Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

DIE FLÜSTERSTIMME: Der Krimi-Klassiker!
DIE FLÜSTERSTIMME: Der Krimi-Klassiker!
DIE FLÜSTERSTIMME: Der Krimi-Klassiker!
eBook301 Seiten3 Stunden

DIE FLÜSTERSTIMME: Der Krimi-Klassiker!

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Murgatroyd drehte sich wortlos um und kehrte wieder auf die Straße zurück, wo er ziellos weiterschlenderte. Er stieß gegen eilende Passanten, die sich, je nach Laune und Temperament, bei ihm entschuldigten oder über seine Ungeschicklichkeit beschwerten. Aber er war blind und taub gegen alles, was um ihn herum geschah. Nach stundenlangen Irrwanderungen gelangte er schließlich zum Embankment und ließ sich apathisch auf eine Bank fallen.

Es wehte ein schneidender Ostwind, gegen den sich Murgatroyd hinter seinem aufgeschlagenen Mantelkragen verkroch. So zusammengekauert versuchte er, die Gedanken zu ordnen, die ihm in wüstem Wirrwarr durch den Kopf schossen und aus denen nur ein einziger immer wieder mit schärfster Klarheit auftauchte, ein Entschluss, vor dem er noch gestern mit Entsetzen zurückgeschreckt wäre.

 

Der Roman Die Flüsterstimme des britischen Schriftstellers Henry Holt (* 1881; † 1955) erschien erstmals im Jahr 1938; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum22. Nov. 2021
ISBN9783755400844
DIE FLÜSTERSTIMME: Der Krimi-Klassiker!

Mehr von Henry Holt lesen

Ähnlich wie DIE FLÜSTERSTIMME

Ähnliche E-Books

Mystery für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für DIE FLÜSTERSTIMME

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    DIE FLÜSTERSTIMME - Henry Holt

    Das Buch

    Murgatroyd drehte sich wortlos um und kehrte wieder auf die Straße zurück, wo er ziellos weiterschlenderte. Er stieß gegen eilende Passanten, die sich, je nach Laune und Temperament, bei ihm entschuldigten oder über seine Ungeschicklichkeit beschwerten. Aber er war blind und taub gegen alles, was um ihn herum geschah. Nach stundenlangen Irrwanderungen gelangte er schließlich zum Embankment und ließ sich apathisch auf eine Bank fallen.

    Es wehte ein schneidender Ostwind, gegen den sich Murgatroyd hinter seinem aufgeschlagenen Mantelkragen verkroch. So zusammengekauert versuchte er, die Gedanken zu ordnen, die ihm in wüstem Wirrwarr durch den Kopf schossen und aus denen nur ein einziger immer wieder mit schärfster Klarheit auftauchte, ein Entschluss, vor dem er noch gestern mit Entsetzen zurückgeschreckt wäre.

    Der Roman Die Flüsterstimme des britischen Schriftstellers Henry Holt (* 1881; † 1955) erschien erstmals im Jahr 1938; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

    DIE FLÜSTERSTIMME

    ERSTER TEIL

      Erstes Kapitel

    »Also, Murgatroyd«, sagte der Gefängnisdirektor, »jetzt winkt auch Ihnen endlich die Freiheit, und wenn mich meine Menschenkenntnis nicht trügt, werden wir Sie auch nicht wieder hier sehen.«

    James Murgatroyds Gesicht blieb unbewegt, obwohl er diesen Moment seit drei Jahren herbeigesehnt hatte.

    »Ich habe nicht die Absicht zurückzukommen«, antwortete er.

    Damals bei der Gerichtsverhandlung hätte er zwar seine Unschuld beteuert, und die Verteidigungstaktik seines Anwalts war geradezu genial zu nennen gewesen, doch hätte, weder das eine noch das andere die Geschworenen überzeugen beziehungsweise das drückende Beweismaterial aus der Welt schaffen können, und so war Murgatroyd wegen Totschlags verurteilt worden.

    »Was wollen Sie nun mit Ihrem Leben beginnen?«, fragte der Direktor weiter. »Mit sechsundzwanzig ist man doch noch jung.«

    Murgatroyds Blick schweifte über die klare, sonnenbeschienene Winterlandschaft vor dem Fenster.

    »Ich werde es genießen«, sagte er.

    »Bevor Sie hierherkamen, hatten Sie eine Stellung, jetzt dagegen dürfte es nicht so leicht sein...«

    »Darüber mache ich mir keine Kopfschmerzen«, wehrte Murgatroyd ab, immer noch in die Sonne blinzelnd. »Ich besitze dreißigtausend Pfund.«

    Der Gefängnisdirektor zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe.

    »Dreißigtausend! Ein beachtliches Vermögen! Zur Zeit Ihrer Verhaftung waren Sie doch nur – ich meine, Sie waren Schauspieler, wie aus den Berichten hervorgeht.«

    »Ich verdiente sehr anständig«, erwiderte der junge Mann, »und obendrein gewann ich damals beim irischen Lotto. Die Nachricht erreichte mich genau am Tag meiner Verurteilung, daher habe ich bis jetzt keinen Penny von dem Geld angerührt.«

    »Wo ist es denn?«

    »Auf der Bank. Hilary Blackford, ein Freund von mir, hat sich darum gekümmert.«

    »So – und Sie glauben, sich. darauf verlassen zu können?«

    »Hundertprozentig. Für Hilary Blackford würde ich jederzeit die Hand ins Feuer legen.«

    Auf dem Gesicht des Direktors erschien ein nachdenklicher Ausdruck. Murgatroyd war anscheinend ein. nüchterner, vernünftiger Mensch, aber welche Wirkung eine solche Menge Geld auf einen gerade aus dem Gefängnis Entlassenen ausüben würde, das mochte der Himmel wissen.

    »Na, dann wünsche ich Ihnen viel Glück«, meinte er. »Halten Sie die Ohren steif. Ich habe allerdings den Eindruck, dass es Ihnen nicht an dem nötigen Verstand fehlt.«

    Er schickte dem jungen Mann einen ernsten, sinnenden Blick nach, denn er wusste aus Erfahrung, dass den meisten, die diesen Ort hinter sich ließen, ein steiler, mühevoller Weg bevorstand, Entweder fielen sie früher oder später in ihre alten Gewohnheiten zurück, oder aber die erlittene Freiheitsstrafe hatte ihr Selbstbewusstsein so zermürbt, dass es ihnen schwer, wenn nicht gar unmöglich erschien, den Kopf jemals wieder hoch zu tragen.

    Immer noch benommen von dem fremdartigen Gefühl der Freiheit, steuerte Murgatroyd wenig später auf ein großes Bankgebäude in der City Londons zu, und sein Herz begann heftig zu schlagen, als er es betrat und sich einem der Schalter näherte.

    »Hier muss ein schöner Batzen Geld für mich liegen«, sagte er zum Kassierer und gab seinen Namen an.

    Der Mann auf der anderen Seite streifte ihn mit einem neugierig verstohlenen Blick.

    »Wünschen Sie einen Scheck einzulösen?«

    Murgatroyds Augen glänzten fieberhaft.

    »Ich möchte nur wissen, wieviel es eigentlich ist.«

    »Einen Moment bitte«, erwiderte der Kassierer und verschwand. Einige Minuten später kam er zurück.

    »Der Herr Geschäftsführer hätte gern mit Ihnen persönlich ein Wort gesprochen, wenn Sie gestatten. Wollen Sie mir bitte folgen?«

    In der erzwungenen Haltung, die ihm zur zweiten Natur geworden war, stand Murgatroyd gleich darauf vor einem kühlblickenden Mann mit kahlem Kopf und goldgeränderter Brille.

    »Nehmen Sie doch Platz, Mr. Murgatroyd. Es freut mich, dass ich Gelegenheit habe, mich mit Ihnen einmal über Ihr Konto zu unterhalten.«

    Gehorsam wie ein Automat sank Murgatroyd auf einen Stuhl und befeuchtete sich die Lippen.

    »Es stimmt doch mit dem Geld?«, fragte er. »Ich kann es jederzeit haben – auch gleich?«

    »Selbstverständlich, wenn Sie wünschen.«

    »Wieviel habe ich denn?«

    Der Geschäftsführer orientierte sich durch einen kurzen Blick auf den Zettel, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

    »Genau vierhundert Pfund«, antwortete er freundlich.

    Mehrere Sekunden lang starrte Murgatroyd wie geistesabwesend ins Leere. Die Blässe auf seinem Gesicht wurde noch um einen Schein intensiver, sein Mund öffnete sich, als versuchte er, etwas zu sagen, aber die Zunge gehorchte ihm nicht.

    »Da muss ein Irrtum vorliegen«, brachte er schließlich hervor.

    Der Bankbeamte rückte sich die Krawatte zurecht.

    »Ein Irrtum?«, wiederholte er mit betonter Höflichkeit. »Es ist die Summe, die vor drei Jahren auf Ihr Konto eingezahlt wurde.«

    Murgatroyd saß eine Weile da, als müsste er sich erst aus einem bösen Traum befreien.

    »Ich... ich hätte nie geglaubt, dass Blackford mir das antun würde«, stotterte er dann ratlos.

    »Es tut mir leid, aber ich verstehe Sie nicht ganz.«

    Der ehemalige Häftling brach in ein hartes, bitteres Lachen aus. Er fuhr sich mit der Hand über Stirn und Gesicht und sah mit einem Mal auffallend grau und erschöpft aus.

    »Ich hebe alles ab, was da ist«, entschied er grimmig.

    »Besitzen Sie ein Scheckbuch?«

    »Nein. Als das Geld eingezahlt wurde, musste ich meine Unterschrift einsenden. Sie wird sich wahrscheinlich in Ihrer Kartei befinden. Mehr weiß ich nicht.«

    Der Geschäftsführer schob ihm ein Formular über den Tisch zu. »Wenn Sie das bitte ausfüllen würden, dann könnten wir sofort alles Weitere veranlassen«, sagte er und schaute der Feder zu, die in etwas ungelenken Zügen über das Papier kratzte. Dann musterte er mit undurchdringlicher Miene den Scheck.

    »Ihre Schrift hat sich ein wenig verändert, seit Sie uns damals Ihren Namenszug einsandten, Mr. Murgatroyd«, bemerkte er. »Darf ich Sie, nur um den Sicherheitsvorschriften zu genügen, fragen, ob Sie irgendetwas bei sich haben, womit Sie Ihre Identität beweisen können?«

    Der andere sah ihn mit einem stumpfen Blick an, als begriffe er nicht. Dann zog er ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche. »Mein Entlassungsschein«, murmelte er. »Genügt der?«

    »Völlig«, erwiderte der Geschäftsführer verbindlich.

    Mit einem Ausdruck in den Augen, der nichts Gutes verhieß, stopfte Murgatroyd das Geld in sein Jackett und stolperte fast mechanisch die Stufen des Gebäudes hinunter. An der Kante des Bürgersteiges blieb er stehen und starrte vor sich hin, ohne die Menschenmenge zu gewahren, die sich an ihm vorüberdrängte. Nach einer Weile fing er an zu gehen, hielt aber mehrmals zerstreut inne, als hätte er seinen Weg verloren, bis er am Ende vor ein nüchternes Bürohaus gelangte, an dessen Eingang sich eine Reihe von Messingschildern befand. Er studierte sie eins nach dem anderen, fand jedoch nicht, was er suchte.

    Langsam stieg er die Treppe zum zweiten Stockwerk hinauf und ging auf eine Tür zu, an der ein ihm unbekannter Name stand – der Name einer Werbefirma. Zögernd öffnete er sie, trat ein und sah sich einem Jüngling gegenüber, dessen Zähne emsig einen Kaugummi bearbeiteten.

    »In diesem Haus wohnte früher mal ein Mr. Blackford«, sagte Murgatroyd mit trockener Kehle. »Können Sie mir wohl sagen, wohin er verzogen ist?«

    »Nie von ihm gehört«, antwortete der Büroangestellte gleichgültig.

    In diesem Moment kam ein orientalisch aussehender Mann mit schwarzen Knopfaugen ins Zimmer. »Was ist los?«, erkundigte er sich von oben herab.

    »Seit wann sind Sie Inhaber dieser Räume?«, forschte Murgatroyd.

    »Seit beinah einem Jahr«, war die etwas verblüffte Antwort. »Weshalb?«

    »Ich suche einen Bekannten – einen Mr. Blackford, der vor Ihnen hier war.«

    Der Levantiner schüttelte den Kopf.

    »Weiß nichts von ihm.« Er ließ sich deutlich seine Ungeduld anmerken. »Die Räume standen einige Zeit leer, als ich sie übernahm.«

    Murgatroyd drehte sich wortlos um und kehrte wieder auf die Straße zurück, wo er ziellos weiterschlenderte. Er stieß gegen eilende Passanten, die sich, je nach Laune und Temperament, bei ihm entschuldigten oder über seine Ungeschicklichkeit beschwerten. Aber er war blind und taub gegen alles, was um ihn herum geschah. Nach stundenlangen Irrwanderungen gelangte er schließlich zum Embankment und ließ sich apathisch auf eine Bank fallen.

    Es wehte ein schneidender Ostwind, gegen den sich Murgatroyd hinter seinem aufgeschlagenen Mantelkragen verkroch. So zusammengekauert versuchte er, die Gedanken zu ordnen, die ihm in wüstem Wirrwarr durch den Kopf schossen und aus denen nur ein einziger immer wieder mit schärfster Klarheit auftauchte, ein Entschluss, vor dem er noch gestern mit Entsetzen zurückgeschreckt wäre. Er presste die Lippen fester aufeinander und ballte die Fäuste. Jetzt war nicht der Augenblick, sich solchen Ideen hinzugeben. Nur nüchterne Überlegung konnte hier helfen.

    Nach einer Weile unterbrach die dünne Stimme einer zitternden Gestalt neben ihm seine Gedankengänge.

    »Sie sind wohl auch nicht so reich, dass Sie mir ’ne Tasse Kaffee spendieren können, was?«

    Mit Ausnahme eines müden Seitenblicks reagierte Murgatroyd überhaupt nicht auf die Anrede.

    »Den ganzen Tag hab’ ich noch nicht Warmes im Bauch und auch kein Dach überm Kopf.«

    Murgatroyd blinzelte zerstreut. Das erinnerte ihn daran, er hatte ja auch noch keine Bleibe für die Nacht, ein Problem, das ihm lange Zeit hindurch abgenommen worden war, dafür hatte die Regierung gesorgt. Aber nicht nur das, er musste sich auch noch verschiedene andere Dinge kaufen, bevor er in ein Hotel gehen konnte.

    Abermals störte ihn die Stimme des Nachbarn aus seiner Versunkenheit auf.

    »Bitte lassen Sie mich in Ruhe«, knurrte Murgatroyd. »Ich muss nachdenken.«

    »Ich fresse ’nen Besen, entweder über Moneten oder ’ne Frau«, versetzte der Tippelbruder und hauchte sich in die blaugefrorenen Hände. »Das sind doch die einzigen Sorgen, die’s gibt.«

    Die letzten drei Jahre hatten in Murgatroyd alle Überempfindlichkeit gegen die Berührung mit zweifelhaften Elementen getötet. Ein Lachen, das nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit war, entschlüpfte ihm. Das Leben spielte wirklich verrückt! Noch heute Morgen, als er das Gefängnis verließ, hatte er sich wie ein Millionär gefühlt, und jetzt, nachdem seine Träume so jäh zerronnen waren, saß er hier am Embankment mit einem zerlumpten Landstreicher als einzigem Gefährten. Immerhin jemand, mit dem man reden konnte, ohne dass einem gleich der Befehl Ruhe dazwischen gebrüllt wurde.

    »Schon mal im Knast gewesen, Kumpel?«, erkundigte er sich, mit Leichtigkeit in den Jargon verfallend, der seinem Gefühl nach der Situation angemessen war.

    Das Menschenwrack neben ihm auf der Bank schielte ihn argwöhnisch an.

    »Du vielleicht?«, kam die Gegenfrage.

    »Hm. Heute entlassen.«

    Der Vagabund nickte.

    »Weiß, wie dir zumute ist«, bemerkte er mitfühlend. »Komisch, nicht? Als ob man nicht richtig da wäre.« Er hing eine Weile seinen Gedanken nach. »Ich könnte ’n Partner wie dich brauchen, einen, der für den nötigen Klamauk sorgt und die Leute in Atem hält, während ich ihre Taschen durchsuche, und du siehst mir aus, als hättest du das Zeug dazu. Na, wie steht’s damit?«

    »Sieh mal einer an, das sind Aussichten«, meinte Murgatroyd trocken. »Kaum komme ich raus schon ein Geschäftsantrag! Danke dir vielmals, Kollege, aber ich muss zuerst noch eine andere dringende Sache erledigen.« Er zog eine nagelneue Ein-Pfund-Note hervor. »Hier, das ist für die Tasse Kaffee, die du trinken wolltest.«

    Der Tippelbruder betrachtete den Geldschein mit sichtlichem Misstrauen, griff aber trotzdem gierig danach.

    »Blüte?«, fragte er zweifelnd.

    »Keine Sorge. Gerade frisch von der Bank.«

    »Mensch, du bist aber riesig anständig. Besten Dank, Chef. Dafür wünsche ich dem Polypen, der dich zu fassen versucht, die Pest an den Hals.«

    Zweites Kapitel

    Der Schnee begann in immer dichteren Flocken zu fallen, und es versprach, ein vorbildliches Weihnachtswetter zu werden, als Murgatroyd einige Stunden später in einer kleinen Kneipe einkehrte, die sich Zum goldenen Kalb nannte. Ohne langes Zögern betrat er die gemütliche Hinterstube, die in diesem Augenblick leer war, und setzte sich vor dem Kamin nieder. Es dauerte nur kurze Zeit, da erschien in geschäftiger Eile der Wirt.

    »Hallo, Joe«, rief der Neuankömmling. »Kennen Sie mich noch?« Joe starrte ihn an.

    »Nein, so was! Sind Sie nicht Mr. Murgatroyd?«

    »Ja, natürlich. Wie geht’s Ihnen so?«

    »Prima!«, erwiderte der Gastwirt etwas verlegen und stieß mit dem Fuß einen Klumpen Kohle ins Feuer. »Sie – sind...« Er brach ab.

    »Ja, ich bin wieder draußen«, ergänzte Murgatroyd, »aber Schwamm drüber. Was macht denn Blackford jetzt eigentlich?«, fügte er scheinbar gleichgültig hinzu.

    »Blackford?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Den habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«

    »Sie wissen doch, wen ich meine?«

    »Natürlich. Er kam ja regelmäßig her, bevor...«

    »Bevor ich ins Kittchen musste.«

    »Richtig. Ein langer, dünner Bursche mit einem flotten, kleinen Schnurrbart. Schrieb doch Bücher, nicht wahr?«

    »Ja«, bestätigte Murgatroyd. »Geben Sie mir einen Whiskey-Soda, bitte, und schenken Sie sich selbst auch einen ein. Wie lange ist es her, dass Blackford das letzte Mal hier war?«

    »Oh, zwei, drei Jahre mindestens«, antwortete der Wirt. »Er blieb dann ganz weg, kurz nachdem Sie das Malheur hatten war es, glaube ich.«

    »Und haben Sie eine Ahnung, wo er stecken könnte?«

    »Nein. Bis zum heutigen Tag habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Na, dann Prost, Mr. Murgatroyd. Und wenn ich das sagen darf, ich war immer der Meinung, dass der Richter damals nicht sehr fair an Ihnen gehandelt hat. Ich verfolgte natürlich jedes Wort über Ihren Fall in der Zeitung.«

    »Lassen Sie nur, Joe, das war mein Pech. Jetzt liegt es hinter mir.«

    »Trotzdem, ich glaube einfach nicht, dass Sie den Mann absichtlich getötet haben.«

    »Nein, das wollte ich wahrhaftig nicht. Ich hatte mir nur vorgenommen, ihm eine tüchtige Abreibung zu geben, dass ihm Hören und Sehen vergehen sollte, das konnte ich mir nicht verkneifen. Aber unglücklicherweise ging ich um ein Haar zu weit. Er stürzte und schlug sich den Schädel ein. Und das nannten sie dann Totschlag.«

    »Ja, und belastend wirkte, dass Sie vorher gedroht hatten, ihn umzubringen, noch dazu vor Zeugen. Das gab den Ausschlag.« Joe schüttelte traurig den Kopf. »Ich sprach erst kürzlich mit jemandem darüber. Das war wirklich hart, wie sie mit Ihnen umgesprungen sind.«

    »Sie wissen wohl auch niemanden, der mir sagen könnte, wo Blackford sich aufhält?«

    Wieder schüttelte der Wirt den Kopf.

    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Er machte eine Pause und runzelte die Stirn. »Aber halt, da fällt mir ein, dass neulich jemand behauptete, ihn oder seinen Doppelgänger gesehen zu haben. Allerdings ist das ziemlich lange her.«

    »Wo?«, fragte Murgatroyd mit mühsam unterdrückter Erregung.

    »Moment mal, wer war das doch? Mein Gedächtnis ist manchmal wie ein Sieb. Nächstens vergesse ich noch meinen eigenen Namen. Jetzt weiß ich’s – es war Mr. Sylvester. Er erzählte mir, er hätte an einer Dorftankstelle Benzin nachfüllen lassen, und da wäre Blackford vorbeigegangen, oder wenn nicht Blackford selbst, dann zumindest sein leibliches Ebenbild. Er hätte keinen Hut aufgehabt – er trug ja nie einen, wie Sie sich erinnern werden –, und Mr. Sylvester sagte, er habe ihm noch nachgerufen, aber Blackford, falls er es war, habe nicht die geringste Notiz von ihm genommen.«

    »Wo war das?«

    »Irgendwo da unten in Surrey, glaube ich. Aber beschwören könnte ich es nicht.«

    »Ich würde gern ein Wort mit Mr. Sylvester sprechen«, murmelte Murgatroyd. »Wo kann ich ihn treffen?«

    »Das wissen die Götter. Er kommt nur sehr selten zu uns.« Murgatroyd trank sein Glas aus und erhob sich.

    »Ich schaue wieder mal herein, Joe«, sagte er, »und vergessen Sie nicht, ich möchte auf alle Fälle mit meinem alten Freund die Verbindung aufnehmen. Wenn Sie also herausfinden können, wo er steckt, bin ich Ihnen sehr dankbar.«

    »Okay, Mr. Murgatroyd, ich will dran denken. Er wird sich sicher auch mächtig freuen, Sie wiederzusehen.«

    »Bestimmt wird es eine große Überraschung für ihn sein«, meinte Murgatroyd, indem er sich zum Gehen wandte. »Gute Nacht.«

    »Gute Nacht«, antwortete Joe, »und frohe Weihnachten.«

    »Danke schön, Ihnen auch«, rief Murgatroyd zurück.

    Drittes Kapitel

    Fast zur selben Zeit, als Murgatroyd das Goldene Kalb in London verließ rumpelte ein uraltes Auto im dichten Schneetreiben über eine Landstraße in Surrey. Der Mann am Steuer war kaum imstande, zehn Meter weit zu sehen.

    Dass er sich unter diesen Umständen in ziemlich schlechter Laune befand, konnte man ihm wahrhaftig nicht übelnehmen; denn nach monatelanger Kreuzfahrt in sonnigen Gewässern bot dieses Wetter einem Heimkehrer keinen sehr freundlichen Willkommensgruß. Und um das Maß vollends zum Überlaufen zu bringen, hatte er obendrein seinen eigenen Wagen in irgendeiner kleinen Tankstelle am Weg stehenlassen müssen, weil der Motor plötzlich zu bocken angefangen und schließlich ganz und gar gestreikt hatte. Wahrscheinlich fehlte ihm nichts Ernstliches, außer dass der Vergaser verschmutzt war, aber die düstere Aussicht, in einem gottverlassenen Nest im Schnee steckenzubleiben, hatte seinen Herrn bewogen, ihn lieber bis zum Morgen in der Garage unterzustellen und seine Reise nach London erst am nächsten Tag fortzusetzen. Bis dahin hatte man ihm diese verrostete Klapperkiste als Ersatz geliehen mit der Zusicherung, dass er einige Kilometer weiter in einem Gasthof ein Unterkommen für die Nacht finden würde.

    Er schnaufte gerade um eine Wegbiegung, als das Licht seiner Scheinwerfer auf einen Wagen fiel, der offenbar in den Graben gerutscht war und nicht wieder herauskam. Die Hupe des so kläglich gestrandeten Fahrzeugs stieß ununterbrochen verzweifelte Signale aus.

    Der Mann hielt, wickelte sich den Schal fester um den Hals und stieg aus. Während er über die Straße stapfte, sammelte sich eine Schneeschicht auf seinem Hut und seinen Schultern an und glitzerte im Strahl der Taschenlampe, der sich aus dem Fenster des fremden Wagens auf ihn richtete.

    »Hallo, Weihnachtsmann!«, rief eine Mädchenstimme. »Holen Sie mich bitte hier raus, bitte! Ich hab’s eilig.«

    »Geben Sie mir mal Ihre Lampe«, erwiderte der Mann und unterzog das eingesunkene Gefährt einer kurzen Prüfung.

    »Ja, den werden Sie wohl vorerst hier stehenlassen müssen«, meinte er schließlich.

    »Das will ich aber nicht«, protestierte das Mädchen. »Können Sie mir nicht irgendwie helfen? Wo bin ich hier überhaupt?«

    »Da fragen Sie mich zu viel. Sind Sie allein?«

    »Ja. Haben Sie sich auch verirrt?«

    »Mir wurde gesagt, ein Stück weiter in dieser Richtung läge ein Gasthaus, Jedenfalls wäre es ein Dach überm Kopf bei diesem Wetter.«

    »Aber ich möchte nach Little Markham«, erwiderte das Mädchen trotzig.

    Der Mann wischte sich den Schnee aus den Augen.

    »Nie gehört. Dann also – viel Glück.«

    »Ja, wollen Sie mir denn nicht helfen?«, entgegnete sie leicht gereizt. »Ich meine, Sie können mich doch nicht hier im Straßengraben verkommen lassen. Außerdem werde ich bei einer Party erwartet.«

    »Ich kann Sie nur bis zum Gasthof mitnehmen – wenn wir ihn jemals finden«, antwortete er ohne große Begeisterung. »Aber viel Hoffnung, habe ich nicht.«

    »Sie sind mir ein goldiger Weihnachtsmann! Haben Sie ganz vergessen, dass heute Heiligabend ist?«

    »Was erwarten Sie von mir? Soll ich vielleicht ein Rudel Rentiere herbeizaubern, um Sie aus dem Graben zu ziehen?«

    »Ganz gleich was. Ich versteife mich absolut nicht auf Rentiere, es kann auch etwas anderes sein.«

    »Ein paar Elefanten taten auch?«

    »Sie sind ein schlaues Kind! Ja, mit einem starken Seil würden sie es sicherlich schaffen.«

    »Äußerst entgegenkommend von Ihnen«, bemerkte er. »Jetzt brauche ich mir nur noch zu überlegen, wo wir die Elefanten herkriegen.«

    »Aber beeilen Sie sich gefälligst, oder ich erfriere hier zu Eis. Ich sitze schon seit einer halben Stunde in dieser Schneewehe fest.«

    »Dann brauchen Sie vor allen Dingen etwas zu trinken«, entschied der Mann. »Ich habe eine Flasche in meinem Koffer – einen Moment.«

    »Es geschehen wirklich noch Zeichen und Wunder«, stellte sie fest, als er wieder zurückkam. »Steigen Sie ein, ich habe zwei Tassen aus

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1