Wahrsagung: Eine Recherche der Reinheit
Von Valerie Springer
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Über dieses E-Book
Eine nicht mehr ganz junge Prostituierte …
Ein sehr junger Mann, der die seltene Gabe hat, das Wahre zu sehen …
Und das Wort „Liebe“ fällt nie zwischen ihnen.
Gemeinsam mit dem jungen Flüchtling Milan, der die Zukunft voraussehen kann, klärt die Ich-Erzählerin einen Mord, dessen Hintergrund neo-nazistische Aktivitäten und Ausländerfeindlichkeit bilden. So spannend diese kriminalistische Story scheinen mag, so ist sie doch mehr, nämlich der seidene Faden, an dem sich Entwicklung und Selbstfindung der Protagonisten entlanghangeln.
"spannend und einfühlsam erzählt"
"eine mehrschichtige Story, die den Leser immer wieder mit unerwarteten Wendungen überrascht"
"Ausländerfeindlichkeit, der noch nicht vergessene Krieg im ehemaligen Jugoslawien und eine seltsame Liebesgeschichte, packend miteinander verstrickt"
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Buchvorschau
Wahrsagung - Valerie Springer
Ich bin dem Tod begegnet.
Ich bin dem Tod in vielerlei Hinsicht begegnet.
Ich habe Leichen seziert.
Ich habe getötet.
Ich habe meine Mutter, die im Sterben lag, besucht. Ich bin (mit Absicht) gegangen, als sie noch lebte, kurze Zeit danach ist sie gestorben, ich habe ihr nicht beigestanden.
Ich war im Auto unterwegs, der Fahrer saß vorne, ich hinten. Am Straßenrand lag ein Mann, regungslos und verkrümmt. Ich überlegte, ob er entweder noch lebte oder schon tot war. Dennoch habe ich so lange gezögert, dem Fahrer zu sagen, er solle anhalten, bis ich mir komisch vorkam und nichts mehr sagte.
Ich habe den Geruch verbrannter menschlicher Leiber eingeatmet.
Ich bin geschwommen, in warmem, trübem Flusswasser, umgeben von Leichenteilen.
Ich selbst bin mehrere Male dem Tod entgangen.
Je älter ich werde, desto mehr frage ich mich, was wohl nachher kommt. Nicht, dass ich Todessehnsüchte hegte. Aber mit einem freundlichen Interesse, einer kindlichen Neugier, sehe ich dem Punkt entgegen, an dem ich vom Zustand der Lebenden in den der Toten übergehe, vielleicht werde ich in diesem Bruchteil eines Augenblicks bei klarem Verstand sein, um ihn noch bewusst zu „erleben" und zu erkennen.
Ich würde gern über mein Leben erzählen. Stattdessen verstecke ich mich hinter Geschichten. Ich halte das, worüber ich erzähle, wie ein Schutzschild vor mich … oder wie wenn ich Fotografin wäre und mir nur mit meinem Apparat die Welt erschaffen könnte, die für mich stimmig ist.
Ich erzähle Fiktion. Sind das Lügen? Ich lebe als Lügnerin, in unzähligen Aspekten bin ich nicht wahrhaftig, kein Tag, kaum eine Stunde ist frei vom Wissen um die eigene Unehrlichkeit. Dennoch habe ich mich der Wahrheit verschrieben, der absoluten Ehrlichkeit.
Ich weiß, dass kaum ein Mensch aufrichtig ist.
Nicht anderen gegenüber.
Nicht sich selbst gegenüber.
Das ist eine Tatsache.
Als ich Milan kennenlernte ...
Als ich Milan kennenlernte, war er erst ein paar Minuten in Wien. Er sprach reines Hochdeutsch, akzentfrei, sodass ich keine Anhaltspunkte hatte, um mir seinen heimatlichen Hintergrund auszumalen. Er sagte, er käme aus Berlin.
Er war 15 Jahre alt und hatte falsche Papiere, die ihn um zehn Jahre älter machten. Wenn ihn jemand auf sein junges Aussehen ansprach, nickte er ernst, manchmal lachte er auch harmonisch. Er selbst war in seinem Inneren alt. (Nebenbei bemerkt erfuhr ich die kommenden Monate lang nichts von seinem wahren Alter.)
Ich saß damals bei McDonald’s in der Mariahilferstraße, nur ein paar Hundert Schritte vom Westbahnhof entfernt. Das Schnellimbissrestaurant gehörte zu meinen frequentierten Lokalen, ich konnte ungestört in einer Ecke sitzen, stundenlang schreiben, bei einem einzigen Kaffee, der kläglich schmeckte, aber zumindest bei den ersten paar Schlucken heiß und sättigend und vor allem billig war.
Milan kam an meinen Tisch, sah mir ein wenig zu, wie ich schrieb (mit einem eleganten Füller in ein elegantes Tagebuch, dies war der einzige Luxus, den ich mir erlaubte).
Schließlich blickte ich auf, ich sah ein, dass es keinen Sinn machte, ihn weiter zu ignorieren, die Hartnäckigkeit dieses Unbekannten strahlte etwas Unverrückbares aus, dem ich mich nicht entziehen konnte.
Er sagte, dass er auch schreibe.
Ich wartete stumm auf mehr. Dann fragte er, ob er sich zu mir setzen könnte, er wäre gerade erst mit dem Zug in Wien angekommen und wüsste nicht, wohin. Ich antwortete ihm nicht, aber er sah wohl, dass ich nichts dagegen hätte. Also ließ er sich mir gegenüber nieder, öffnete seinen Rucksack, der im Gegensatz zu der Ausdruckslosigkeit des jungen Rucksackbesitzers so aussah, als hätte er schon viel erlebt, nahm ein Notizbuch heraus, einen Kugelschreiber ebenso, und fing ohne Zögern an, mit kleinster Schrift Zeile für Zeile zu füllen.
Ich schrieb meine unterbrochenen Gedanken zu Ende, dann sah ich ihn einfach nur an. Woher wusste er, dass ich ihn mögen würde? Dass er eine Komponente von mir war, die ich vermisst hatte, ohne das je gewusst zu haben?
Ich sagte zu dem jungen Mann, den ich bisher noch nicht angesprochen hatte, dass er vorerst bei mir übernachten könne, wenn er wolle.
Ich war vor kurzem in eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung eines alten mehrstöckigen Mietshauses in der Zieglergasse umgezogen. Neben mir lebte eine Frau unbestimmten Alters … sie würde in wenigen Wochen mit ihrem fatalen Schicksal meinen Weg und auch den von Milan bestimmen.
Er hatte kein Vaterland.
Er hatte kein Vaterland, weil das Land seiner Väter nicht mehr existierte. Er hatte keine Muttersprache, weil er seine Mutter nie sprechen gehört hatte. Während der Zeit der ersten Belagerung hatten sie ihr die Zunge herausgerissen. Das war kurz vor der Geburt von Milans älterem Bruder, der das alles gänzlich unbeschadet in ihrem geschändeten Leib überlebte. Er konnte sich aber an ihre Schreie erinnern, als sie sie zu Tode vergewaltigten, während der zweiten Belagerung.
Milan war damals zwei Jahre alt und hatte Angst zu ersticken. Sein Bruder lag auf ihm und hielt ihm die Hand vor den Mund gepresst, in dem Wandschrank, der halb offen stand, was einerseits gefährlich war, weil sie leicht hineinsehen hätten können. Andererseits war dies vielleicht seine Rettung, denn die halboffene Wandschranktür ließ kaum vermuten, dass sich darinnen jemand versteckte. Jedenfalls bemerkten sie die beiden Kinder nicht. Sie waren ja auch mit deren Mutter beschäftigt. Als sie mit ihr fertig waren, intensivierte sein Bruder den Druck seiner Hand auf Milans Gesicht. Der war kaum mehr bei Bewusstsein, weil das Gewicht des Bruders auf ihm und die Enge des Wandschranks keinen physischen Freiraum noch Luft zum Atmen ließen.
Sie grölten draußen. Dann hörten die Kinder die Maschinenpistolen, mit denen sie um sich schossen, das Klirren von Glas, das Splittern von Holz. Über die Finger des Bruders sickerte dessen warmes Blut in Milans Mund, er schluckte es, als hätte es die Gabe, ihn am Leben zu erhalten. Mit dem eisenartigen Geschmack auf seinen Lippen schlief er ein.
Als er am nächsten Tag erwachte, wühlte er sich unter dem erkalteten Körper seines Bruders hervor. Es gab nichts zu packen. Die Belagerer hatten nichts übrig gelassen, das es mitzunehmen lohnte, abgesehen davon war ohnehin nicht mehr viel da gewesen. Milan verließ sein Elternhaus, ging über den leeren Hof und sah nicht auf, als er am Mast vorbei kam, an dem sein Vater baumelte.
Sein Leben war voller Lügen und dennoch gab ihm das Wort Wahrheit Zuversicht, er ahnte, dass sie sein Weg war. Sie war ein obskurer Teil seiner Persönlichkeit, ein Etwas, das ihm Gewissheit gab. Es war erwachsen, allumfassend und unabdingbar in ihm, seit er damals seine nun nicht mehr existente Heimat verlassen hatte.
Neben mir wohnte eine Frau ...
Neben mir wohnte, wie gesagt, eine Frau, deren Alter ich nicht schätzen konnte. Ich wusste, dass sie Sophia hieß, denn so hatte ein anderer Bewohner des Hauses, ein junger Mann (der im Stockwerk über mir wohnte und mit dem sie vertraut zu sein schien) sie angesprochen.
Manchmal, wenn wir einander begegneten, sah sie mir direkt in die Augen, ich glaubte, neben der Gleichgültigkeit in ihrem Blick, die der meinen ähnelte, doch auch Interesse zu sehen.
Ausschlaggebend für meine veränderte Wahrnehmung war eine psychologische Testreihe gewesen, an der ich vor einem halben Jahr teilgenommen hatte. Die Tests hatten sich über eine ganze Woche gezogen, jeden Tag hatte ich eine Stunde in der Universität Wien verbracht, eine Woche lang einen Fragebogen nach dem anderen ausgefüllt. Nach vierzehn Tagen hatte ich die Resultate im Institut abholen können, dort einen weiteren Fragebogen auszufüllen gehabt, der mich danach befragte, inwieweit ich die Auswertung für zutreffend hielte. Ich war über alle Maßen erstaunt, gleichermaßen entsetzt gewesen, wie treffend der Test mich analysiert hatte. Ich gab von fünf möglichen Punkten alle fünf für die perfekte Beschreibung meiner Persönlichkeit an.
Meine Analyse lautete folgendermaßen: „Zwar wissen Sie um einige Schwächen Ihrer Persönlichkeit, doch können Sie diese im allgemeinen ausgleichen. Sie haben beträchtliche Fähigkeiten, die brachliegen, statt dass Sie sie zu Ihrem Vorteil nutzen. Äußerlich diszipliniert und kontrolliert, fühlen Sie sich dennoch gelegentlich unsicher. Mitunter zweifeln Sie ernstlich an der Richtigkeit Ihres Tuns und Ihrer Entscheidungen. Sie bevorzugen ein gewisses Maß an Abwechslung und Veränderung, und Sie sind unzufrieden, wenn Sie von Verboten und Beschränkungen eingeengt werden. Sie sind stolz auf Ihr unabhängiges Denken und nehmen anderer Leute Aussagen nicht unbewiesen hin. Doch erachten Sie es als unklug, sich anderen zu freimütig zu öffnen. Manchmal verhalten Sie sich extrovertiert, leutselig und aufgeschlossen, manchmal auch introvertiert, skeptisch und zurückhaltend. Ihre Wünsche scheinen mitunter eher unrealistisch."
Niemals zuvor hatte ich mich so treffend charakterisiert gesehen.
Als ich auf dem Weg nach Hause war, wurde mir blitzartig klar,