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Die Sternensammlerin
Die Sternensammlerin
Die Sternensammlerin
eBook305 Seiten3 Stunden

Die Sternensammlerin

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Über dieses E-Book

-Eine Legende besagt, dass die Sternensammlerin das Licht zurück in unsere Welt bringt. Damit die Dunkelheit auf ewig verdrängt wird.-

Die junge Lys wächst in einer Welt ohne Sterne heran und ahnt nicht, wie sehr das Schicksal ihrer Familie damit verbunden ist. Nach dem grausamen Tod ihrer Mutter macht sie sich auf die Suche nach den Turmwächtern, den Hütern der Sterne. Denn sie ist die legendäre Sternensammlerin und dazu fähig, die Sterne zurück an den Himmel zu bringen. Doch der Weg zur Erfüllung ihrer Pflicht ist steinig und schon bald kommt der Tag, an dem sie sich zwischen dem Schicksal und der Liebe entscheiden muss ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum7. Aug. 2022
ISBN9783755418740
Die Sternensammlerin

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    Buchvorschau

    Die Sternensammlerin - Bettina Auer

    Bettina Auer

    Die Sternensammlerin

    Romantasy / Märchen

    Widmung

    Für Katrin,

    (*1992 – 2007)

    den hellsten Stern am Nachthimmel.

    Impressum

    © Oktober 2021 Seidl, Bettina

    Rosenstraße 2

    93086 Wörth an der Donau

    auer.bettina@web.de

    www.bettinaauer.com

    Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk - Lektorat Gwynnys Lesezauber, www.gwynnys-lesezauber.de

    Umschlaggestaltung: Melanie Popp/MP-Buchcoverdesign & mehr, www.mpbuchcoverdesign.com

    Bildmaterial: @ilya7775, @jag_cz, @mythja/Depositphotos.com, @Fernando Gregory Milan/123rf.com

    Illustrationen: Andrea Hagenauer

    ISBN: 9798374593020

    Imprint: Independently published

    Prolog

    - Eine Legende besagt, dass die Sternensammlerin das Licht zurück in unsere Welt bringt. Damit die Dunkelheit auf ewig verdrängt wird. -

    Das lautstarke Klirren von runterfallendem Geschirr riss Lys aus dem Schlaf. Sie wartete einige Atemzüge lang, und als sie nichts Weiteres hörte, kuschelte sie sich wieder in die warme Decke.

    Ein hoher Schrei hallte durch das Haus, so gellend, dass ihr das Blut in den Adern gefror. Mit einem Satz war sie auf den Beinen, schlüpfte im Rennen in ihren Morgenmantel und polterte die Treppe hinunter.

    »Mama!«, schrie sie.

    Lys übersprang die letzte Treppenstufe, bog um die Ecke und wollte in die Küche stürmen, doch plötzlich wurde sie am Arm gepackt, unter die Stiege gezogen und jemand presste eine Hand auf ihren Mund.

    »Sei still!«, flüsterte ihr Emiras ins Ohr und seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu, während Lys’ Herz so heftig schlug, dass sie glaubte, es würde gleich zerspringen.

    Die Küchentür wurde aufgestoßen, sie vernahm das Wimmern ihrer Mutter. »Bitte! Ich habe Euch doch schon gesagt, dass er nicht da ist!«

    Das Geräusch einer Ohrfeige erklang, gefolgt von einem schmerzerfüllten Aufschrei.

    »Miststück!«, zischte eine kühle Stimme.

    Lys erkannte sie. Es war die des Hauptmanns, der im Namen des Dunklen Königs das Dorf bewachte.

    »Nichtswürdige!«, keifte er, und als er an der Treppe unter dem Versteck der Geschwister vorbeiging, zog Emiras sie tiefer in den Schatten.

    Die Stiefelschritte hallten an den Holzwänden wider und Lys erkannte den wallenden roten Umhang mit dem goldenen Saum. Schließlich verschwand der Soldat durch die Haustür, indem er sie mit einem Knall ins Schloss warf.

    Die Geschwister horchten in die Dunkelheit hinein und kamen erst aus ihrem Versteck hervor, als sie sicher waren, dass der Mann nicht mehr zurückkehrte.

    »Mama!«, rief Lys, und die beiden Kinder rannten gemeinsam zur Küche, doch im Türrahmen blieben sie stehen.

    Der Holztisch lag auf der Tischplatte und hatte zwei Beine eingebüßt. Die Stühle waren nur noch als Trümmerhaufen zu erkennen, aber die restliche Einrichtung war intakt.

    Ihre Mutter saß am Boden, das Kleid an vielen Stellen gerissen, das schulterlange blonde Haare wirr vom Kopf abstehend und in den grauen Augen lag ein gebrochener Ausdruck, als sie ihre Kinder ansah.

    »Mama!«

    Lys rannte auf sie zu und legte die Hände um ihre Schultern.

    »Er ist weg, Mama«, raunte sie ihrer Mutter Anra zu und schmiegte sich enger an sie.

    Diese schlang die Arme um ihre Tochter und sah zu ihrem Sohn. Direkt in seine blaugrauen Augen, die ihren so ähnlich waren.

    »Was wollte er?«, fragte Emiras ernst und Lys wusste, dass ihr Bruder als einziger versuchte die Situation mit nüchternem Blick zu betrachten.

    Sie waren beide acht Zyklen alt, wobei Emiras nicht nur zwei Minuten älter, sondern auch um einiges reifer im Denken war, als seine Schwester. Insgeheim beneidete Lys ihren Bruder darum und schämte sich, dass sie im Gegensatz zu ihm offen ihre Tränen zeigte.

    »Er hat euren Vater gesucht«, erwiderte Anra mit zitternder Stimme und Lys spürte, wie sie durch tiefe Atemzüge um ihre Fassung rang.

    Das Geräusch der sich öffnenden Haustür drang an ihre Ohren, gefolgt von dumpfen Schritten. Lys drehte den Kopf – Fanras, ihr Vater, stand unvermittelt im Türrahmen.

    Der ausdruckslose Blick des hochgewachsenen Mannes traf den aufgewühlten seiner Frau. In dem weißblonden Haar sah Lys einige verfangene Blätter, ein Bogen ragte am Rücken über die rechte Schulter hervor und die braunen Stiefel waren von schlammiger Erde verdreckt.

    »Was ist passiert?« Fanras Stimme klang nüchtern, die blauen Augen huschten suchend durch den Raum.

    »Der Hauptmann war hier. Er hat nach dir gesucht«, gestand ihm seine Ehefrau und Lys löste sich ein wenig von ihrer Mutter.

    »Hat er gesagt, was er wollte?« Fanras schenkte dem Sohn ein schmales Lächeln, wuschelte ihm durchs Haar und half dann seiner Frau, aufzustehen. Diese warf sich ihm in die Arme und begann bitterlich zu weinen.

    »Was hat er dir angetan?«, raunte er ihr zu und Lys bemerkte, wie sehr sich ihr Vater plötzlich anspannte.

    »Er hat mich geschlagen. Mehr ist nicht passiert«, wimmerte sie.

    Es war deutlich zu hören, wie Fanras wütend mit dem Kiefer mahlte. Er war zornig, ja, aber ebenso gut darin, seine Wut hinunterzuschlucken.

    »Es ist gut. Es ist vorbei«, flüsterte er.

    »Nein! Es wird niemals vorbei sein, das weißt du!«, hörte Lys ihre Mutter leise jammern.

    Der Vater sah die beide Kinder an.

    »Da irrst du dich, Anra. Eines Tages wird sich das Blatt wenden. Das Licht wird die Dunkelheit verdrängen.« Dabei fixierte er mit seinen Augen Lys.

    Niemals zuvor hatte er sie so angesehen, eine Gänsehaut kroch über ihren Körper. Die Kälte drang bis in ihr Herz, griff zu, zerdrückte es und raubte ihr den Atem. Dazu mischte sich eine Ahnung, dass sie diese Worte ihr ganzes Leben lang verfolgen würden ...

    1. Kapitel

    »Lys!« Kaum hörbar war die Stimme, die nach ihr rief.

    Sie kniete am Boden vor dem aufgehäuften Hügel und starrte auf den schlichten Grabstein. Zwei Efeuranken schlängelten sich um den Namen.

    Fanras Arry

    * 3. 04. 3764

    † 19. 08 3809

    Dein Licht wird niemals in der Dunkelheit erlöschen.

    »Lys!«

    »Was?«, keifte sie ihren Bruder an, der wenige Schritte hinter ihr stand. Der Wind spielte mit Emiras’ kurzen weißblonden Haaren und er sah sie mit seinen blaugrauen Augen fest an. »Komm nach Hause, Mutter wartet mit dem Essen«, sagte er ruhig.

    Sie biss sich auf die Unterlippe, legte den Blumenstrauß auf das Grab und stand auf. Ihr Bruder hatte sich inzwischen abgewandt und sie warf einen letzten Blick auf die Grabstelle, ehe sie ihm folgte.

    Die beiden stiegen den niedrigen Hügel hinab, der hinter ihrem Zuhause lag. Ihr Haus war abseits vom Dorf auf einer Anhöhe erbaut worden, von der aus man einen malerischen Blick auf die rund vierzig anderen Holzbauten des Ortes hatte. Sie standen kreuz und quer verteilt auf dem lichten Platz inmitten eines Waldes.

    Jeder Bewohner des Dorfes hatte Blumen und Sträucher auf sein eingezäuntes Grundstück gepflanzt und Lehmwege führten von einem Haus zum anderen.

    In der Mitte der Waldlichtung war ein großes, steinernes Gebäude errichtet worden. Die Kaserne war erst wenige Zyklen alt und die einzige ihrer Art. Der Hauptmann und seine Soldaten lebten dort und überwachten das Dorf im Auftrag des dunklen Königs. Jeder in der Siedlung hasste sie - doch Lys‘ Familie verabscheute sie am meisten.

    Unbewusst ballte sie die Hände zu Fäusten, während brennende Wut durch ihre Adern strömte.

    »Hör auf zu trödeln!«, rief Emiras, der bereits fast unten bei ihrem Elternhaus war und den Kopf schüttelte.

    Sie atmete tief ein und folgte ihm schließlich. Ihr Bruder öffnete die Hintertür und trat ins Innere der Behausung.

    Der Geruch nach Essen und dem Pfeifenkraut ihres Vaters schlug den Geschwistern entgegen, Lys fühlte sich gleich entspannter. Sie schloss die Tür und ging in die Küche zu ihrer Mutter, die bereits am fertig gedeckten Tisch auf beide wartete. Sorgenfältchen umspielten das schwache Lächeln auf ihren Lippen.

    »Da seid ihr ja«, begrüßte sie ihre Kinder.

    Emiras nickte ihr zu, während seine Schwester ihr den Ansatz eines Lächelns schenkte, ehe sie sich setzten.

    Mit wenig Begeisterung stocherte sie in ihrem Essen herum und beobachtete dabei verstohlen ihre Familie, die lautstark miteinander schwatzte und genüsslich speiste.

    Sie hingegen warf einen abschätzigen Blick auf ihren Teller und widerstand dem Drang, die nächste volle Gabel wieder auszuspucken.

    Es war nicht so, dass ihr das Essen ihrer Mutter nicht schmeckte, aber seit dem Tod ihres Vaters hatte sie keinen wirklichen Appetit mehr. Und wenn sie einmal Hunger verspürte, stopfte sie alles lieblos in sich hinein.

    Sie nahm zwei weitere Happen von dem Hühnchen, dann rührte sie abermals in dem Kartoffelbrei herum. Der besorgte Blick ihrer Mutter entging ihr nicht.

    »Lys, Liebes. Hast du wieder keinen Hunger? Ich habe mir solche Mühe gegeben und dein Vater würde sicher nicht wollen, dass du bei vollen Tellern hungerst«, versuchte Anra sie zum Essen zu ermuntern.

    Emiras nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Lass sie. Ich denke, ihr wird sowieso gleich der Hunger vergehen, wenn ich mich ausgesprochen habe.«

    Lys taxierte ihren Bruder. Emiras’ Züge strahlten Ernst und seine Augen Entschlossenheit aus. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Er erinnerte sie zu sehr an Vater, war so erwachsen – während sie sich noch oft wie ein kleines Kind vorkam.

    Fanras war seit knapp zwei Zyklen tot und seitdem hatte ihr Bruder die Rolle des Mannes im Haus übernommen. Viel zu früh hatte er lernen müssen, was es bedeutete, für eine Familie zu sorgen – und Emiras schlug sich wacker darin.

    Lys bewunderte ihn für diese Stärke. Sie liebte ihn abgöttisch, aber es gab Momente, da regten sie seine Sturheit und Kälte auf.

    Anra runzelte die Stirn, als ahnte sie Unheil. »Was ist los?«

    Er legte das Besteck zur Seite, schob den Stuhl zurück, faltete die Hände ineinander und blickte dann von seiner Mutter zu seiner Schwester.

    »Ich werde in die Armee des Waldfürsten eintreten.«

    Lys fiel die Gabel auf den Boden und die Unterlippe ihrer Mutter zitterte verdächtig. Beide starrten ihn fassungslos und mit weit aufgerissenen Augen an.

    »Das ist ein schlechter Scherz.« Lys fand ihre Stimme zuerst wieder. »Sag, dass es nicht wahr ist! Sag, dass du dich nicht freiwillig bei diesen Fanatikern gemeldet hast!« Mit jedem Wort gewann ihre Stimme an Festigkeit und die letzten schrie sie sogar.

    Der Waldfürst – war er von Sinnen?! Dieser Mann war ein Nachfahre des alten Königs, den der Dunkle Herrscher vor mehr als tausend Zyklen getötet hatte. Überall scharte er Leute um sich, für den Kampf gegen den selbst ernannten Monarchen – bisher mit mäßigem Erfolg. Doch was erwartete er auch?

    Yoru, der Dunkle König, war ein mächtiger Schwarzmagier. Er hatte mit seiner Macht die Sterne zum Erlöschen gebracht, und somit die lichte Magie für immer von dieser Welt verbannt. Denn ohne die freundliche Kraft der Sterne gab es keine weiße Zauberei.

    Ebenso wenig ohne die Elben, die er ausgerottet hatte und die einst für den Erhalt der Gestirne verantwortlich gewesen waren. Es gab keinerlei Himmelssterne mehr in dieser abgrundtief schwarzen Welt.

    Und ein dahergelaufener Prinz fand, er könnte das vollbringen, was seine Vorfahren so viele Zyklen zuvor niemals geschafft hatten – Yoru zu stürzen.

    Es war Wahnsinn.

    »Ja, ich habe mich freiwillig gemeldet und diesen Schritt vorher ausgiebig durchdacht.«

    Anra barg ihren Kopf zwischen ihren Händen. »Nein, das darf nicht wahr sein«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. Ihre Schultern bebten und sie schluchzte verzweifelt auf.

    »Wieso tust du das? Willst du endgültig alles zerstören?« Lys’ Hände zitterten vor Wut und ihr Gesicht glühte zornesrot.

    »Ich vernichte nichts, Lys. Ich möchte meinen eigenen Weg gehen - eine Aufgabe in dieser Welt finden. Im Gegensatz zu dir. Seit Vaters Tod bist du ein Schatten deiner Selbst. Ich will mein Leben nicht in Trauer verbringen, ich kann hier nicht so reglos verharren wie du.«

    Sie sah in seine Augen und die Eiseskälte darin schnürte ihr den Hals zu. Er war längst nicht mehr der liebevolle Bruder, den sie aus vergangenen Kindertagen kannte. Alles hatte sich in den letzten zwei Zyklen zum Schlechten geändert.

    »I-ich …«, begann sie stotternd.

    Unterdessen stand Emiras von seinem Platz auf und strich sich durch sein Haar.

    »Ja, du. Etwas anderes hat dich die letzten Zyklen nicht interessiert. Weder wie es Mutter ergangen ist, noch was ich alles durchmachen musste. Nur du warst dir wichtig und jetzt lebe damit. Meine Entscheidung ist unumstößlich. In zwei Tagen werde ich mich zum Sammelpunkt außerhalb der Wälder begeben.«

    Emiras strich seiner Mutter sanft über den Rücken und drückte ihr einen Kuss auf den Haaransatz. Ohne Lys eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er.

    Sie blieb erstarrt zurück und stierte auf ihren vollen Teller. Ihr Gegenüber saß ihre weinende Mutter – und sie war nicht im Stande sie zu trösten. In ihrem Herzen war für Anra kein Mitleid zu finden. Ja, sie war abgestumpft geworden.

    Als ihr das bewusst wurde, zerbrach tief in ihrem Inneren der Rest ihres Herzens und zerfiel in Abertausende Splitter, die unbarmherzig in ihre Brust stachen.

    Gedankenverloren blickte Lys in die Nacht. Sie saß mit angezogenen Beinen auf dem Fensterbrett ihres Zimmers und starrte hinaus. Sie musste sich zusammenkauern, da sich die Fensteröffnung genau unter dem Dachgiebel befand, aber es war ihr liebster Platz im ganzen Haus. Der Himmel war nachtschwarz und klar – doch leer, ohne einen einzigen Stern.

    Sie kannte nur vage die Legende darüber, wie der Dunkle König die Elben getötet hatte, die für die Himmelslichter verantwortlich gewesen waren. Es gab keine reinen Nachfahren ihrer Art mehr und ihre Nachkommen wurden noch immer erbittert gejagt.

    Einmal hatte Lys einen Lichtfunken am Himmel gesehen. Es war der Tag gewesen, an dem ihr Vater seinen Verletzungen erlegen war.

    Ein kleiner, leuchtender Punkt am nachtschwarzen Himmelszelt. Sie würde diesen Tag niemals vergessen, war er doch der bisher schrecklichste in ihrem Leben.

    Dorfbewohner hatten ihren Vater nahe dem Waldrand schwer verwundet vorgefunden. Sie hatten alles Erdenkliche getan, um ihn zu retten, doch vergebens. Eine Woche später war er an seinen Verletzungen gestorben. Lys dachte viel zu oft daran und jedes Mal schnürte es ihr die Kehle zu.

    Sie war nicht wie Emiras, der alles einfach hinunterschluckte und so seine Stärke bewahrte. Oder wie Mutter, die einige Wochen getrauert und dann plötzlich wieder zur Normalität zurückgefunden hatte. Sie war schon immer sensibler gewesen.

    Ihre Gedanken kreisten um die Wunden, die ihr Vater gehabt hatte. Sie hatten nicht von einem Tier gestammt, auch wenn der Heiler das noch immer behauptete. Nur Waffen konnten solch tiefe Schnitte verursachen. Schwerter, wie sie die Männer des Königs trugen.

    Mehr als einmal hatte sie versucht, ihre Familie davon zu überzeugen; vergeblich. Ihre Mutter wollte es nicht hören und ihr Bruder tadelte sie jedes Mal dafür, sich solche Verrücktheiten auszudenken. Er mochte die Männer des Königs genauso wenig wie alle anderen im Dorf, doch er traute ihnen derartige Abscheulichkeiten nicht zu. Die Bewohner zu verprügeln, ja, das war keine Seltenheit, aber jemanden zu töten, nein. Davon war er zutiefst überzeugt.

    Sie jedoch war nicht blind. Lys wusste, dass es die Wahrheit war.

    Schritte waren zu hören, sie kamen die Treppe nach oben in ihr kleines Reich. Hastig sprang sie von ihrem Platz, huschte in ihr Bett und stellte sich schlafend. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, als die Tür mit einem leisen Knarzen aufging.

    Sie hörte Emiras raunende Stimme, dann spürte sie sein Gewicht, als er sich neben sie auf das Bett setzte.

    »Lys«, sprach er flüsternd und hob behutsam die Hand, mit der er ihr sanft über das Haar strich. Sie rührte sich nicht. Stur hielt sie die Augen geschlossen.

    »Ich weiß, dass du wach bist, Schwesterchen«, sagte er etwas lauter.

    Genervt schlug sie die Augen auf, drehte sich zu ihrem Bruder um, dessen Hände nun gefaltet in seinem Schoß lagen.

    »Was willst du?«, fragte sie bissig und sah ihn beleidigt an.

    »Lys, es tut mir leid, dich und Mutter alleine zu lassen, ich mache es nicht gerne. Das musst du mir glauben«, begann er leise und sie schnaubte verächtlich.

    »Das klingt ja fast so, als wärst du zum Dienst gezwungen worden!«, erwiderte sie scharf.

    »Ich muss es tun, verstehst du? Ich kenne nichts anderes als dieses Dorf. Ich möchte die Welt sehen und mein Volk verteidigen, dich und Mutter schützen.«

    »Er hat immer gesagt, dass derjenige ein Mondkalb ist, der die Weiten der Welt sucht«, gab Lys die Worte ihres Vaters tonlos wieder.

    »Ich weiß. Aber es ist das, was ich will. Ich möchte mein Leben nicht ewig hier verbringen. Es gibt in diesem Dasein so viele Dinge, die es zu sehen und zu erleben gilt. Jedoch werde ich zurückkommen Lys, versprochen.«

    Sie atmete tief durch und wandte demonstrativ den Kopf ab.

    »Es gibt noch etwas, das ich dir sagen muss«, setzte Emiras an und seine Schwester merkte, dass ihm die nächsten Worte schwerfielen: »Sénom wird mit mir gehen.«

    Lys war zum zweiten Mal an diesem Tag zutiefst erschüttert.

    »Nein. Wieso?«, hauchte sie aufgewühlt und legte die rechte Hand vor den Mund.

    »Sénom denkt wie ich. Er hat lange mit sich gerungen, doch er wird mit mir kommen. Er möchte ein Soldat werden, der seinesgleichen beschützen kann. Es tut mir leid. Er wollte es dir morgen sagen.«

    Lys traten Tränen in die Augen und sie vergrub das Gesicht in ihrer Decke. Ihr Herz zerbrach erneut in Tausende Scherben. Zuerst ihr Vater, dann ihr Bruder und jetzt noch Sénom - alle verließen sie. Gerade war ihr allerletzter Splitter Glück zerstört worden.

    Emiras umarmte seine Schwester und drückte sie an sich. Zuerst wollte sie ihn wegschieben, erwiderte aber nach kurzem Zögern die Geste.

    »Warum? Er hat doch gesagt, dass er mich nächsten Sommer heiraten will. Das ist … nicht fair!«, schluchzte sie und krallte sich an den Schultern ihres Bruders fest.

    »Lys. Die Ausbildung dauert drei Zyklen, anschließend kommen zwei weitere verpflichtender Dienst – danach könnt ihr noch immer heiraten.« Er versuchte sie zu beruhigen, doch Lys hörte den leisen Zweifel aus seiner Stimme heraus.

    »Fünf Zyklen? Denkst du, er will mich danach noch? Er wird eine andere in dieser Zeit kennenlernen und ich werde nicht so dumm sein und vergeblich auf ihn warten, um schließlich doch nur enttäuscht zu werden!«, zischte sie erzürnt und atmete wieder tief durch.

    »Es tut mir leid.«

    Sie schloss die Augen.

    Lange saßen die beiden Geschwister so da, bis sich Emiras von ihr löste. Er strich seiner Schwester sanft mit den Fingern über ihre rechte Wange und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

    »Versuche zu schlafen. Bitte glaube mir, ich wollte nicht, dass alles so endet. Verzeih mir«, entschuldigte er sich erneut.

    Lys schüttelte abwehrend den Kopf. »Das ist mir gerade zu viel, Emiras. Geh bitte.«

    Er schenkte ihr ein letztes trauriges Lächeln, dann ließ er sie alleine in ihrer Kammer. Lys biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte, grub sich in ihre Bettdecke zurück und begann bitterlich zu weinen.

    Ihr Kummer über den Tod ihres Vaters, das Verlassenwerden und die Ungerechtigkeit des Lebens sickerten mit unzähligen Tränen in ihre Laken.

    2. Kapitel

    Lys hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während sie mit dem Rücken zu der großen alten Eiche stand. Seit unzähligen Zyklen wuchs hier der Baum, der sich auf einem niedrigen Berg befand, von dem aus man das ganze Dorf überblicken konnte. Überall um die Ortschaft herum gab es bewaldete Anhöhen, doch diese hier beherbergte nur diesen einen Baum und war die Größte von allen.

    Lys verbrachte hier sehr viel Zeit, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushielt oder sich mit Sénom treffen wollte. Ihr Herz zog sich voller Kummer zusammen, als sie an ihn dachte, und ihre rot geäderten Augen drohten erneut vor Tränen überzuquellen.

    Emiras und Sénom werden mich alleine lassen.

    Diese Erkenntnis schwirrte wie ein Wirbelsturm durch ihren Kopf und hinterließ tief in ihrem Inneren ein Chaos aus Gefühlen. Sollte sie lachen, weinen oder schreien, um sich danach besser zu fühlen?

    Nein. Die Erleichterung

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