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20 Hammer Krimis
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eBook2.858 Seiten36 Stunden

20 Hammer Krimis

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Über dieses E-Book

Der Inhalt dieses E-Books entspricht ca. 2.400 Taschenbuchseiten.

Atemlose Krimispannung mit folgenden Romanen:

  • Killergirl
  • Killerschiff
  • Das Rätsel von Glenbroke
  • Mordkuhle
  • Der Schauermann
  • Brückenteufel
  • Der gekreuzigte Russe
  • Höllentunnel
  • Raubhure
  • Messermädchen
  • Tote Unschuld
  • Musical Mord
  • Fleetenfahrt ins Jenseits
  • Reeperbahn Blues
  • Frauenmord im Freihafen
  • Blankeneser Mordkomplott
  • Hotel Oceana, Mord inklusive
  • Mord maritim
  • Das Geheimnis des Professors
  • Hamburger Rache

Der Autor

Martin Barkawitz schreibt seit 1997 unter verschiedenen Pseudonymen überwiegend in den Genres Krimi, Thriller, Romantik, Horror, Western und Steam Punk. Er gehört u.a. zum Jerry Cotton Team. Von ihm sind über dreihundert Heftromane, Taschenbücher und E-Books erschienen.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum31. Okt. 2020
ISBN9783748762904
20 Hammer Krimis

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    Buchvorschau

    20 Hammer Krimis - Martin Barkawitz

    Killergirl - 1

    Kea Kühn lächelte die Furcht weg, als der Jet mit dem Landeanflug auf den JFK Airport von New York City begann. Gleich würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben amerikanischen Boden betreten.

    Sie gab ihr ganzes bisheriges Leben auf, ihre Familie und ihre Freunde. Ein völliger Umschwung innerhalb von vierzehn Tagen. Und das alles nur wegen ...

    Tom nahm ihre Hand.

    „Geht es dir gut, Schatz? Die Flugangst wird dich doch nicht noch kurz vor dem Ziel erwischt haben, oder?"

    Kea schüttelte den Kopf.

    „Nein, ich fühle mich wohl."

    Das war nur teilweise geschwindelt, denn sie wurde nicht von einer irrationalen Panik vor einem Absturz gebeutelt. Vielmehr begriff Kea erst in diesem Moment so richtig, dass sie schon bald ein komplett neues Leben beginnen würde. Es gab nur einen Menschen, auf den sie sich noch verlassen konnte.

    Und der saß jetzt neben ihr und hielt ihre Hand, als wenn es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre.

    Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass Tom sich in sie verlieben könnte.

    „Nie wieder Kerle!"

    Das hatten Kea und ihre beste Freundin Ines sich am letzten Silvesterabend geschworen, als Kea sich wegen Frank die Augen ausgeheult hatte. Und jetzt, ein halbes Jahr später, wanderte sie mit Tom nach Amerika aus.

    Als sie die Linienmaschine verlassen hatten und sich auf die Einreisekontrolle zu bewegten, straffte Kea sich. Sie hatte die schlimmsten Geschichten über die US Immigration Officers gehört. Nur langsam bewegte sich die Menschenschlange auf die Abfertigungsschalter zu. Kea hatte also mehr als genug Zeit, um sich selbst innerlich verrückt zu machen.

    Ob sie verdächtig wirkte? Nein, das hielt sie für unwahrscheinlich. Kea trug einen beigen Hosenanzug, in dem sie ziemlich bieder wirkte. Ihr brünettes Haar reichte ihr bis zu den Schultern, sie kam sich ordentlich und vielleicht sogar ein bisschen langweilig vor.

    „Könntest du das in dein Handgepäck tun?"

    Mit diesen Worten drückte Tom ihr eine kleine Ledermappe in die Hand. Sie sah aus wie ein etwas überdimensioniertes Kosmetiktäschchen.

    „Warum willst du nicht selbst damit durch die Kontrolle gehen?", fragte sie schüchtern zurück.

    Tom schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

    „Du und ich, wir sind doch jetzt ein Team. Also tu mir bitte einfach den Gefallen."

    Kea wollte nicht zickig sein. Außerdem würde ein Streit womöglich die Aufmerksamkeit der Uniformierten erregen. Also schob Kea schnell die Mappe in ihre große Umhängetasche, obwohl sich das mulmige Gefühl in ihrem Inneren dadurch nur noch verstärkte.

    Warum tat Tom das?

    War es eine Art Test, um ihr Vertrauen zu prüfen?

    Was befand sich in der Ledermappe?

    Kea zwang sich dazu, tief durchzuatmen. Tom stand direkt hinter ihr, sie würde sich also zuerst den Einreiseformalitäten unterziehen müssen. Kea besaß nur ein Touristenvisum, während Tom ein Investorenvisum vorweisen konnte. Immerhin wollte er in den Staaten ein Unternehmen gründen.

    Wenn nun etwas Illegales in der Mappe war?

    Dann konnte er seine Hände in Unschuld waschen, denn auf dem Papier gab es keine Verbindung zwischen Kea und Tom. Der Plan war, dass sie in Las Vegas heiraten würden. Dann war es auch für sie kein Problem mehr, längerfristig in Amerika zu bleiben.

    Das ältere japanische Ehepaar hatte nun die Kontrolle erfolgreich hinter sich gebracht. Kea war an der Reihe. Sie überreichte der jungen schwarzen Uniformierten ihren Reisepass mitsamt Visum. Keas Kiefermuskeln schmerzten schon, weil sie so verkrampft lächelte.

    Es roch nach Desinfektionsmittel und Schweiß.

    Angstschweiß?

    „Der Zweck Ihres Aufenthalts in den Vereinigten Staaten?", fragte der weibliche Immigration Officer. Kea fragte sich, wie oft sie diesen Satz Tag für Tag herunterbeten musste. War es angesichts dieser Routine überhaupt möglich, Gefährder aus der Menge an Passagieren herauszufiltern?

    „Äh, touristisch. Also ein touristischer Aufenthalt, stammelte Kea. „Ich möchte mir Ihre großartige Stadt anschauen, den Broadway, den Central Park, die China Town, und ...

    „Willkommen in den Vereinigten Staaten."

    Mit diesen Worten stempelte die Uniformierte Keas Pass. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Allerdings hatte sie nicht bedacht, dass sie auch noch die Zollkontrolle hinter sich bringen musste.

    Der dortige Beamter war in den Fünfzigern, hatte einen stechenden Blick und schien Freude an der Schikane zu haben. Ein scharfer Hund, wie Keas Vater gesagt hätte. Der US Customs Officer winkte Kea gleich heraus. Sie vermied es im letzten Moment, einen verzweifelten Blick in Toms Richtung zu werfen. Kea war schließlich eine erwachsene Frau. Sie musste mit ihren Problemen allein fertigwerden.

    Am meisten ärgerte sie sich über sich selbst. Kea hätte wetten können, dass der Zollheini sie sich nur vorknöpfen wollte, weil sie so unsicher wirkte. Warum konnte Kea nicht so cool und souverän wie andere Frauen sein? Vielleicht würde sie das in den Staaten endlich lernen, sozusagen als erwünschten Nebeneffekt ihres Neuanfangs an Toms Seite.

    Der Uniformierte hieß laut seinem Namensschild Bradley. Und Bradley hielt sich gar nicht erst mit der Frage auf, ob er Keas Handgepäck kontrollieren durfte. Er forderte sie dazu auf, es ihm zu überreichen.

    Routiniert durchforstete Bradley mit seinen behandschuhten Fingern die Umhängetasche. Und natürlich stieß er sofort auf die verflixte Mappe. Misstrauisch kniff er seine kleinen bösen Augen zusammen.

    „Was ist hier drin, Miss?"

    „Ich, äh ..."

    Keas Atem stockte, ihr Kreislauf spielte verrückt. Woher sollte sie das wissen? Einen Moment lang wurde sie sauer auf Tom, weil er sie in diese Situation gebracht hatte. Kea sah sich schon in einem amerikanischen Gefängnis. Und sie glaubte nicht, dass es dort so unterhaltsam zugehen würde wie in der Serie Orange is the new Black.

    Geduld schien nicht zu Bradleys stärksten Charaktereigenschaften zu gehören. Jedenfalls wartete er die Antwort auf seine Frage nicht ab, sondern zog den Reißverschluss auf. Tastete vorsichtig ins Innere der Ledermappe hinein. Bradley zog einen Gegenstand hervor.

    Es war ein Schnuller für Babys.

    Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches gewesen, wenn Kea ein Kind bei sich gehabt hätte. In ihrer Umhängetasche fehlten auch Windeln, Feuchttücher, Puder und andere Baby-Utensilien. Das musste Bradley natürlich auch erkannt haben. Kea bemerkte an seiner Hand einen Ehering. Er war gewiss Vater vielleicht sogar inzwischen Opa.

    Auf jeden Fall war sein Misstrauen jetzt erst richtig geweckt. Das konnte Kea deutlich spüren. Anklagend hielt er ihr den Schnuller unter die Nase.

    „Was soll das, Miss? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?"

    Jetzt musste Kea sich eine überzeugende Ausrede einfallen lassen. Sie hatte kein Kind, war auch noch niemals schwanger gewesen. Ihre bisherigen Beziehungen waren nie bis ins Stadium der Familienplanung gereift. Mit Tom war das anders. Kea wollte gern von ihm schwanger werden. Doch damit das geschehen konnte, musste sie zunächst diese Situation bewältigen.

    „Das ist ... ein Erinnerungsstück, verstehen Sie? Ich hatte eine Fehlgeburt."

    Sie stieß diese Sätze hervor und begann zu weinen. Kea gehörte nicht zu den Frauen, die auf Kommando Krokodilstränen hervorbringen können. Sie heulte jetzt vor Angst und nicht aus Trauer, denn in Wirklichkeit was das niemals geschehen. Die Lüge schien ihr immerhin glatt über die Lippen gegangen zu sein.

    Jedenfalls glaubte sie durch den Tränenschleier zu erkennen, dass Bradleys harte Gesichtszüge weicher wurden.

    Er schob den Schnuller in die Ledermappe zurück, zog den Reißverschluss zu und gab Kea ihre Tasche.

    „Entschuldigen Sie meine Frage, Miss. Ich mache hier nur meinen Job, okay? Ich wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt in unserem Land."

    Kea nickte und trocknete ihre Tränen, während sie mit der anderen Hand ihre Umhängetasche an sich presste.

    Tom wartete jenseits der Sperre auf sie.

    Kea lag die Frage auf der Zunge, was er sich dabei gedacht hatte. Weshalb musste sie mit dem Schnuller durch die Kontrollen gehen? War das eine Art Test? Wollte er überprüfen, ob sie würdig war, von ihm vor den Traualtar geführt zu werden?

    Nein.

    Wahrscheinlich machte sie nur aus einer Mücke einen Elefanten.

    Tom hatte einen seltsamen Sinn für Humor. Wenn sie ihn darauf ansprach, würde er gewiss einfach nur lachen und an ihrem Ohrläppchen ziehen, wie sie das so gern hatte.

    In diesem Moment sah er besorgt aus.

    „Du hast geweint", stellte er fest.

    Kea winkte ab.

    „Das war halb so wild, der Zollonkel ist mir zu sehr auf den Wecker gegangen. Willst du deine Mappe gleich wiederhaben?"

    „Nein, das kann warten. Ich zeige dir jetzt erst mal das Apartment. Unser neues Zuhause, Kea."

    Den letzten Satz sprach er mit einem so warmen Unterton aus, dass sie die unangenehme Episode sofort vergaß.

    Tom nahm ihre Hand, und wieder einmal genoss Kea das Gefühl, an seiner Seite sein zu dürfen. Er überragte sie um einen Kopf, doch nicht nur seine Größe und sein selbstsicheres Auftreten hatten Kea vom ersten Augenblick an beeindruckt. Sie hatte sich seit der Pubertät immer einen Freund gewünscht, der ihr keine Schwierigkeiten machte.

    Stattdessen war sie immer nur an Problemfälle geraten.

    Matthias, das Muttersöhnchen, Ralf, der Säufer, Bernd, der Psychopath ...

    Ha! Kein Ex von mir hätte den Mumm für eine Auswanderung in die Staaten gehabt. Die haben es ja noch nicht einmal hingekriegt, mit mir im Sommer nach Spanien zu fliegen.

    Kea verdrängte den Gedanken an die Vergangenheit, konzentrierte sich lieber ganz auf die Gegenwart.

    Tom lotste sie durch die Abflughalle, die von Reisenden aus allen Teilen der Welt bevölkert wurde. Blau uniformierte Cops ließen ihre misstrauischen Blicke über die Menschenmenge schweifen. Kea führte sich vor Augen, dass diese Stadt mehrere furchtbare Terroranschläge überstanden hatte.

    Tom strebte auf die Schlange von wartenden Taxis zu, hielt für Kea die hintere Tür auf und ließ sich neben ihr auf das Sitzpolster fallen. Er nannte dem indischen Fahrer eine Adresse, und der Taxler setzte das gelbe Checkers-Cab in Gang.

    Kea lehnte sich an Toms Schulter und genoss den Ausblick. Sie war noch niemals zuvor in New York City gewesen.

    Plötzlich klingelte Toms Handy.

    Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und rückte etwas von ihr ab.

    „Da muss ich rangehen, Schatz. - Yeah, what‘s the matter?"

    Tom benutzte nun die englische Sprache, und er wurde schlagartig aggressiv.

    Diese Seite an ihm kannte sie noch gar nicht. Ihr Freund wirkte sonst stets ausgeglichen. Allerdings hatte Kea Tom bisher immer nur in seiner Freizeit erlebt. Sie wusste, dass er ein Software-Start-up gründen wollte.

    Und dass in der amerikanischen Geschäftswelt mit harten Bandagen gekämpft wurde, hatte sie schon oft genug gehört oder gelesen.

    Kea bekam von dem Gespräch nicht viel mit, da ihr Schulenglisch eher dürftig war.

    Doch sie konnte den Hass ihres Freundes beinahe körperlich spüren.

    So hatte sie Tom noch niemals erlebt.

    Wer ging ihm so dermaßen auf den Wecker, dass sich sein männlich-markantes Gesicht in eine Fratze des Widerwillens und Abscheus verwandelte? Mit was für Menschen musste Tom sich in seinem Job abgeben?

    In Kea regten sich leise Zweifel, während das Yellow Cab langsam auf dem vielspurigen Expressway Richtung Manhattan glitt. Und sie fragte sich, wie ihre eigene berufliche Zukunft aussehen würde. Als Grafik-Designerin hatte sie den Vorteil, überall auf der Welt Kunden gewinnen zu können. Falls sie also mit der Mentalität hiesiger Auftraggeber nicht zurechtkam, konnte sie immer noch auf ihre alten Kontakte in Deutschland und Österreich zurückgreifen. Das war ein sehr beruhigendes Gefühl.

    Kea zwang sich zu ruhigem Atmen und dazu, nicht in Toms Richtung zu sehen. Allmählich ließ das unangenehme Gefühl in ihrer Magengegend nach. Plötzlich war das Telefonat vorbei. Im nächsten Moment nahm Tom ihre Hand. Sie fühlte sich warm und sanft an. So, wie sie es gewohnt war.

    Er warf ihr einen Seitenblick zu, wobei er ein entschuldigendes Lächeln aufsetzte.

    „Verzeih mir, Schatz. Es ist unhöflich, in deiner Gegenwart Jobgespräche zu führen. Aber manche Dinge gestatten einfach keinen Aufschub."

    „Kein Problem, schwindelte Kea. „Ich hoffe, du hattest Erfolg.

    „Erfolg? Ja, sicher. Ich lasse mir die Butter nicht vom Brot nehmen", murmelte Tom. Er wirkte nun geistesabwesend. Wahrscheinlich war er innerlich immer noch mit dem Gespräch beschäftigt. Kea wollte nicht nachhaken, obwohl sie sehr neugierig war.

    Doch wollte sie die Wahrheit wirklich wissen?

    Tom ist zu schön, um wahr zu sein.

    Dieser Satz ihrer besten Freundin ging ihr nun wieder durch den Kopf. Kea presste die Lippen aufeinander. Unsinn! Nina war bloß neidisch, weil Tom nicht nur viel besser aussah als ihr Kevin, sondern auch noch im Berufsleben ein echter Siegertyp war. Während Ninas Herzblatt bei einer Krankenversicherung arbeitete und das wohl auch bis zur Rente tun würde, machte Tom sich gerade mit einem brandheißen Software-Startup in New York City selbständig.

    Welche Karriere hatte wohl mehr Glamour?

    Kea schob ihre Beklemmungen zurück und bestaunte die breiten Boulevards mit den typischen Hydranten, die Leuchtbänder am Times Square und die zahlreichen Wolkenkratzer von Midtown. Es war ein himmelweiter Unterschied, diese Stadt im Fernsehen oder in der Wirklichkeit zu erleben. Kea wurde umfangen von den Geräuschen und Gerüchen, diesem völlig fremden und doch so anziehenden New-York-Flair.

    Das Taxi hielt an einer Adresse in der Upper West Side.

    Tom bezahlte den Fahrer und nahm das Gepäck. Die Tür wurde ihnen von einem Doorman geöffnet, dessen Uniform Kea an die eines Operettenadmirals erinnerte.

    Sie fuhren mit dem Lift in das elfte Stockwerk hinauf.

    „Hier haben wir unsere Ruhe, meinte Tom lässig, als er die Tür aufschloss. „Diese Etage gehört uns ganz allein, Schatz.

    Keas Atem stockte.

    Sie schritt über den weichen Velours-Teppichboden, direkt auf die bodentiefen Panorama-Fensterscheiben zu.

    New York lag ihr nun zu Füßen.

    Natürlich war die elfte Etage für die hiesigen Verhältnisse nicht wirklich hoch, doch Kea hatte noch nie zuvor eine solche Wohnung gehabt. Sie war in einem Einfamilienhaus aufgewachsen und hatte in Deutschland zuletzt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand gelebt, bevor sie an Toms Seite in die Staaten geflogen war.

    Er trat hinter sie und berührte sanft ihre Schultern.

    „Da hinten ist der East River. Den kannst du jetzt nicht sehen, weil er durch die Häuser verdeckt wird. Und da drüben beginnt Brooklyn. Bei Nacht haben wir ein Lichtermeer vor der Nase."

    „Es ist wunderschön."

    Du bist wunderschön", raunte Tom und küsste sie auf den Nacken.

    Kea schloss die Augen. Ihr Herz klopfte lauter. Sie gab sich ganz den Gefühlen hin, die durch Toms Berührungen erzeugt wurden.

    Das leise metallische Geräusch empfand sie als lästig. Tom schien es genauso zu gehen.

    „Verflucht, was sind das für Töne? - Hey!"

    Das letzte Wort schrie Keas Freund. Sie erschrak, schlug die Lider auf und wirbelte herum.

    Zwei bewaffnete Männer waren in die Wohnung eingedrungen. Sie trugen Sturmhauben über ihren Köpfen.

    2

    Special Agent Lenita Borges saugte am Strohhalm. Doch der Rest ihres Seven Up war bereits warm. Sie stellten den Plastikbecher auf die Bodenmatte des Ford Crown Victoria und streckte ihre langen Beine aus.

    Ihr Dienstpartner Chuck Jablonski hockte auf dem Fahrersitz. Er warf ihr grinsend einen Seitenblick zu.

    „Sind deine Gesäßmuskeln eingeschlafen, Bellissima? Wir parken noch keine fünf Minuten hier."

    Borges schnaubte verächtlich.

    Bellissima ist ein italienisches Wort, du Trottel. Meine Großeltern sind aus Portugal hierher eingewandert, kapiert? Und ich bin wirklich immer wieder innerlich bewegt, wie viele Gedanken du dir über meinen Hintern machst. Wahrscheinlich träumst du auch nachts von meiner Kehrseite."

    „Das willst du nicht wissen. Ich stelle nur fest, dass du eine miserable Laune hast. Die musst du aber nicht an mir auslassen. Mir sind Observierungen auch ein Graus, da geht es mir nicht anders als dir. Aber wir können uns beim FBI nicht nur die Rosinen herauspicken. Der Alte wird sich schon etwas dabei gedacht haben, dass er uns auf diesen Berger angesetzt hat. Immerhin konnten wir dem sauberen Pärchen bisher unbemerkt vom JFK hierher folgen."

    Borges zuckte mit den Schultern.

    „Wollen wir es hoffen. Hoffentlich funktioniert die Überwachung der Telekommunikation."

    Jablonski nickte.

    „Das klappt, zumindest bei Bergers Smartphone. Jim hat mir gerade eine Textnachricht geschrieben. Berger wurde von Rossini angerufen, als er gerade im Taxi saß. Angeblich ist Berger fuchsteufelswild geworden."

    „Weswegen?"

    „Keine Ahnung. Das werden wir gewiss bei der Einsatz-Nachbesprechung heute Abend gründlich durchkauen."

    „Wenn wir bis dahin nicht vor lauter Langeweile eingegangen sind wie die Primeln, seufzte Borges. „Was ist eigentlich mit dieser blonden Schnalle? Ist sie eine Komplizin oder nur Bergers Betthäschen?

    „Laut den Kollegen vom deutschen Bundeskriminalamt hat Kea Kühn eine weiße Weste. Keine Vorstrafen, keine Verbindung zu kriminellen Kreisen."

    „Wenn man von ihrem Kontakt zu Berger absieht", schränkte Jablonski ein.

    „Also weiß sie gar nicht, was für ein hundsgemeiner Dreckskerl ihr Romeo ist? Das kann ich mir nicht vorstellen. Es sei denn, sie ist wirklich dämlich. Naja, bei der Haarfarbe ..."

    Jablonski hob die Augenbrauen.

    „Also wirst du dir dein Haar nicht platinblond färben? Ich hatte gehofft, dass du mich an meinem Geburtstag damit überraschen würdest."

    „Träum weiter, gab Borges trocken zurück. „Ob ich mir wohl mal eben die Nase pudern gehen kann? Mir platzt gleich die Blase.

    „Nach nur einem Seven Up? Da merkt man, dass du lange Undercover warst und kaum Erfahrung mit Observierungen hast. Blasentraining gehört zu den wichtigsten Disziplinen, wenn es um Beobachtung von Verdächtigen geht."

    Borges öffnete die Beifahrertür.

    „Du bist nicht witzig, Chuck. Tut mir leid, dir diese schockierende Neuigkeit unter die Nase reiben zu müssen. - Ich melde mich für drei Minuten ab. Wenn jemand nach mir fragt, ich bin im Ladies Restroom von dem Diner da vorn."

    Jablonski hob grüßend die Hand und schloss die Tür des Dienstwagens wieder. Borges strich die Jacke ihres taubengrauen Hosenanzugs glatt und eilte auf die Coffeebar zu.

    Eigentlich war Jablonski schwer in Ordnung. Es gab beim FBI weit unangenehmere Zeitgenossen als ihn. Trotz seiner bulligen Gestalt hielt er sich mit Macho-Sprüchen auffallend zurück, und im Einsatz konnte sie sich keine bessere Rückendeckung vorstellen als ihren Dienstpartner.

    Borges hoffte nur, dass bei diesem spektakulären Kidnapping-Fall für sie mehr herausspringen würde als endlose Stunden auf dem Beifahrersitz eines geparkten Crown Vic.

    Borges steuerte weiterhin auf das Diner zu, als plötzlich die Tür des Apartementhauses aufgestoßen wurde. Die FBI-Agentin hielt inne. Wollten Berger und seine Gespielin sich etwa schon wieder verdrücken?

    Nein, sie waren es nicht, die das Gebäudes verließen.

    Der Doorman kam nach draußen getorkelt. Man hätte ihn für sturzbetrunken halten können. Doch da war die heftig blutende Wunde an seiner Schläfe. Er hatte ein Taschentuch gegen seinen Kopf gepresst, doch es war ebenfalls schon rot gefärbt. Das Blut lief an seinem bleichen Gesicht und an seinem Hals hinab.

    „Hilfe!", brachte er krächzend hervor.

    Da hatte Borges bereits ihre Dienstwaffe gezogen und war auf ihn zu gerannt. Auch Jablonski war ausgestiegen und eilte dem Verletzten zu Hilfe.

    Borges präsentierte ihren FBI-Ausweis.

    „Wir sind Bundesagenten, Sir. Was ist geschehen?"

    Der Doorman starrte die Agentin an, als ob er eine Außerirdische vor sich hätte. Er stand offensichtlich unter Schock. Doch dann beantwortete er stammelnd ihre Frage.

    „Zwei Gentlemen kamen in die Eingangshalle. Noch bevor sie von der Überwachungskamera erfasst werden konnten, zogen sie sich Masken über. Ich wollte den Alarmknopf drücken. Bevor es mir gelangt, flankte einer von ihnen über meinen Tisch und schlug mich mit seiner Waffe nieder. Es ging so unglaublich schnell, ich ..."

    „Wir brauchen dringend Verstärkung und eine Ambulanz", murmelte Jablonski und griff zum Funkgerät.

    Borges konzentrierte sich weiterhin auf den Verletzten.

    „Hilfe für Sie ist im Anmarsch, Sir. Wie lange waren Sie bewusstlos?"

    „Ich weiß nicht, vielleicht nur ein paar Minuten."

    Borges überlegte. Es gab für sie keinen Zweifel daran, dass die Maskenmänner Berger einen Spontanbesuch abstatten wollten. Sie hatte die beiden „Gentlemen" natürlich auch gesehen, als sie das Gebäude betraten. Die Kerle waren in ihren dunklen Anzügen und mit ihren Aktenkoffern in diesem Teil Manhattans höchst unauffällig. Sie hatten als Banker oder Börsianer durchgehsen können. Wer ahnte schon, dass sich in den Köfferchen Masken und Waffen befanden?

    Borges schaute auf die Uhr.

    Es waren keine sechs Minuten vergangen, seit die Männer das Haus betreten hatten. Obwohl Borges noch nicht über viel FBI-Erfahrung verfügte, war ihr klar, dass während dieser kurzen Zeitspanne unendlich viel geschehen konnte.

    Sie wandte sich an den Doorman.

    „Mein Kollege hat eine Ambulanz verständigt, sie muss gleich hier sein. Setzen Sie sich auf den Boden, Sie sind hier draußen in Sicherheit."

    Das Opfer warf ihr einen zweifelnden Blick zu, folgte aber ansonsten der Anweisung.

    Eine Gaffermenge fand sich im Handumdrehen zusammen. Die Leute hielten Abstand, filmten aber ungeniert mit ihren Smartphones. Borges hatte jetzt keine Zeit, sich darüber aufzuregen.

    „Wir müssen diese Maskenmänner stoppen, bevor sie zu viel Unheil anrichten!

    Berger hat das Apartment in der elften Etage gemietet, nicht wahr?"

    „Ja, aber wir sollten besser auf Verstärkung warten."

    Borges schaltete ihre Ohren auf Durchzug, ging in die Empfangshalle und drückte den Liftknopf. Es gab zwei Aufzüge, von denen der eine im fünfzehnten Stockwerk verharrte. Die Digitalanzeige des zweiten Lifts zeigte hingegen an, dass die Kabine sich schnell dem Erdgeschoss näherte.

    „Du machst ja doch, was du willst", murmelte Jablonski. Auch er hielt seine Pistole schussbereit in der Hand.

    Borges zuckte mit den Schultern.

    „Meinetwegen kannst du mich beim Alten anschwärzen."

    „Du weißt genau, dass ich das niemals tun würde."

    Sie klimperte mit den Wimpern.

    „Mein Held in schimmernder Rüstung!"

    „Und das, obwohl du noch nicht mal platinblond bist."

    Als sich die Liftkabine öffnete, waren die Agents auf alles vorbereitet. Doch sie war leer. Nur ein Hauch von teurem After Shave hing in der Luft.

    Borges und Jablonski betraten schweigend die Kabine. Der bullige Agent drückte den Knopf mit der Aufschrift 11.

    Borges‘ Herz pochte schnell, als sich der Aufzug nach oben bewegte. Sie trug ihre Schutzweste und wiederholte innerlich alles, was sie in der Ausbildung über Schusswaffeneinsatz gelernt hatte. Dies war vermutlich ihre Feuertaufe, denn bisher hatte sie im Dienstalltag noch nicht schießen müssen. Und sie fragte sich, ob das Warten auf Verstärkung nicht doch sinnvoller gewesen wäre.

    Jetzt war es leider zu spät.

    Ein leises Glockengeräusch ertönte, als die Stahltüren sich in der elften Etage öffneten.

    Die Apartmenttür stand weit offen. Die Agents gingen langsam hinein, wobei sie sich gegenseitig Deckung gaben.

    Es war, als ob sie ein Schlachthaus betreten würden.

    3

    Wenige Minuten zuvor brach Keas Welt in Zeitlupe zusammen.

    Es ploppte, als ob Sektflaschen entkorkt würden. In Wirklichkeit feuerten die Maskierten mit schallgedämpften Waffen auf Tom.

    Und sie trafen ihn.

    Der Entsetzensschrei blieb in Keas Kehle stecken, als die Kugeln in den Körper ihres Freundes schlugen. Der größere Attentäter schoss zweimal kurz hintereinander. Ein Geschoss jagte in Toms Brust, das andere in seinen Kopf. Das Blut spritzte Kea ins Gesicht. Sie stand wie zu einer Salzsäule erstarrt neben ihm. Sie hätte sich zu Boden werfen oder anderweitig Deckung suchen müssen, doch der Schock lähmte sie.

    Kea war unfähig, auch nur den kleinen Finger zu rühren.

    Ihr Herz raste, der Kreislauf spielte verrückt, ihr wurde schwindlig. Vielleicht wäre sie einfach umgefallen. Doch es war, als ob jemand ihre Füße mit großen Zimmermannsnägeln am Boden befestigt hätte.

    Auch der zweite Maskierte traf sein Ziel. Er betätigte den Abzug nur einmal. Seine Kugel traf Tom seitlich an der Hüfte.

    Keas Freund stürzte zu Boden. Er hatte Augen und Mund weit aufgerissen.

    Doch sie begriff instinktiv, dass er niemals wieder atmen würde.

    Es war vorbei.

    Den Grund für diesen hinterhältigen Angriff verstand sie nicht. War das hier ein Raubüberfall? Doch warum hatten die Kerle ohne Vorwarnung geschossen?

    Das Masken-Duo wandte sich nun Kea zu.

    Aber bevor die Männer ihre Waffen auf sie richten konnten, wurde plötzlich das Gitter des Lüftungsschachts aus der Verankerung katapultiert.

    Eine Frau sprang aus der Röhre. Sie war schlank, wirkte durchtrainiert und trug einen schlichten blauen Arbeits-Overall.

    Doch es handelte sich wohl kaum um eine Reinigungskraft.

    Das wurde Kea klar, als die Frau ein Wurfmesser hervorzog und es auf den größeren Attentäter schleuderte. Die Waffe durchtrennte seine Kehle beinahe vom einen zum anderen Ohr. Er ließ seine Pistole fallen, während er sich röchelnd und gurgelnd an den Hals griff. Das Blut spritzte im hohen Bogen aus der großen Wunde.

    „Jimmy, zum Henker ...", begann der zweite Pistolenmann. Auch für ihn hatte die Unbekannte ein Wurfmesser reserviert. Bevor er sie niederschießen konnte, erledigte sie ihn ebenfalls. Der Messergriff blieb zitternd in seiner Brust stecken, als er genau wie sein Kumpan zu Boden ging.

    Die Maskierten hörten nicht auf zu bluten.

    Die Overall-Frau stieg über ihre Körper hinweg, kniete sich neben Tom und tastete nach dessen Halsschlagader. Erst jetzt fiel Kea auf, dass sie dünne schwarze Lederhandschuhe trug.

    Sie war dunkelhaarig und recht hübsch, obwohl sie Kea finster anstarrte. Die Frau roch nach Schmieröl, Schweiß und billigem Parfüm. Eine penetrante Mischung. Kea wunderte sich darüber, dass sie so viele Details wahrnahm. Vielleicht lag das daran, dass ihr Verstand die wichtigste neue Information noch nicht verarbeitet hatte.

    Tom war tot.

    Das wurde nun von der Fremden bestätigt.

    „Mist, ich bin zu spät gekommen. Diese Trottel haben Tom abgeknipst. - Wo ist Adrian?"

    Die Frage war an Kea gerichtet. Die Unbekannte sprach ein gut verständliches Englisch. Trotzdem konnte Kea nicht antworten. Sie hatte keine Ahnung, um was es ging.

    Immerhin kamen ihr nun die Tränen. Die erste normale Reaktion, seit die Metzelei begonnen hatte.

    Die Frau packte sie hart am Handgelenk.

    „Hör mit der Heulerei auf! Wenn ich mit dir fertig bin, dann wirst du erst recht allen Grund zum Flennen haben. Komm mit, wir müssen fort. Ich wette, dass das FBI Tom schon im Visier hatte. Die Feds werden jeden Moment hier sein."

    Kea verstand immer noch nichts.

    Doch sie fürchtete sich viel zu sehr, um Widerstand zu leisten.

    Die Fremde zerrte Kea hinter sich her. Sie öffnete die Tür zum Not-Treppenhaus. Dort war die Luft abgestanden, und flackernde Neonröhren stellten die Lichtquelle dar.

    Kea musste sich konzentrieren, um auf den steilen Stufen nicht zu stürzen. Einen vernünfitgen Gedanken konnte sie momentan sowieso nicht fassen.

    Ihr Verstand wiederholte stets dasselbe Mantra:

    Tom ist tot! Tom ist tot! Tom ist tot! Tom ist tot!

    Und - diese messerschwingende Furie kannte seinen Namen. Das war schlimm genug.

    Kea bekam Atembeklemmungen. Sie wusste, dass es am Stress lag. Doch diese Erkenntnis nutzte nichts. Ihr Körper war trotzdem der Meinung, ersticken zu müssen. Sie rang röchelnd nach Atem.

    Die Fremde hielt inne, drehte sich zu ihr um.

    „Ist das ein mieser Trick von dir?"

    „N-nein, ich ..."

    Kea riss ihre verweinten Augen auf, ihre Flanken bebten. Es wollte einfach keine Luft in ihren Lungen ankommen.

    „Das haben wir gleich", kündigte die Unbekannte an.

    Sie boxte Kea in die Magengrube. Der plötzliche Schmerz zuckte wie ein Blitz durch ihren Körper. Aber die reale Pein überlagerte den eingebildeten Erstickungstod. Kea hustete, doch nun waren ihre Lungen wieder frei.

    „Du kannst mir später danken", sagte die Fremde und zwang Kea dazu, die letzten Stufen zu bewältigen.

    Die Frau stieß eine Metalltür auf. Die Hinterfront des Wohngebäudes sah ziemlich bescheiden aus. Auf dem Hof roch es nach Müll und Rattenkot. Die Unbekannte öffnete den Kofferraum eines alten zerschrammten Chevrolets. Plötzlich hatte sie eine kleine Pistole in der Hand.

    „Rein da!"

    Keas Herz krampfte sich zusammen. Als Tom starb, hatte sie im ersten Moment ebenfalls nicht mehr leben zu wollen. Doch nun war Kea bereits wieder anderer Meinung.

    Sie wollte nicht in einem dreckigen Hof enden, ohne Antworten auf ihre Fragen gefunden zu haben.

    Also kletterte sie in den Kofferraum.

    Die Fremde schlug den Deckel zu.

    „Willkommen in den Staaten!"

    4

    Borges und Jablonski benötigten keine drei Minuten, um das Apartment zu checken. Der bullige Agent deutete mit einer Kinnbewegung auf die angelehnte Tür zum Nottreppenhaus.

    „Auf diesem Weg dürfte der Killer verschwunden sein. Glaubst du, dass Kea Kühn an diesem Massaker beteiligt war?"

    Borges schüttelte den Kopf. Sie ging zwischen den Leichen der beiden Maskierten und dem toten Tom Berger hin und her, den Blick auf den Boden gesenkt.

    „Wir haben ein Zeitfenster von nur wenigen Minuten, Chuck. Die Kollegen in der Zentrale sollen sämtliche Verkehrsüberwachungskameras im Umkreis von zwanzig Blocks checken. Noch wissen wir nicht, ob der Mörder mit einer Karre flieht. Davon gehe ich erst mal aus. Er wird nämlich Kea Kühn als Geisel genommen haben. Und die kann er sich ja nicht gut unter den Arm klemmen. Wenn es die Glücksgöttin gut mit uns meint, fällt der Verbrecher durch seinen Fahrstil auf."

    Jablonski nickte und griff zum Hand-Funkgerät. Er gab die Informationen durch. Wenig später kam die Bestätigung von der Federal Plaza.

    „Die Kollegen tun, was sie können."

    „Dann wollen wir das auch mal versuchen, murmelte Borges. „Ich glaube übrigens nicht, dass wir es mit einem männlichen Täter zu tun haben. Vermutlich wurden die beiden Maskierten von einer weiblichen Hand gekillt.

    Jablonski hob seine Augenbrauen.

    „Wie kommst du darauf?"

    Borges kniete sich neben eine Leiche.

    „Folgendes Szenario: Das junge Glück aus Germany schneit herein. Noch bevor sie das Bett einweihen können, tauchen die beiden Ganoven auf und schießen Berger ohne großes Geschwafel über den Haufen. Dann wollen sie sich seine Freundin vorknöpfen. Doch nun betritt ein neuer Player das Spielfeld: Die Killerin."

    Mit dramatischer Geste deutete Borges auf den Lüftungsschacht und das abgesprengte Gitter.

    „Dann muss die Täterin topfit sein, wenn sie durch eine so schmale Röhre kriechen konnte", meinte der Agent.

    „Jedenfalls dürfte sie nicht so breite Schultern wie du haben, Chuck. - Wie auch immer, sie erledigt die Bösewichter mit ihren Wurfmessern. Übrigens eine ausgefallene Kampfmethode. Es könnte sich lohnen, unsere Datenbanken unter diesem Aspekt ein wenig zu bearbeiten. Jedenfalls schnappt sie sich Kea Kühn und haut mit ihr durch das Nottreppenhaus ab."

    „Und wie kommst du darauf, dass eine Frau die beiden Kerle getötet hat, Lenita? In den Lüftungsschacht würde auch ein zierlich gebauter Mann passen."

    Borges nickte.

    „Ja, aber schau dir die Schuhabdrücke genauer an. Beide Frauen sind durch das frisch vergossene Blut gelatscht, wodurch sie deutlich sichtbare Schuhabdrücke auf dem Teppich hinterlassen haben."

    Jablonski trat näher.

    „Trotzdem könnte es sich um einen schmalbrüstigen Kerl handeln, beharrte er. „Bei der einen Spur gebe ich dir recht, die stammt eindeutig von Frauenschuhen. Doch die andere wurde durch Sportschuhe mit Profilsohle verursacht. Die hätte genausogut ein Mann tragen können.

    „Wir müssen uns nicht streiten, womöglich werden die Überwachungskameras schon bald Licht ins Dunkel bringen, beschwichtigte Borges. „Lass uns lieber mal schauen, mit wem wir es hier zu tun haben.

    Sie hatte sich bereits Latex-Handschuhe übergezogen und befreite die Köpfe der Toten nun von ihren Masken.

    Borges kniff die Augen zusammen.

    „Diese Gesichter sagen mir nichts."

    „Aber mir, entgegnete Jablonski. „Das sind Mike Callahan und Louie Murray. Zwei Revolverschwinger des irischen Mobs. Sie stehen auf der Lohnliste von Old Barns.

    Borges pfiff durch die Zähne.

    „Ah, ich kapiere! Der alte Gangster dreht doch sowieso schon am Rad, seit sein Enkel spurlos verschwunden ist. Aber warum lässt er Tom Berger umlegen, anstatt den Aufenthaltsort des Kindes durch Folter zu erfahren? Ob der kleine Adrian schon in Europa getötet wurde?"

    5

    Kea fühlte sich im Kofferraum wie in einem fahrenden Blechsarg.

    Der Chevrolet schwankte hin und her, hielt gelegentlich an einer Ampel an oder legte sich in eine Kurve. Geräusche drangen auf Kea ein: Hupen, das Wummern von Bässen in Auto-Stereoanlagen, das Heulen von Polizeisirenen. Es roch nach Benzin.

    Kea ertastete ihre Umgebung. Das Reserverad konnte sie an seiner Form und dem penetranten Gummigestank leicht erkennen. Und es gab auch einen kleinen Benzinkanister.

    Plötzlich kam ihr eine Idee, wie sie ihrem Leben ein Ende setzen könnte.

    In ihrer Umhängetasche befand sich ein Feuerzeug. Kea rauchte nicht einmal, dieses Ding gehörte ihrer Freundin Jasmin. Kea hatte das Feuerzeug eingesteckt, als Jasmin es nach einem Restaurantbesuch liegengelassen hatte. Und danach hatte sie es schlicht und einfach vergessen.

    Konnte das ein Zufall sein?

    Daran glaubte Kea nicht. Es wäre alles ganz einfach. Sie musste nur den Kanister öffnen und ihre Kleidung mit Benzin tränken. Dann das Feuerzeug in Gang setzen. Und - Whooosh!

    Sie hatte einmal gelesen, dass der Flammentod äußerst schmerzhaft sei.

    Das war schon möglich, doch andererseits wäre sie dann wieder mit Tom vereint. Falls es ein Jenseits gab. Nun, das würde sie dann schon herausfinden.

    Kea begann in ihrer Umhängetasche zu suchen.

    Sie verstand nicht, warum ihr Freund hatte sterben müssen. Und wer war diese Furie, von der sie verschleppt worden war? Vermutlich verdankte sie der Fremden ihr Leben, doch es bedeutete ihr nichts mehr.

    Sie war allein auf einem fremden Kontinent. Die Existenz, die sie sich erträumt hatte, war mit Tom gestorben. Was sollte sie in diesem Land, mit nur ein paar Dollar in der Tasche?

    Abgesehen davon, dass die Messerheldin sie garantiert töten würde. War es nicht besser, ihrem Leben selbstbestimmt von eigener Hand ein Ende zu setzen?

    Noch nie zuvor hatte Kea an einen Freitod gedacht.

    Doch jetzt war plötzlich alles anders. Tom war aus der Welt gerissen worden, also hatte die Welt Kea nichts mehr zu bieten.

    Ihre Hand umklammerte das Feuerzeug. Sie zog es aus der Tasche. Schon wollte sie sich den Kanister angeln, als sie zögerte. Kea beschloss, das Ding zuerst zu testen. Wenn sie sich mit dem Benzin übergoss und das Feuerzeug dann gar nicht seinen Dienst tat ...

    Kea drückte auf den Knopf. Und es geschah nichts.

    Ob sie etwas falsch gemacht hatte? War sie zu dämlich, um ein Feuerzeug anzuzünden? Kea presste die Lippen aufeinander. Ihre Hände waren schweißnass. Das verflixte Ding entglitt ihr.

    Ihre Gedanken kreisten nur noch um ihr bevorstehendes Feuerende. Es gelang Kea, in der Finsternis das Feuerzeug wiederzufinden. Doch es funktionierte immer noch nicht. Sie war völlig vertieft in ihre Tätigkeit. Kea bemerkte gar nicht, dass der Wagen angehalten hatte.

    Die Kofferraumklappe wurde wieder geöffnet. Als die Unbekannte das Feuerzeug erblickte, schlug sie es Kea sofort aus der Hand.

    „Spinnst du? So leicht kommst du mir nicht davon! Hast du dir eingebildet, dich als Flammensäule davonmachen zu können? Das läuft nicht."

    „Sie hätten ja den Benzinkanister nicht im Kofferraum lassen müssen!"

    Kea konnte selbst nicht sagen, warum sie diese patzige Antwort gab. Das entsprach normalerweise nicht ihrem Naturell. Doch alles, was gewohnt und vertraut gewesen war, lag nun weit hinter ihr.

    Vielleicht wurde es kurz vor ihrem unausweichlichen Tod Zeit für ein paar neue Charakterzüge.

    Die Fremde quittierte die Frechheit mit einer Ohrfeige. Dann packte sie Kea am Kragen und zerrte sie aus dem Chevrolet.

    Die Frauen befanden sich im Inneren einer ehemaligen Fabrikhalle. Die Oberlichter waren schon längst zerschlagen worden, scharfkantige Glassplitter ragten in den grauen New-York-Himmel. Verrostete Maschinen zeugten von ehemaliger Produktivitiät. Auf dem Boden hatten sich Wasserpfützen gebildet, auf denen Ölfilme schwammen. Die Stahlträger der Dachkonstruktion waren mit Graffiti übersät.

    Die Unbekannte stieß Kea in einen kleineren Raum, der früher vermutlich ein Werkmeisterbüro gewesen war. Sie fesselte ihre Gefangene mit Kabelbinder an einen Stuhl. Dann musterte sie Kea von oben bis unten.

    „Es ist Zeit für eine kleine Plauderstunde. Weißt du, wer ich bin?"

    „Nein", erwiderte Kea wahrheitsgemäß.

    „Mein Name ist Lucia. Und ich habe Adrian vom ersten Moment an geliebt. Ich würde alles für ihn tun. Verstehst du das?"

    „Ich weiß nicht, wer das sein soll."

    „Falsche Antwort. Lucia griff sich Keas Umhängetasche. „Willst du so enden wie dein Stecher?

    „Nennen Sie ihn nicht so!, rief Kea unter Tränen. „Wir wollten ... er hat ... wieso musste Tom überhaupt sterben?

    Lucia hob ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen.

    „Gegenfrage: Warum ist dein Tom in die USA gekommen?"

    „Er wollte hier ein Start-Up gründen."

    Lucia schnaubte verächtlich.

    „Ja, selbstverständlich. Ein Kidnapper-Start-Up."

    „Warum sagen Sie so etwas? Sie kannten doch Tom gar nicht."

    Die dunkelhaarige Frau beugte sich so weit vor, dass sich ihre und Keas Nasen beinahe berührten.

    „Woher willst du das wissen, hm? Glaubst du, ich wäre rein zufällig durch den Lüftungsschacht in dieses Luxus-Apartment gekrochen? Und es tut mir übrigens leid, dass dein Freund tot ist. Aber nur, weil ich ihn nun nicht mehr persönlich ausquetschen kann."

    Keas Hals fühlte sich staubtrocken an. Wann hatte sie das letzte Mal etwas getrunken? Das musste im Flugzeug gewesen sein. Eine Coca Cola, als Einstimmung auf ihre neue Heimat, wie sie scherzhaft bemekrt hatte. Plötzlich hatte Kea furchtbaren Durst. Die Ironie ihrer Lage wurde ihr bewusst. Vor wenigen Augenblick hatte sie sich noch selbst verbrennen wollen, um ihrem Leid ein Ende zu setzen. Und nun bestand ihr größter Wunsch in einem möglichst großen Glas Flüssigkeit, am besten Wasser.

    Ihr Körper schien sie verhöhnen zu wollen, insbesondere ihre Zunge.

    „K-könnte ich etwas zu trinken bekommen, bitte?"

    Lucia hob ihre Augenbrauen, dann ließ sie ein wölfisches Grinsen sehen.

    „Natürlich, Sweetheart. Wenn du zu plaudern beginnst, dann hole ich dir gleich einen eiskalten Softdrink."

    „Ich weiß doch nichts!", beteuerte Kea.

    „Schon wieder eine falsche Antwort", stellte Lucia fest. Kea rechnete damit, erneut geschlagen zu werden. Doch ihre Peinigerin schien daran momentan kein Interesse zu haben. Stattdessen griff sie sich Keas Umhängetasche und leerte den Inhalt auf einem Blechtischchen aus.

    Puderdose, Geldbörse, Reisepass, Impfpass, Smartphone, eine Packung Papiertaschentücher sowie anderer Krimskrams fiel heraus.

    Und natürlich Toms Mappe.

    Lucia schien zu wittern, dass dies der wichtigste Gegenstand war. Sie hielt ihn hoch und schaute Kea in die Augen.

    „Was haben wir denn hier Schönes?"

    Kea wäre zu Boden gegangen, wenn sie nicht schon gesessen hätte. Sie begriff, dass sie jetzt so richtig Probleme bekommen würde.

    „Ich ..."

    Lucia wartete nicht auf eine Antwort, sondern zog den Reißverschluss auf. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie packte den Babyschnuller mit Daumen und Zeigefinger, hielt ihn Kea unter die Nase.

    „Und was ist das, du falsche Schlange? Fast hätte ich dir geglaubt. Ich hielt dich für ziemlich naiv und gutgläubig. So kann man sich täuschen. Zum letzten Mal: Was habt ihr mit Adrian gemacht?"

    Erst jetzt realisierte Kea, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie erblickte Lucia wie durch einen Schleier.

    „Bitte ..."

    Lucia warf den Schnuller auf den Tisch, zeigte mit dem Daumen darauf.

    „Ich habe dieses Ding höchstpersönlich für Adrian gekauft! Also spiel nicht weiterhin die Unwissende!"

    „Adrian ist ein Baby?", brachte Kea mit zitternder Stimme hervor.

    Lucia antwortete nicht. Sie schien keine Vorliebe für Gegenfragen zu haben. Jedenfalls zog sie ihre Pistole und richtete die Mündung auf Keas Stirn.

    Es war seltsam. Im Kofferraum hatte sie noch sterben wollen. Doch nun erschien ihr diese Aussicht überhaupt nicht mehr attraktiv. Ganz im Gegenteil, sie hatte große Angst vor der Kugel, die im Magazin der Waffe für sie reserviert zu sein schien.

    „Willst du nicht allmählich mit der Lügerei aufhören?, stieß Lucia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Was bin ich deiner Meinung nach?

    Kea wusste nicht, was sie sagen sollte. Doch sie begriff, dass von ihr eine Reaktion kommen musste. Sie konnte es sich nicht leisten, Lucia noch mehr zu verärgern.

    „Ich lüge nicht, beteuerte sie. „Und Sie ... sind eine Killerin.

    Lucia lachte, doch sie klang nicht amüsiert.

    „Falsch geraten, Sweetheart. Ich bin ein Kindermädchen!"

    Kea musste ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut haben. Lucia ließ zögernd die Pistole sinken. Doch sie machte keine Anstalten, Kea loszubinden. Als sie wieder den Mund öffnete, sprach sie mit sich selbst.

    „Ich hätte mit nach Europa reisen sollen, dann wäre Adrian nichts geschehen. Aber das ging nicht. Seine Eltern sind am Boden zerstört. Adrians Dad besäuft sich Tag und Nacht, und die Mom des Kleinen dreht völlig am Rad. Sie ist auf dem Psycho-Trip, liest nur noch in so einem verflixten Buch über das Lindbergh-Baby. Du weißt, was mit dem Lindbergh-Baby passiert ist, oder?"

    Kea spürte, dass Lucia wegen Adrians rätselhaftem Schicksal völlig aufgewühlt war. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Stattdessen durchforstete sie ihr Gedächtnis. Sie erinnerte sich an Gespräche und Situationen mit Tom. Hatte es irgendwelche versteckten Hinweise gegeben, die sie nicht erkannte? Was war mit dem Telefonat im Taxi? Tom hatte nicht gesagt, mit wem er geredet hatte. Er war zornig geworden, so viel stand fest.

    Schlagartig wurde Kea die Tragweite ihrer Gedanken klar.

    Inzwischen ging sie selbst davon aus, dass ihr Freund in das Kidnapping verwickelt war.

    Lucia wirkte nun eher verzweifelt als hasserfüllt. Sie tat Kea beinahe leid, obwohl sie das noch vor kurzem für völlig unmöglich gehalten hätte.

    „Hören Sie, sagte sie mit metallisch klingender Stimme. „Im Taxi hat Tom mit jemandem telefoniert. Leider kann ich Ihnen nicht sagen, worum es ging. Er wurde jedenfalls sehr wütend.

    Lucia hakte sofort nach.

    „Wer war das? Ein Mann oder eine Frau? Klang die Stimme alt oder jung? Konntest du heraushören, ob es ein interkontinentaler Anruf war? Hat er womöglich mit Europa gesprochen?"

    „Ich weiß nicht, ich ..."

    „Was weißt du denn überhaupt? Lucia schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. „Ich bin so eine Idiotin! Warum habe ich nicht das Smartphone deines Stechers mitgenommen, bevor wir abgehauen sind?

    „Sie sollen ihn nicht so nennen!"

    „Ach, wirklich?, höhnte Lucia. „Und was willst du dagegen tun? Mir den Mund mit Seife auswaschen?

    „Könntet ihr eventuell etwas leiser streiten, Ladies?"

    Kea und Lucia hielten inne. Keine von beiden hatte den schlanken jungen Mann bemerkt, der in das ehemalige Werkmeister-Büro eingetreten war. Er trug einen violetten Morgenmantel über einem Pyjama und hatte sich eine schwarze Schlafmaske hoch auf die Stirn geschoben.

    Er schien keinen Anstoß daran zu nehmen, dass Kea gefesselt war und Lucia eine Pistole in der Hand hielt.

    Das Kindermädchen verdrehte genervt die Augen.

    „Haben wir deinen Schönheitsschlaf gestört, Bruderherz?"

    Der Pyjamaträger lächelte.

    „Zugegeben, im ersten Moment war ich ungehalten. Doch wenn ich mir deine charmante neue Freundin genauer ansehe, ist meine schlechte Laune schon wieder vergessen."

    Lucia deutete mit dem Pistolenlauf in Keas Richtung.

    „Sie ist nicht meine Freundin, sondern ene verklemmte deutsche Bitch, die als Anhängsel von Adrians Kidnapper in unser Land gekommen ist. Sie heißt Kea, wenn du es unbedingt wissen musst."

    Der Mann zwinkerte Kea verschwörerisch zu.

    „Meine Schwester ist nicht immer so ruppig. Und mein Instinkt sagt mir, dass du mit den dramatischen Ereignissen um das Baby nicht das Geringste zu tun hast. Er machte eine kurze Pause. „Wo wir schon bei der Vorstellungsrunde sind, Lucia - willst du Kea nicht ein paar Worte zu meiner Person sagen?

    Lucia seufzte theatralisch.

    „Wenn es unbedingt sein muss. - Dieser komische Vogel ist mein Bruder Mario, ein verkrachter Harvard-Studienabbrecher, Ex-Klapsmühlen-Insasse, Darknet-Surfer, Nachteule und hauptberuflicher Computerkrimineller. Ach ja, und er macht gern auf intellektuell. Vor allem, wenn er eine Schlampe ins Bett kriegen will."

    Mario breitete in komischer Verzweiflung seine Arme aus.

    „Die stärkste Charaktereigenschaft meiner lieben Schwester ist ihre kompromisslose Ehrlichkeit, wie du schon bemerkt haben wirst. Oder wie Jean-Paul Sartre sagte: Der sensible Mensch leidet nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern ganz allein, weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann."

    „Denk daran, was ich über Marios Intellektualität gesagt habe. Als Nächstes fasst er dir an die Möpse. - Aber ich habe dieses dumme Flittchen nicht als dein Sex-Spielzeug hierher geschleppt, Bruderherz. Sie soll uns alles über Adrians Schicksal verraten."

    Lucias erste Sätze waren an Kea, die letzten an Mario gerichtet gewesen.

    Kea hatte durch das unerwartete Auftauchen des jungen Mannes etwas von ihrer Beklommenheit verloren. Er schien ihr berechenbarer und kontrollierter zu sein als seine Brutalo-Schwester. Ob Lucia wirklich ein Kindermädchen war? Ihre starken Gefühle für das verschwundene Baby Adrian schienen jedenfalls echt zu sein.

    Kea hätte ihr wirklich gern geholfen. Und das nicht nur, weil sie Kinder liebte. Sie hatte mit Tom eine große Familie gründen wollen. Dieser Gedanke ließ die schwarze Verzweiflung in ihrem Inneren schon wieder an die Oberfläche ihrer Seele steigen.

    Fest stand nur, dass sie nicht das Geringste über ein gekidnapptes Kleinkind wusste.

    Lucia trat einen Schritt auf Kea zu.

    Sie war nun so nahe, dass ihr Schweißgeruch durch ihr billiges Parfüm nicht mehr verdeckt wurde. Die Peinigerin suchte Keas Blick, obwohl sie ihren Kopf zur Seite drehte.

    Lucia packte sie am Kinn.

    „Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Du bist ein Weichei, das habe ich sofort erkannt. Wahrscheinlich muss ich dir noch nicht mal einen einzigen Fingernagel ausreißen, damit du singst."

    Sie deutete auf Keas sorgfältig manikürte Hände. Der Besuch im Nagelstudio vor dem Abflug nach New York hatte ein halbes Vermögen gekostet. Plötzlich bereute Kea, dass sie sich wegen Tom mit ihren Eltern entzweit hatte. Wenn sie jetzt in Delmenhorst statt in dieser gruseligen New Yorker Fabrikhalle wäre ...

    Das Heimweh traf sie so hart und unfair wie ein Tiefschlag bei einem Boxkampf.

    Kea hatte immer noch entsetzlichen Durst. Doch sie traute sich nicht, nach einem Getränk zu fragen. Sie brachte überhaupt kein Wort über die Lippen. Ihre einzige Reaktion bestand darin, heftig den Kopf zu schütteln.

    Lucia stieß ein hartes Lachen aus.

    „Gleich werden wir sehen, aus welchem Holz du geschnitzt bist."

    Sie griff nach einer rostigen Kneifzange, die auf einer verstaubten und mit Spinnweben befallenen Metallkommode lag. Kea fragte sich, wie viele Geständnisse die Furie mit diesem Werkzeug schon erpresst hatte. Doch eigentlich wollte sie es gar nicht wissen.

    „Muss das sein?", fragte Mario, als Lucia Keas rechtes Handgelenk packte. Kea hatte gehofft, dass er ihr helfen würde. Doch er stand wie angewurzelt mitten im Raum, ungefähr eine Mannslänge von den beiden Frauen entfernt. Seine Hände hatte er untätig in die Taschen seines Morgenmantels versenkt.

    Keas Zähne begannen zu klappern, ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie verachtete sich selbst dafür, dass sie so eine Memme war. Doch sie konnte nicht aus ihrer Haut. Und dabei hatte Lucia Keas Finger mit der Zange noch gar nicht berührt.

    Ein Telefon klingelte.

    Lucia fluchte und fischte ein Smartphone aus der Tasche.

    Kea hörte, wie jemand aufgeregt ein paar Sätze hervorstieß. Ihre Peinigerin stand schließlich nahe genug bei ihr.

    „Jetzt gleich? Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen ... ich bin auf dem Weg. Ciao."

    Lucia steckte ihr Telefon wieder ein und warf Kea einen langen Blick zu.

    „Heute ist dein Glückstag, Blondie. Du darfst dich in der Gesellschaft meines Bruders noch eine Zeitlang an deinen zehn hübschen Fingernägeln erfreuen. Doch ich komme wieder."

    Sie wandte sich an Mario.

    „Wirst du es schaffen, eine halbe Stunde lang auf die dumme Kuh aufzupassen, ohne sie zu vergewaltigen?"

    Keas Herz blieb beinahe stehen, aber er lachte nur.

    „Hör nicht auf meine Schwester, ihr Humor ist gewöhnungsbedürftig. So einer bin ich nicht."

    Lucia ließ die Bemerkung unkommentiert. Sie eilte aus dem Werkmeisterbüro. Wenig später konnte Kea hören, dass der Chevrolet-Motor angelassen wurde. Lucia fuhr davon.

    Mario näherte sich Kea mit schleichenden, aber kraftvollen Bewegungen.

    Wie ein Raubtier.

    Ob er wirklich in der Psychiatrie gewesen war? Oder hatte Lucia sich alles, was sie über ihren Bruder erzählt hatte, nur aus den Fingern gesogen? Wenigstens schien er wirklich mit ihr verwandt zu sein. Wenn man ihre Gesichter verglich, war die Familienähnlichkeit unübersehbar.

    „Du musst keine Angst haben, sagte er mit einem strahlenden Zahnpasta-Lächeln. „Lucia liebt Adrian wirklich, sie hat sich für den Kleinen aufgeopfert. Meine Schwester hatte dunkle Vorahnungen, als Jim und Valeria mit dem Baby und ohne sie nach Europa aufgebrochen sind. Und leider haben sich ihre Befürchtungen als zutreffend erwiesen.

    Mario konnte sich gewählt ausdrücken, er war nicht ungebildet. Ob er wirklich die amerikanische Elite-Universität Harvard abgebrochen hatte? Aber aus welchem Grund?

    „Jim und Valeria sind Adrians Eltern?", vergewisserte Kea sich.

    Mario nickte.

    „Du hast wirklich nicht die geringste Ahnung, worum es hier geht, nicht wahr?"

    Sein Tonfall drückte Mitgefühl aus. Ob sie ihm trauen konnte? Oder war er wirklich ein Frauenschänder? Würde er in dem Fall nicht schon über sie hergefallen sein? Oder wollte Mario Kea noch etwas zappeln lassen, um sie in Sicherheit zu wiegen?

    „Ich weiß wirklich nichts. Und ich habe entsetzlichen Durst."

    „Warum hast du das nicht schon längst gesagt? Du musst mich wirklich für einen miserablen Gastgeber halten."

    Mit diesen Worten eilte Mario zu einem kleinen Kühlschrank in der Ecke. Erst jetzt realisierte Kea das sonore Summen eines Generators. Logischerweise musste von irgendwo her ja die Elektrizität kommen, und an das Stromnetz war diese stillgelegte Fabrik gewiss schon längst nicht mehr angeschlossen.

    Mario holte eine Dose mit Limonade aus dem Kühlschrank und kam damit zu Kea zurück.

    Sie hätte über sich selbst lachen können, wenn ihre Lage nicht so bescheiden gewesen wäre. Kea hatte ihre große Liebe verloren und ernsthaft einen Selbstmord geplant. Und nun wünschte sie sich nichts sehnlicher, als diese Büchse austrinken zu dürfen und von der Fingernagel-Folter und einer Vergewaltigung verschont zu werden.

    Ihr Verstand funktionierte seltsam. Ob sie unter Schock stand? Ja, ganz gewiss.

    Oder wurde sie allmählich verrückt?

    Kea konnte sich selbst trinken, da Lucia ihr die Hände hinter dem Rücken gefesselt hatte. Mario öffnete die Dose und setzte sie an ihre Lippen.

    Die eiskalte Flüssigkeit war mit Kohlensäure versetzt und schmeckte nach Orangenaroma. In diesem Moment kam es Kea so vor, als ob sie noch niemals zuvor etwas so Köstliches getrunken hätte.

    „Gut?", fragte Mario mit einem charmanten Lächeln.

    Sie konnte nur begeistert nicken.

    „Dann sollst du noch mehr bekommen."

    Kea schluckte die Limonade gierig herunter. Doch dann geschah es.

    Mario verschüttelte mindestens die Hälfte des Inhalts, der sich auf Keas Bluse und ihre Jacke ergoss.

    Sie schrie auf, mehr aus Überraschung und weniger, weil sie die plötzliche Kälte auf ihrer Haut als unangenehm empfand.

    Kea blickte an sich herab und stellte entsetzt fest, dass sie wie Miss Wet T-Shirt aussah. Der BH zeichnete sich unter ihrer Bluse deutlich ab.

    Ihr kam ein entsetzlicher Gedanke.

    Ob Mario die Limonade absichtlich verschüttet hatte, um sich besser an ihrem Körper ergötzen zu können?

    Er rang nach Atem, wirkte peinlich berührt.

    „Entschuldige bitte, was bin ich doch für ein Tollpatsch! Du wirst dich in den nassen Sachen erkälten. Zum Glück dürftest du ungefähr dieselben Körpermaße wie meine Schwester haben. - Ich bin gleich zurück."

    Mario stürmte davon und ließ Kea mit ihren Gedanken allein.

    Die nasse und kalte Bluse fühlte sich wirklich unangenehm an, doch das war jetzt ihre geringste Sorge. Ob dieser Kerl nur ein grausames Spiel mit ihrer Hoffnung abzog?

    Und wie sollte sie Lucia davon überzeugen, dass sie nichts von Toms Geschäften gewusst hatte?

    Ob ihr Freund wirklich in eine Kindesentführung verwickelt gewesen war?

    Kea ließ diese Vorstellung einfach nicht zu. Es musste eine andere Erklärung geben. Doch woher kannte Lucia Toms Namen? Und warum war sie zur Stelle gewesen, als die Schießerei losging?

    Kea musste Antworten auf diese Fragen finden, sonst würde sie noch verrückt werden.

    Das Knarren der Türangeln riss sie aus ihren Grübeleien.

    Mario kehrte mit einem Arm voller Textilien zurück. Er hatte sich auch umgezogen, trug nun nicht mehr seinen Morgenmantel, sondern Jeans und einen grauen Rollkragenpullover aus Baumwolle.

    „So, ich habe wahllos ein paar Sachen gegriffen. Ich muss gestehen, dass ich ein Modemuffel bin. Also weiß ich nicht, ob die Kleider dir passen oder dir überhaupt gefallen. Und mit dem Handtuch kannst du dich abtrocknen."

    Wie soll ich das mit gefesselten Händen schaffen?

    Es war, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Mario löste den Kabelbinder von Keas Handgelenken.

    „Ich werde ein Gentleman sein und mich in mein eigenes Schlafzimmer zurückziehen, dann kannst du dich hier in Ruhe unbeobachtet umziehen. In zehn Minuten kehre ich dann zurück und erzähle dir alles, was ich über Adrians Verschwinden weiß. In Ordnung?"

    Kea nickte nur, während sie ihre Gelenke massierte. Allmählich kehrte das Leben in ihre kalten Finger zurück, das Blut zirkulierte besser.

    Mario deutete eine Verbeugung an, bevor er ihr den Rücken zudrehte und das Werkmeisterbüro verließ.

    War das die Chance zur Flucht?

    Kea ließ zunächst die Hüllen fallen und frottierte sich den Oberkörper, bevor sie in Lucias Kleider stieg. Es war eine Ironie des Schicksals, dass sie nun Sachen ihrer größten Feindin anzog.

    Kea hatte keinen Zweifel daran, dass dieses angebliche Kindermädchen sie foltern würde, um an Informationen zu kommen. Immerhin hatte Lucia die beiden Killer

    äußerst schnell und effizient ins Jenseits befördert.

    Wo sich Marios Schlafzimmer wohl befand?

    Es konnte überall in diesem großen und unübersichtlichen Fabrik-Komplex sein. Ob zehn Minuten ausreichten, um das Gelände zu verlassen? Und wenn Lucia sie nun bei ihrem Fluchtversuch erwischte?

    Keas Finger zitterten so stark, dass sie kaum den Reißverschluss der Jeans hochziehen konnte.

    Wenigstens war auf Marios Augenmaß Verlass.

    Die Kleider passten so gut, als ob Kea sie selbst gekauft hätte. Allerdings entsprachen sie überhaupt nicht ihrem Geschmack. Die Blue Jeans hatte dekorative Löcher an den Knien und den Oberschenkeln, das Sweatshirt war in einem schreienden Pink gehalten und der dunkleblaue Hoodie trug den Schriftzug BROOKLYN TIGERS.

    Kea kam sich reichlich verkleidet vor.

    Laut ihrer Armbanduhr waren gerade erst vier Minuten vergangen, seit Mario sie allein gelassen hatte. Keas größte Feindin war in diesem Moment ihre eigene Angst. Ihr brach der Schweiß aus, als sie einen Schritt Richtung Tür machte. Die Atembeklemmungen verursachten ihr Schwindelgefühle. Doch der zweite und dritte Schritt funktionierte schon besser.

    Sie ermahnte sich selbst dazu, nicht so ein Schneckentempo vorzulegen. Wenn Lucia jetzt auftauchte, war sie erledigt. Darüber machte sie sich keine Illusionen.

    Als Kea die Tür geöffnet hatte, ließ sie ihren Blick durch die große Fabrikhalle schweifen.

    Marios Schlafzimmer konnte überall und nirgends sein.

    Wirklich?

    Er war durch den Lärm der beiden Frauen beim Schlafen gestört worden, das hatte er zumindest behauptet. Also vermutete Kea, dass sich sein Gemach in der Nähe befand.

    Ein Grund mehr, so schnell wie möglich den Ausgang zu suchen.

    Doch als Kea mit butterweichen Knien quer durch die Halle schlich, stieß sie plötzlich mit dem Fuß gegen eine leere Blechkonserve.

    Das scheppernde Geräusch erschien ihr so laut wie der Krach beim Einsturz eines Wolkenkratzers.

    Wenn Mario nicht plötzlich taub geworden war, konnte er es unmöglich überhört haben.

    Kea begann zu rennen.

    In der Schule war sie gut in Leichtathletik gewesen, allerdings hatte ihre Kondition in den letzten Jahren gelitten. Aber ihre Todesangst peitschte sie voran wie ein Sklaventreiber mit einer Reitgerte.

    Ihre Augen brannten.

    Sie konzentrierte sich auf das große Schiebetor vor ihr. Ob Lucia mit ihrem Chevy hier hindurch gefahren war? Der Ausgang bot jedenfalls genug Platz für ein Auto. Andere Fluchtwege konnte Kea momentan nicht erblicken.

    Zehn Minuten!

    Sie wollte nicht auf die Uhr schauen, obwohl ihrer Meinung nach der Zeitraum schon verstrichen sein musste. Kea rechnete jeden Moment mit Marios Erscheinen. Was würde Lucias Bruder tun, wenn er sie beim Wegrennen erwischte? Bisher war er ja sehr nett zu ihr gewesen, jedenfalls unter den gegebenen Umständen. Doch wenn sie ihm Schwierigkeiten machte ...

    Kea zwang sich dazu, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Stattdessen packte sie mit beiden Händen den eisernen Griff der Schiebetür.

    Zog daran.

    Nichts.

    Der Schweiß lief Kea über den Rücken, durchtränkte ihre neue Kleidung. Wie war das möglich? Das Torschloss schien kaputt zu sein. Außerdem gab es einen schmalen Spalt zwischen Wand und Torrand. Es musste also möglich sein, den Ausgang zu öffnen.

    Kea war bisher zu zaghaft gewesen.

    Aber es ging um ihre Freiheit und ihr Leben, das ihr inzwischen wieder kostbar genug erschien. Sie biss die Zähne zusammen und stemmte sich mit den Füßen gegen den Betonboden. Ihre eigenen Schuhe (und ihre Unterwäsche) hatte sie behalten.

    Und wirklich bewegte sich das schwere Tor, wenn auch nur um wenige Zentimeter. Es würde nur ein schmaler Spalt nötig sein, damit sie hindurchschlüpfen konnte. Zum Glück war sie schlank, beinahe mager. Tom hatte ihr immer so süße Komplimente wegen ihrer Figur gemacht, und ...

    Nein!

    Sie wollte jetzt nicht an ihn denken. Kea benötigte ihre ganze Kraft, um das Tor zu öffnen. Noch niemals zuvor hatte sie sich körperlich so sehr anstrengen müssen. Lucia hatte doch das Tor ebenfalls auf bekommen, wenn sie mit dem Chevrolet davongefahren war. Ob dieses Killer-Kindermädchen wirklich so sehr viel stärker war als sie selbst?

    Kea wusste es nicht.

    Für sie stand nur fest, dass sie diese Furie und ihren Bruder niemals wiedersehen wollte.

    Endlich hatte Kea das Tor so weit geöffnet, dass sie in die Freiheit hinaus gleiten konnte.

    Mario lehnte an der Außenwand des Fabrikgebäudes und rauchte eine Zigarette. Er lächelte Kea an.

    „Du musst geahnt haben, dass man von hier aus einen Panoramablick auf Manhattan hat. Bei Nacht ist es traumhaft schön, wenn man die unzähligen Lichter der Wolkenkratzer sieht."

    6

    „Jemand muss Old Barns davon überzeugt haben, dass sein Enkel nicht mehr lebt, sagte Borges, während sie ihre Gedanken mit der Diktierfunktion ihres Smartphones festhielt. „Das ist die einzig logische Erklärung für den Mord an Tom Berger. Der Gangsterboss hätte dem Kidnapper kein Haar gekrümmt, wenn es kleinen Adrian noch gutgehen würde. Doch der Mord an dem Kind lässt den Alten blindwütig um sich schlagen.

    Jablonski schüttelte den Kopf.

    „Ich glaube erst an den Tod des Babys, wenn wir eine Bestätigung durch die Kollegen aus Europa kriegen. Nach unseren letzten Informationen war es doch keineswegs sicher, dass der Kleine noch in Germany festgehalten wird. Angeblich wurde Adrian inzwischen nach Belgien geschafft."

    Borges runzelte die Stirn.

    „Also ein Täuschungsmanöver? Es wäre mir auch lieber, wenn der Säugling noch am Leben wäre. Du weißt, wie sehr ich Kindsmörder hasse. Wie auch immer, Old Barns muss eine aus seiner Sicht vertrauenswürdige Quelle haben. - Die Killerin hingegen dürfte davon überzeugt sein, dass Adrian nicht tot ist. Nur aus diesem Grund hat sie Kea Kühn am Leben gelassen. Die Deutsche soll ihr verraten, wo das Baby festgehalten wird."

    „Und wenn Kea Kühn es gar nicht weiß?", fragte Jablonski.

    „Dann hat die Deutsche ein Problem. Ehrlich gesagt ist mir ihr Schicksal ziemlich egal. Wer sich mit einem dreckigen Kindesentführer einlässt, kann nicht auf mein Mitgefühl hoffen. Auf jeden Fall besteht die Möglichkeit, dass diese Kea Adrians Aufenthaltsort kennt."

    „Dann sollten wir sie uns schnappen, bevor sie von der Killerin zu Tode gefoltert wird", meinte Jablonski.

    „Das weiß ich selbst", fauchte Borges. Etwas ruhiger fügte sie hinzu: „Immerhin sprichst du inzwischen ebenfalls von einer Killerin."

    Der bullige Agent grinste.

    „Klar, ich weiß doch, wie gern du recht behältst. Und meistens irrst du dich ja auch nicht."

    Der Wortwechsel zwischen den beiden Mitgliedern der FBI-Spezialeinheit zur Bekämpfung von Kindesentführungen fand in dem blutüberströmten Luxusapartment statt, das Thomas „Tom" Berger angemietet hatte.

    Bald bekamen sie Gesellschaft. Ein Spurensicherungsteam rückte an, ebenso uniformierte Cops vom zuständigen Revier sowie ein Mordermittlungsteam vom New York Police Department. Das Erscheinen der Detectives war allerdings nur eine Formsache. Da die Morde offensichtlich im Zusammenhang mit einem FBI-Fall standen, würden die Bundesbehörden weiterhin ermitteln.

    „Wir sind nicht traurig, wenn wir die Arbeit euch überlassen können, sagte ein grauhaariger Detective Sergeant zu Jablonski. „Auch ohne diesen Fall haben wir schon genug zu tun.

    „Kann ich mir vorstellen."

    Borges schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Sie begriff immer noch nicht, wie die Entführung über die Bühne gegangen war. Der Barns-Clan hatte viele Feinde. Man konnte davon ausgehen, dass mehrere Gorillas Jim und Valeria Barns sowie ihr Kind bewacht hatten.

    Und doch war es mitten in Berlin verschleppt worden.

    Borges fand es höchst seltsam, dass die Eltern daraufhin zur deutschen Polizei gerannt waren. So etwas taten normale Bürger, aber keine Familienmitglieder eines alteingesessenen Mobster-Clans. Solche Leute lösten ihre Probleme üblicherweise selbst, und zwar mit Schlagring und Pistole.

    Irgend etwas an der ganzen Geschichte stimmte ganz und gar nicht.

    Jablonskis Stimme riss sie aus ihren Betrachtungen.

    „Wollen wir zurück zur Federal Plaza fahren oder willst du noch ein wenig vom Frühstück bei Tiffany‘s träumen?"

    „Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du nicht witzig bist, Chuck?"

    „Ungefähr zwanzig Mal am Tag."

    Die Agents verabschiedeten sich von dem Spurensicherungsteam, das bereits mit der Arbeit begonnen hatte. Ein Gerichtsmediziner war inzwischen ebenfalls vor Ort. Über die Todesursache gab es weder bei den irischen Killern noch bei Tom Berger Zweifel. Trotzdem war es möglich, dass die Obduktion der Leichen weitere nützliche Informationen liefern konnte.

    Als Borges und Jablonski im FBI Field Office New York angekommen waren, begannen sie in ihrem gemeinsamen Büro sofort mit der Computerrecherche. Durch die Zusammenarbeit mit dem NYPD konnten sie auf sämtliche Verkehrsüberwachungskameras der Metropole zugreifen.

    Es gab nur ein kleines Zeitfenster für die Flucht vom Tatort. Jablonski erstellte zunächst ein Raster, indem er sich auf die Kameras der umliegenden sechs Blöcke konzentrierte.

    Für einen Laien waren die Verkehrsströme auf den mehrspurigen Avenues und Boulevards nichtssagend. Doch die Ermittler wussten, wonach sie Ausschau hielten.

    Borges deutete auf ihren Monitor.

    „Was hältst du von dem grünen Chevy, Chuck? Er hat auffallend oft die Fahrspur gewechselt."

    „Du meinst die Karre, die vom Tatort aus auf der Fifth Avenue Richtung Süden fährt? Vielleicht ein Auswärtiger, dessen Navi nicht richtig funktioniert."

    Die Agentin schüttelte den Kopf.

    „Das habe ich auch erst gedacht. Aber der Wagen hat ein New Yorker Kennzeichen."

    „Kannst du es vergrößern, Lenita?"

    „Ja, an der Ecke Eighth Street musste der Chevrolet an einer roten Ampel halten. Ich ... verflixt nochmal!"

    Sie pfiff durch die Zähne und spürte, wie sie vom Jagdfieber gepackt wurde.

    „Treffer?", vergewisserte Jablonski sich.

    „Irgendwie schon. Dieser Chevy wurde vor drei Tagen in Queens als gestohlen gemeldet. Passt doch gut, oder? Wäre ich eine Killerin, dann würde ich jedenfalls nicht mit meinem eigenen Hobel aufkreuzen, um den Job durchzuziehen."

    „Dann ist doch der Wagen sowieso schon zur Fahndung ausgeschrieben, oder?"

    „Du hast es erfasst, Chuck. Allerdings sollten wir uns nicht darauf verlassen, dass irgendeine übermüdete Streifenwagen-Besatzung einen lichten Moment hat und die Karre findet. Ich möchte wissen, wohin

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