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Ulrike D.: oder die wiederkehrenden Träume Elmar Redlichs
Ulrike D.: oder die wiederkehrenden Träume Elmar Redlichs
Ulrike D.: oder die wiederkehrenden Träume Elmar Redlichs
eBook664 Seiten9 Stunden

Ulrike D.: oder die wiederkehrenden Träume Elmar Redlichs

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Über dieses E-Book

Der verheiratete Elmar Redlich träumt ständig von einem Mädchen namens Ulrike D. Dabei hat er Ulrike in seiner Jugend nur flüchtig gekannt. Da außer Ulrike seine frühere Verlobte Julia in den Träumen auftaucht, glaubt er, ein Schuldkomplex, der sich auf das einstige Zerwürfnis zwischen Julia und ihm bezieht, sei die Ursache der Träume. Während einer Reise in seine alte Heimat erfährt er, seine frühere Verlobte weile zur gleichen Zeit dort. Eine erneute Begegnung mit der immer noch attraktiven Julia könnte das Aus für seine Ehe bedeuten, befürchtet er, zumal er das Gefühl hat, Julia wolle zu ihm zurückkehren. In der Heimat angekommen, wandert er zunächst zu einem See. Konfrontiert mit den Zeugnissen seiner Vergangenheit, denkt er über das Beziehungsgeflecht zwischen ihm, Ulrike D. und Julia nach. Er glaubt, man könnte frühere traumatische Erlebnisse durch gezieltes Erinnern verarbeiten. So taucht er in seine Vergangenheit ein und aktiviert seine Erinnerungen an Erlebnisse, die für ihn traumatisch verlaufen waren. Zunächst denkt er an sein einstiges Engagement bei einer christlichen Pfadfinderschaft. Vor allem sein Denken in den Kategorien Schuld und Vergeltung führt er auf sein pfadfinderisches Engagement zurück. Er meint, dass eine Vergeltungsinstanz alles schuldhafte Verhalten auf Erden rächt. So untersucht er verschiedene Ereigniskomplexe, die diese Auffassung zu bestätigen scheinen. Zuerst sein eigenes Unglück, das sich seit der Trennung von Julia immer katastrophaler aufgeladen hatte. Auch andere Ereignisse, wo zwischen Schuld und Schicksal eine enge Korrelation zu bestehen scheint, untersucht Elmar akribisch. Als er mit Julia Lambertz eine Beziehung begann, blieb er studienhalber oft lange in der Universitätsstadt. Nachdem er genügend Erlebnisse durchdacht hat, meint er, er müsste seine Alpträume jetzt zum Schweigen gebracht haben. Am Schluss warten er und Frau Lambertz auf die Ankunft von Julia.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum25. Okt. 2023
ISBN9783755458685
Ulrike D.: oder die wiederkehrenden Träume Elmar Redlichs

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    Buchvorschau

    Ulrike D. - Heinz-Jürgen Schönhals

    Ulrike D. oder die wiederkehrenden Träume Elmar Redlichs

    Roman (Neubearbeitung)

    Autor: Heinz-Jürgen Schönhals

    Arolser Straße 21

    31812 Bad Pyrmont

    jschoenhals36@gmx.de

    Covergestaltung: Heinz-Jürgen Schönhals

    Urheberrecht: Heinz-Jürgen Schönhals

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.

    Inhalt

    Inhalt

    Der verheiratete Elmar Redlich träumt ständig von einem Mädchen namens Ulrike Düsterwald, genannt Ulrike D. Das Merkwürdige ist, er hat Ulrike in seiner Jugend eigentlich nur flüchtig gekannt. Da außer Ulrike auch seine frühere Verlobte Julia in den Träumen auftaucht, glaubt er, ein Schuldkomplex, der sich auf das einstige Zerwürfnis zwischen Julia und ihm bezieht, sei die Ursache seiner Träumerei. Während einer Reise in seine alte Heimat erfährt er, seine frühere Verlobte weile zur gleichen Zeit dort. Eine erneute Begegnung mit der immer noch attraktiven Julia könnte das endgültige Aus für seine Ehe bedeuten, befürchtet er, zumal er das Gefühl hat, Julia wolle zu ihm zurückkehren.

    Zunächst wandert er zu einem See, an dessen Ufer einst das Wochenendhaus seiner Eltern gestanden hat. Konfrontiert mit den Zeugnissen seiner Vergangenheit, denkt er über das Beziehungsgeflecht zwischen ihm, Ulrike D. und Julia nach. Sein Wunsch, von seinen Alpträumen befreit zu werden, ist immens. Da er glaubt, man könnte frühere traumatische Erlebnisse durch gezieltes Erinnern verarbeiten, taucht er in seine Vergangenheit ein und aktiviert seine Erinnerungen an Erlebnisse, die für ihn traumatisch verlaufen waren. Zunächst denkt er an sein einstiges Engagement bei einer christlichen Pfadfinderschaft. Alle seine künftigen Konflikte, meint er, hingen auch mit seiner Mitgliedschaft in der Pfadfindersippe zusammen. Hier wurde sein Charakter früh geprägt. Vor allem sein Denken in den Kategorien Schuld und Vergeltung führt er auf sein pfadfinderisches Engagement zurück. Er meint, dass eine Vergeltungsinstanz alles schuldhafte Verhalten auf Erden rächt. So untersucht er verschiedene Ereigniskomplexe, die diese Auffassung zu bestätigen scheinen. Zuerst sein eigenes Unglück, das seit der Trennung von Julia sich immer katastrophaler aufgeladen hatte. Auch andere Ereignisse, wo zwischen Schuld und Schicksal eine enge Korrelation zu bestehen scheint, z.B. das Verhalten seines Cousins im Krieg oder das (angeblich schuldhafte) Verhalten eines Onkels seines Freundes gegenüber seiner treulosen Frau, untersucht Elmar akribisch. Als er mit Julia Lambertz eine Beziehung begann, blieb er studienhalber oft lange in der Universitätsstadt  M. Seine lange Trennung von Julia und einige Ereignisse in M. hat er dann später auch in seine Vorstellung von Schuld und Schicksal eingebracht.

    Nachdem er genügend angebliche oder wirkliche traumatische Erlebnisse durchdacht hatte, meint er, er müsste seine Alpträume jetzt doch wohl zum Schweigen gebracht haben. Als er am Ende zusammen mit Julias Mutter auf die Ankunft von Julia in Waldstädten wartet, denkt er zugleich daran, dass in Bezug auf Julia und ihm etwas Neues ins Leben treten könnte.

    (Wichtige) Personen

    Elmar Redlich - Protagonist, Gymnasiallehrer

    Lisi Redlich - seine Frau

    Professor Eberhard Wengenroth-

    Hausenstein - Psychologe

    Holger Retzlaff - ehemaliger Klassen-

    kamerad von Elmar, Kunstlehrer

    Joachim Schaller- Jugendfreund von Elmar

    Julia Lambertz- Jugendfreundin von Elmar

    Gottfried Laubenthal - Oberförster

    Alexander Höhne - Joachim Schallers zweiter

    Onkel

    Frau Adele Lambertz - Julias Mutter

    Hermann Beyer- Elmars Cousin

    Ulrike D(üsterwald) - Joachim Schallers

    Freundin

    Außerdem Nebenfiguren wie: Verwandte von

    Elmar, Pfadfinderführer, Kommilitonen / innen, Schüler

    und Lehrer, ein Pfarrer, Gäste auf einer Party u.a.

    Inhaltsverzeichnis

    Alpträume, Schuldgefühle, psycholo-

    gische Konsultation

    Elmar Redlichs Lebenssituation

    Eine Reise in die alte Heimat (mit der Aussicht,

    die Jugendfreundin wiederzutreffen)

    Beim Vetter Klaus (wieder im Banne Julias)

    Besuch bei einem alten Klassenkameraden

    Aufgebrochenen Empfindungen

    Wanderung zum Runenweiher

    Wieder in der Jugend (Suche nach den Ursachen

    der quälenden Alpträume)

    Die Sternbaldpfadfinder (übergroße moralische

    Empfindsamkeit?)

    Begeisternde Erzählungen

    Heile Welt, Abenteuer I

    Eine sich ankündigende Gegenwelt: die Realität

    Die edlen Taten Joachims und Elmars und

    das Lob des Erstführers

    Die Warnung des ehemaligen Pfadfinders (vor überzo-

    genem Christenglauben)

    Heile Welt, Abenteuer II

    Der brutale Erdkundelehrer (ein Repräsentant des

    realen Lebens)

    Abschied von den Pfadfindern

    Der Zeitgeist der Fünfziger Jahre

    Julia (und ein Tanzfest)

    Die gelbe Wildtulpe

    a) Das glückliche Leben des Oberförsters

    b) Das qualvolle Dasein des „Nazi-Onkels"

    In den Fängen des Liebesgottes

    Die Kriegserzählungen des Cousins:

    a) Ausbruch aus dem Tscherkassy-Kessel

    b) Gespräch über das Schicksal

    c) Das Motiv der schuldlosen Schuld

    Und wieder Julia:

    Die Freundin

    Auf der Universität in M.

    a) Arbeitsgemeinschaft mit zwei Studentinnen

    b) Der Studienfreund Rudi Kaup

    Das Misstrauen (in Bezug auf Julia)

    Eine Party bei dem Jugendfreund

    Gerüchte und unheimliche Orte

    Ein Ende

    Im Labyrinth der Schuldvorwürfe

    Die Eumeniden ziehn …

    Wieder in der Gegenwart

    Der fortwirkende Bann der Vergangenheit

    Das göttliche Licht

    Noch einmal Julia Lambertz

    Die Liebe der Ulrike D.

    Alpträume, Schuldgefühle und psychologische Konsultation

    Nah ist

    Und schwer zu fassen der Gott.

    Wo aber Gefahr ist, wächst

    Das Rettende auch.

    (Hölderlin)

    Alpträume, Schuldgefühle und psychologische Konsultation

    Manchmal werden wir von Träumen behelligt, die uns seltsam abergläubisch berühren. Sie kommen uns wie Projektionen aus der dunklen Zukunft vor, als ob jemand das Buch unseres Lebens aufblättert und die noch unbekannten, längst schon beschriebenen Seiten unserem träumenden Ich entgegenhält. Andere solcher lästigen Träume wiederum lassen fatale Ereignisse unserer Vergangenheit vor unserem träumenden Auge erscheinen, nicht selten in lebhaften, scharf gezeichneten Bildern, und falls es öfter geschieht, spekulieren wir, ob nicht  unbewältigte Konflikte, die sich als Störquelle dauerhaft festgesetzt haben, in unserer Seele rumoren und fortwährend Signale aussenden, in Form von wiederkehrenden Träumen?

    Von diesen Letzteren wurde Elmar Redlich seit einiger Zeit in Unruhe versetzt, und zwar umso stärker, je mehr sich diese Träume auf unheimliche Weise ähnelten. Wiederholt träumte er, er forsche nach der Adresse seiner früheren Verlobten Julia Lambertz. Irgendwo im Norden, bei Hamburg, soll sich ihre Lebensspur verlieren, hatte er herausgefunden, im Traum. Dabei wusste er genau, wo Julia heute wohnt: in einer Stadt in Bayern, und sie ist dort verheiratet und hat eine Tochter mit Namen Jana. Manchmal erschien Julia auch selbst in diesen Träumen, aber mit eigenartig verändertem Aussehen: Zuerst glaubte er immer, er träume von seiner Verlobten, doch plötzlich glichen ihre Züge einer ganz anderen Person, die er aus früheren Zeiten ebenfalls kannte, allerdings nur flüchtig, denn nur hin und wieder war sie am Rande seines jugendlichen Bekanntenkreises aufgetaucht. Sie hieß Ulrike Düsterwald. Meistens wurde sie Ulrike D. genannt, wegen des langen und düsteren Nachnamens.

    Noch eine andere Variante gab es bei dieser Träumerei, seltener allerdings, bisher eigentlich nur zwei- oder dreimal: Die Person, die ihm im Traum erschien, war dann nicht Julia oder Ulrike, sondern ein junger Mann. Elmar glaubte, das könnte sein einstiger Jugendfreund sein, doch sicher war er sich nicht. Der junge Mann wie auch Ulrike warfen Elmars träumendem Ich zuweilen kalte, drohende Blicke zu, und sofort wachte er danach immer auf, tief erschrocken, ja durch den kalten Strahl dieser Augen geradezu erschauert.

    Da er immer wieder in dieser alptraumhaften Weise träumte und stets von den gleichen unnützen Grübeleien hinterher belästigt wurde, überlegte er, ob er nicht einen Psychologen oder Therapeuten zu Rate ziehen sollte, der ihm diese Träumerei erklärte und möglichst davon befreite. Doch dass da jemand in seiner Vergangenheit emsig herumspäht und ihn nicht nur über allerlei Vorkommnisse seiner Jugend und frühen Mannesjahre ausfragt, sondern außerdem noch forschend bis ins Innerste seiner Seele vordringt – mit dieser Aussicht konnte er sich zunächst nur schwer anfreunden.

    Schließlich aber überwand er seine Vorbehalte gegen die neugierige Befragung durch einen Psychologen und ließ sich vom Sekretariat eines Professors für Psychologische Psychotherapie an der Universitäts-Nervenklinik in M., Dr. Eberhard Wengenroth-Hausenstein, einen Termin geben. Er sollte, teilte man ihm mit, einige Tage später in die Privatpraxis des Psychologen kommen, die sich ebenfalls in der genannten Klinik befand, und sich dem Professor vorstellen.

    An dem besagten Tage erschien er pünktlich im Wartezimmer des Therapeuten und wurde schon nach kurzer Zeit von einer Assistentin des Professors in dessen Behandlungszimmer gebeten.

    „Bitte, Herr Redlich!" hatte die junge Frau ihn vorher namentlich aufgerufen und ihn mit einer flüchtigen Handbewegung in das Arbeitszimmer des Psychologen gewiesen. Dieses war an sich ein ganz normaler Wohnraum, ließ nur durch eine weiße Behandlungsliege an der linken Wand und einigen Plakaten mit seltsamen Abbildungen menschlicher Extremitäten – zum Beispiel zwei gespreizten Händen und zwei schräg gegeneinander gestellten Füßen – erkennen, dass man sich in dem Arbeitszimmer eines Psychologen befand. Im Hintergrund stand neben einer weißen Kommode und zwei ebenfalls weißen, mit Büchern voll besetzten Regalen ein großer brauner, weit ausladender Schreibtisch mit einer Rollkommode darunter sowie einem schwarzer Ledersessel dahinter. Vor dem Schreibtisch war ein voluminöser roter Teppich mit schwarzen ornamentalen Figuren ausgerollt, der dem etwas nüchtern wirkenden Zimmer einen Hauch von Wärme und Gemütlichkeit verlieh. Der ganze Raum war durch ein großes Fenster auf der rechten Seite sowie durch eine ebenfalls große Terrassentür, durch welche das Tageslicht prall hereinfiel, hell erleuchtet. Von dem Ledersessel hatte sich gerade ein kleiner Mann mit schütteren grauen Haaren und einer großen Hornbrille auf der Nase erhoben, war um den Schreibtisch herumgegangen und trat nun Elmar Redlich gegenüber.

    „Wengenroth-Hausenstein!", sagte der Mann, der in einen weißen Arztkittel gekleidet war. Er gab dem Patienten freundlich lächelnd die Hand, dabei schaute er diesem mit wachem Blick scharf und durchdringend in die Augen. Gleichzeitig bat er ihn mit leiser Stimme, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Elmar, der den Professor flüchtig gemustert hatte, fielen bei diesem noch eine hohe Stirn mit allerlei Quer- und Senkrechtfalten auf sowie ziemlich ausgeprägte Rundfalten um den schmalen, zusammengepressten Mund und darunter ein energisches, leicht vorspringendes Kinn. Nachdem Elmar sich gesetzt hatte, nahm der Psychologe seinerseits auf dem Ledersessel hinter seinem Schreibtisch Platz und vertiefte sich sogleich in ein Schriftstück, das vermutlich von Elmar und seinen knapp skizzierten Beschwerden handelte, die er der Assistentin des Professors telefonisch mitgeteilt hatte.

    Kurz darauf forderte der Psychologe den Patienten auf, ihm zunächst seine Personalien, sein familiäres Umfeld, seine berufliche Situation und seine Beschwerden mitzuteilen.

    „Bitte etwas ausführlicher als in dem Telefonat, das Sie mit meiner Mitarbeiterin geführt haben", fügte er noch ironisch lächelnd hinzu.

    Nachdem Elmar dem Therapeuten die gewünschten Formalitäten mitgeteilt hatte, holte er also mit seiner Geschichte aus, das heißt, er beschrieb in aller Ausführlichkeit seine Alpträume, welche ihn seit einigen Monaten nachts plagten, und vergaß auch nicht hinzuzufügen, dass er hinterher, sobald er aufwachte, immer lange und geradezu zwanghaft über diese schrecklichen Träume grübeln und meditieren müsste. Dass er unter diesen Umständen oft nicht genügend Schlaf gefunden habe, könne er, der Psychologe, sich ganz gewiss vorstellen, sagte Elmar noch abschließend, wobei er seiner Stimme einen beinah seufzenden Klang verlieh und auch mit leidvollen Blicken nicht sparte. Anschließend wollte der Therapeut noch einige Details über das Verhalten der Personen wissen, die Elmar in seinen Träumen regelmäßig erscheinen, dabei blickte ihn Professor Wengenroth-Hausenstein, wie es offenbar seine Gewohnheit war, erneut durchdringend an, fast hatte Elmar das Gefühl, er fixierte ihn mit Röntgenaugen. Unmittelbar darauf richtete er seine grauen Augen schräg nach oben, ohne dabei den Kopf mitzubewegen. Da er gleichzeitig sein Gesicht verzog und die Augen zu einem Spalt verengte, kam dem Patienten dieses Mienenspiel ziemlich komisch vor, wie das listige Grimassieren eines Satirikers. Diese Attitüde des Professors ließ nur den einen Schluss zu: Wengenroth- Hausenstein dachte angestrengt nach, was einige Zeit in Anspruch nahm, Elmar kam es beinah vor, die Phase des professoralen Reflektierens hätte mehrere Minuten gedauert. Schließlich wandte sich der Therapeut wieder dem Patienten zu und legte unvermittelt mit einer intensiven psychologischen Befragung los:

    „Herr Redlich, in Ihren Träumen, sagten Sie gerade, erscheinen meistens zwei Personen, ein Frau, die Sie Ulrike nennen, und ein junger Mann…"

    „Nein, es ist komplizierter, Herr Professor! Zuerst erscheint immer meine frühere Verlobte; die verwandelt sich dann nach und nach in eine junge Frau mit Namen Ulrike."

    „Ach so! Aber der jungen Mann ist immer derselbe, das heißt, der verwandelt sich nicht."

    „Nein."

    „Tja, seltsam!"

    Wengenroth-Hausenstein blickte wieder schräg nach oben, dann, nach einer kurzen Pause, fuhr er mit seinen Fragen fort:

    „In welcher Beziehung standen Sie zu diesen beiden Personen, Pardon, zu den drei Personen, Herr Redlich? Und – eine zweite Frage: Können Sie mir sagen, warum diese Ulrike und der jungen Mann Sie immer so drohend anblicken? Haben Sie eine Erklärung dafür?"

    „Die eine, Julia, wie gesagt: war mal eine Jugendfreundin von mir. Und der junge Mann könnte mein Jugendfreund sein."

    „Und die dritte Person, diese Ulrike?"

    „Das war die Jugendfreundin meines Freundes."

    „Aha!"

    Der Psychologe machte sich einige Notizen.

    „Und wie erklären Sie sich’s, dass die Blicke Ihres Jugendfreundes so drohend auf Sie gerichtet sind? Hat Ihr ehemaliger Freund Ihnen etwas angetan oder umgekehrt, haben Sie sich ihm gegenüber einmal unfair oder irgendwie - sagen wir - schofel benommen?"

    „Ich weiß ja gar nicht, ob das überhaupt mein ehemaliger Freund ist."

    „Gehen wir einmal davon aus, es ist Ihr Freund. Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen? War es so eine, wie sagt man? - landläufige Freundschaft?"

    „Es war..., wir waren... ziemlich dicke Freunde.’"

    „Ah ja!"

    „Richtiger gesagt - es war eine große Freundschaft, eine echte, wahre Freundschaft."

    „Sehn Sie, wir kommen der Sache schon näher, Herr Redlich! Könnte es sein, dass Sie oder auch ihr Freund in Anbetracht dieses hohen Anspruchs enttäuscht wurden?"

    „Tja..., das könnte sein, aber immer unter der Voraussetzung, es handelt sich überhaupt um meinen ehemaligen Freund..."

    „Ja, ja, natürlich!"

    Der Professor machte sich wieder einige Notizen und blickte abermals schräg nach oben, was wohl wieder ein Zeichen intensiven Nachdenkens war.

    „Aber Sie können mir nicht sagen, warum dieser Mann in Ihren Träumen Sie so drohend anschaut."

    „Nein, eigentlich nicht!"

    Wieder schrieb Wengenroth-Hausenstein einiges auf ein Blatt Papier.

    „Nun erlauben Sie mir eine zweite Frage, Herr Redlich. Glauben Sie an Gott?"

    Elmar hatte mit so einer Frage überhaupt nicht gerechnet. „... an Gott?, fragte er verdattert, „dazu möchte ich sagen... - ja, ich glaube an ihn.... Ich  bin eigentlich früh schon…, wie sagt man? - geprägt worden, ich meine: geprägt durch eine christliche Pfadfinderschaft, in der ich... lange aktiv war.

    ‚Aha!, rief der Psychologe aus, beinah schon im Jubelton, „da haben wir’s! Ich konstatiere: früh hatten Sie sich an das Religiöse gebunden. Und Sie sagten, diese Bindung hat Sie geprägt, nicht wahr? Eine solche Art von Prägung – das kann man sicher sagen - hat bei Ihnen ein starkes moralisches Bewusstsein herausgebildet, und dieses Bewusstsein hat wohl dazu geführt, dass Sie alles und jedes, was Sie tun oder auch was Sie nicht tun, anhand einer ziemlich hochgelegten moralischen Messlatte prüfen und beurteilen. Habe ich Recht?

    Elmar Redlich hob nur die Schultern und machte mit den Händen eine Geste, als wollte er sagen: diese Frage kann ich weder mit nein noch mit ja beantworten.

    „So haben Sie auch Ihre edle, große Freundschaft, fuhr der Therapeut mit seiner Diagnose fort, „von diesem hochangelegten Maßstab aus gesehen und beurteilt, nicht wahr? Irgendwann sind Sie dann von Ihrem Freund enttäuscht worden. Und diese allmähliche Zerstörung oder sagen wir vorsichtiger: die Beschädigung dieser Freundschaft hat sie veranlasst - in Ihrem Unterbewusstsein natürlich nur - ihren Freund des Verrats zu beschuldigten, ihm also moralische Vorwürfe zu machen. Dieser Verrat erschien Ihnen derart gravierend, fast möchte ich sagen: monströs, da er Ihrem hochangelegten moralischen Anspruch völlig zuwiderlief, dass Sie das unverhüllt gesinnungslose Handeln Ihres Freundes als traumatisch empfunden haben. Und aus diesem Trauma hat sich dann - vermute ich zunächst einmal - ein Komplex entwickelt… Der Psychologe machte mit der Rechten, die er halb in die Höhe reckte, eine Drehbewegung, „ein Komplex, der unaufhörlich Störsignale aus Ihrem Unterbewusstsein in Form von Alpträumen sendet."

    Elmar nickte stumm. Er wunderte sich, was der Therapeut so alles aus seinem Unterbewusstsein zutage förderte, an in mancherlei Hinsicht durchaus Zutreffendem; doch ob es sich tatsächlich so abgespielt hatte, wie der Psychologe es darstellte, wusste er nicht mehr genau, er hatte vieles vergessen oder auch verdrängt, vor allem viele Details.

    „Nun müssen wir natürlich noch klären, warum der jungen Mann Sie in Ihren Träumen so drohend anblickt. Das könnte ja eigentlich bedeuten, dass er derjenige war, der über ihr Verhalten empört war und immer noch empört ist und nicht dass Sie allen Anlass hatten, sich über ein charakterloses, verräterisches Verhalten Ihres Freundes aufzuregen, nicht wahr? War dieser Freund auch in dieser… dieser christlichen Pfadfinderschaft?"

    „Ja!"

    „Aha!" Wengenroth-Hausenstein sagte das mit erhobener Stimme, so als hätte dieses Faktum, die Zugehörigkeit auch des Freundes zu der christlichen Pfadfindertruppe, für Elmar und für des Therapeuten Deutungsmethode eine überragende Bedeutung.

    „Dann könnte auch auf Seiten des Freundes, fuhr er mit seiner Analyse fort, „ein enormes Empörungspotential vorliegen, weil Sie sich, Herr Redlich, dem Freund gegenüber schofel und gemein verhalten haben.

    „Nicht dass ich wüsste, Herr Professor!"

    „Nun gut! Dann müssen wir das zunächst einmal zurückstellen, und auch meine Diagnose von eben müsste ich ebenfalls erst einmal relativieren oder vielleicht auch auf sich beruhen lassen. Doch so ganz daneben lag meine Diagnose wahrscheinlich nicht, vermute ich jedenfalls einmal. – Doch ein Vermuten nützt uns ja nicht weiter, nicht wahr, Herr Redlich, aus den Vermutungen müssen Tatsachen werden!"

    Der Professor lachte leise; ihm schien das Mutmaßen, das er sich ohne beweiskräftige Grundlage erlaubt hatte, ziemlich komisch vorzukommen.

    „So, Herr Redlich", Dr. Wengenroth-Hausenstein, der sich wieder Notizen gemacht hatte, wandte sich erneut dem Patienten zu, dieses Mal in anderer Haltung: Indem er sich nämlich mit beiden Händen auf der Schreibischplatte abstützte und, sich leicht erhebend, weit vorlehnte, sprach er plötzlich mit lauter Stimme zu dem Patienten:

    „Erschrecken Sie jetzt bitte nicht, aber ich muss Ihnen nun noch einige andere indiskrete Fragen stellen, aber das gehört ja zu unserem Geschäft. So ein Insistieren ist nötig, um der Wahrheit und damit einer von Ihnen gewünschten Therapie beziehungsweise einer Heilung näher zu kommen. Wie war es eigentlich mit ihren Beziehungen zu Mädchen, zu Frauen, Herr Redlich ..., zunächst meine ich, in Ihrer Jugend. Hatten Sie eine Freundin?"

    „Ja! Wie ich schon sagte."

    „Ach so! Ja richtig, Sie erwähnten es ja schon. Und, was ist daraus geworden?"

    „Tja..., ich glaube, wir waren einige Jahre befreundet..., eigentlich sogar verlobt."

    „Wie lange?"

    „Ich glaube drei oder vier Jahre!"

    „Hm, ziemlich lange! Und dann?"

    Elmar zögerte, ehe er weitersprach; wie gesagt, er hatte vieles verdrängt: „…haben wir... die Freundschaft... beendet."

    „Sie zögern, Herr Redlich  "

    „Die Einzelheiten kenne ich nicht mehr."

    „Haben Sie die Freundschaft einvernehmlich beendet?"

    „Eigentlich... nicht, antwortete Elmar, wieder zögernd, „um es genau zu sagen: meine Freundin hat mit mir Schluss gemacht; ich glaube, ich habe mich ihr gegenüber falsch verhalten.

    „Falsch verhalten! Das ist es, Herr Redlich, falsch verhalten! rief der Psychologe aus und zeigte gleichzeitig mit dem Finger auf den Patienten. Er hatte dabei einen Ton an den Tag gelegt, als hätte er nun die wahre Ursache der Alpträume seines Patienten gründlich und klar erkannt, „in der Jugend, Herr Redlich, fuhr er im gleichen selbstsicheren und ziemlich lauten Tone fort, „reagiert man oft falsch, man ist naiv, weltunerfahren, bar jeder Menschenkenntnis und als junger Mann selbstverständlich auch bar jeder Kenntnis der Mädchen-und Frauenseele. So haben auch Sie sich Ihrer Freundin gegenüber falsch verhalten, und sie haben vermutlich hieraus ein Schuldgefühl entwickelt."

    „Wieso Schuldgefühl  ?"

    „Nicht im moralischen Sinne, meine ich das, Herr Redlich, sondern eine Schuld oder - besser gesagt: ein Gefühl der Schuld im existentiellen Sinne; man könnte auch von dem Gefühl einer metaphysischen Schuld sprechen. Und dieses Schuldgefühl haben Sie aufgrund Ihrer ausgeprägten christlich-moralischen Empfindsamkeit deutlich gespürt, ja diese empfundene Schuld - man könnte eventuell auch sagen: diese eingebildete Schuld - behelligt sie bis auf den heutigen Tag. Dazu kommt wahrscheinlich noch der bereits genannte Komplex, den Ihr Freund bei Ihnen ausgelöst hat, schon quillt dieses ganze Gefühlsgemenge, dieses Konglomerat aus Emotionen, verletzter Eitelkeit, enttäuschter Zukunftshoffnungen, noch stärker in Form von Alpträumen aus Ihrem Unterbewusstsein hervor. Ihre Seele, Herr Redlich, ist dieser komplexen Melange auf Dauer nicht gewachsen!"

    O Je! Elmar hatte eigentlich schon genug von diesem Therapeutengespräch. Vermutlich interessieren den Mann noch weitere Details seiner früheren Beziehungen zu Mädchen und Frauen und auch solche zu seinem Jugendfreund. Auch das 'Existentielle oder Metaphysische', wie er es nannte, würde er ganz sicher mit Akribie aus den entlegensten Abstellkammern seiner Seele hervorzerren, um es zu inspizieren!

    „Herr Redlich, hörte er den Psychologen noch sagen, er hatte offenbar Elmars angestrengte, bestürzte Miene bemerkt, „ich möchte Sie zunächst nicht weiter mit solchen Fragen belästigen, Fragen allerdings, die wichtig waren, und auch Ihre Antworten waren das: wichtig für mich, beinah schon außerordentlich … äh…, sagen wir einmal: aufschlussreich. In unserer nächsten Sitzung, Herr Redlich, möchte ich Ihnen noch weitere Fragen stellen, und zwar solche zur … äh… sagen wir: Sexualität. Hier ist es wichtig, dass ich mir von Ihrem…äh… Ihrem Sexualleben – möchte ich es einmal nennen - ein Bild machen kann, um den Gesamtkomplex Ihrer psychischen Verfassung… wieder machte der Psychologe mit der rechten Hand eine Drehbewegung… „besser abrunden zu können. Schließlich möchte ich nach einer gründlichen Analyse Ihres Traumgeschehens zu einem wirksamen Therapievorschlag kommen. Denn Ihr Wunsch zielt ja offensichtlich dahin, von Ihren Alpträumen befreit zu werden, nicht wahr? Auch eine medikamentöse Behandlung wird dabei begleitend von Bedeutung sein."

    Nach dieser Erklärung war Professor Wengenroth-Hausenstein aufgestanden und um seinen Schreibtisch herumgegangen. Mit den Worten Fürs Erste soll uns dieses Gespräch erst einmal genügen! verabschiedete er sich von seinem Patienten und fügte noch folgendes hinzu: „Wir sind mit unserer Anamnese noch nicht am Ende, Herr Redlich, wird stehen erst am Anfang!"

    Indem er Elmar gleichzeitig bat, sich von seiner Assistentin vorne am Tresen einen Termin für eine weitere Sitzung geben zu lassen, eilte er zum Ausgang, seinem etwas verdatterten Patienten, der mit einer längeren Sitzung gerechnet hatte, noch ein „Tschüss und bye-bye!" zurufend.

    Nachdem Elmar das Klinikgebäude verlassen hatte, galt es für ihn schon als beschlossene Sache, dass er den nächsten Termin bei Professor Wengenroth- Hausenstein auf keinen Fall mehr wahrnehmen würde. Fragen zu seinem Sexualleben! Das fehlte noch, dass er dem Psychologen auch nur ein Sterbenswörtchen über sein Sexualleben mitteilte, ihm sozusagen eine Möglichkeit eröffnete, sein Voyeursbedürfnis zufriedenzustellen. Seine, Elmars, Sexualität sollte allein seine höchst private Sache sein und auch bleiben!

    Doch eine andere Bemerkung des Professors fand er sehr nachdenkenswert, seine Rede von einer möglichen metaphysischen Schuld. Elmar hatte einmal irgendwo etwas von einer metaphysischen Schuld gelesen und Gefallen an dem Begriff gefunden, obwohl er sich darunter gar nichts vorstellen konnte. Das schien ihm andererseits wieder verständlich, denn wenn etwas metaphysisch ist - sagte er sich - entzieht es sich unserem logischen Vorstellungsvermögen. Gerade seine seltsame Träumerei kam ihm derart ’metaphysisch’ vor, dass ihm der Schluss des Psy- chotherapeuten logisch zwingend erschien, nicht eine Schuld im hergebrachten, moralischen Sinne stecke hinter seinen Alpträumen, sondern irgendeine geheimnisvolle, unergründbare Schuld, die ihn mit diesen nächtlichen Gaukelspielen plagte. Und er unterstellte nun dem Professor Wengenroth-Hausenstein, dass er ihn genau mit diesem unheimlichen Schuldbegriff gnadenlos behelligen, um nicht zu sagen: schurigeln würde.

    „Nein, dieser unangenehmen Prozedur, dieser wahrscheinlich teuren Rosskur werde ich mich auf keinen Fall unterziehen, sagte Elmar jetzt mit lauter, aufbrausender Stimme, denn die Art des Argumentierens dieses Psychologen hatte ihn wütend gemacht. „Ich mach’ es anders, setzte er sein zorniges Resümee fort, „ich forsche selbst nach den Ursachen dieser ständig wiederkehrenden Horrorträumerei!"

    Er wusste, dass es in der Trauma-Psychologie eine bestimmte Verhaltenstherapie gibt, die man das ‘Konfrontationsverfahren‘ nennt. Der Patient wird hier schrittweise an die traumatische Situation, die ihn in der Gegenwart fortwährend bedrückt und zermürbt, herangeführt; entweder konfrontiert man ihn räumlich, das heißt, man führt ihn direkt an den Ort, wo die Katastrophe sich ereignet hat, oder man lässt ihn zeitlich auf das ihn dauererregende Ereignis zugehen; die Konfrontation geschieht in diesem Falle mit Hilfe seiner Vorstellungen, seiner Erinnerungen, durch die er die traumatischen Vorfälle immer wieder intensiv ‘umkreist‘. Dieses Verfahren wird so lange durchgeführt, bis sich der Patient an das Trauma ‘gewöhnt‘ hat und seine Angst und seine unterschwelligen Erregungen infolgedessen abnehmen.

    So wollte nun auch Elmar Redlich vorgehen: Indem er die wichtigsten Vorkommnisse seiner Vergangenheit untersuchte, würde er automatisch auf die genannte, ihn ständig beunruhigende, ja ängstigende Quelle aller Belästigungen stoßen, und durch eine akribische Betrachtung und Analyse des Umfelds der ’Quelle’ und der ‘Quelle‘ selbst würde er sich ganz gewiss, sozusagen in Eigenregie, von seinen Alpträumen befreien können.

    Allerdings, es gab da ein Hindernis: Elmar Redlich blickte nicht gerne zurück. Allenfalls tat er es unfreiwillig, bei einem Treffen mit alten Freunden, wenn sentimentale Erzählungen und der Zauberer Alkohol seine Seele übertölpelten. Im nüchternen Zustand kam ihm die Vergangenheit immer wie eine verstaubte Dachkammer vor, in die hineinzugehen er nicht die geringste Lust verspürte. Denn was erwartete ihn dort anderes als der trostlose Anblick eines Reichs der verrotteten Objekte, wo ihm fortwährend der kalte Hauch des Unwiederbringlichen entgegenweht oder irgendwelches Zeug, Sperrmüll, Plunder, herumliegt, was ihm früher einmal - unverbraucht und neu - etwas bedeutete, wo ihm am Ende noch sein einst pralles, buntes Leben im Rückblick als konturloses Schattenspiel vorüberzieht und er das längst Erledigte, das, womit er sich seit langem hat abfinden müssen, nur in vergilbten Fotos, altfränkischen Gemälden oder ausrangiertem Spielzeug betrachten oder rückschauend in Selbstgesprächen erörtern kann. Wie in einem riesigen Eisblock auf ewig eingeschlossen kommt ihm sein früheres Leben immer vor, wenn er in jener Dachkammer steht und ins Grübeln gerät. Nichts an dem Abgelebten kann man mehr verändern, nicht mehr den einen oder anderen fatalen Verlauf noch einmal auf ein glücklicheres Ziel hin neu entwerfen und frohgemut großen, aussichtsreichen Taten entgegenblicken.

    Nein, die Vergangenheit stimmte ihn von jeher trübsinnig und mutlos. - So dachte Elmar nun einmal über seine Vergangenheit, so negativ, so verbittert, und es war deshalb nur zu begreiflich, dass er zögerte, sich dieser Vergangenheit in der genannten Dachkammer zu stellen.

    Elmar Redlichs Lebenssituation

    Elmar Redlich ist Lehrer und unterrichtet am L - Gymnasium in D*** die Fächer Deutsch und Philosophie. In den Ferien unternimmt er gern weite Fahrten mit seinem Wagen, meistens alleine. Seine Frau Lisi, ein häuslicher Typ, bleibt lieber zu Hause bei Elena und Ingeborg, ihren beiden Kindern. Vor allem lehnt sie es ab, ihre Schwiegermutter zu besuchen, die weit weg in Walldorf im Taunus wohnt, wohin Elmar aber nicht selten hinfährt, da er sich verpflichtet fühlt, hin und wieder nach seiner verwitweten alten Mutter zu sehen.

    „Aha, wieder einmal geht es zu Muttern!, hörte er Lisi hinter sich lästern, als er gerade seine Koffer für die Reise packte, „der Herr Sohn kann ja ohne seine Mutti nicht auskommen! Das wievielte Mal packst du denn in diesem Jahr deine Koffer, Elmar? Das fünfte oder, warte mal, ich glaube: es ist schon das sechste Mal!

    „Quatsch!, erwiderte er mit lauter Stimme, da ihn der höhnische Ton seiner Frau provozierte, „es ist höchstens das dritte Mal.

    „Das dritte Mal? Dass ich nicht lache!"

    Lisi, ihre dunkelblonden Haare mit hochmütiger Gebärde nach hinten streichend und den Kopf in den Nacken werfend, blickte ihn mit böse funkelnden Augen an.

    „Das fünfte Mal ist es, präzisierte sie mit schriller Stimme, „garantiert das fünfte Mal! Er schaute ihr in die blitzenden Augen, dann erfasste sein Blick ihre schlanke Gestalt. Ihre Haare, sonst zu einem Zopf nach hinten gebunden, hatte sie jetzt aufgelöst, sodass sie in langen Wellen ihr Gesicht umrahmten. Dieses, ebenmäßig, mit leicht gewölbter, hoher Stirn, einer geraden Nase und einem vollen Mund, wirkte reizvoll und sympathisch. Seine Frau war immer noch hübsch, auch wenn sie ihren schönen Mund gerade zu einer hässlichen Schnute verzog und ihre graugrünen, weit geöffneten Augen das Weiße zum Vorschein brachten. Doch ihr adrettes Aussehen täuschte Elmar nicht darüber hinweg, dass er seit einiger Zeit gar nicht glücklich mit ihr war.

    „Und mich lässt du hier wieder einmal alleine, mit den Kindern und all den Problemen, hörte er sie weiter mit schriller Stimme sprechen, „es interessiert dich wohl gar nicht, dass wir auch gesellschaftliche Verpflichtungen haben.

    „Du meinst die Heberers und die Reitmeiers!?"

    „Und die Bergs! – Ja, die müssen wieder eingeladen werden!"

    „Ach, das kann doch bis nächste Woche warten!"

    „Das sagst du jedes Mal! Die Frau Heberer hat mich letzte Woche in der Stadt nicht gegrüßt."

    „Und du meinst, das hängt mit unseren... gesellschaftlichen Verpflichtungen zusammen!?

    „Klar! Ich würde das auch als Affront auffassen, wenn ich Freunde gerade fürstlich bewirtet habe, und die lassen dann eine Ewigkeit nichts von sich hören."

    „Na, dann nimm du das doch in die Hand. Ein Telefonanruf bei den Heberers, den Bergs und den Reitmeiers, sie sollen zu unserer Soiree kommen, sagen wir: übernächste Woche, schon wird dich Frau Heberer wieder grüßen!"

    „Mach’ keine Witze! - Du hast dich ständig vor den Einladungen gedrückt. Und jetzt drückst du dich vor den Vorbereitungen. Ich muss das alles alleine organisieren, das ganze Drum und Dran, während du dir wieder eine Reise zu Mutti gönnst."

    „Ach, ich bleibe doch nicht lange weg."

    „Außerdem vergisst du, was gerade die Einladung an die Bergs für dich bedeutet – bei dem Einfluss, den Berg in deinem Kollegium hat!"

    „Nein, nein, ich vergesse das nicht!"

    Es hatte keinen Zweck, Lisi weiter zu widersprechen, sie wird immer nach neuen Anlässen zum Nörgeln suchen und sie garantiert auch finden. Wenn Elmar ihr erklärte, warum er mit den Einladungen an die Heberers, die Bergs et cetera noch ein bisschen warten wollte, wird sie bestimmt den Lehrerball übernächste Woche zum Thema machen, und sie wird ihm vorjammern, sie wüsste nicht, was sie anziehen soll, er solle ihr beim Aussuchen eines Abendkleides doch bitte helfen, damit seine Kollegen sie nicht so kritisch mustern, und wenn er ihr sagte, das Aussuchen des Abendkleides hätte noch Zeit bis Ende nächster Woche, käme garantiert der Vorwurf, er würde sich seine Freunde zu sehr bei den Lehrerkollegen aussuchen, er solle doch auch einmal andere Ehepaare in ihren Bekanntenkreis ziehen. Ständig musste er in dieser Art ihr Spötteln und Mäkeln über sich ergehen lassen, bei den geringsten Anlässen, dazu kam noch seit einiger Zeit ihre Lieblosigkeit. All das und überhaupt Lisis nicht enden wollende Reizbarkeit zeigten ihm deutlich, seine Ehe war nicht mehr das, was er sich einst von ihr versprochen hatte und was über viele Jahre diesem Versprechen, diesem Entwurf einer glücklichen Zweisamkeit durchaus nahe gekommen war. Nein - stellte er nüchtern und zugleich erschrocken fest - seine Ehe steckte in einer Krise, sie war vielleicht schon derart zerrüttet, dass sie gar nicht mehr zu retten war.

    Ihn hatten deshalb schon seit einiger Zeit seltsame Gefühle und Sehnsüchte erfasst; zuallererst die Sehnsucht nach mehr Liebe und Verständnis, doch da er beides bei seiner Frau nicht mehr zu finden meinte, dachte er immer öfter über eine Erfüllung außerhalb seiner Ehe nach; auch empfand er nicht geringe Sehnsucht nach Befreiung von all diesen bürgerlichen Einengungen und lästigen Gepflogenheiten, diesen gesellschaftlichen Verpflichtungen, wie Lisi sie nannte, Verpflichtungen, die schon eher Zwängen glichen, zum Beispiel dem Zwang, da und dorthin, meistens an Kollegen, Einladungen auszusprechen und mit Spannung darauf zu warten, wer wann sich liebenswürdigerweise revanchierte und ihnen die Ehre der Einladung zu dieser oder jenen Soiree zuteil werden ließe.

    Eine andere Einladung allerdings kam ihm letzte Woche sehr gelegen, nicht die von den Heberers oder den Bergs, sondern von seinem Cousin, dem Architekten Klaus Kerner. Er solle ihn und seine Familie doch bald wieder einmal besuchen, hatte Klaus am Telefon gesagt, und Elmars Interesse an diesem Besuch war umso mehr gestiegen, je geheimnisvoller sein Cousin sich am Telefon zunächst in Andeutungen über einen zweiten Besuch bei ihnen erging, der mit dem seinen zusammenfallen könnte, falls er zu einem bestimmten Zeitpunkt bei ihnen eintreffe. Sofort nahm Elmar an, Klaus meinte mit diesem zweiten Besuch seine Schwägerin, jene bereits erwähnte Julia, geborene Lambertz. Klaus gab seine Geheimnistuerei schließlich auf und nannte die Person, die ihren Besuch bei ihnen angekündigt habe: es war tatsächlich Julia, seine Schwägerin, Julia, geborene Lambertz, Elmars einstige Verlobte. Julia würde sich freuen, ihn, Elmar, wiederzusehen, hatte Klaus noch hinzugefügt, worauf Elmar nicht umhin konnte, auch seinerseits seiner Freude auf ein Wiedersehen mit seiner Jugendfreundin Ausdruck zu verleihen. Dieses Wiedersehen würde also in Fernwald bei G. stattfinden, wo sein Cousin mit seiner Familie in einem komfortablen, sehr geräumigen Haus wohnte.

    Elmar dachte kurz zurück an die Zeit mit Julia Lambertz. Viel war es nicht, was ihm im Augenblick dazu einfiel. Nur dass sich zwischen ihnen einstmals eine Riesenwand aufgerichtet hatte, die zwischen ihnen zu einer unüberwindlichen Trennung und Abspaltung geführt hatte – das fiel ihm auf die Schnelle ein. Allerdings, auch daran erinnerte er sich: er hatte Julia einmal sehr geliebt. So versetzte ihn die Aussicht, mit seiner Ex-Verlobten wieder zusammenzutreffen, in eine freudig erregte Stimmung, und diese Erregung wuchs um so mehr, je nachdrücklicher er sich bewusst machte, dass ihm die Streitlust seiner Frau das Zusammenleben mit ihr doch gehörig verleidete. Außerdem dachte er, ein solches Zusammentreffen mit seiner alten Liebe könnte eventuell auch seine Alpträume zum Verschwinden bringen. Zum Beispiel könnte er mit Julia einmal über all das, was sich einst zwischen ihnen an Trennendem und Unüberwindlichem wie ein gähnender Abgrund aufgetan, gründlich reden, woraufhin seinen Alpträumen - gemäß seiner Theorie, durch Analysieren und Durchdenken könnte man psychische Komplexe auflösen - vielleicht ein für allemal die Energie entzogen würde, vorausgesetzt natürlich, die Trennung von Julia habe damals wie ein Trauma auf ihn gewirkt, welches bis auf den heutigen Tag anhaltend und störend seine Psyche beeinflusste. Doch ob eine solche andauernde Fernwirkung überhaupt möglich sei, hielt er im selben Moment wieder für zweifelhaft; auch ob er den Nerv und den Mut hätte, über so etwas mit Julia überhaupt zu sprechen, kam ihm fast schon utopisch vor, zumal, wenn er an das etwas einfach gestrickte Gemüt seiner Exfreundin zurückdachte. Die Gespräche mit Julia - daran erinnerte sich Elmar jetzt wieder deutlich - waren meistens von alltäglicher, banaler Natur gewesen. Mit ihr konnte er sich schon damals nicht über schwierige Probleme, wie zum Beispiel komplizierte psychologische Prozesse, austauschen. Vermutlich war die mangelnde Gesprächsbasis zwischen ihnen damals, die nur einfaches Reden über alltägliche Dinge des Lebens zuließ, auch einer der Gründe gewesen, weshalb ihre Beziehung zunehmend instabil wurde und am Ende dann scheiterte. -

    Elmar wandte sich wieder seiner Frau zu. Ihr Nörgeln und unfreundlich verzogenes Gesicht machten ihm jetzt nichts mehr aus, seine Gedanken richteten sich sofort wieder ganz auf den Besuch bei seinem Cousin und auf das Wiedersehen mit Julia, auf das er sich bereits richtig freute. Da er einige Tage von zu Hause wegblieb, wollte er seine Frau nicht zusätzlich verärgern, und um ihre erregte Stimmung zu besänftigen, sprach er jetzt in beruhigendem Ton zu ihr, indem er den Kofferdeckel sanft nach unten drückte und sich anschickte, ihn abzuschließen.

    „Ich fahre dieses Jahr garantiert das letzte Mal nach Walldorf, Lisi, ich verspreche es dir, Ehrenwort! Allerdings dauert es diesmal etwas länger. Ich besuche noch meinen Cousin; bei meiner Mutter bleibe ich nur einen Tag!"

    Lisi machte ein Gesicht, als wittere sie in diesem beschwichtigenden Ton und in den an sich akzeptablen Ankündigungen eine neuerliche Provokation. Doch das Funkeln ihrer Augen schwächte sich mit einem Male ab, ging in ein undefinierbares Glitzern über, was vielleicht besagen sollte, dass sie die Erklärungen ihres Mannes zwar nicht als annehmbar, aber doch als deeskalierend empfand. Schließlich bequemte sie sich zu einer Reaktion, welche die zwischen den Eheleuten aufgekommene Spannung tatsächlich milderte:

    „Na, dann wünsche ich dir gute Fahrt!, sagte sie in nicht mehr so schrillem Ton, „und ... fahr’ vorsichtig, vor allem auf der Autobahn!

    „Werde ich tun!", erwiderte er, und indem er den Koffer wieder öffnete, packte er weiter seine Sachen hinein.

    Eine Reise in die alte Heimat

    Da die Herbstferien an diesem Tag begannen, wollte Elmar unmittelbar nach der Schule losfahren. Nachdem er alle seine Sachen in seinen Koffer gepackt und diesen im Kofferraum des Wagens verstaut hatte, verabschiedete er sich von Lisi und den Kindern, von der Ersteren zwar nicht besonders gefühlsbetont, aber auch nicht übermäßig kühl, von den Kindern allerdings herzlich.

    Dann stieg er in den Wagen und fuhr Richtung Schule. Sein Unterricht begann an diesem letzten Tag erst in der vierten Stunde, nach der sechsten könnte er dann endlich in die Ferien starten, was also wieder einmal bedeutete - nach Lisis Rechnung das fünfte oder sechste Mal - , dass er in den Taunus nach Walldorf fuhr, zu seiner Mutter, um die er sich kümmern musste, schon aus moralischen Gründen. Und das sollte seine Frau eigentlich doch bitte einsehen!

    Unterwegs musste Elmar an die Bemerkung Lisis über den Kollegen Berg denken. Sie hatte Recht, Studiendirektor Berg, der im Kollegium ziemlich den Ton angab – er war nicht nur Stellvertreter des Schulleiters Bredenbrink, sondern auch dessen Freund – war mit Vorsicht zu genießen. Immer musste Elmar aufpassen, dass er dem Kollegen nicht mit einer unbedachten Bemerkung auf die Füße trat, vor allem, wenn er mit ihm auf einer Soiree zusammentraf. Er stellte sich schon vor, was dann vielleicht passieren könnte, jetzt, wo er sich wie seine Kollegen Heberer und Reitmeier um eine A14-Stelle bewarb. Berg könnte den Direktor zum Beispiel veranlassen, einige ungünstige ’Schlenker’, sogenannte Signalwörter, in Elmars Lehrerbeurteilung unterzubringen, schon hätten Ludwig Heberer und Karl Friedrich Reitmeier im Bewerbungsverfahren die Nase vorn. Na ja, beruhigte er sich, die Lehrerprobe vor einer Klasse musste ja noch hinzukommen, im Beisein des Dezernenten Dr. Kuschmann, dem Leitenden Regierungsdirektor von der Schulaufsicht. Doch da fiel Elmar ein, dass Schulleiter Bredenbrink mit Kuschmann immer ein herzliches Einvernehmen an den Tag legte, wenn dieser mal im L- Gymnasium weilte; der Draht zwischen den beiden ’hohen Tieren’ schien also prächtig zu funktionieren. Auch wusste Elmar nicht, ob einer seiner Mitbewerber in der X-Partei war, die im Gemeindeparlament und im Lande das Sagen hatte. Es galt nicht nur am L-Gymnasium als ausgemacht, dass nur Parteibuchinhaber in die höheren Beförderungsstellen gehievt werden. Berg und Bredenbrink waren garantiert in der X-Partei, das stand fest. Unklar war nur, ob auch bei den A14-Stellen die Parteizugehörigkeit schon eine Rolle spielte. Wenn also Heberer oder Reitmeier oder gar beide das Parteibuch der X-Partei besaßen, dann Gute Nacht! Seine Träume von einer Beförderung wären schon jetzt wie Seifenblasen an einem gezackten Eisengitter zerplatzt. Wie ihn dieses ganze politische Geschacher um Posten und Pöstchen anwiderte, nicht nur am L-Gymnasium! Aber auch der vom Schulleiter gerne gesehene Brauch, sich gegenseitig einzuladen und bei den Soireen dann miteinander freundlichen Umgang zu pflegen, obwohl man sich als Konkurrenten gegenseitig belauerte - Elmar kam das nicht nur heuchlerisch und spießig vor, er fand das, gerade heraus gesagt, grauenvoll! So war es nur zu verständlich, dass er keine Eile an den Tag legte, die genannten Kollegen samt Ehefrauen wieder einmal zu einem Gesellschaftsabend zu bitten.

    Elmar hatte inzwischen das L.-Gymnasium erreicht. Die Fünf-Minutenpause würde gleich zu Ende sein, er musste sich also sputen, um pünktlich zum Unterrichtsbeginn im Klassenraum der 9b zu sein. Rückgabe der Deutscharbeit plus Besprechung und Berichtigung standen auf dem Programm. Wie im Fluge würde die Stunde vorübergehen. Dann, in der 5. Stunde, folgte Philosophie im Grundkurs der 13 a. Das Thema lautete: Die unterschiedlichen Konzeptionen des „Willens bei Schopenhauer und Nietzsche, anhand von Auszügen aus „Die Welt als Wille und Vorstellung und „Jenseits von Gut und Böse". Doch die Schüler werden jetzt, unmittelbar vor Ferienbeginn, nicht recht bei der Sache sein. Elmar stellte sich vor, wie er die Schüler nur mühsam zur Mitarbeit motivieren könnte; dabei hätte er gerne mit den Schülern sein Herzensanliegen - und nicht zu knapp - diskutiert, ob Nietzsche mit seiner These Recht hat, der Mensch sei Wille zur Macht und nichts außerdem! - In der 6. Stunde musste er noch eine Deutschstunde in der 12c, mit dem Thema ’Sophokles: König Oedipus’, hinter sich bringen. Auch hier, zumal in der letzten Stunde vor Beginn der Ferien, wird die Mitarbeit der Klasse garantiert zu wünschen übrig lassen. Elmar malte sich schon aus, wie der Unterricht zäh und schleppend dem Ende entgegentaumelte. Dann endlich wird es schellen, und die Schüler, die schon ständig auf die Uhr geguckt haben, werden schnell ihre Sachen zusammenpacken und erleichtert und froher Stimmung die Klasse und die Schule verlassen, begleitet von den guten Wünschen ihres Lehrers, die sie aber wohl kaum oder nur nebenbei zu Kenntnis nehmen.

    Und so geschah es auch, wie es sich Elmar vorgestellt: Auch er verließ erleichtert die Schule, nachdem er sich noch von einigen Kollegen, insbesondere von dem Schulleiter und dem Stellvertreter, auch von Heberer und Reitmeier, verabschiedet hatte. Rasch stieg er in seinen Wagen und fuhr zur Stadt hinaus, Richtung Bundesstraße B x, die zur Autobahn führte. Die Fahrt wird sich wie immer in die Länge ziehen, dachte er, zumal auf der vielbefahrenen B x. Allein bis er die Autobahn erreichte und das Gaspedal durchtreten konnte, wird fast eine Stunde vergehen, nicht nur weil er mehrere Dörfer durchqueren muss, auch wegen der zahlreichen Lastwagen, die sich gerade auf dieser Straße gerne tummeln.

    Während der langweiligen Fahrt gingen Elmar alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Vor allem musste er an Studiendirektor Bergs forschenden Blick denken, als er sich von ihm im Lehrerzimmer verabschiedete. ’Na, Herr Kollege, Sie sind aber mit einer Einladung wieder mal dran!’, schien dieser Blick zu sagen. Sogleich stand ihm auch wieder die letzte Soiree bei Ludwig Heberer vor Augen. Lisi hatte Recht, sie lag schon ziemlich lange zurück, die Heberers, eigentlich auch Berg hatten tatsächlich einigen Anlass, sich über Elmars Nachlässigkeit zu ärgern. Ludwig Heberer hatte damals nicht nur die Reitmeiers zu sich gebeten, auch Berg samt Ehefrau war zugegen. Dazu hatte Heberer sogar noch den Schulleiter mit dessen entschieden jüngerer Ehefrau Kerstin eingeladen. Es war ein Abend, den Elmar in seinem Tagebuch als „völlig überflüssig kennzeichnete, und das Benehmen der anwesenden Kollegen bezeichnete er als wichtigtuerisch, „dünkelhaft und „hochnäsig".

    Elmar erinnerte sich noch, wie er mit den beiden Kollegen, den Mitbewerbern um die A-14-Stelle, in einem Nebenzimmer zusammensaß und Reitmeier anfing, über die Schülerin Ilse Müller zu lästern. Der Schulleiter und der Studiendirektor hielten sich währenddessen im angrenzenden Speisezimmer auf, standen dort in einer Ecke und steckten die Köpfe zusammen. Die Ehefrauen saßen immer noch an dem Esstisch und plauderten miteinander.

    Mathematiklehrer Reitmeier hielt die Ilse für strohdumm, wie er sich ausdrückte, andererseits aber für derart schön, dass er sich nur schwer überwinden könnte, ihr eine Fünf auf dem Zeugnis zu geben. Anschließend diskutierten die drei Herren darüber, ob die Ilse wirklich so schön sei. Elmar stellte das in Frage, wogegen Reitmeier und Heberer geradezu uneingeschränkt, mit entschiedenen Worten darauf bestanden, die Ilse Müller sei ein unwahrscheinlich schönes Mädchen. Elmar musste sich ärgern, dass er sich schon wieder - wie so oft - dem geballten Widerspruch  der beiden Kollegen gegenübersah.

    „Sie will ja mit der Mittleren Reife abgehen, sagte Reitmeier, „am Ende kriegt sie von mir sicher noch eine Vier Minus auf dem Zeugnis - weil sie so schön ist!

    Da Reitmeier das in so trockenem Ton gesagt hatte, wobei seine Augen strahlten, als wären sie vom Glanz der Schönheit Ilse Müllers geblendet, mussten die anderen beiden herzlich und laut lachen.

    Gerade betraten Schulleiter Bredenbrink und sein Stellvertreter Berg das Zimmer.

    „Na, hier herrscht aber eine aufgeräumte Stimmung!", rief ihnen Bredenbrink zu, ein kleiner, dicklicher Mann mit Vollglatze und runden Augen.

    „Die Herren haben wohl über einen unanständigen Witz gelacht?"

    Studiendirektor Berg, der eine Neigung hatte, ein Thema gern ins Erotisch-Schlüpfrige zu ziehen, gab erneut diese seine Neigung zu erkennen.

    „Nein, wir haben die Leistungen der besonders schönen Schülerin Ilse Müller begutachtet", sagte Ludwig Heberer.

    „Schöne Schülerin? Also war doch etwas Unanständiges im Spiel, was!" Berg fuhr auf der von ihm so gerne gewählten Schiene munter weiter, dabei lächelte er tückisch.

    „Wieso das?" Bredenbrink blickte seinen Freund erstaunt an.

    „Na, wenn hier von einer schönen Schülerin die Rede ist, spricht das doch Bände. Bei einer Schülerin darf doch nur die Leistung zählen, alles andere ist Nebensache!" Berg sprach das im ernsten Tone aus, indessen seine Augen, die hinter der Brille klein wirkten, ebenfalls ernst, beinah grimmig dreinschauten, als wollte der Studiendirektor sagen: Kinder, schaut ja nicht auf die Schönheit einer Schülerin, konzentriert euch lieber auf eueren Unterricht. Berg war groß gewachsen und von schlanker Gestalt. Sein Gesicht, obwohl länglich und schmal, wirkte wegen der großen, fast voluminösen Brille breit und flächig.

    „Genau, das finde ich auch!" Karl Friedrich Reitmeier bekannte sich beflissen zu dem Standpunkt Bergs.

    „Sie haben vollkommen recht, Herr Berg!, schloss sich auch Heberer der Meinung des einflussreichen Studiendirektors an. „Wir haben ja in erster Linie die etwas problematische Leistung der Schülerin besprochen; sie gibt einigen Anlass zur Sorge.

    „Wer ist das eigentlich, diese Ilse Müller?", wollte der Schulleiter wissen.

    „Das ist die in der 10 a, beschrieb Berg das Mädchen, „wissen Sie, die Tochter vom Gardinen-Müller.

    „Ach die! Bredenbrink war jetzt vollkommen im Bilde, „na, so schön ist die auch wieder nicht!

    „Sie haben recht, Herr Direktor!, Reitmeier hatte flugs seine Ansicht über Ilse Müllers angeblich unwahrscheinliche Schönheit geändert, „ich würde sie allenfalls ... äh... apart nennen.

    „So, so, apart! Der Schulleiter war mit dieser Bewertung nicht ganz einverstanden, sagen wir, sie ist hübsch, so im landläufigen Sinne, mehr nicht."

    „Ja, mehr auf keinen Fall!", schloss sich Ludwig Heberer der Ansicht Bredenbrinks an, indessen Elmar zuerst Kollege Reitmeier, dann Ludwig Heberer irritiert anblickte. Es überraschte ihn, wie behände die beiden ihre Meinung über Ilse Müllers exorbitante Schönheit geändert hatten.

    Die Wut über die letzte Soiree bei Ludwig Heberer stieg in Elmar hoch, vor allem über Reitmeier und Heberer. Was man in deren Beisein auch für Ansichten äußerte, immer wussten die beiden es besser oder behaupteten das Gegenteil, es sei denn, sie sprachen mit Berg oder Bredenbrink. Da war dann ihr Widerspruchgeist wie auf Kommando verflogen. Und nun sollte er diese beiden Nervtöter zu einem Gesellschaftsabend bitten! Vielleicht könnte er Lisi doch noch überreden, die Einladung an die beiden hinauszuzögern!? Außerdem verdoppelte sich sein Wunsch nach einem Neuanfang, nach einem Leben, wo er mit mehr Liebe und Verständnis rechnen könnte und ihm auch von Kollegen mehr Respekt und Anerkennung entgegengebracht würde. Natürlich müsste er sich dann von seiner Familie trennen, auch die Schule müsste er wechseln. Das Letztere würde ihm leicht fallen, aber das Erstere, die Trennung von Lisi, von den Kindern? Ob ihm das auch leicht fiele?

    Ungefähr die Hälfte der Strecke bis zur Autobahn hatte Elmar Redlich zurückgelegt.

    An einem Ortseingang tauchte rechts eine Tankstelle auf. Elmar fuhr an der Zapfsäule vor, tankte den Wagen voll, zahlte an der Kasse und fädelte ihn kurz darauf wieder in die Zubringerstraße ein. Doch an eine schnelle Fahrt war zunächst nicht zu denken, ständig brausten ihm Autos auf der Gegenfahrbahn entgegen, sodass er partout nicht an einem Sattelschlepper und einem Gastransporter vorbeikam. Also setzte er seine Fahrt erst einmal gemächlich fort, in einer Stimmung allerdings, die wegen des unablässigen Gegenverkehrs alles andere als gelassen, eher nervös, angespannt war.

    Erinnerung an ein Gespräch über die wahre Liebe

    Als er sich wegen der langsamen Fahrt abermals irgendwelchen Gedanken hingab, fielen ihm wieder einige Szenen aus dem Schulleben ein, und schon wieder drängten sich die Kollegen Heberer und Reitmeier in seine Gedanken. Die beiden saßen mit ihm an einem Tisch im Lehrerzimmer, so hatte er oft Gelegenheit, sich mit ihnen zu unterhalten.

    Einmal, während einer Freistunde, in der außer ihnen kein anderer Kollege im Lehrerzimmer war, vertrieben sie sich die Zeit mit Klatschgeschichten. Eine verheiratete Kollegin, die eine Affäre mit einem ebenfalls verheirateten Kollegen haben soll, nahmen sie sich vor, dabei dämpften sie ihre Stimmen, denn Genaueres, Eindeutiges über ein solches Verhältnis waren nicht bekannt; niemand wollte deshalb die „Sache" direkt beim Namen nennen, man könnte ja eventuell von der Kollegin oder dem Kollegen zur Rede gestellt werden.

    „Was, wenn der Chef davon erfährt?, fragte Elmar während des Gesprächs, wobei er, wie gesagt, die Stimme dämpfte, „ihr kennt doch seine hochmoralische Einstellung.

    „Die beiden werden doch nicht so dumm sein, irgend ’was nach außen dringen zu lassen!, meinte Ludwig Heberer, gleichfalls die Stimme dämpfend „außerdem, wer will ihnen ’was nachweisen? Der Chef wird nichts erfahren, außer vielleicht Gerüchte.

    „Also ich könnte das nicht, so ’was Privates aufbauen, auch noch in der Schule, meinte Karl-Friedrich Reitmeier, der Mathematiklehrer. Er war etwa Mitte vierzig, hatte dunkel-blonde, schon schüttere Haare, das Gesicht war leicht aufgedunsen und von bleicher Farbe. Über den schmalen, etwas gepressten Lippen prangte ein kleiner Schnauz. Die grauen Augen blickten unter buschigen Augenbrauen streng und herrisch. „Abgesehen von dem Riesenärger, den ich zu Hause bekäme, fuhr er fort, „ich wäre auch viel zu abgelenkt, meine Arbeit würde darunter leiden."

    „Und wenn dir so eine attraktive Junglehrerin täglich über den Weg läuft, die

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