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eBook237 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

»Das Comm des Toten klingelte bereits zum dritten Mal, aber ich ignorierte es. Antworten konnte ich sowieso nicht, und was sich online zeigte, machte mir Angst. Es gab schon ein gutes Dutzend Posts zu dem Selbstmord. Zahlreiche Beobachter hatten den Sturz gesehen, es gab sogar Fotos und LiveCaps online. Das war für sich genommen normal, aber dass sich in kürzester Zeit Verschwörungstheorien etablierten, ließ mir heiß und kalt werden. War der Mann freiwillig aus einem guten Dutzend Metern Höhe auf den Asphaltweg gesprungen? Gleich zwei Posts wollten einen schwarzen Wagen – der eine sprach von einem Mercedes – gesehen haben, der davongerast sei. Ein Bild zeigte angeblich den Mann, wie er gerade am Geländer der Brücke stand, und neben ihm sollten einige helle aber verwischte Flecken eine weitere Person darstellen. Ein hünenhafter Typ in weißem Anzug, habe ihn klar gesehen. Auf dem Bild ist er nur verwaschen zu erkennen, aber er war da, ich schwöre es!

Dass es so schnell zu diesem Gerede kam, verunsicherte mich, aber selbst das konnte ich mir noch erklären. Ein großer Haufen Menschen, der sich ohne viel Ahnung austauscht, neigt zu Übertreibungen. Klassische Gerüchtebildung im Zeitraffer der Netze. Aber wie passte das zu dem vernünftig wirkenden Entry, der behauptete, die Leiche sei verschwunden? Hatte ich nicht selbst das Gezeter der Polizisten gehört? Warum hatten die Sanitäter die Leiche so eilig eingepackt, ohne sich um die umstehenden Leute zu kümmern?«

Der deutsche Schriftsteller Stefan Franck legt mit dem Roman Ank ein erstaunliches Debüt-Werk vor – einen ebenso unheimlichen wie verstörenden, aus verschiedenen Perspektiven erzählten Thriller, ganz und gar auf der Höhe der Zeit, spannend und mitreißend erzählt. Ank ist ein geradezu klassischer Pageturner!

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum27. Apr. 2018
ISBN9783743866782
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    Buchvorschau

    ANK - Stefan Franck

    Das Buch

    »Das Comm des Toten klingelte bereits zum dritten Mal, aber ich ignorierte es. Antworten konnte ich sowieso nicht, und was sich online zeigte, machte mir Angst. Es gab schon ein gutes Dutzend Posts zu dem Selbstmord. Zahlreiche Beobachter hatten den Sturz gesehen, es gab sogar Fotos und LiveCaps online. Das war für sich genommen normal, aber dass sich in kürzester Zeit Verschwörungstheorien etablierten, ließ mir heiß und kalt werden. War der Mann freiwillig aus einem guten Dutzend Metern Höhe auf den Asphaltweg gesprungen? Gleich zwei Posts wollten einen schwarzen Wagen – der eine sprach von einem Mercedes – gesehen haben, der davongerast sei. Ein Bild zeigte angeblich den Mann, wie er gerade am Geländer der Brücke stand, und neben ihm sollten einige helle aber verwischte Flecken eine weitere Person darstellen. Ein hünenhafter Typ in weißem Anzug, habe ihn klar gesehen. Auf dem Bild ist er nur verwaschen zu erkennen, aber er war da, ich schwöre es!

    Dass es so schnell zu diesem Gerede kam, verunsicherte mich, aber selbst das konnte ich mir noch erklären. Ein großer Haufen Menschen, der sich ohne viel Ahnung austauscht, neigt zu Übertreibungen. Klassische Gerüchtebildung im Zeitraffer der Netze. Aber wie passte das zu dem vernünftig wirkenden Entry, der behauptete, die Leiche sei verschwunden? Hatte ich nicht selbst das Gezeter der Polizisten gehört? Warum hatten die Sanitäter die Leiche so eilig eingepackt, ohne sich um die umstehenden Leute zu kümmern?«

    Der deutsche Schriftsteller Stefan Franck legt mit dem Roman Ank ein erstaunliches Debüt-Werk vor – einen ebenso unheimlichen wie verstörenden, aus verschiedenen Perspektiven erzählten Thriller, ganz und gar auf der Höhe der Zeit, spannend und mitreißend erzählt. Ank ist ein geradezu klassischer Pageturner!

    Der Autor

    Stefan Franck, Jahrgang 1976.

    Stefan Franck lebt mit Frau und Kind im vergleichsweise ungruseligen München und besitzt noch heute ein Heft mit Märchen, die er in der zweiten Klasse verfasste – inklusive der rot angestrichenen Rechtschreibfehler, da der Deutschlehrer nicht verstanden hatte, dass er ihm seine Geschichten nur hatte zeigen, diese aber nicht hatte korrigiert haben wollen.

    In der Folge wurden die Texte des hauptberuflich als Principal Solution Architect bei einer IT-Firma arbeitenden Autors zunehmend düsterer.

    Seine Kurzgeschichte Der schwarz gekleidete Mann, in der eine Besessenheit zu Wahnsinn und Mord führt, erschien im Mephisto-Magazin. In seiner Kurzgeschichte Hunger!, die in der Cthulhu Libria Neo erschien, gelangt ein Schrecken aus der Südsee in den Fernseher einer betagten Frau.

    Als Autor trug er zu zahlreichen Publikationen des Horror-Rollenspiels Cthulhu bei, unter anderem dem Arcana Cthulhiana, Dementophobia und Düstere Orte; sein Szenario Der Blutsauger von Schwarzbrunn erschien sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch. Inzwischen ist er auch als Redakteur für das System tätig: Der erste von ihm betreute Band erschien unter dem Titel Mystiker und Magier.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht Stefan Francks Debüt-Roman Ank.

    ANK

    Martin erzählt

    I

    Als heute der erste Tag auf der Suche nach neuen Herausforderungen begann, hatte ich nicht damit gerechnet, noch vor dem Mittagessen neben einer Leiche zu stehen. Ich hatte schon beim Aufstehen ein seltsames Gefühl gehabt. Natürlich war ich trotz ausgeschaltetem Wecker früh wach geworden, zur üblichen Zeit eben. Aber ich musste nicht aus dem Bett, sondern drehte mich noch einmal genüsslich um. Durch das gekippte Fenster strömte eisige Morgenluft herein, die auf meinen Wangen herrlich mit der Wärme der Füße kontrastierte. Ich sog die erfrischende Kälte tief ein, sie roch etwas nach Feuchte, es war wohl – dem anfangenden Winter angemessen – neblig.

    Ohne noch einmal einzuschlafen blieb ich eine halbe Stunde liegen, knuffte mein Kopfkissen zu größter Bequemlichkeit und freute mich, nichts tun zu müssen. Nun gut, das stimmte leider nicht ganz. Bei meiner letzten Stelle hatte man mir vor vier Wochen verkündet, dass ich heute nicht mehr antreten müsse. Wenig Zeit, um einen neuen Job zu finden. Die Situation wurde sogar noch schlimmer, da man mir meinen Resturlaub gestrichen und die Arbeitslast zwecks Übergabe kurzfristig verdoppelt hatte. Ich hatte bisher nichts anleiern können, hatte gar nicht die Zeit dazu gehabt. Immerhin mir noch zwei Wochen Gehalt zusätzlich ausgezahlt. Die Überstunden... nun ja, vergessen wir die Überstunden.

    Eigentlich hätte ich also sehr beschäftigt sein müssen: CV aktualisieren, Firmen identifizieren, Beziehungen reaktivieren, Profile professionalisieren, Ausschreibungen inspizieren, Bots konfigurieren... Es ist nicht leicht, eine Stelle zu finden, geschweige denn eine gute, und mit jedem Tag als Arbeitsloser werden die Blicke der Personaler herablassender. »Herr Mehler, was bedeutet denn diese Lücke in Ihrem Lebenslauf?« Ich konnte mir die graumelierten Herren mit über dem Schmerbauch spannenden Hemden bildlich vorstellen. Wie sie mir über den Rand ihrer Lesebrillen hinweg ihre Verachtung kundtun würden: »Sie scheinen nicht gerade fokussiert und zielstrebig zu sein?« Ich müsste schon längst auf der Suche sein und hatte keineswegs nichts zu tun. Aber es war der erste Tag und das Bett warm und die Luft frisch...

    In meiner Küche war der Kaffee schon kalt geworden, ich musste ihn wegkippen. Toast und Frühstücksei aß ich noch, obwohl sie ebenfalls pünktlich zur üblichen Zeit fertig geworden waren. Das Ei war ok, aber trockener, kalter Toast wird auch nicht besser, wenn man eine doppelte Portion Honig darauf streicht. Ich musste definitiv den Timer für das Frühstück auf etwas später stellen, das verdarb mir den Genuss des Ausschlafens gründlich.

    Während ich den Toast halb und das Ei ganz aufaß, beruhigte ich mein Gewissen, indem ich durch die Jobbörsen flippte. Es sah ungefähr so finster aus, wie ich erwartet hatte. Heutzutage bekam man eine Stelle nicht auf offiziellem Weg, dafür brauchte man Beziehungen. Die Reaktivierung meines persönlichen Netzwerkes rutschte in der Prioritätenliste drastisch nach oben. Ich schüttelte unwillig den Kopf. Meine Güte, sechs Jahre in einem großen Konzern, und ich hatte mir schon Ausdrücke angewöhnt, für die ich mich früher auf jeder Party hätte stehen lassen. Reaktivierung meines Netzwerks. War ich schon so weit gekommen, dass ich nicht mehr »meine Freunde anrufen« sagen konnte?

    Ich warf den Reader auf den Küchentisch und bereute nicht zum ersten Mal, mich für das schmale Modell von Ikea entschieden zu haben. Der Reader knallte gegen mein Comm, das dem Impulserhaltungsgesetz folgend wie eine Rakete über die Kante hinausschoss. Ich konnte bei dessen Aufprall auf dem Fliesenboden nur noch schmerzerfüllt das Gesicht verziehen.

    Seufzend hob ich es vom Boden auf. Das Display hatte keinen Sprung, war aber nachtschwarz. »Hinüber«, dachte ich, »war ja nur einen Monat alt« – als es plötzlich wieder aufleuchtete. Sturzsicherungsstandby blinkte kurz auf, ich wischte mit dem Zeigefinger über den Text und das Comm antwortete sofort. Ich zog die Augenbrauen hoch und wendete den Minicomputer auf der Suche nach offensichtlichen Schäden dreimal in meiner Hand. Alles, was ich finden konnte, war ein kleiner Kratzer auf der Seite. Ich liebe technische Gimmicks, und natürlich konnte ich nicht anders, ich musste das Comm gleich noch mal in die Luft werfen. Der kleine Schirm wurde auf halbem Weg dunkel und ich meinte ein leises Klacken zu hören. Vielleicht irgendein mechanischer Schutz, der aktiviert wurde? Ich wollte diese segensreiche Funktion nicht überstrapazieren und fing das Comm wieder auf und legte es zur eigenen Sicherheit in die Schublade.

    Ich war schon kurz davor, nach Details zu dieser Funktion zu suchen, sinnloses Wissen anzuhäufen, widmete mich aber doch wieder den Stellenanzeigen. 80% Reisetätigkeit europaweit hier, dort Schichtdienst, Cold-Calling, ich versuchte die Filter etwas schärfer zu stellen, indem ich einmal mein Minimalgehalt hinzufügte. Es blieb nicht viel übrig, und der größte Teil davon auch noch in der Pharmabranche, in der ich keinerlei Erfahrungen hatte. Vielleicht sollte ich mich doch selbstständig machen, als Consultant oder so. Andererseits bedeutete das garantiert Reisetätigkeit, Nachtschichten und Cold-Calling.

    Ich ließ den Blick aus dem Fenster schweifen, der Nebel hing noch immer zwischen den Häusern, sodass Wände und Baumkronen in einer grauen Schicht verschwanden. Die Scheibe selbst war an den Rändern beschlagen und zog eine Vignette aus Unschärfe um meinen ganzen Ausblick: Das himmelblau gestrichene Nachbarhaus, in dem sich weiß umrahmte Fensteröffnungen dunkel abhoben. Auf der Fensterbank diagonal gegenüber hingen die Decken zum Lüften, es war das einzige Zeichen von Leben.

    Ich schloss meine Augen und atmete tief ein und aus. In mir war eine große Leere und ich spürte einen seltsamen Weltschmerz, der mir nicht bekannt, aber doch merkwürdig vertraut war. Mir schien es, als ob ich nur ein irrelevantes Staubkorn im gigantischen Kosmos wäre. Die Arbeit hatte mich vollständig eingenommen – und jetzt war sie mit einem Schlag weg. Ich war frei, sollte mich freuen und die Zeit genießen, bis die alte Tretmühle wieder anfing, sich zu drehen. Aber ich konnte mich nicht entspannen, einerseits lastete die Angst vor der Zukunft auf mir, aber noch mehr zerrte diese Unruhe in mir, als ob das Universum selbst mir zuschrie: »Martin, sitz nicht untätig herum!«

    Ohne weiter nachzudenken sprang ich ungeduscht in meine Klamotten, zog Jacke und Schuhe an und nach einem Blick auf meine verstrubbelten Haare im Garderobenspiegel auch eine Wollmütze. Darunter franzten einzelne, braune Haarsträhnen heraus, ein Stück zu lang. Die sonst gepflegten Koteletten ragten leicht gekräuselt aus den unrasierten, stacheligen Wangen.

    Die Frauen standen auf meinen Stil, halb an der Grenze zum Rebellen, aber immer noch akzeptabel genug, dass man mich auch zu einem Firmenessen mitnehmen konnte. Dazu die rehbraunen Augen, die mir schon immer die Herzen eröffnet hatten. Ich musste mich anlächeln – halb aus Anerkennung, halb aus Spott über die eigene Selbstverliebtheit. Immerhin hatte mich dieser kurze Augenblick aufgeheitert und ich sprach dem Garderobenspiegel mit einer angedeuteten Verbeugung meine Kudos aus, bevor ich durch die Tür hinaus war, die Treppen hinabratterte und mich in die Kälte des Morgens stürzte.

    In der Schublade hatte ich das Comm liegen gelassen. Kein Mensch geht heute ohne raus, aber ich hatte es vergessen. Und das ausgerechnet an dem Tag, an dem ich plötzlich neben einer Leiche stehen sollte.

    Es war frisch, aber meine Wollmütze dennoch übertrieben, trotz der Jahreszeit war das Klima noch erträglich, dem Treibhauseffekt sei Dank. Gemütlich schlenderte ich zwischen den Wohnsilos hindurch. Es dauerte nicht lange und ich hatte die Rheinpromenade erreicht. Am Wochenende herrschte hier immer großer Trubel – unzählige Jogger, Walker, Dragger, Radfahrer und Skater zogen hier aneinander vorbei, dazwischen die Hunde, die Gassi geführt wurden. Auch heute spazierten einige Leute am Ufer entlang, aber es war deutlich weniger los. Als ich gerade auf die Promenade einbog, lief mir eine Joggerin entgegen, eine Asiatin in hautengem Sportanzug. Ihre schwarzen Haare hielt sie mit einem Stirnband zurück, sie lächelte mir kurz reflexartig zu – wahrscheinlich war das bei ihr genetisch bedingt – und schon zog sie mit stetigem Taps – Taps – Taps weiter, weiße Rauchwölkchen in die Luft stoßend.

    Niemand folgte ihr, der nächste Mensch war ein alter Mann, der sicher einen halben Kilometer weiter seinem Yorkshire Terrier beim Vögel jagen zusah. Der Greis stand gebückt auf seinen Gehstock gestützt, als ob er sich verbeugen würde. Den Kopf hielt er indes gerade, während sein Hund laut bellend über das taufeuchte Gras tollte.

    Ich ging langsam weiter am Rhein entlang und genoss den Blick. Der morgendliche Weltschmerz hatte mich hier schnell verlassen, fasziniert beobachtete ich die grauen Schwaden, die über dem Fluss langsam aufstiegen. Ich grüßte im Vorbeigehen den alten Mann, der bei seiner kurz angebundenen und leicht irritierten Erwiderung seltsame kauende Bewegungen mit seinem Mund machte. Begleitet vom Gebell seines Hundes schritt ich langsam weiter durch die St. Johanns Anlage, vor mir sah ich schon den Betonbogen der Johanniterbrücke den Rhein überspannen. Die Autos rauschten darüber, ihr Dröhnen klang wie Meeresbrandung.

    Ich setzte mir ein Ziel: Noch bis zur Brücke, dann quer durch den Park zurück nach Hause. Ein paar Kinder kamen mir klingelnd und lachend auf ihren Rädern entgegen, die meisten mit integrierten, leise summenden Minimotoren. »Wir werden immer fauler«, dachte ich nur kurz und sah den neonfarbenen Helmen dabei zu, wie sie hinter einem Busch verschwanden.

    Im gleichen Augenblick erscholl der Schrei.

    Er war panisch, überrascht, verzweifelt und kläglich.

    Schockiert drehte ich mich um, ich sah den Mann gerade noch aufschlagen. Nichts kann diesen Anblick beschreiben. Rudernde Arme, strampelnde Beine, dann Stille. Ich meinte, ein Geräusch zu hören, wie von einem Käfer, den man zertritt – ein leichtes Knacken, aber auf eine matschige Art. Das war aus dieser Entfernung aber unmöglich.

    Ich rannte los, mein Kopf völlig eingenommen von einem »Oh Gott! Oh Gott! Oh... Gottogottogottogott!«, das in einer Endlosschleife durch meine Gehirnwindungen rotierte. Ich stürzte schier neben ihm zu Boden, drehte ihn auf den Rücken. Schon dabei bemerkte ich, dass hier nichts mehr zu retten war. Sein Körper drehte sich an Stellen, an denen sich kein Körper bewegen sollte. Der Brustkorb hatte sich wie eine tiefrote Blüte geöffnet, zersplitterte Rippen hatten sich ihren Weg durch die Haut gebahnt und Blut und weiches Gewebe brach durch die Öffnung, war gallertartig aus dem aufgeplatzten Leib gespritzt. Meine Hände waren rot geworden und ich bemerkte irritiert, dass ich selbst am Schreien war.

    Hilfe! Ich brauchte Hilfe! Warum war hier niemand? Meine Hand glitt zu meiner Jackentasche, auf der Suche nach meinem Comm, stieß ins Leere, immer noch schrie ich, sie kehrte zurück, glitt plan- und ziellos über den zerschmetterten Mann, dort etwas Hartes: Sein Comm, das Gehäuse war eingedellt, ich berührte den Bildschirm, er leuchtete auf. »Sturzsicherungsstandby« grinste mich höhnisch an, zwei weiße Linien zogen sich quer über die sonst einwandfrei dargestellte Schrift.

    Ich wischte sie weg. »Fingerabdruck nicht erkannt. Bitte versuchen Sie es erneut« leuchtete sachlich auf. Ich wischte verzweifelt nochmals über den Touchscreen, die Meldung blinkte kurz auf, blieb aber unerbittlich. Das durfte doch nicht wahr sein, ich musste doch Hilfe rufen – aber nein, dort unten eine kleine Kachel: »Notruf«. Ein kurzes Antippen und schon baute sich die Verbindung auf.

    »Leitstelle Basel Mitte, Schneider am Apparat. Wie können wir Ihnen helfen, Herr Näf?«

    »Hier, hier ist ein Mann von der Brücke gefallen, tot, er ist tot, er ist von der Brücke gefallen, er, um Gottes Willen, er ist...«

    »Bleiben Sie ruhig, Herr Näf. Ein Wagen ist auf dem Weg zu Ihnen. Beschreiben Sie mir bitte, was genau geschehen ist.«

    »Ich – ich weiß es nicht. Er ist von der Johanniterbrücke gefallen oder gesprungen oder – er ist tot!«

    »Gibt es noch weitere Verletzte, Herr Näf?«

    »Nein, wie denn auch? Er muss gesprungen sein.« Eine plötzliche Kälte ergriff mein Herz. Natürlich hatte ich schon oft von Selbstmorden gehört und gelesen. Aber ich hatte mir nie vorstellen können, dass jemand wirklich so verzweifelt ist und das wertvollste in seinem Leben wegwirft – nämlich eben dieses Leben selbst. Ich konnte es nicht begreifen.

    »Gut, Herr Näf, wir werden...« Ich hörte seine Stimme verschwinden, als meine Hand von ihrem eigenen Gewicht gezogen zu Boden sank. Mit leerem Blick sah ich über den Rhein hinaus, sah die Promenade auf der anderen Seite, sah eine Gruppe von Leuten zu mir herüber deuten, wie durch Watte hörte ich eine Sirene näherkommen, ich wandte mich um, vergrub meine Hände in den Taschen und starrte auf das zerschmetterte Gesicht, dessen Züge noch halbwegs erkennbar waren, jemand packte mich an der Schulter, träge folgte ich dem Zug und wandte mich um: Die joggende Asiatin stand neben mir, hatte ihre Runde um den Rhein zum falschen Zeitpunkt beendet. Ihre Augen waren geweitet, sie krallte sich in meine Schulter, immer noch außer Atem, ihr Brustkorb hob und senkte sich stoßweise, ihrem aufgerissenen Mund entflohen winzige Rauchwölkchen. Die Lippen zitterten, formten unhörbare Worte. So wie sie sich an mir festhielt, klammerte ich mich an sie, eng umschlungen standen wir, gemeinsam gefangen in stammelnder Wortlosigkeit.

    Immer mehr Menschen versammelten sich um uns, ein älterer Herr tat das einzig Vernünftige: Er zog seine Jacke aus und legte sie dem Zerschmetterten über das Gesicht.

    Der Rettungswagen traf mit lauter Sirene oben auf der Straße ein, die Sanitäter kamen ungerührt. Sie schoben die Leute beiseite, kontrollierten nur kurz und ohne irgendwelche Zweifel am Ergebnis den Puls. Dem protestierenden alten Herrn gaben sie ohne großen Kommentar oder Dank seine blutverschmierte Jacke zurück, dann luden sie die Leiche auf die Alubahre, schoben sie unbedeckt hinauf zur Straße und in ihren Wagen. Erst

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