr zur Besiegelung reichte, zitterte wie Espenlaub.
„Nur zu, Zoe. Du bist eine wirklich intelligente und wunderschöne Frau, die eine große Zukunft vor sich hat. Ein wenig Selbstbewusstsein steht dir sicherlich ausgezeichnet. Milena hielt inne. Hatte sie ihrer Studentin gerade ernsthaft gesagt, sie sei wunderschön? Sie klopfte Zoe in väterlicher Manier auf die Schulter, um ihre eigene Verlegenheit zu überspielen. „Wir sehen uns dann in Griechenland
, schloss sie ihre Ansprache.
Zoe nickte, lächelte kaum merklich und trottete mit dem Ticket in der Hand davon.
Ließ dieses Mädchen ständig den Kopf dermaßen hängen? Milena wurde schmerzlich bewusst, dass sie ihre Studenten meist nicht richtig wahrnahm. Sie saßen in den Bänken vor ihr, aufgereiht wie Sardinen in einem viel zu engen Glas, und verschwammen meist zu einem formlosen Einheitsbrei. Selten nahm sie ein Gesicht, gar die dazugehörige Körperhaltung wahr. Wenn einer ihrer Studenten depressiv wäre, würde Milena diese Tatsache mit Sicherheit entgehen. Sie nahm sich vor, ab sofort aufmerksamer zu sein, wenn sie von der Ausgrabung zurückkam. Im Unterrichten war sie noch eine blutige Anfängerin und mit zwischenmenschlichem Kontakt hatte sie generell ihre kleinen Problemchen. Milena galt als direkter Mensch, der Smalltalk keineswegs in irgendeiner Form beherrschte. Nicht nur, dass sie keine Lust darauf hatte, über das Wetter zu sprechen. Sie konnte es schlicht und einfach nicht. Die hohlen Phrasen klangen aus ihrem Mund wie Lügen, die aus einer aufgesetzten Maske drangen, von ihrer Umgebung meist sofort durchschaut und als unangenehm empfunden wurden. Deshalb strich sie die Worthülsen lieber komplett aus ihrem Repertoire. Doch ihre direkte Art schlug leider meist ebenso auf Missverständnis, weshalb Milena soziale Kontakte im Alltag eher vermied. Doch im Falle ihrer Studenten, die zu ihr aufschauten, wollte sie sich bessern. Ihnen eine gute Mentorin sein und auf jedes Individuum versuchen einzugehen. Mit Zoe würde sie beginnen. Während der Ausgrabung wollte sie Zoes Inneres ergründen, ihr nicht nur eine Lehrerin, sondern auch eine Freundin sein.
Milena packte hoch motiviert ihre Aktentasche, sortierte ihre Erkenntnisse, die sie bis jetzt gesammelt hatte in ihrer geistigen Ablage und ließ den Verschluss zuschnappen.
Sie wandte sich ein letztes Mal zum leeren Vorlesungssaal um, bevor sie durch die Tür schritt. „Na, dann ... nichts wie los, ins nächste Abenteuer", verließ sie den Raum mit den Worten ihres Vaters auf den Lippen, der nicht an die Existenz der Draconis Imperialis glaubte.
2. Erwartung
Beinahe eine Woche war seit Milenas letzter Vorlesung vergangen. Ihre Umgebung hatte sich drastisch verändert. Die Kühle der Universität war der Intensität der südländischen Sonne gewichen. Die Hitze Griechenlands brannte auf ihrem Gesicht, als sie ihre Hand schützend über die Stirn hielt, um den Palast von Festos zu bewundern. Milenas Ausgrabungsstätte, die sich in Reichweite des Palastes befand, war bereits zur Gänze aufgebaut. Der letzte Sand wurde vor einer Stunde aufgeschüttet, und somit bot die Fläche genügend Platz für das Archäologenteam, das sich heute noch an die Arbeit machen wollte. Milena vermutete die Wohnstätte der Königsgarde unweit des Palastes, genau an der Stelle, an der sie mit ihren Ausgrabungen begann. Und sie war sich sicher: Hier würde sie finden, wonach sie bereits seit so langer Zeit suchte. Denn die Minoer, die einstigen Einwohner Kretas, die dieses Reich erbaut hatten, waren kluge Leute gewesen. Über der ausgedehnten Messara-Ebene, die damals wie heute zur Kornkammer Kretas zählte, bauten sie auf einem Alles überblickenden Hügel ihr zentrales Heiligtum und den imposanten Palast ihres Herrschers. Es war ein italienisches Archäologenteam, das den Palast des Festos freigelegt hatte. Zwar war dieser viel kleiner als der von Knossós, jedoch schien er größere Geheimnisse zurückzuhalten. Dessen war sich Milena sicher. Ihr kleiner Zeh vibrierte und das war ein eindeutiges Anzeichen, dass sie richtig lag. Von weitem beobachtete sie die Touristen, die ihren Rundgang vom Parkplatz aus durch den Tempel starteten. Niemand von ihnen konnte sich vorstellen, dass heute eine Ausgrabung bevorstand, die eventuell die gesamte Geschichte Kretas auf den Kopf stellen würde. Direkt beim Kassenhäuschen erschloss sich der prächtige Blick auf die Hochebene, in deren Richtung Milena den Ursprung der Draconis Imperials vermutete. Der Palast lag gut geschützt zwischen dem Massiv des Psiloritis im Norden, und dem vom wilden, über tausend Meter hohen Asteroussia-Gebirge, im Süden, das bis unmittelbar an die Küste reichte. Die gut durchdachte Palastanlage, von der Milena vermutete, ein Mitglied der Königsgarde hätte sie mitgeplant, bestand aus dem tiefer gelegenen Westhof, an den heutzutage besonders viele Gebäudereste aus der Altpalastzeit grenzten. Auf seiner Nordseite fungierte eine breite Stufentribüne den Teilnehmern aus längst vergangener Zeit an kultischen Festen als Zuschauerrang. Kreisrunde Schächte dienten höchstwahrscheinlich der Aufnahme von Opfergaben, die für die Götter erbracht wurden. Auf der Ostseite stand noch der Rest des Mauerwerks aus der neuen und aus der alten Palastzeit, welche man gut unterscheiden konnte: Das Bruchsteinmauerwerk ist das ältere, die Fassadenteile aus gut behauenen Steinblöcken gehören in die jüngere Epoche. Unter den modernen Schutzdächern, die für die Touristen erbaut wurden, lagen die sogenannten königlichen Quartiere aus der Neupalastzeit verborgen. Sie konnte die Vergangenheit beinahe vor ihren Augen auftauchen sehen. Menschen, die in blütenweißen Gewändern durch den Palast schritten, ihre Bewacher, die mit Argusaugen nach Feinden Ausschau hielten.
Milenas innere Anspannung zerriss ihre Konzentration. Sie sah zu ihren Füßen, wo der Sand schon darauf wartete, von ihr beiseite geschaufelt und mit dem Pinsel bearbeitet zu werden. Eigentlich wollte sie mit der Arbeit beginnen, doch Zoe war noch nicht eingetroffen. Die blonde Studentin mit dem traurigen Blick ging Milena nicht mehr aus dem Kopf. Milena winkte einem der Arbeiter zu und fragte ihn auf Englisch, ob das Flugzeug bereits gelandet sei. Dieser bestätigte die Landung und berichtete, dass ihre Studentin in Kürze hier eintreffen sollte. Milena bedankte sich bei ihrem griechischen Angestellten, der nur gebrochen Englisch und kein Wort deutsch verstand. Zwar beherrschte sie die gängigsten Phrasen der griechischen Sprache, jedoch war Milena noch nie ein Sprachengenie gewesen. Ihr mangelte es an der Fähigkeit, sich Vokabel einzuprägen. Außerdem tat sie sich in ihrer Muttersprache schon schwer genug, sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Da würde ihr eine Fremdsprache nicht gerade dienlich sein. Sie verachtete sich zwar für ihre Unfähigkeit neue Sprachen zu erlenen,