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JOHNNY MNEMONIC: Ein Cyberpunk-Roman
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eBook334 Seiten4 Stunden

JOHNNY MNEMONIC: Ein Cyberpunk-Roman

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Über dieses E-Book

Johnny lebt im 21. Jahrhundert und arbeitet als Kurier. In Johnnys Gehirn befindet sich ein Chip-Implantat, in dem 320 Gigabytes Daten gespeichert sind.

Johnny verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Schmuggel von Daten, und was seine Auftraggeber angeht, ist er keineswegs wählerisch. Aber sein neuester Job verursacht ihm – buchstäblich – gewaltige Kopfschmerzen: Die Informationen in seinem Implantat sind heiß; sie wurden einem mächtigen Pharma-Konzern gestohlen, und die Hintermänner wollen sie um jeden Preis zurück. Zu allem Übel ist der Chip in Johnnys Gehirn auch noch überladen und droht durchzubrennen, doch der Download-Code, mit dem sie abgerufen werden könnten, ist verschwunden. Johnnys Auftraggeber sind tot, und eine Armee von Yakuza-Killern ist ihm auf den Fersen...

Mit Johnny Mnemonic schuf Cyberpunk-Legende William Gibson im Jahre 1981 eine Kultfigur des literarischen Cyberpunk. 1995 drehte der Künstler Robert Longo (Arena Brains) auf der Grundlage der gleichnamigen Erzählung (und nach dem Drehbuch von William Gibson) den spektakulärsten Cyberpunk-Film der 1990er Jahre – mit Keanu Reeves als Johnny, Dina Meyer als Jane, Ice-T als J-Bone, Barbara Sukowa als Anna Kalmann, Henry Rollins als Spider und Dolph Lundgren als Preacher.

Terry Bissons Novellisierung gilt als kongeniale literarische Weiterentwicklung des Films und der Motive Gibsons.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum20. Feb. 2018
ISBN9783743856479
JOHNNY MNEMONIC: Ein Cyberpunk-Roman

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    Buchvorschau

    JOHNNY MNEMONIC - Terry Bisson

    Das Buch

    Johnny lebt im 21. Jahrhundert und arbeitet als Kurier. In Johnnys Gehirn befindet sich ein Chip-Implantat, in dem 320 Gigabytes Daten gespeichert sind.

    Johnny verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Schmuggel von Daten, und was seine Auftraggeber angeht ist er keineswegs wählerisch. Aber sein neuester Job verursacht ihm – buchstäblich – gewaltige Kopfschmerzen: Die Informationen in seinem Implantat sind heiß; sie wurden einem mächtigen Pharma-Konzern gestohlen, und die Hintermänner wollen sie um jeden Preis zurück. Zu allem Übel ist der Chip in Johnnys Gehirn auch noch überladen und droht durchzubrennen, doch der Download-Code, mit dem sie abgerufen werden könnten, ist verschwunden. Johnnys Auftraggeber sind tot, und eine Armee von Yakuza-Killern ist ihm auf den Fersen...

    Mit Johnny Mnemonic schuf Cyberpunk-Legende William Gibson im Jahre 1981 eine Kultfigur des literarischen Cyberpunk. 1995 drehte der Künstler Robert Longo (Arena Brains) auf der Grundlage der gleichnamigen Erzählung (und nach dem Drehbuch von William Gibson) den spektakulärsten Cyberpunk-Film der 1990er Jahre – mit Keanu Reeves als Johnny, Dina Meyer als Jane, Ice-T als J-Bone, Barbara Sukowa als Anna Kalmann, Henry Rollins als Spider und Dolph Lundgren als Preacher.

    Terry Bissons Novellisierung gilt als kongeniale literarische Weiterentwicklung des Films und der Motive Gibsons.  

    JOHNNY MNEMONIC

    Für David Hartwell - einfach nur so.

      Kapitel Eins: Im Sprawl

    »Ich bin hier!«, sagte Johnny - mindestens ebenso sehr zu sich selbst wie zu dem Gesicht, das sich auf dem VidiPhon abzuzeichnen begann.

    Hier! Peking. Die Stadt der Lichter und die Stadt der Ideen, so vollkommen verschieden von dem verbrauchten, ausgelaugten, heruntergekommenen Amerika und dem dunklen, invertierten Sprawl. Glasstahl-Türme ragten oberhalb der Boulevards von Peking in phantastischen Formationen in den Himmel. Ihre Video-generierten Umrisse waren durch holografische Erweiterungen verstärkt, die in der Nacht leuchteten und am Tag schimmerten. Das Panorama war unglaublich schön. Johnny mochte Städte, und das war gut so, denn außer auf Bildern hatte er noch nie etwas anderes gesehen.

    »Hier? Wo ist dieses Hier, Johnny?«

    »Einfach hier, Ralfi. Peking. Ich sitze in einem Taxi. Im Stadtzentrum, Agnes-Smedley-Boulevard. Sie haben mich über ein Mobilphon erreicht. Ich bin auf dem Weg zum Hotel.«

    »Haben Sie sie gekriegt?«

    »Was gekriegt?«

    »Die Aufrüstung.« Das sorgfältig modellierte Gesicht des Agenten wirkte besorgt, aber so sah Ralfi eigentlich immer aus. Johnny wusste nicht, ob er gerührt oder amüsiert sein sollte. Gleichgültig erwiderte er: »Klar...«

    Das Taxi kam plötzlich heftig schlingernd zum Stehen. Johnny rutschte fast aus dem Sitz, während er mit der einen Hand seine Aktentasche und mit der anderen das VidiPhon hielt. Im gleichen Augenblick schlug jemand heftig von außen gegen das Heckfenster. Blut schmierte über die Scheibe. Die Dinge gerieten definitiv außer Kontrolle. Johnny beugte sich vor und spähte aus dem Panzerglas des Seitenfensters.

    Eine tobende Ansammlung von Demonstranten strömte aus einer Seitenstraße auf den Boulevard. Ihre Gesichter waren hinter OP-Masken versteckt - entweder nur wegen des dramatischen Effekts oder aus einem Grund, den Johnny lieber nicht wissen wollte. Blechtrommeln dröhnten unter einem Wald von Stöcken, an denen Transparente hingen. Die vorderste Linie der Demonstranten trug Helme. Während sie sich näherten, wich die ihnen gegenüberstehende Doppelreihe aus Polizisten zurück, als würden alle zusammen einen rituellen Tanz aufführen, der ihnen nur allzu vertraut war.

    Die meisten Transparente waren in chinesischer Sprache gehalten, aber auch arabische, russische, spanische und englische waren zu sehen:

    STOP NAS!

    GEGEN NAS!

    WO BLEIBT DAS GEGENMITTEL?

    Die Demonstranten bewegten sich wie Zombies; ihre Glieder zuckten eigenartig, und ihre wütenden Augen starrten wie die von Menschen, die bereits an der Seuche erkrankt waren. Eine Frau, die in ihrem Arm ein kleines, in eine Decke gewickeltes Kind hielt, wurde auf die Motorhaube gestoßen und rutschte auf der anderen Seite wieder hinunter, vielleicht wurde sie auch gezogen - Johnny konnte es nicht sagen.

    »Was hat dieser ganze Krach zu bedeuten?«, fragte Ralfi. »Was ist da los?« Er wirkte so besorgt, als wäre er bei Johnny im Taxi, anstatt eine halbe Welt weit entfernt und definitiv in Sicherheit.

    »Irgendeine Demonstration«, sagte Johnny.

    »Anti-Amerikanisch?«

    Johnny schnaubte. »Das hätten Sie wohl gern. Als ob sich noch irgendwer für um Amerika interessieren würde. Nein, sie demonstrieren wegen NAS, wissen Sie? Das Nerven-Attenuierung-Syndrom

    »Dort auch schon?«

    Ein Demonstrant kletterte auf die Motorhaube, ein zweiter folgte. Andere traten gegen die Seiten des Wagens.

    Die Fahrzeuge hinter dem Taxi starteten ein Hupkonzert. Das Geheul ihrer Hörner und Sirenen (die in Peking nicht gesetzlich verboten waren) übertönte das Schlagen der Blechtrommeln und das monotone Protestgeschrei der Menge.

    »Überall, Ralfi. Lesen Sie die verdammten Zeitungen. Aber sehen Sie mich nicht so besorgt an; wir haben hier einen Auftrag zu erledigen, und alles ist unter Kontrolle.«

    Ralfi konnte nichts dafür, dass er so aussah. Er besaß nur zwei Gesichtsausdrücke: traurig und besorgt. Er war ein kleiner, munterer Mann, und er hatte sein Gesicht chirurgisch modifizieren lassen, um irgendeinen vergessenen Filmstar der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu imitieren. Der Eingriff in Singapur war verpfuscht worden; die Chirurgen hatten die Triefaugen übertrieben, und jetzt trug Ralfi ständig ein besorgtes Stirnrunzeln zur Schau. Doch seine Besorgnis war echt, diesmal wenigstens: »Das ist eine große Sache, Johnny. Sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen? Ich könnte diesen neuen Typen losschicken, der mit den modernsten...«

    »Lassen Sie's, Ralfi!«, unterbrach Johnny ihn. Und wie um seinen Agenten zu beruhigen, zog er seine Krawatte zurecht und setzte sich aufrecht hin, während er die reflektierende Oberfläche des VidiPhons als Spiegel benutzte, durch den Ralfis Bild hindurchschimmerte. Der dunkle Anzug und die konservative Krawatte... »Ich habe erst heute Morgen die Aufrüstung mit dem MDA-18™ erhalten«, log er. Hoffentlich klang es überzeugend. »Sie haben wirklich keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«

    Das Taxi schaukelte hin und her, während die Menge ihre Wut an dem ausländischen Objekt in ihrer Mitte ausließ. Der Fahrer ließ sein Fenster herab und begann, in einem unverständlichen nordchinesischen Dialekt zu fluchen.

    Plötzlich griff eine Hand durch das Fenster, und der Fahrer zog fluchtartig seinen Kopf zurück und drückte auf den Schließen-Knopf. Vom Rücksitz aus beobachtete Johnny befriedigt, wie die schimmernde, speziell für derartige Notfälle geschärfte Oberkante der Scheibe sich dem oberen Rahmen näherte.

    Offensichtlich dachte der Besitzer des Arms ebenfalls an die scharfe Kante, denn er zog seinen Arm gerade noch rechtzeitig zurück.

    Das Taxi schaukelte stärker, und die Luftfederung begann protestierend zu ächzen.

    »Ich mach' mir trotz Ihrer Aufrüstung Sorgen«, meinte Ralfi. »Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«

    Das Schaukeln wurde noch stärker. Das Geräusch der Blechtrommeln kam näher.

    »Was ist da draußen los?«, wollte Ralfi wissen. Seine Augen hatten sich geweitet, als das Taxi begonnen hatte, hin und her zu schaukeln. Fast, als könne der Agent es innerhalb des VidiPhon-Monitors spüren, dachte Johnny.

    »Alles unter Kontrolle, Ralfi«, sagte Johnny. Alles unter Kontrolle. Er murmelte es beschwörend vor sich hin, als wäre es ein Mantra. Er hatte elf Monate in Bangkok damit verbracht zu lernen, wie man kühler wurde, wenn die Dinge ringsumher heißer wurden. Alles nur eine Frage der Atemtechnik und des Verstandes; es war sein Zen, seine Religion. Es war sein Schutz und seine Waffe, alles in einem.

    »Wie spät ist es bei Ihnen? Kommen Sie noch rechtzeitig?«, drängte Ralfi. »Wie weit ist es noch bis zu Ihrem Hotel?«

    Johnny summte sein Mantra: »Alles unter Kontrolle, Ralfi.« Er drückte die internationale Kreditkarte, die Ralfi ihm geliehen hatte, in den Leseschlitz auf der Rückseite des Fahrersitzes, und das Taxameter schaltete sich ab. Dann zog er zwei Banknoten aus seiner Tasche und reichte sie dem Fahrer, der sie dankbar lächelnd entgegennahm. Er nahm seine Aktentasche und wollte eben die Tür öffnen...

    »Was machen Sie da?«, fragte Ralfi protestierend.

    »Ich werde zu Fuß weitergehen«, antwortete Johnny.

    »Zu Fuß? Aber...?«

    Seine Worte gingen unter im Lärm der Rufe und Schreie, der Blechtrommeln, Megaphone, Polizeisirenen und krachenden Polizeiknüppel, als Johnny die Tür des Taxis öffnete. Nach einer Sekunde des Zögerns zog Johnny seine Krawatte einmal mehr zurecht, straffte sich und setzte ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht auf. Dann tauchte er ein in den Menschenstrom.

    »Aber...«

    Die Tür des Taxis schloss sich. Der Fahrer griff nach hinten und schlug auf das VidiPhon. Es verstummte und überließ Ralfi der Vergessenheit.

    Johnny bewegte sich durch die Menge wie ein heißes Messer durch Butter...

    Ein großer Europäer oder Beinahe-Europäer in einem dunklen Geschäftsanzug. Konservative Aktentasche aus Lederimitat. Die Augen teilnahmslos ins Leere gerichtet. Wohlwollendes Lächeln und dankbares Nicken für die, die vor ihm den Weg freimachten. Seine einstudierte, formelle Höflichkeit war selbst im tiefsten Chaos ebenso wirkungsvoll, als hätte er eine Polizei-Eskorte dabei; so wirkungsvoll, dass er fast einen ganzen Block weit kam, bevor er angehalten wurde.

    Ein Demonstrant sprang hinter einem umgestürzten Wagen hervor und versperrte ihm den Weg. Er hielt ein Schild, auf dem zu lesen stand:

    SOFORTMASSNAHMEN GEGEN NAS!

    KEINE WEITEREN VERZÖGERUNGEN!

    GEBT DAS GEGENMITTEL FREI!

    Durch seine OP-Maske hindurch schrie er irgendetwas auf Chinesisch. Die Maske troff vor Speichel und war voller Blutflecken. Johnny lächelte und nickte freundlich und versuchte, auf der rechten Seite an dem Mann vorbeizukommen, aber der Chinese versperrte ihm den Weg.

    Er wandte sich nach links, doch der Chinese versperrte ihm erneut den Weg.

    Johnny blickte zu Boden. Die Füße des Mannes steckten in schmutzigen Verbänden. Sie bewegten sich geisterhaft schnell im Dämmerlicht des frühen Abends, steppten auf makabre Art von einer Seite des Gehwegs zur anderen - der Todestanz derer, die das letzte NAS-Stadium erreicht hatten.

    Johnny verbeugte sich höflich und wich zurück, während er mit seiner freien Hand hinter sich tastete. Er spürte warmes Metall; er blickte sich um und erkannte die Motorhaube eines gepanzerten Polizeifahrzeugs, das sich wie ein blauer Hai seinen Weg durch die Menge bahnte. Während er hochsprang und sich über die schmale Haube abrollte, konnte er durch die Windschutzscheibe zwei Reihen von Bereitschaftspolizisten sehen, die wie Fallschirmspringer den hinteren Teil des Wagens füllten. Sie waren in schwarze Lucite™- Anzüge gekleidet und trugen Schlagstöcke aus Kunststoff, die sie erwartungsvoll in ihre offenen Handflächen klatschen ließen.

    Höchste Zeit, sich aus dem Staub zu machen, dachte Johnny, als er auf der anderen Seite des Wagens wieder den Boden berührte. Er lief los.

    Und ebenso lief die Menschenmenge los.

    Schreiend.

    Rufe, Stöhnen und dazwischen das entsetzlich Knack von schwerem Kunststoff auf Knochen.

    Johnny ließ seine lächelnde Maske fallen; sie war nicht länger erforderlich. Er lockerte seine Krawatte. Die Menge rannte zunehmend schneller, und er hatte keine andere Wahl mehr, als sich mit ihr zu bewegen. Er warf einen Blick auf seine Uhr und dann auf das Ideogramm über der Straße, nur ein paar Blocks entfernt: Peking Ramada-Hotel.

    Kaum noch rechtzeitig zu schaffen, dachte er. Dann verlangsamte er sein Tempo ein wenig und begann, sich zum Rand der Menschenmenge hin zu bewegen - aber es wurde immer schwieriger, je schneller die Leute wurden. Er stieß mit einem Mann zusammen, der ein Megaphon trug und ihn in unverständlichem Mandarin anbrüllte. Eine junge Chinesin in einer purpurroten Bluse stürzte vorbei. Sie war unglaublich schön, aber bereits von NAS gezeichnet. Ihre Augen starrten wild, und ihre Bewegungen waren unkontrolliert. Hatte sie etwa gerade versucht, Blickkontakt mit ihm herzustellen? Unter ihrer Bluse erblickte Johnny die leichte Wölbung einer Brust, die ihn an etwas erinnerte...

    Aber Johnny wollte sich an nichts erinnern.

    Er hatte einen Auftrag zu erledigen.

    Endlich hatte er es bis zum Straßenrand geschafft; er lehnte sich an eine Hauswand und durchwühlte seine Taschen nach der Visitenkarte, auf der die Zimmer-Nummer notiert war.

    Genau in diesem Augenblick ging die junge Chinesin derart plötzlich zu Boden, dass einer der verfolgenden Bereitschaftspolizisten fast über sie gestolpert wäre. Die Straße war voll von trampelnden Füßen, aber anstatt seinen Kollegen zu folgen, hielt der Polizist an, um der Gestürzten den Rest zu geben. Er blickte arrogant auf das Mädchen hinab, nahm den Schlagstock hoch und...

    Ohne nachzudenken stürzte Johnny vor und blockte den Hieb mit seiner Aktentasche ab.

    Der Polizist drehte sich ausdruckslos zu ihm um. Johnny blickte in die schwarze Lucite™-Gesichtsmaske und sah nichts außer seinem Spiegelbild: Ein Geschäftsmann in dunklem Anzug, der seine Aktentasche wie einen Schild erhoben hielt. Das Mädchen stolperte auf die Füße und rannte los, während es einen bedauernden Blick über die Schulter zu ihm zurückwarf, als wollte es sagen: »Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben - ich wünschte, ich könnte Ihnen jetzt ebenso helfen...« Der Polizist wandte sich ab und verfolgte das Mädchen, und Johnny atmete erleichtert auf. Sie muss alleine klarkommen. Ich hab' andere Dinge zu...

    Plötzlich spürte er, wie ihn von hinten eine Hand am Kragen packte und gewaltsam herumwirbelte. Er fiel auf die Knie. Als er hochblickte, sah er den drohenden Schatten eines weiteren Polizisten über sich auf ragen. Natürlich war auch sein Gesicht hinter einer schwarzen Schutzmaske verborgen, doch Johnny konnte sich ohne Schwierigkeiten das boshafte Lächeln dahinter vorstellen, als der Schlagstock auf Betäubung umgeschaltet wurde und an seiner Spitze ein kleines rotes Licht aufglomm. Der Polizist senkte den Stock langsam, fast spöttisch zu Johnnys Gesicht herab.

    Zu langsam.

    Johnnys Hand war schon aus der Manteltasche heraus und sein Finger bereits auf dem Knopf der winzigen Sprühdose Ganovenschreck™ (Verwandelt Täter mit per Knopfdruck in Opfer!). Seine Hand schoss hoch, unter die Maske des Polizisten, und der Finger drückte den Knopf.

    Der Polizist ließ los, und Johnny stolperte auf die Beine. Der Polizist schrie nicht auf, und Johnny erkannte, dass er ihm die volle Ladung genau im richtigen Augenblick - beim Einatmen - verpasst haben musste. Der Polizist ließ seinen Schlagstock fallen und fummelte an seinem Helm, um ihn abzuziehen, während die anderen Polizisten an ihnen vorbeirannten und der Menge hinterhersetzten.

    Johnny wusste, dass sein Gegner noch mindestens weitere sechzig Sekunden nicht schreien würde.

    Und dann würde er eine ganze Weile nicht mehr damit aufhören.

    Johnny verdrückte sich um eine Hausecke und überquerte die Straße in Richtung des hell erleuchteten Hoteleingangs. Er warf jetzt die nutzlos gewordene Sprühdose in einen Abfalleimer und fischte die Visitenkarte aus der Hosentasche. Während er die automatische Drehtür des Hotels passierte, faltete er die Karte auf, um nach der Zimmer-Nummer zu sehen, die auf der Innenseite notiert war: 2571.

    Aus dem fünfundzwanzigsten Stockwerk des Peking Ramada betrachtet wirkt die zweitgrößte Stadt der Welt wie ein Ozean aus Lichtern - als wäre die Milchstraße auf einem dunklen Planeten gestrandet. Mit Ausnahme der Geräusche weit entfernter Sirenen erinnerte der Anblick an einen hoch-auflösenden Videoschirm, der vor Informationen schier überfloss: eine digitale Landschaft aus Licht und Dunkelheit, ohne die komplizierten Grautöne lebendiger Wesen dazwischen.

    Die komplexen Grautöne sind es, für die wir überhaupt leben, dachte der junge vietnamesische Wissenschaftler. Er bewegte sich leicht, um seine Frau und das Baby zu betrachten, die sich im Glas spiegelten: das warme Bild einer Familie, das eine weite, kalte und ungastliche Welt überlagerte.

    Er schauderte, als er daran dachte, wie sehr er sie liebte und wieviel er für eine abstrakte Menschlichkeit zu riskieren im Begriff war.

    Seine Frau stillte ihre kleine Tochter, die endlich aufgehört hatte zu schreien.

    Der junge Wissenschaftler hätte alles gegeben, um sie nicht hierher bringen zu müssen, aber ihm war keine andere Wahl geblieben.

    Er wandte sich dem älteren Mann zu. Dieser war ebenfalls Vietnamese und stand dicht neben ihm. Beide waren in konservative dunkle Anzüge gekleidet, billige, durchgescheuerte Anzüge, die sie als Wissenschaftler, vielleicht sogar Akademiker auswiesen.

    »Der Kurier hat Verspätung«, sagte der jüngere Mann.

    »Bleib ruhig«, antwortete der Ältere.

    »Ruhig!« Der Jüngere wich vom Fenster zurück und ließ den Blick über das Hotelzimmer schweifen. Was er sah, steigerte seine Nervosität nur noch weiter. Sie waren in seinen Augen keine Menschen, sondern nur Muskelberge.

    Sie hatten die vier Koreaner, die mit ihnen die Hotel-Suite teilten, nicht wegen ihrer gesellschaftlichen Umgangsformen angeheuert. Sie waren Killer. Ihr Anführer hatte die Statur eines Sumo-Ringers und trug ein SpeedRacer™-T-Shirt und Sporthosen. Er hatte den Rauchmelder außer Betrieb gesetzt und war damit beschäftigt, Shrimps auf einem kleinen Hibachi™-Holzkohlegrill zu grillen, der auf dem Couchtisch stand. Der zweite Mann, ebenfalls in T-Shirt und Sporthose, zappte durch das Fernsehprogramm und überflog die Berichte über den Aufstand unten in den Straßen. Schließlich blieb er bei einem japanischen Superhelden-Zeichentrick hängen.

    Einer Wiederholung.

    Die beiden anderen koreanischen Leibwächter waren Frauen. Die eine von ihnen war kurzhaarig und muskulös und trug einen offenstehenden Bademantel. Es kümmerte sie offensichtlich nicht, dass ihre bunten Tätowierungen und die olivfarbene Baumwollunterwäsche darunter zu sehen waren, während sie lässig ihre 9-mm-Glock™-Halbautomatik mit Q-Ups™ reinigte. Die andere blätterte durch eine zwei Monate alte Ausgabe von Glamour und sah aus, als wäre sie aus eben diesem Magazin entsprungen: ihre Frisur und ihr Make-up waren perfekt. Sie trug ein Kleid der Marke Victoria's Secret™ und darunter andere elegante Geheimnisse, wie zum Beispiel eine .357er Magnum.

    »Warum verspätet er sich?«, flüsterte der junge Vietnamese seinem Partner zu. »Wir hätten es doch über das globale Netz verbreiten sollen, solange noch Zeit dazu gewesen ist.«

    »Nein«, widersprach der Ältere. Er hatte die scharfen Gesichtszüge und das unaufdringliche Benehmen eines Onkel Ho Chi Minh. »Es wäre reiner Selbstmord gewesen. Sie beobachten jedes Datenfragment, das wir übertragen. Der einzig mögliche Weg ist ein Kurier.«

    »Und deshalb müssen wir einen Kriminellen mit einem Silicium-Chip in seinem Gehirn anheuern?«

    »Nur einen hochbegabten Schmuggler«, erwiderte der Ältere. Er legte seine Hand auf den Arm seines aufgebrachten jüngeren Begleiters. »Außerdem hat sie ihn ausgewählt, genauso wie sie uns ausgewählt hat. Vergiss das nicht.«

    Der junge Mann war noch immer nicht beruhigt. »Er kommt zu spät!«

    »Amerikaner haben eine andere Vorstellung von Pünktlichkeit...«

    Nicht nur der Kurier war spät dran.

    Ein paar Blocks vom Hotel entfernt, hinter der Bereitschaftspolizei, wartete eine graue Limousine auf das Ende der Aufräum-Aktion (ein Ausdruck, der von Jahr zu Jahr wörtlicher zu verstehen war; die NAS-Demonstrationen nahmen weltweit immer gewalttätigere Formen an). In der Limousine saßen sechs unauffällig gekleidete, ungeduldige Geschäftsleute und warteten darauf, dass der Verkehr wieder zu fließen begann.

    Zumindest sahen sie in ihren grauen Anzügen auf den ersten Blick wie Geschäftsleute aus. Fünf Männer und eine Frau. Sie saßen schweigend, mit leeren Gesichtern und scheinbar unendlicher Geduld in der Limousine, und nur ihre Finger, die nervös auf den Sporttaschen in ihren Schößen trommelten, verrieten die Spannung, unter der die Insassen des langsam dahinkriechenden Wagens standen.

    Der Mann auf dem rechten Vordersitz blickte auf seine Uhr, dann durch das Fenster auf das Verkehrschaos und schließlich durch das Sonnendach der Limousine auf die atemberaubend erleuchteten Hochhäuser, durch die Peking bereits seit geraumer Zeit New York als die Welthauptstadt der Wolkenkratzer abgelöst hatte. Viele der Pekinger Hochhäuser waren postpostmoderne Konstrukte, deren virtuelle holografische oberste Stockwerke mit den Jahreszeiten ihr Aussehen änderten; war ihr Anblick schon am Tage dramatisch, so waren sie des Nachts erst recht atemberaubend schön.

    Nicht, dass der Mann, der durch das Wagendach nach oben blickte (geschweige denn einer seiner fünf Begleiter) Augen für die Schönheit gehabt hätte. Sie waren Profis. Sie arbeiteten für die größte, bekannteste und gefürchtetste kriminelle Organisation der Welt.

    Die Coca-Cola™-Company des Verbrechens.

    Sie waren Yakuza.

    Der Mann vorn rechts, der nach oben blickte, war der jüngste und gleichzeitig der am härtesten wirkende der Sechs. Er war Japan-Amerikaner und ebenso teuer in einen unauffälligen, maßgeschneiderten dunklen Anzug gekleidet wie seine Kollegen, doch trug er sein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

    Der Wagen kroch ein paar Meter weiter und bog um eine Straßenecke, und der Mann erblickte endlich, wonach er gesucht hatte. Ein Neon-Holo, das hoch über Türmen mit falschen Zinnen schwebte: Peking Ramada.

    Das Hotel war noch immer einige Blocks weit entfernt, aber nicht mehr zu weit zum Laufen, selbst mit den schweren Sporttaschen nicht, die die anderen Yakuza festhielten.

    Der Mann mit dem Pferdeschwanz wollte eben den Befehl zum Aussteigen erteilen, als die Limousine sich - langsam zunächst, dann immer schneller werdend - in Bewegung setzte.

    Er blickte auf die Uhr und nickte, mehr zu sich selbst als zu den anderen.

    Fast lächelte er sogar.

    Das erste, was Johnny auffiel, als er aus der automatischen Drehtür in die Empfangshalle des Hotels trat, war der Geruch: diese merkwürdige, seltsam vertraute Hotelmischung aus Pflanzen und Speisen, Schuhcreme und Tabaksqualm. Und dann die Geräuschkulisse: das angenehme Murmeln und geschäftige Trappeln, das Summen - all das kontrollierte Chaos von Reisenden, die unaufhörlich kamen und gingen.

    Eine ganze Wand der Lobby des Peking Ramada wurde von Fernsehmonitoren eingenommen, die gemächlich von Kanal zu Kanal wechselten, während Sensoren erfassten, wie viele Augenpaare auf welchen Schirmen ruhten; auf diese Weise kontrollierten die Gäste in der Lobby selbst und gemeinsam, was auf den Schirmen lief. Aber niemand sah hin - niemand außer einem Fünfjährigen und einem runzligen Veteranen in einer abgetragenen, aber sorgfältig gepflegten Uniform der Roten Volksarmee. Deshalb zeigte die eine Hälfte der Monitore ständig die letzten Nachrichten über die NAS-Unruhen und die andere einen japanischen Superhelden-Zeichentrick - eine Wiederholung, gewaltverherrlichend und von falschem Blut triefend, die Johnny, der unmittelbar hinter dem Eingang stehengeblieben war, fast noch schlimmer erschien als die Wirklichkeit draußen auf den Straßen.

    Johnny hatte kein Problem mit echtem Blut; echtes Blut konnte man aufwischen. Falsches Blut hingegen nicht.

    Während Johnny die Lobby nach seinem Kontaktmann absuchte,

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