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Renaissance 2.0: Nuhåven
Renaissance 2.0: Nuhåven
Renaissance 2.0: Nuhåven
eBook615 Seiten8 Stunden

Renaissance 2.0: Nuhåven

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Über dieses E-Book

Der Roman ist der Anfang einer Trilogie, in der eine Gruppe junger Menschen durch diverse Zufälle zusammenkommt, um ihr Land vor der desaströsen Politik ihrer Bundessenatorin zu retten. Der Hauptprotagonist ist zunächst ein Junge ohne Erinnerungen. Erst, wenn er diese wiedererlangt, kann er seine Mission beenden. Dies ist jedoch mit einigen Schicksalsschlägen verbunden, welche den Jungen in einen Abgrund stürzen.

"Er hatte keine Ahnung, wer er war noch wo er war. Er wusste nur, dass er überleben musste in dieser neuen, unbekannten Welt voller Gewalt und Unrecht. Selbst diejenigen, die das selbe Schicksal erlitten, machten Jagd auf ihn. Denn jeder wollte überleben. Und jeder machte jemand anderes für sein Schicksal verantwortlich. Doch eigentlich waren es nur die Reichen und die Regierung, die diesen Zustand hervorgebracht hatten.

Doch manchmal gibt das Schicksal dir eine zweite Chance.

Tandra leitete seit knapp einem Jahr das Jugendheim für Straßenkinder in der Stadt, als der namenlose Junge dort eintraf. Schon bald entwickelte sich ein Art der Zuneigung zwischen den beiden. Sie tat alles, was in ihrer Macht stand, um ihm zu helfen, seine Erinnerungen zurückzugewinnen. Hätte sie auch nur die geringste Ahnung gehabt, was das für sie und alle anderen Beteiligten bedeutete, wer weiß, wie dann ihre Entscheidung ausgefallen wäre. Wer weiß, ob sie dann noch bei ihm geblieben wäre."
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum30. Mai 2021
ISBN9783754127636
Renaissance 2.0: Nuhåven

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    Buchvorschau

    Renaissance 2.0 - Christian Jesch

    Renaissance 2.0

    Nuhåven

    Cetian

    Ich widme dieses Buch meiner Mutter, die leider die Vollendung meines Romans nicht mehr miterleben konnte. Die aber immer an meiner Seite war, wenn ich sie gebraucht habe. Danke, Mutter.

    Kapitel 1

    'Staatliche Heilanstalt für Kinder und Jugendliche' stand auf dem Schild rechts neben dem Stahltor. Dicke, meterhohe Betonmauern führten rechts und links davon weg, scheinbar ohne Ende.

    Ein riesiger Monitor zeigte erwachsene Frauen und Männer, die geehrt wurden. Dazu hörte man bei jeder einzelnen Person 'Die Mutter von ...' oder 'Der Vater von ...'. Danach Filmszenen von der Festnahme einzelner Kinder und Jugendlicher. Straßenkinder. Jugendliche Widerstandskämpfer, im Film Renegaten genannt.

    Vor dem Monitor eine große Anzahl Kinder und Jugendlicher. Wächter mit Elektroschockern, die darauf achten, dass alle sich den Film ansahen.

    Dann eine neue Szene. Ein Soldat, der über ein totes Feld lief. Dazu die Worte: 'Der Vater von Jikav. Ein Feigling und Deserteur, der das Mutterland unserer geliebten sozialdemokratischen Bundessenatorin Mår-quell verraten hat. Tot, elendig verreckt an den Folgen des Krieges. Die Gerechtigkeit hat gesiegt.'

    Eine weitere Szene. Eine Frau umringt von Regierungsbeamten und Proteqtoren. Dazu die Worte: 'Die Mutter von Jikav. Ebenfalls eine Verräterin an unserer geliebten sozialdemokratischen Bundessenatorin Mår-quell. Sie wollte verhindern, dass es dem Volk besser geht. Tot, auf der Flucht erschossen. Die Gerechtigkeit hat erneut gesiegt'.

    Die nächste Szene: Ein Junge wird abgeführt. Er wehrt sich heftig. Er greift nach einem schweren Gegenstand und prügelt auf den Mann ein, der ihn abführen will. Der Junge trifft den Mann immer und immer wieder, bis dieser reglos am Boden liegt.

    Der Monitor erlischt und der Junge aus dem Film wird nach vorne geholt.

    Der Monitor leuchtet wieder auf. Eine Frau mit einer Kurzhaarfrisur mit Pony erscheint. Sie sieht alt aus. Von ihren Mundwinkeln ziehen sich zwei tiefe Falten bis hinunter zum Kinn, wie bei einer Marionette.

    'Dieser Junge ist schlimmer als ihr alle zusammen. Seine Eltern sind schlimmer als all eure Eltern zusammen. Er ist der Untergang unserer wundervollen sozialdemokratischen Zivilisation.'

    Der Junge stößt einen lauten und hohen Schrei aus. Seine ganze Wut und Enttäuschung, seine gesamte Energie steckt in diesem einen einzigen Laut. Und er nimmt kein Ende, bis sein Gesicht rot anläuft. Die Anwesenden halten sich die Ohren zu, taumeln umher, versuchen diesem Geräusch zu entkommen, während die Bundessenatorin im Film immer weiter spricht. Dann, noch bevor all die Kinder, Jugendlichen und ihre Wächter kraftlos und blutend zusammenbrechen, explodiert die Mauer zur Außenwelt mit einem ohrenbetäubenden Knall.

    Mit weit aufgerissenen Augen und keuchendem Atem schreckte er hoch. Sein Kopf zuckte nach rechts und links, hoch, seitwärts, runter. Alles zur selben Zeit. Panisch tastete er um sich. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Hände erkundeten die Umgebung. Er spürte glatte Wände, einen rauen, verdreckten Boden. Dann tastete er seinen Oberkörper ab. Ein heftiger Ruck erschütterte sein Gleichgewicht und warf ihn wieder zu Boden. Orientierungslos und panisch blickte er sich um. Seine Augen konnten die Dunkelheit nicht durchdringen. Lediglich ein einziger Lichtstrahl, der durch eine Luke weiter vorne im Dach eindrang, erhellte seine Umgebung. Der Teenie lag auf dem Rücken, der durch den Aufprall etwas schmerzte. Nicht schlimm, aber ärgerlich. Der Ruck hätte wirklich nicht sein müssen. Vorsichtig stemmte der Jugendliche sich verwirrt hoch. Zunächst auf die Ellenbogen, dann auf die Handflächen. Sitzend erkundete der Junge mit den Händen seine direkte Umgebung ein weiteres Mal. Rechts und links neben sich fühlte er erneut die glatten Wände, die sich bei näherer Betrachtung scheinbar als Kisten aus Plastik entpuppten. Der Teenie versuchte diese neue Erkenntnis zu verarbeiten und eine Lösung dafür zu entwickeln, wo er sich befand und was der Ruck zu bedeuten hatte. Die bis dahin wenigen gesammelten Informationen brachten ihn jedoch nicht weiter. Langsam stand der Junge auf. Sich immer noch an den Kisten entlangtastend ging er vorsichtig einige Schritte den Gang entlang, in dem er sich befand. Immer wieder fragte er sich, was dies sein könnte. Plötzlich waren da auf einer Seite keine Kisten mehr. Er stand jetzt unter der Luke. Allem Anschein nach war es Nacht, denn er konnte über sich nur ein dunkles Blau ausmachen. Keine Sterne. Nichts. Gefühlt war da aber noch etwas anderes. Etwas, das dann doch Licht spendete. Genügend Licht, dass der Junge Schemen eines Tors oder etwas das dem ähnlich war, sehen konnte. Während er vollkommen ratlos da stand hörte er auf einmal Stimmen.

    Wir sind da. Waggon 29/8522-54. Holen wir erst einmal die Ladeliste von hinten und vergleichen sie. Dann gehen wir rein.

    Panik stieg in ihm hoch. Ein weiteres Mal zuckte sein Kopf in alle Richtungen. Die Stimmen kamen immer näher. Verzweifelt suchte er ein Versteck. Der Teenie zog einen Turm aus Kisten vor, schlüpfte dahinter und zog diese dann so dicht wie möglich wieder an seinen Körper heran. Dann wartete er. Die Stimmen gingen weiter. Erleichtert atmete er auf. Nach wenigen Sekunden wurde das Tor unerwartet mit einem lauten Rattern aufgerissen. Paralysiert hielt er den Atem an. Durch einen kleinen Schlitz konnte der Junge beobachten, wie zwei Männer das Innere betraten.

    Also gut, sagte die Stimme, die auch schon vorher gesprochen hatte. Du gehst nach links. Ich nach rechts. Hier sind deine Papiere. Du brauchst nicht jede einzelne Kiste zu kontrollieren. Mach einfach Stichproben. Das reicht schon. Sonst dauert das die ganze Nacht, bis wir hier alles durchgegangen sind und ich will heute früh nach Hause.

    Hmm, war das Einzige, was der andere von sich gab. Dazu nickte er mit dem Kopf, dann trottete er missmutig nach links, den Gang hinunter.

    Angst und Nervosität machten sich bei dem Jugendlichen breit. Hektisch überlegte der Teenager, wie er dieser Situation entkommen konnte. Die Männer bewegten sich von ihm weg. Der Jugendliche wartete noch, dann schob er den Turm langsam von sich weg. Millimeter um Millimeter. Nur kein Geräusch machen, dachte er sich. Als der Zwischenraum breit genug war, hielt er inne, lauschte und quetschte sich schließlich hinter den Kisten hervor. Mit einem letzten Blick in das Innere sprang der Junge durch das Tor.

    Er landete im Gras. Verwundert griff er nach den Halmen und ließ sie durch seine Finger gleiten. Gras und Erde? Der Teenie war verwirrt. Warum sollte ein Zug mitten im Nirgendwo halten. Die Verwirrung hielt nicht lange an. Sein Herzschlag lag weit über dem Normalen. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er verschwinden musste. Schnell bewegte er sich von dem Ort weg und suchte nach Deckung. Etwas weiter war ein vertrockneter Busch, hinter den der Jugendliche sich kauerte. Dann betrachtete er den Güterwaggon, aus dem er gesprungen war. Dieser schimmerte leicht bläulich. Auf seiner Seite standen in großen, fetten Buchstaben die Worte ORGANIKA AGRICULTURAE. Allerdings hatte der Waggon seine besten Tage schon längst hinter sich. Das bestätigten diverse Rostflecken und Beulen, sowie die abblätternde Farbe der Schrift.

    Er war also mit einem Zug hierhergekommen, dachte der Junge. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er in diesen Waggon gekommen war. Sein Blick wanderte umher. An einigen anderen Stellen standen noch andere Züge wie der Seine. Einige wurden entladen, andere rangierten auf den vielen Gleisen, die der Teenie in der Dunkelheit gerade noch zu erkennen glaubte. Jetzt fiel ihm auch die Bogenlampe neben dem Waggon auf, die das bisschen Licht durch die Dachluke gebracht hatte und für das bläuliche Schimmern zuständig war. Er machte sich im Schutz des Busches so klein wie möglich. Mit seinen ...  Seine Gedanken setzten kurz aus. Wie viel Jahre? Er überlegte, wie alt er war. Doch er hatte keine Ahnung. Er strengte sich immer mehr an, wollte es unbedingt herausfinden. Es nützte nichts. Dann versuchte er sich an seinen Namen zu erinnern. Auch das konnte er nicht. Schlagartig waren da wieder Stimmen, die näher kamen und ihn aus seiner Verzweiflung rissen. Er durfte hier nicht entdeckt werden. Der Junge sprang auf und versuchte von den Stimmen zu entkommen.

    Hast du das gesehen?, fragte der eine Mann.

    Was meinst du?

    War da nicht eben ein Schatten?, wollte sich der erste Mann vergewissern.

    Und wenn schon. Wen interessiert das schon?, antwortete der andere Mann gelangweilt.

    Der Junge wollte möglichst schnell eine große Distanz zwischen sich und die Stimmen bringen. Dabei versuchte er die Orientierung nicht zu verlieren, was bei der Dunkelheit nicht einfach war. Zu seiner Linken befand sich ein großes, hell erleuchtetes Areal mit hektischer Betriebsamkeit. Dort wurden Container mit Spezialkränen von den Güterwaggons auf schwere Lastkraftwagen verladen. Andere Waggons wurden mit Gabelstaplern geleert, die ihre Paletten auf Förderbänder abstellten, welche dann die Ware in das Innere eines riesigen Gebäudekomplexes transportierten.

    Er drehte sich wieder um und lief in die entgegengesetzte Richtung weiter. Plötzlich verhakte sich sein Fuß in etwas am Boden. Der Teenie schlug der Länge nach hin. Dabei prallte sein Brustkorb auf einen Schienenstrang. Wenn er gekonnt hätte, wäre ein lauter Schrei aus seiner Kehle entwichen. Doch der Aufprall hatte ihm sämtliche Luft aus den Lungenflügeln gepresst. Betäubt blieb er einige Augenblicke so liegen. Der Schmerz in seinem Brustkorb war unerträglich. Er versuchte erst leicht dann immer intensiver einzuatmen. Bei jedem tiefen Atemzug stachen tausend Messer in seine Lunge und die Brustmuskulatur. Erst nach einigen Minuten wagte der Jugendliche es aufzustehen. Solche Schmerzen hatte er noch nie empfunden, glaubte er zumindest. Er dachte kurz darüber nach, bevor er sich selber fragte, wie er überhaupt hierhergekommen war. Innerlich hoffte er, dass nichts gebrochen war. Sollte etwas seine Lunge durchbohrt haben, wäre das sein Ende.

    Langsam, mit leicht nach vorne gebeugtem Oberkörper, die Hände auf die Oberschenkel gestützt ging er vorsichtig in die Richtung weiter, die er scheinbar schon vor Stunden eingeschlagen hatte. Von Zeit zu Zeit legte er dabei eine Hand auf den Brustkorb. Dabei bemerkte er auf einmal, dass sein Oberteil an einer Stelle feucht war. Der Junge versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Das war nicht möglich. Er strich mit einem Finger über die nasse Stelle und leckte diesen dann ab. Was er da schmeckte, war eisenhaltig. Blut.

    Panik kroch in ihm hoch. Erneut tastete er über seinen Brustkorb. Er suchte an der blutenden Stelle nach einer Erhebung, einem Knochen, der die Haut durchstoßen hatte. Zu seiner Erleichterung fand er nichts dergleichen. Scheinbar war es wohl eher eine Platzwunde oder ähnliches, aus der er blutete. Langsam richtete er sich auf, um wieder in einer normalen Gangart voranzukommen. Da das Gelände uneben war, stolperte der Jugendliche mehr durch das Gras, was ihn öfters straucheln ließ, als dass er gehen konnte.

    Irgendwann hörte der Teenie laute Motorengeräusche, welche scheinbar von rechts kamen und nach links verschwanden. Dann ein weiteres. Diesmal von links nach rechts. Dann noch eins. Der Junge blieb unsicher stehen. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was das zu bedeuten hatte. Erst allmählich wurde ihm klar, es musste eine Straße sein. Die Motoren waren die Fahrzeuge darauf. Seine Schritte steigerten sich und sein Tempo wurde schneller. Endlich erreichte er den Rand des Geländes und stand vor einem zweieinhalb Meter hohen Zaun. Seine Zuversicht, die noch vor wenigen Minuten in ihm aufgestiegen war, verließ ihn jetzt innerhalb einer Millisekunde und machte Enttäuschung platz. Erschöpft sank er im Gras auf die Knie. Mit beiden Händen umfasste er die Gitterstäbe im Zaun. Er senkte die Stirn gegen das kalte Metall. Seine Frustration war so groß, dass er noch nicht einmal die Schmerzen in seinem Brustkorb mehr wahrnahm. Übermüdet und halb bewusstlos ließ er sich zu Boden gleiten.

    Kapitel 2

    Abermals wurde er von dem Schrei und der Explosion aus seinem Alptraum gerissen. Erneut zuckte sein Kopf in alle Richtungen gleichzeitig, tasteten seine Hände die Umgebung ab. Schließlich blieb er mit weit aufgerissenen Augen und heftigen, kurzen Atemstößen sitzen. Das Metall in seiner Hand war kalt und dünn. Langsam dreht er den Kopf und erkannte einen Zaun. Auf der anderen Seite war eine Straße mit Beleuchtung. Erstaunt fragte sich der Junge, wo er war. Er fand keine Erklärung dafür, warum er zwischen einem Busch und einem Zaun lag. Noch weniger konnte er sagen, wie er dort hingelangt war. Der Teenie ließ seien Blick schweifen. Auf der Straße war reger Verkehr zu beobachten. Aufgrund der Dämmerung musste es früher Morgen sein. Er schaute von der Straße weg in die entgegengesetzte Richtung. Dort befand sich ein riesiges Gelände, dessen Funktion er nicht erahnen konnte. Irgendetwas sagte ihm jedoch, dass er dort nicht hin wollte. Seine Augen folgten dem Zaun nach oben. Der Junge schätzte die Höhe auf zweieinhalb Meter. Er stand auf, griff nach der obersten Querstrebe, die er erreichen konnte – und ein heißer Schmerz durchstieß seinen Brustkorb. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Der Teenie ließ die Querstrebe wieder los und tastete seine Brust ab. Er betrachtete sich den tief dunkelblau verfärbten Striemen, der quer über seinen Thorax verlief. Ungläubig grübelte der Junge darüber nach, wie er an diese Verletzung gekommen war. Seine Erinnerung stieß immer weiter ins Leere. Ohne eine Antwort gefunden zu haben, versuchte er es ein weiteres Mal den Zaun zu erklettern, da er dies für das einzig richtige hielt. Auch, wenn er es nicht begründen konnte.

    Es dauerte eine geraume Zeit, bis er unter den starken Schmerzen den oberen Rand erreicht hatte. Mühsam quälte der Junge sich darüber hinweg. Da die Querstreben auf der Innenseite des Zauns angeschweißt waren, fehlte ihm auf dieser Seit jedweder Halt für Füße und Hände. Weshalb er mehr rutschte und fiel, als dass er kletterte.

    Na, Kleiner. Wo kommst du denn her?, sprach ihn ein Jugendlicher an. Auch wenn seine Erinnerung gleich Null war, sein Gefühl arbeitete noch perfekt. Und dieses Gefühl sagte ihm, dass er in Schwierigkeiten war.

    Was ist los, fuhr ihn der Jugendliche an. Kannst du nicht reden oder willst du nicht? Noch bevor der Teenie antworten konnte, wendete sich der Straßenjunge an seine Begleiter.

    Ich glaube, der feinen Herr braucht mal eine Lektion in Sachen Manieren. Dafür sind wir doch bestens geeignet. Oder was meint ihr? Seine Begleiter grinsten und schlugen ihre Fäuste in die Handflächen. Der Junge wusste genau, dass er sich jetzt so schnell es nur ging, von den Dreien entfernen musste. Doch die standen um ihn herum. Mit dem Zaun im Rücken war dem Jungen damit jeder Fluchtweg verschlossen. Trotzdem versuchte er es und wurde prompt von zwei starken Armen daran gehindert. Was dann folgte, war eine wilde Schlägerei, bei der er nicht die geringste Chance hatte. Er versuchte sich so gut es ging vor den Schlägen zu schützen. Das war aber auch schon alles, was er konnte.

    Wie er so am Boden lag, mit Blut im Gesicht, Schmerzen in Brust und Bauch, begann er irrwitziger Weise die Passanten zu zählen, die an ihm vorbeigingen, ohne ihn zu beachten oder gar zu helfen. Der eine hielt ihn für drogenabhängig, der Nächste für einen Alkoholiker, der Dritte für die größte Schande der Menschheit. Nach einer unbekannten Zeit ließen die Schmerzen etwas nach, sodass er aufstehen konnte. Wie ein Betrunkener stützte sich der Teenie an dem Zaun mit einer Hand ab, während er versuchte die Straße entlangzugehen. Die Menschen, die er passierte, ekelten sich vor ihm und riefen wüste Beschimpfungen hinter dem Jungen her, der nichts für seinen Zustand konnte. Nach einigen hundert Metern versperrte eine am Zaun befestigte dunkelgrüne Plane den Weg. Sie war mit zwei Eisen schräg im Boden festgemacht. Davor stand eine hochgeklappte Palette, die wie eine Tür mit Kabelbindern als Angel am Zaun festgemacht war. Das Ganze erinnerte weitestgehend an ein provisorisches Zelt. Er schaute durch die Zwischenräume des Holzkonstruktes ins Innere. Dort lag eine weitere Palette am Boden. Auf ihr eine alte, vergammelte Matratze. Der Teenie schaute sich um. Niemand kümmert sich um das, was er dort trieb. Er schob die Palette zur Seite, betrat den kleinen Raum und zog dann die hölzerne Transporthilfe wieder zu. Erschöpft ließ er sich auf die Matratze fallen. Nach und nach betastete er seine schmerzenden Körperteile. Dabei fand er die ein oder andere Stelle die mehr oder minder blutete. Dass er dabei Dreck in die Wunden rieb, kam ihm nicht in den Sinn. In was für eine Welt war er hier nur geraten? Er versuchte sich daran zu erinnern, ob da, wo er herkam, die Menschen genauso grässlich waren. Doch diese Frage blieb unbeantwortet, da ihm klar wurde, er wusste überhaupt nicht, wo er hergekommen war. Sein Alter, sein Name, seine Herkunft, seine Eltern. Da war einfach nur eine unendliche Leere. Ihm wurde schwindelig. Übelkeit machte sich in dem Jungen breit. Dann Dunkelheit.

    Hey! Verschwinde hier! Das ist mein Platz. Oder glaubst du, ich habe mir all die Mühe gemacht die Sachen hier zusammenzutragen, nur damit so ein Penner, wie du, hier herumlungert?

    Diesmal war es nicht der Schrei aus seinem Alptraum, der ihn hochriss, sondern der Jugendliche, der vor ihm stand. Seine erste Reaktion war es, in Panik sich so weit wie möglich von der Person zu entfernen, die so herrisch auf ihn einbrüllte. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegend schob sich der Teenie immer weiter in die Ecke. Der Jugendliche beobachtete ihn dabei. Der Junge konnte nicht sagen, ob der große Kerl wirklich wütend war. Das Licht seiner Taschenlampe blendete den Teenie, sodass er nur einen vagen Umriss erkennen konnte. Auf einmal wanderte der Lichtkegel an ihm runter und wurde kleiner, als der Unbekannte auf ihn zukam.

    Was ist denn mit dir passiert?, fragte die Stimme jetzt erstaunt und vielleicht auch ein wenig besorgt. Du siehst ja aus, als hätten sie dich in die Presse gestopft. Es entstand eine                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Pause. Du musst neu hier sein. Ich hab dich noch nie zuvor in der Gegend gesehen. Und ich kenne fast jeden. Wie heißt du?

    Er war sich nicht sicher, was der plötzliche Wandel zu bedeuten hatte. Misstrauisch beäugte er den Fremden, der mittlerweile die Taschenlampe wie eine Deckenleuchte aufgehängt hatte. Er war eindeutig größer als der Teenie und auch nicht so schmächtig. Dafür aber genauso dreckig. Sein Gesicht wurde von einem leichten Bartwuchs verziert. Die Kleidung war nicht so heruntergekommen, wie man vielleicht glauben sollte. Eigentlich sah er harmlos aus, aber der Junge traute ihm trotzdem nicht.

    Entschuldige bitte, dass ich vorhin so harsch war. Um hier auf der Straße überleben zu können, muss man laut und auch aggressiv sein. Sonst machen dich die anderen fertig. Ich bin übrigens Veizs. Und wie ist dein Name?

    Der Junge dachte noch einige Momente über das Gesagte nach, bevor er sich traute etwas zu erwidern. Doch was sollte er erzählen? Er wusste ja nichts.

    Ist schon gut, ermunterte ihn Veizs. Wir können morgen darüber reden.

    Nein, das ist schon in Ordnung. Nur …, er zögerte. Ich weiß nicht, wer ich bin.

    Was meinst du damit, du weißt nicht, wer du bist? Veizs war vor Erstaunen fast die Kinnlade heruntergefallen.

    Ich habe wohl keine Erinnerung. Alles ist so leer.

    Woran kannst du dich denn noch erinnern?, wollte der Jugendliche neugierig wissen. Etwas Ähnliches hatte er noch nie erlebt.

    Dass du mich angeschrien hast.

    Und davor? Erinnerst du dich noch daran, wie du in meinen Unterschlupf gekommen bist? Es entstand eine lange Pause, in der der Junge suchend umherschaute.

    Nein.

    Jetzt klappte Veizs die Kinnlade runter. Mit weit geöffnetem Mund stand er da und überlegte. Da er zu keinem Ergebnis kam, schüttelte er den Kopf und betrachtete sich dann die Wunden, die der Junge offensichtlich unter seiner Kleidung hatte.

    Du meine Güte, stieß er laut aus. Bist du von einem Bus überfahren worden? Er stockte. Du weißt, was ein Bus ist, oder?

    Ja, das weiß ich. Und ja, vielleicht. Jedenfalls fühle ich mich so. Da hast du recht.

    Einige der Wunden sehen übel aus. Schlaf dich erst einmal aus. Wir seh'n uns das am Morgen noch einmal genauer an.

    Bei dem Gedanken an Schlaf mischte sich Freude mit Unsicherheit. Der Junge benahm sich zwar nett und höflich, nachdem er ihn so angeschrien hatte. Trotzdem sagte ihm sein Bauchgefühl, er solle sich nicht zu sehr auf diesen Veizs einlassen. Er war ein Straßenjunge. Und auch, wenn er nicht wusste, wo er war, Straßenkinder waren überall nur an einer Sache interessiert. Überleben. Was also sollte er jetzt machen?

    Neniu, sagte Veizs plötzlich aus dem Nichts heraus und unterbrach somit die Gedanken des Teenie.

    Was meinst du?, fragte der verwirrt zurück.

    Dein Name. Wir nennen dich von jetzt ab Neniu. Das heißt soviel wie Unbekannter.

    Wenn du meinst. Das habe ich sowieso wieder vergessen, wenn ich nachher aufwachen sollte.

    Gib mir deine Hand, forderte Veizs ihn auf. Der Junge war sich nicht ganz sicher, ob er das wirklich machen sollte. Doch da griff der Jugendliche schon nach ihr und schrieb etwas mit Kugelschreiber auf den Handrücken: Mein Name ist Neniu.

    Das Lesen hast du doch hoffentlich nicht auch vergessen?, erkundigte er sich jetzt.

    Nein, auch das kann ich noch. Es sind nur die Dinge, die ich erlebe. Nach kurzer Zeit sind sie weg.

    Das muss verdammt schwer für dich sein. Wie kommst du damit klar?

    Wie soll ich schon damit klar kommen? Überhaupt nicht. Du siehst, ich bin über und über mit blutenden Wunden, blauen Striemen und noch einigen anderen Dingen übersät und habe nicht die geringste Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Ich erinnere mich noch nicht mal daran, ob ich schon immer hier gelebt habe. Und, wenn ja, habe ich dann schon immer auf der Straße gelebt. Was ist passiert, dass ich kein Zuhause habe?

    Veizs nickte zustimmend. Er konnte Nenius Situation zwar nicht vollkommen nachempfinden, wie er sich fühlte, aber er konnte es sich grob vorstellen. Und das reichte ihm schon. Für ihn war es wirklich schwer genug auf der Straße zu überleben. Er war kein harter Kämpfer oder so, der sich überall durchsetzen konnte. Dafür konnte er sich wenigstens jeden Tag daran erinnern, wem er aus dem Weg gehen sollte. Veizs überlegte angestrengt, wie er Neniu helfen konnte. Er hatte einige Freunde, die wiederum Freunde kannten, die Freunde kannten. Möglicherweise konnte einer von ihnen dem Jungen helfen. Nur wen oder was brauchte Neniu? Einen Arzt. Das war deutlich. Und den brauchte er nicht nur wegen seiner Wunden am Körper, sondern auch wegen seiner Wunden an der Seele und im Kopf.

    Während er so überlegte war Neniu eingeschlafen. Veizs verließ den Unterschlupf, um an der frischen Luft weiter nachzudenken. Auf der Straße lag eine halb gerauchte Zigarette, die noch glimmte. Er nahm sie gedankenverloren auf und rauchte sie zu Ende. Dabei dachte er an seine Familie, die von den Proteqtoren vollständig ausgelöscht wurde. Und das nur, weil sie über die Asylpolitik der Mår-quell diskutiert hatten. Sie hatten lediglich die Frage in den Raum gestellt, wer nach dem kostspieligen Krieg die Gelder dafür aufbringen sollte, die Assylanen zu versorgen. Und was mit all den anderen Menschen ist, die schon vor der Flutwelle an Flüchtigen nicht mehr überleben konnten. Und dann war da noch seine jüngere Schwester, die einige dieser Asylaken mehr als nur bedrängt hatten. Und wer war gegen die vorgegangen? Niemand. Damals hatte er sich geschworen, den Tod seiner Familie zu rächen. Doch sein Ziel, bei den Renegaten aufgenommen zu werden, war nicht in Erfüllung gegangen. Sie hatten zwar sein Potenzial erkannt. Sie hatten aber auch seine Wut gesehen, die einfach fehl am Platz war. Damals war er frustriert und aufgebracht davon gegangen. Er hatte sogar damit gedroht den Standort, an dem man mit ihm das Interview geführt hatte, an die Proteqtoren zu verraten. Doch das hatte er nie getan. Denn bereits kurze Zeit, nachdem er sich beruhigt hatte, musste sich Veizs eingestehen, er hätte nicht anders gehandelt. Das war jetzt über drei Jahre her. Vielleicht sollte er sich noch einmal bei ihnen vorstellen. Der Schmerz über den Verlust seiner Familie war jetzt auch älter als drei Jahre und zerfleischte ihn nicht mehr so, wie damals.

    Wie zur Bestätigung seiner Gedanken über die Renegaten, hörte er irgendwo in der Stadt eine Explosion. Er lächelte zufrieden. Nicht weil er an seinen Vater, die Mutter und die beiden Schwestern dachte, sondern, weil jemand versuchte, die Regierung zu entmachten. Diese Regierung mit Mår-quell an der Spitze hatte nicht nur ihm weh getan, sie würde noch viel mehr Menschen leiden lassen. Ohne dabei jemals selber Leid zu erfahren. Irgendwann würde jemand kommen, der den Angriff auf die Hauptstadt leitet und koordiniert. Ein Angriff, dem die Regierenden und die Reichen nichts entgegenzusetzen hatten.

    Kapitel 3

    Veizs wachte auf, weil er draußen Lärm vernommen hatte. Zunächst machte er sich keinen weiteren Gedanken, da dies an der Tagesordnung war. Ganz besonders die Jugendlichen gingen immer wieder aufeinander los. Meistens ging es darum, dass jemand in ein fremdes Territorium eingedrungen war, um zu überleben. Das war auch kein Problem, solange man nicht den Jugendlichen aus dieser Gegend auffiel. Wenn das jedoch geschah, konnte es gefährlich werden. Jeder Mensch auf der Straße kämpfte hart für sein Überleben. Da war Konkurrenz ein schweres Verbrechen. Nicht selten hatte eines der Straßenkinder dies mit dem Leben bezahlt. Die Proteqtoren kümmerten sich nicht um ein solches Verhalten. Noch weniger kümmerten sie sich darum, wenn einer dabei getötet wurde. Sie arbeiteten nur in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Reichen und Regierenden, die dann wiederum ihnen Vorteile gewährten. Wenn sie allerdings eingriffen, weil zum Beispiel ehrbare Passanten in eine solche Situation hineingezogen wurden, dann agierten sie mit übertriebener, brutaler Gewalt gegen die Ratten, wie sie die Straßenkinder und Jugendlichen nannten.

    Er wollte sich schon wieder hinlegen, als ihm die leere Matratze auffiel. Veizs wurde schlagartig deutlich, dass der Streit etwas mit Neniu zu tun haben könnte. Er setzte sich auf und blickte durch die Holzbretter der Palettentür. Drei aggressive Jugendliche hatten sich um den Jungen geschart und bedrängten ihn. Eigentlich hielt er sich aus solchen Dingen raus, da sie immer Nachteile nach sich zogen. Doch er konnte den Jungen nicht seinem Schicksal überlassen. Neniu hatte nicht die geringste Chance das zu überstehen. Mit einem kräftigen Seufzer stand er auf und verließ die Unterkunft. Als Veizs bis auf wenige Meter herangekommen war, rief er die Jugendlichen an.

    Hey, Katan. Was ist los? Warum der Lärm?

    Der Kerl schleicht seit gestern Abend hier herum. Wir brauchen keine Neuzugänge in diesem Teil der Stadt. Wir haben schon genug Probleme mit den Asylaken, die sich breit machen, obwohl sie alles von der scheiß Regierung bekommen.

    Das stimmt vollkommen, Katan. Deswegen sollten wir uns lieber um die kümmern, als einen Jungen wie Neniu, der nicht weiß, wo er hin soll.

    Neniu?, wiederholte Katan mit gerunzelter Stirn. Der Unbekannte? Kennst du ihn?

    Gewissermaßen. Ich habe ihn gestern Nacht in meiner Unterkunft vorgefunden. Der Kerl ist arm dran. Er hat einen totalen Gedächtnisverlust und kann sich immer nur an die letzten paar Stunden erinnern.

    Katan schaute zu dem Jungen herüber, der sich einige Meter von der Gruppe distanziert hatte. Er konnte ihm ansehen, wie viel Angst der Teenie hatte. Auch begriff Katan, warum der Junge sich nicht sofort aus dem Staub machte, als er ihn und seine Freunde wiedergesehen hatte. Neniu konnte sich nicht an sie erinnern.

    Für den Jungen lief die ganze Situation wie ein Stummfilm ab. Er beobachtete, hörte aber die Worte nicht. Stattdessen überlegte Neniu fieberhaft, was er am besten machen sollte. Er hatte in diesem plötzlich auftauchenden jungen Kerl wohl jemanden gefunden, an den er sich nicht erinnern konnte und von dem er nicht wusste, was er von ihm halten sollte, der aber ein scheinbares Interesse an ihm hatte. Er war wohl jemand, der für ihn da war. Wenn er sich doch nur daran erinnern könnte, was vor ein paar Stunden in der Nacht passiert war. Der Teenie konnte sich nur daran entsinnen, dass dieser Jugendliche ihm etwas auf den Handrücken geschrieben hatte. Mein Name ist Neniu, las er dort. Das stammte von ihm. Jetzt nahm der Straßenjunge ihn in Schutz. Das musste doch bedeuten, dass er ihm helfen wollte.

    Weißt du, ob er ein Asylake ist?, wollte jetzt einer der anderen aus Katans Gruppe wissen. Wenn er einer ist, gibt es keinen Sonderstatus für ihn. Das weißt du hoffentlich, Veizs.

    Jetzt halt mal die Luft an, unterbrach Katan seinen Mitstreiter.

    Woher soll ich das wissen, wenn Neniu noch nicht einmal sagen kann, wie sein eigentlicher Name ist. Sein Gehirn ist wie eine Festplatte, auf der zwar noch das Betriebssystem ist, alle anderen Programme und Dateien jedoch gelöscht wurden.

    Was ist sein Gehirn?, erkundigte sich nun der dritte Jugendliche, dem der Vergleich offensichtlich zu hoch war.

    Ganz einfach, antwortete Katan. Dir fehlt die Festplatte vollständig. Neniu kann wenigstens aufrecht gehen, was du nicht kannst. Und jetzt halt die Klappe. An Veizs gewandt fuhr er fort. Ich denke, es ist in Ordnung, wenn er hier bleibt. Aber sorge dafür, dass du immer in seiner Nähe bist. Ich kann für mich und meine Leute bürgen. Nicht aber für all die anderen Freaks auf der Straße.

    Ich passe schon auf ihn auf, antwortete Veizs, während er sich zu Neniu umdrehte – der nicht mehr da war.

    Der junge Teenie konnte sich nicht vorstellen, dass die Diskussion über ihn gut ausgehen könnte. Deswegen hatte er beschlossen, sich der Gegebenheit zu entziehen. Ihm war schon bewusst, sich jetzt erneut ins Ungewisse zu stürzen. Trotzdem war ihm dieser Gedanke lieber, als die Ungewissheit in dieser Lage. Neniu begab sich in die Richtung, von der er glaubte, das sie ihn ins Stadtzentrum bringen würde. Hier am Rande war der Verkehr nur mäßig und die Passanten wenige. Das änderte sich allerdings mit jedem Kilometer, der ihn dem Zentrum näher brachte. Nicht nur, dass die Fahrzeuge dort mehr standen als fahren konnten. Nein auch die Menschen auf den Gehwegen quetschten sich nur noch aneinander vorbei. Viele stießen Flüche und Verwünschungen aus. Manche boxten sich regelrecht durch die Menschenmenge ohne Rücksicht auf Verluste. Andere wiederum schubsten die übrigen Passanten auf die Straße, wo die Autos ihnen nur selten ausweichen konnten. Einige Fahrer stiegen sogar aus ihren Fahrzeugen aus, um handgreiflich gegen diejenige Person zu werden, die gegen ihren Wagen geprallt war. Nenius Angst wurde immer stärker. Fast klaustrophobisch. Doch er konnte nicht anders, als mit der Masse weiter in Richtung Innenstadt zu treiben.

    Diese verdammte Stadt wird immer voller, beschwerte sich ein Mann bei seinem Nachbarn. Und dann auch noch diese ganzen Asylaken.

    Die Regierung sollte alle ohne Herkunftsnachweis sofort wieder aus dem Land werfen. Es ist doch nicht die Aufgabe unserer Beamten, herauszufinden wo einer von denen her kommt, erwiderte dieser zustimmend.

    Und dann benehmen die sich auch noch, als wäre das hier ihr Zuhause, nicht das unsere.

    Genauso ist das. Was hat sich diese Mår-quell nur dabei gedacht. Statt sich um uns zu kümmern, kümmert sie sich nur um ihr Ansehen im Ausland.

    Die zwei Männer bogen in eine Seitenstraße und führten dort ihr Gespräch weiter. Neniu wäre auch gerne in diese Straße abgebogen, da sie weitaus leerer war, aber er konnte sich nicht gegen die Masse durchsetzen. Er überlegte gerade, was wohl passieren würde, wenn er einfach die Beine vom Boden nahm. Würde ihn die Vielzahl an Fußgängern weitertragen oder fiele er hin, um dann niedergetrampelt zu werden. Er vermutete das Erstere, da er jetzt gezwungen war leicht rechts mit der Horde in eine weitere Straße abzuzweigen.

    Das ist doch ein völliger Irrsinn, was diese Eternal Union alles bestimmt. Und die Senatorin hat nicht genügend Rückgrat , um sich dagegen zu stemmen.

    Was heißt hier Rückgrat, mischte sich eine Frau in das Gespräch ein. Ihr geht es doch gut dabei. Die braucht sich doch so oder so keine Sorgen machen. Die Folgen tragen doch wieder einmal wir, nicht sie und ihre reichen Parteigenossen mit ihren Vorstandssitzen in drei Multiunternehmen..

    Das ist richtig, ereiferte sich jetzt eine dritte Person. Diese EtUn besteht doch nur aus den Reichen und Mächtigen, die ganz weit über uns thronen und alles haben. Und dann ist da noch dieser Kerl, der sagt, wir zahlen zu wenig in die Nationale Abwehr und Territorial Organisation. Unsere Regierung sollte besser in uns investieren."

    Ich sage raus aus der Eternial Union. Raus aus der Nationalen Abwehr und Territorial Organisation. Wir müssen neutral werden. Dann gibt es auch keine Kriege mehr, wie den letzten.

    Genau, stimmten die anderen beiden zu.

    Neniu versuchte zum ersten Mal etwas von der Stadt zu erhaschen. Die meisten Leute um ihn herum waren größer als er. Doch in dieser Straße war es nicht so gedrängt voll. Die gläsernen Wolkenkratzer um ihn herum hatte er schon vorher bemerkt. Sie waren unübersehbar mit ihren riesigen Werbehologrammen und den zärtlichen Frauenstimmen, die alles mögliche anpriesen. Jetzt sah er aber auch andere, ältere Hochhäuser, die stark zerstört waren. Manche lagen umgestürzt und in Trümmern auf dem Boden. Andere wiederum wiesen große Löcher auf, aus denen die Stahlkonstruktionen hervorragten. Dazwischen fanden sich Parkhäuser, Backsteinbauten, kleinere Läden und noch viel mehr. Über allem schwebten Zeppeline, welche die politischen Heldentaten der Regierung verkündeten. Gerade wurde das Gerichtsurteil über einen Asylaken, der ein junges Mädchen missbraucht und danach ermordet hatte, verkündet. Drei Jahre auf Bewährung.

    Das ist doch wohl ein Hohn. Solche Leute sollte man in Einzelhaft stecken und den Schlüssel wegwerfen., rief jemand aus der Menge.

    Genau, so und nicht anders, antwortete ihm ein weiterer Unbekannter. Nachher wird der noch aufgrund seines  Asylakenstatus in zweiter Instanz freigesprochen.

    Da könnt ihr euren Hintern drauf verwetten, brüllte eine Frau. Wenn der das Gefängnis von Innen sieht, renne ich nackt durch die Stadt.

    Die gehören in ein Arbeitslager, rief jetzt die zweite Stimme.

    Plötzlich stockte das Heer der Fußgänger. Neniu versuchte etwas zu sehen. Er drängelte sich durch die Leute zur Seite durch, in der Hoffnung, den Grund für den unerwarteten Halt zu erkennen. Dies war zwar mühsam, aber es funktionierte. Bis er am Rand ankam. Dort versperrte ihm ein Mann mit schweren Stiefeln und einer ebenso schweren, dunklen Kluft den Weg. In der Hand hielt er eine Waffe, die mit einem Riemen über seine Schulter und um den Hals hing. Der Mann schaute ihn mit seinen Augen durchdringend an. Seine linke Hand ruhte auf Nenius Brustkasten, der immer noch schmerzte. Was sollte er jetzt machen, fragte er sich. Er befürchtete, dass der Mann gleich auf ihn einschlagen könnte, wenn er sich nicht zurückzog. Doch das konnte er nicht. Die Lücken, die er in die Menge gerissen hatte, um durchzukommen, hatten sich wieder geschlossen. Jetzt schaute der Mann nicht mehr grimmig, sondern nachdenklich.

    Wie heißt du?, fragte er plötzlich. Der Junge sah den kräftigen Proteqtor mit aufgerissenen Augen an. Langsam kroch die Panik über seine Angst den Rücken hoch. Er wollte hier weg. Er musste hier weg.

    Wie ist dein Name?, fragte der Mann erneut.

    Nen.. Nen.. Neniu, stotterte der Junge, während er auf seinen Handrücken blickte.

    Der Proteqtor bemerkte den Blick und griff nach der Hand. Dann las er den Satz, den Veizs ihm aufgeschrieben hatte.

    Ist das dein richtiger Name.

    Ich weiß es nicht, stammelte Neniu

    Was heißt, du weißt es nicht? Der Mann konnte sich nicht entscheiden, ob er verwundert sein oder sich veralbert fühlen sollte.

    Ich kann mich an nichts erinnern.

    Schüsse hallten zwischen den Hochhäusern wider, wo sie sich langsam verloren. Einige Menschen schrien entsetzt auf. Dann bewegte sich das Heer der Fußgänger wieder, als wäre nichts gewesen. Der Proteqtor schaute kurz auf, dann wendete er sich wieder Neniu zu.

    Komm mit. Er schob den Jungen mit einer Hand an sich vorbei. Zusammen gingen sie zu einem der zurückgebauten Hauseingängen. Dort zog der Proteqtor ein Minitablet aus der Tasche, auf dem er herumtippte, nach oben und unten scrollte, bis er endlich gefunden hatte, was er suchte. Abwechselnd sah er von seinem Gerät auf Neniu und dann wieder auf das Display. Allem Anschein nach war er sich nicht ganz sicher.

    Wie alt bist du?, wollte er jetzt wissen. Der Teenie fühlte  sich immer mehr unwohl. Er konnte nicht im geringsten erahnen, was der Mann von ihm wollte, warum er ihn aus der Masse gezogen hatte.

    Ich weiß es doch nicht, brachte er gebrochen vor. Ihm war übel und er zitterte. Tränen standen ihm in den Augen. Neniu glaubte, er könne jede Sekunde tot umfallen. Der Mann mit dem Mundschutz vor dem Gesicht hatte sein Gerät wieder weggesteckt. Jetzt betrachtete er den Jungen neugierig.

    Woran kannst du dich noch erinnern?

    An einen Streit zwischen ein paar Jugendlichen. Da bin ich weggegangen. Einfach weg. Ich wollte in die Innenstadt.

    Und was wolltest du da?

    Nichts. Ich wollte nur, weiß nicht. Der letzte Satz machte wenig Sinn, aber Neniu hatte wirklich keine Ahnung, warum er in das Zentrum wollte. Es gab einfach keine Erklärung dafür. Nur ein Gefühl. Was haben Sie da mit Ihrem Gerät gemacht?, wollte er jetzt wissen. Wenn da etwas über ihn stand, musste Neniu das in Erfahrung bringen.

    Ich habe mir eine Personenbeschreibung angesehen, die auf dich passen könnte. Aber sie ist nicht eindeutig. Ich nehme dich besser mit. Eventuell finden wir im Büro mehr über dich heraus.

    Bin ich verhaftet?, wollte er ängstlich wissen. Der Proteqtor antwortete lange Zeit nicht. Er grübelte nach, wie er weiter verfahren sollte. Dann aber schüttelte er den Kopf und schob Neniu in Richtung eines Einsatzfahrzeuges, welches einige Meter weiter parkte. Die schwere, stählerne Hecktür wurde geöffnet. Der Mann im Inneren sah seinen Kollegen befremdet an.

    Was willst du mit dem Jungen?

    Ich habe eine Beschreibung, die auf ihn passen könnte. Allerdings ist sie nur vage. Ich will der Sache im Büro auf den Grund gehen.

    Aha …, war das einzige, was der andere sagte. Dabei machte er ein komisches Gesicht, als glaube er das Gesagte nicht so recht.

    Der Mann, der ihn auf der Straße mitgenommen hatte, fasste dem Jungen um die Hüften, um ihm beim Einsteigen zu helfen. Da schrie Neniu auf, als hätte ihn eine heiße Lanze durchstoßen. Der Proteqtor ließ den Teenie sofort wieder los und betrachtete den roten Fleck, der sich jetzt langsam auf der Kleidung vergrößerte.

    Hast du ihn verprügelt?, wollte der Proteqtor im Wagen von seinem Kollegen wissen. Der schaute ihn entsetzt an.

    Natürlich nicht. Er hat sich ja noch nicht einmal gewehrt, als ich ihn bei Seite geholt habe.

    Du weißt, wie zimperlich die Regierung reagiert, wenn wir Kinder misshandeln.

    Neniu blieb fast das Herz stehen. Sein Schmerz und seine Blutung waren jetzt nebensächlich. Der Mann hatte davon gesprochen, Kinder zu misshandeln. Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Alle auf einmal und gleichzeitig. Wenn er in diesen Wagen stieg, war er so gut wie tot. Das war seine feste Überzeugung.

    Halt die Schnauze, du Idiot. Dich haben sie deswegen ein Jahr lang suspendiert. Nicht mich. Setz dich ans Steuer und fahr los. Ich glaube wir bringen ihn besser in ein Krankenhaus.

    Und wer soll seine Rechnung bezahlen?

    Fahr!

    Ist ja schon gut, du Arsch.

    Kapitel 4

    Der Wagen stoppte mit einem sanften Ruck. Stimmen wurden laut und kurze Zeit später öffnete sich die stählerne Tür am Heck. Neniu dachte, sie wären an ihrem Ziel angekommen. Doch dem war nicht so. Hinter dem Fahrzeug standen drei bewaffnete Männer, die in das Innere zielten. Der Proteqtor sah sie mit leichtem Erstaunen an.

    Na, ihr traut euch ja was, sagte er nur, während er aufstand.

    Endstation, bitte aussteigen, erwiderte einer der Bewaffneten. Das war allerdings unnötig gewesen, da Nenius Begleiter sich schon auf den Weg nach Draußen gemacht hatte. Die Männer machten zunächst Platz, verfolgten den Proteqtor aber immer noch mit ihren Waffen. Schließlich, als er an ihnen vorbei war, stiegen sie rückwärts ein und schlossen die Tür. Es dauerte nicht lange, bis sich der Wagen wieder in Bewegung setzte.

    Das war mal ein Spaziergang, sagte einer der Männer.

    Was hast du Anderes erwartet.

    Mit ein bisschen mehr Gegenwehr hatte ich schon gerechnet, erwiderte der Erste.

    Mach doch mal einer das Licht an, meinte jetzt die dritte Stimme. Aus dem Dunkel ertönte ein wehleidiges Ha ha ha und man könnt förmlich spüren, wie die anderen beiden Männer die Augen verdrehten.

    Geht doch nicht, du Ochse. Der EMP hat doch die komplette Batterie lahm gelegt.

    Hast ja recht. Hab ich vergessen. Eine Taschenlampe leuchtete auf. Der Besitzer regelte das Licht herunter und suchte dann nach einer Möglichkeit sie am Dach aufzuhängen.

    Schon besser, meinte einer der Männer. Sein Gesicht wurde von einem eleganten Vollbart umrahmt.

    Was haben wir eigentlich vor mit dem Fahrzeug?

    Kann ich dir nicht sagen. Wir bringen es zum Areal 13. Die haben den Wagen angefordert.

    Areal 13? Das ist doch das ProTeq Spezialkommando. Richtig?, wollte einer der Männer wissen. Seine Gesichtszüge nahmen etwas Verträumtes an. Da würde ich auch gerne mitmischen. Das sind die reinsten Maulwürfe.

    Es ist schon unglaublich, dass die noch keinen Mann oder Frau verloren haben. Ich habe großen Respekt vor denen.

    Den muss man auch haben, stimmte einer der Männer zu.

    Es vergingen weitere lange Minuten, in denen keiner ein Wort sagte. Der Lichtkegel der Taschenlampe taumelte leicht über den Fahrzeugboden. Von der Außenwelt war kaum etwas in diesem gepanzerten Fahrzeug zu hören. Plötzlich wurde der Wagen heftig durchgeschüttelt, die Männer durcheinander gewirbelt während sie versuchten sich irgendwo festzuhalten oder abzustützen.

    Was war denn das?, fragte einer von ihnen erschrocken.

    Ein Schlagloch oder etwas Ähnliches, vermutete der Zweite mit dem Bart.

    Frag doch mal über das Intercom nach, was passiert ist, schlug der dritte Mann vor, worauf hin ihn die beiden anderen mit einem leicht genervten Blick ansahen.

    Was…?, fragte der unschuldig zurück.

    Strom…, antworteten die beiden anderen wie im Chor.

    Aaaah….

    Alles in Ordnung, wollte der Mann mit der Narbe wissen, der zuvor noch nach dem Intercom gefragt hatte.

    Ich war das nicht, erwiderte der eine und der andere ergänzte Ich auch nicht. Zwei weitere Taschenlampen gingen an und durchleuchteten das Innere. Sie hatten den Jungen nicht bemerkt, da sie weit hinten, an der Hecktür saßen, während er sich so gut wie eben möglich in die andere Ecke gedrängt hatte.

    Wo kommst du denn her? Die Überraschung stand den Männern ins Gesicht geschrieben.

    Haben dich die Proteqtoren verhaftet? Neniu sagte immer noch kein Wort.

    Der Junge blutet, erkannte jetzt der mit dem Bart. Und zwar nicht wenig, wie es aussieht.

    Jetzt sahen es auch die anderen. An der Stelle, wo ihn der Proteqtor beim Einsteigen angefasst hatte, war ein großer, dunkelroter Fleck auf seinem Shirt zu sehen. Einer der Männer näherte sich ihm vorsichtig. Dabei beobachtete er Neniu genau. Als dieser versuchte sich weiter zurückzuziehen, blieb der Mann stehen und machte dann zwei Schritte zurück.

    Alles in Ordnung, Junge. Wir wollen dir nichts tun. Haben die Proteqtoren dich so zugerichtet? fragte der Bart.

    Neniu schüttelte langsam und verängstigt den Kopf.

    Wie ist das dann passiert?

    Kann ich nicht sagen., waren seine ersten Worte. Doch vertrauensvoll klangen diese nicht.

    Warum kannst du es nicht sagen?, wollte jetzt die Narbe wissen.

    Ich weiß nicht.

    Die Männer waren ratlos. Was sollte das bedeuten? Alle drei schauten ihn befremdet an. Keiner von ihnen wusste, wie sie vorgehen sollten. Jeder fragte sich, was mit dem Jungen passiert war und entwickelte im Kopf seine eigenen Theorien.

    "Kann ich mir die

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