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Anselm und Neslin
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eBook429 Seiten6 Stunden

Anselm und Neslin

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Über dieses E-Book

Zwei Kinder aus einem Dorf des Spätmittelalters werden durch eine falsche Anschuldigung und ein ungerechtes Gerichtsverfahren zur Flucht gezwungen. Für sie beginnt eine abenteuerliche Odyssee, die sie durch die Irrungen und Wirrungen jener Zeit führt. Mit dem Fahrende Volk finden sie den Weg in die Fremde, erleben Hexenprozess und Pestplage, gelangen in die Obhut von Mönchen und reisen schließlich mit Kaufleuten über das Mittelmeer bis ins ferne Ägypten. Es folgen temberaubende Erlebnisse, die sich bei der Weiterreise von Alexandria nach Kairo, zu den Pyramiden und nach Oberägypten fortsetzen. In einem traumatischen Zustand erfährt der Junge Anselm in Aswān die Gefahren einer anderen Zeit in einem anderen Universum. Ähnlich abenteuerlich verläuft die Rückreise über
den Nil, das Mittelmeer und durch Italien, bis die inzwischen zu Jugendlichen Herangewachsenen mit ihren Begleitern nach drei Jahren wieder das heimatliche Dorf erreichen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum24. Dez. 2023
ISBN9783384099310
Anselm und Neslin
Autor

Rolf Esser

Rolf Esser, Jahrgang 1948, ist im Hauptberuf Lehrer und inzwischen pensioniert. Er unterrichtete an einer integrierten Gesamtschule in den Fächern Deutsch, Gesellschaftslehre, Kunst und Musik. Seit etwa 1990 war er für verschiedene Verlage als Autor im Bereich Unterrichtsmaterialien tätig. Darüber hinaus war er immer künstlerisch und musikalisch aktiv. Neben der Ausstellung seiner Kunstwerke (zuletzt im Osthaus-Museum Hagen) spielte er viele Jahre als Schlagzeuger und Gitarrist in Bands seiner Heimatstadt. Rolf Esser hat inzwischen drei Jugendromane, einen Roman für Kinder, zwei Kriminalromane, eine Kurzgeschichtensammlung, ein Sachbuch für Musiker und eine Reihe von verschiedenen Unterrichtsmaterialien veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    Anselm und Neslin - Rolf Esser

    Die Zeit, in der die Geschichte spielt

    Mit dem Begriff Mittelalter wird ein Zeitraum beschrieben, der etwa vom 6. Jahrhundert bis zum 15. Jahrhundert reicht. Die Geschichtswissenschaft streitet dabei sowohl über den Beginn, als auch über das genaue Ende dieses Zeitalters. Nach der politischen und kulturellen Dominanz des griechisch-römisch geprägten Mittelmeerraums entstand in Europa eine nach Ständen geordnete Gesellschaft, in der eine gläubig christliche Geisteshaltung vorherrschte und in der sich Latein als gemeinsame Kultur- und Bildungssprache etablierte. Die Einheit der christlichen Kirche, die für ein einheitliches Weltbild sorgte, ist kennzeichnend für diese Epoche, deren Gesellschafts- und Wirtschaftsformen auf feudalen Herrschaftsstrukturen begründet waren. Im deutschsprachigen Raum unterscheidet man drei Hauptphasen:

    Frühmittelalter

    (spätes 6. Jahrhundert bis Anfang 10. Jahrhundert) die Epoche der Merowinger und Karolinger

    Hochmittelalter

    (Anfang 10. Jahrhundert bis ca. 1250)

    die Zeit der Ottonen, Salier und Staufer

    Spätmittelalter

    (ca. 1250 bis ca. 1500)

    Unsere beiden Hauptpersonen, Anselm und Neslin, mögen um 1350 gelebt haben, also im Spätmittelalter. Ihnen wird das egal gewesen sein, als Leute der Unterschicht oder des Bauernstandes waren sie in jeder Phase der Epoche im Nachteil.

    Das Spätmittelalter war die Zeit des aufsteigenden Bürgertums der Städte und der Geldwirtschaft. Dennoch erlebte Europa ab etwa 1300 auch eine Krisenzeit, die sich in der schlimmste Katastrophe des 14. Jahrhunderts manifestierte. Die Pest, der Schwarze Tod, traf die Länder Europas in verheerender Weise und dezimierte die Bevölkerung in den Städten um ein Drittel bis zur Hälfte. Diese Entvölkerung hatte Aufstände und einen Wandel der Sozialstrukturen zur Folge, bei denen das Rittertum geschwächt wurde und das Bürgertum erstarkte. Die katholische Kirche sah sich Reformbewegungen ausgesetzt.

    Etwa zur gleichen Zeit wie die Entvölkerung begann aufgrund von Erbstreitigkeiten um die französische Krone der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England. Von 1340 bis etwa 1420 behielten die Engländer die Oberhand, bis Jeanne d'Arc, heute als die Jungfrau von Orleans bekannt, den Franzosen wieder Hoffnung gab und ihnen bei Orleans zum Sieg verhalf. Obwohl sie schon 1431 von den Engländern zum Tode verurteilt wurde, konnte Frankreich den Krieg 1453 siegreich beenden. In demselben Jahr wurde in Deutschland durch Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, der Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden.

    Kunst und Wissenschaften befanden sich im Spätmittelalter im Aufbruch. Die bereits im Hochmittelalter erfolgte Gründung der ersten Universitäten, vor allem in Italien (Bologna) und Frankreich (Paris), verhalf den Wissenschaften und der Philosophie zu einem neuen Aufschwung, denn sie verbreiteten die Lehren antiker Gelehrter und ebneten so den Boden für die Epoche der Renaissance. Den Künstlern eröffneten sich neue Möglichkeiten dank Auftragsarbeiten für das selbstbewusste Bürgertum. Die bisher auf kirchliche Motive beschränkte Malerei wurde nun auf andere Bereiche ausgeweitet, auch die Dreidimensionalität wurde von den Malern entdeckt. Die Architektur lehnte sich infolge der Renaissancebewegung wieder an alte römische und griechische Vorbilder an.

    Auch die Wirtschaft erlebte trotz der Pest eine Blüte. Hier sind vor allem wieder die italienischen Stadtstaaten hervorzuheben, aber auch der in der Nord- und Ostsee entstandene Städtebund der Hanse. Die Hanse bewirkte durch den schwunghaften Handel eine weitere Besiedelung Nord- und vor allem Osteuropas durch hauptsächlich deutsche Kolonisten.

    In diesem Umfeld bewegen sich unsere Protagonisten Anselm und Neslin und erleben am eigenen Leibe die Irrungen und Wirrungen jener Zeit. Allerdings, und diese Freiheit sei dem Autor gestattet, erlaubt das weite Feld der Fantasie auch einen gewaltigen Zeitsprung, der das Mittelalter für die Dauer einer Lichtsekunde vergessen lässt.

    Die Personen der Geschichte

    Anselm – Sohn von Hanss

    Hanss – Vater von Anselm

    Irmel – Frau von Hanss, Mutter von Anselm

    Neslin – Cunrads Tochter

    Cunrad – Nachbar, Vater von Neslin

    Ella – Frau von Cunrad, Mutter von Neslin

    Ritter Ägidius von den Buchen – Leibherr, Vater von Sophie

    Sophie – Tochter von Ritter Ägidius

    Hausvogt – Hausverwalter des Ritters

    Graf Balduin von Braunstein – Lehnsherr

    Ensfrid von Kreun – Dorfpfarrer

    Giese – tatsächliche oder vermeintliche Dorfhexe

    Bertram von Ingelhof – Justitiarius des Ritters

    Gunvald – Fahrender, Gaukler, Wagenführer

    Brida – Fahrende, Gunvalds Frau, Gauklerin, Sängerin

    Frix – Fahrender, Gaukler, Kartenspieler

    Magdalen – Fahrende, Gauklerin, Schalmei-Spielerin

    Fee – Fahrende, Gauklerin, Seiltänzerin

    Tante Lissy – Besitzerin eines Gasthauses in Bamburg

    Ansgar von Rhodenfeld – Bischof von Bamburg

    Johann Schadland – Großinquisitor für Deutschland

    Abraham Merxheim – Fernhändler

    Abt Bertram – Leiter des Benediktiner-Stiftes Albond

    Bruder Giselbert – Mönch

    Gerberus – Heiliger, Wunder tuend

    Gertrude – Heilige, Wunder tuend

    Der Bischof – zuständig für die Burg Falkenfried

    Eberold von Sternwald – Kaufmann aus Bremen, Sprecher

    Katharina – Frau von Eberold

    Petrissa – Tochter von Eberold

    Hartmud Sponheim – Kaufmann aus Bremen

    Jakob Lichtenberg – Kaufmann aus Bremen

    Christine – Frau von Jakob

    Adam Wienstein – Kaufmann aus Bremen

    Helfrich Miehlen – Kaufmann aus Bremen, Goldschmied

    Simone Boccanegra – Doge von Genova

    Familie Rombis – Großhändler und Schiffseigner aus Ravensberg

    Nabil – Oasenbewohner

    Cheops – glühender Pharao mit Ka, Ba und Ach

    Sachmet – Rachegöttin mit Löwenkopf

    Jack – Sohn von Jeremias Carr

    Harold Cramer – Erster Universonaut im Hyperraum-Gleiter

    Sergej Prokanow – Navigator im Hyperraum-Gleiter

    Lin Shi Huang – Kommunikator im Hyperraum-Gleiter

    Jelly – Schwester von Harold Cramer

    Nelly – Tochter von Jelly

    Jeremias Carr – Vater von Jack

    Salvatore Riccione – »Das Ohr der Bürger« in Florenz

    Bertram von Schönburg – Ritter in den Voralpen

    Juliana – Gemahlin des Ritters Bertram

    Agnes – Tochter des Ritters Bertram

    Neidhart – Minnesänger

    Der zeitliche Verlauf der Geschichte

    April 1350…………………. mit dem Fahrenden Volk unterwegs

    August 1350……………….. bei Tante Lissy in Bamburg

    März 1351…………………..die Reise mit dem Fernhändler

    April 1351…………………. bei den Mönchen

    Mai 1352……………………die Reise mit den Kaufleuten beginnt

    Juli 1352…………………… Genova und Venedig

    Oktober 1352………………. Ankunft in Alexandria

    November 1352……………. Kairo, die Pyramiden, Hartmuds Tod

    Dezember 1352……………..Theben und Aswān

    Dezember 2285……………..Anselm in der Zukunft

    Mitte Januar 1353………….. auf dem Nil

    Anfang Februar 1353……….nach Italien

    Ende März 1353…………….Vesuv, Rom, Florenz

    Mitte Mai 1353…………….. beim Ritter auf der Burg

    Anfang Juni 1353………….. Ritt nach Hause

    Mitte Juni 1353…….. ………in der Papiermühle

    Anfang Juli 1353……………Fronhausen

    Ende Juli 1353………………Bremen

    Kapitel 1

    Von den Bauern, dem Ritter und vom Leben an sich

    Anselm sieht nicht sehr fröhlich aus. Schon im Morgengrauen war er mit dem Vater aufs Feld gegangen. Das Korn musste eingebracht werden. Für den zwölfjährigen Jungen bedeutet das: arbeiten vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Wehmütig schaut er auf seine drei jüngeren Schwestern, die in der Ecke sitzen und mit Steinen spielen. Sie sind drei, vier und fünf Jahre alt und kennen den Ernst des Lebens noch nicht. Anselm erinnert sich, dass er als Sechsjähriger besonders gerne mit dem Kreisel gespielt hatte, den man mit einer Peitsche antreiben musste. Einmal hatte er auch einen kleinen Vogel. Den konnte man an eine Schnur binden und umher flattern lassen. Das war lustig. Es scheint ihm, als sei diese glückliche Zeit schon hundert Jahre her.

    Anselm sieht wirklich nicht sehr fröhlich aus. Auf dem Feld hatten sie am Morgen das Getreide mit der Sense gemäht. Besser gesagt, der Vater mähte und Anselm musste ihm hinterher arbeiten, indem er das Getreide mit Halmen zu Bündeln, den Garben, schnürte. Zum Trocknen des Getreides stellte er dann mehrere Garben gegeneinander gelehnt auf dem Feld zusammen. Manchmal war Anselm dem Vater wohl zu langsam bei der Arbeit. Dann schrie der über seine Sense hinweg: »Nun mach´ mal zu, du bist kein Kind mehr! Dein Brot musst du dir schon verdienen!«

    Sie hatten gerade mal ein Viertel des Feldes geschafft, da begann es zu regnen. Regnen ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Es schüttete wie aus Kübeln und sie mussten fluchtartig das Feld verlassen. Das bedeutete, sie mussten fast eine halbe Stunde durch den Regen rennen, bis sie zuhause waren, denn das Feld liegt sehr weit außerhalb. Aber bei soviel Feuchte von oben konnte man weder die durchnässten Halme mähen, noch Garben aufstellen. Eigentlich war es noch viel schlimmer. Die ganze Arbeit war umsonst gewesen. Das frisch gemähte Korn war für immer verdorben. Und es war ja nicht damit getan, das Korn zu ernten. Man hatte erst einmal dafür sorgen müssen, dass überhaupt Korn wuchs.

    Die Vorbereitung des Bodens für die Aussaat im Frühjahr und im Herbst gehört zu den schwersten Arbeiten, die Anselm kennt. Die Bauern sind neuerdings dazu übergegangen, jeweils drei Felder zu bewirtschaften. Man hat ihnen gesagt, das habe große Vorteile. So genau haben sie den Sinn noch nicht begriffen. Aber sie tun es und haben die ihnen zugeteilte Ackerfläche einfach in drei Teile aufgeteilt. Das erste Feld wird mit Getreide eingesät. Das zweite Feld bepflanzen sie mit Hülsenfrüchten. Das dritte Feld liegt ein Jahr lang brach. Diese Feldnutzung geschieht in stetem Wechsel. Das Erdreich des brach liegenden Feldes kann sich dann gut erholen. Der Boden hier ist ohnehin sehr hart und steinig und hat Erholung dringend nötig.

    Manche Bauern haben einen Ochsen. Den können sie vor den Pflug spannen. Anselms Vater Hanss besitzt keinen Ochsen. Eine Ausleihe ist nicht üblich, pausenloses Pflügen würde die Tiere überfordern.

    So muss Hanss Jahr für Jahr den Hakenpflug selbst ziehen, mit dem man das Erdreich eigentlich nur ein wenig aufschlitzen kann. Eine äußerst harte Arbeit. Anschließend müssen die harten Erdklumpen mit einem Hammer zerschlagen werden und der Boden wird mit einer Harke geglättet. Große Steine werden aufgesammelt und entfernt. Ist das Feld so vorbereitet, schnallt sich der Vater einen Beutel um und verstreut mit der Hand das Saatgut. War im Jahr davor die Ernte schlecht, so gibt es allerdings kaum etwas zum Aussäen, weil man keine Körner zurücklegen konnte ohne Hunger zu leiden, und entsprechend gering ist auch der zu erwartende Ertrag.

    Anselm sieht in der Tat recht missmutig aus. Tropfnass waren er und Vater zuhause angekommen. Statt auf dem Feld für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen, sitzen sie nun im Haus und schauen zu, wie die Natur sich ergießt. Das Haus, nun ja, eigentlich ist es eher eine Hütte, die, auf einer Fläche von Steinplatten aus groben Balken errichtet, für eher notdürftigen Unterschlupf sorgt. Die Ritzen zwischen den Balken sind mit Moos zugestopft. Das Dach ist mit Stroh bedeckt. Gestampfter Lehm bildet den inneren Boden. Es gibt nur einen Raum, in dessen Mitte eine offene Feuerstelle ist. Auf ihr wird gekocht und sie ist die einzige Wärmequelle. In strengen Wintern reicht das Feuer bei Weitem nicht aus, alle zu wärmen. Aber wer es übertreibt beim Anfeuern, das hatte Anselm schon bei Nachbarn erlebt, dem brennt schnell das ganze Haus ab. Über der Feuerstelle ist eine Luke im Dach, damit der Rauch abziehen kann. Wenn der Wind allerdings ungünstig weht, dann kann es geschehen, dass der Rauch wieder ins Haus gedrückt wird, was bei den Bewohnern einen würgenden Husten und brennende Augen verursacht.

    Der einzige Raum im Haus muss vielfältig genutzt werden. Er ist Küche, Schlafstelle, Arbeitsraum, Kinderzimmer, Lager und Viehstall zugleich. Über der Feuerstelle hängen eiserne Kessel und eine Kupferpfanne und Mutter steht dort viele Stunden und bereitet die kargen Mahlzeiten für die vielköpfige Familie vor. Dazu gehört auch, dass sie die Roggenkörner stampft, damit daraus Mehl für das graue Brot wird. Es soll Dörfer geben, in denen besondere Handwerker die Mehlherstellung übernommen haben. Und das soll sogar mit Wasserkraft gehen. Vorstellen kann man es sich hier nicht und außerdem könnte man sich einen solchen Dienst ohnehin nicht leisten. Jeder Handwerker will schließlich entlohnt werden.

    Neben den Eltern und den vier Geschwistern leben noch die Großeltern bei ihnen sowie zwei weitere Kinder aus der Familie der Schwester der Mutter, ein siebenjähriges Mädchen und ein neunjähriger Junge. Die Schwester und ihr Mann waren bei dem Überfall einer über das Land ziehenden plündernden Bande getötet worden. Es ist selbstverständlich, dass man sich um die armen Waisenkinder kümmert.

    Sie alle leben, essen und schlafen in dem Raum. An dem großen, grob gezimmerten Tisch sitzen sie auf ebenso groben Bänken bei den Mahlzeiten zusammen. Auf Tisch und Bänken schlafen Einige auch, die Übrigen scharen sich nachts um das Feuer. Viele weitere Möbelstücke gibt es nicht. An der Wand ist ein Regal befestigt, das irdene Krüge, Töpfe und Schüsseln beherbergt. Alle Gerätschaften und Werkzeuge, die für die Feldarbeit gebraucht werden, hängen an eisernen Nägeln an den Wänden: Mistgabeln, Sensen, Sicheln, Spaten. Auf dem Boden stehen noch einige Körbe und ein Holzeimer. Dann gibt es noch zwei Truhen nahe der Tür. In der einen werden Kleidungsstücke aufbewahrt, wenn sie nicht zum Trocknen unter der Decke hängen. Die andere Truhe enthält einen spärlichen Vorrat an Lebensmitteln. Meist sind das Roggenmehl, aus dem das Brot gebacken wird, Gerste oder Hafer für die Zubereitung von Brei und die unvermeidlichen Bohnen. Das sind die üblichen Zutaten für die Mahlzeiten der armen Landbevölkerung wie sie es sind: Brot, Brei und Bohnen; Bohnen, Brot und Brei; Brei, Bohnen und Brot. Die Aufbewahrungsmöglichkeiten für Lebensmittel sind ohnehin begrenzt. Wie sollten sie sich auch erhalten? Im Winter ist es wegen der Kälte einfacher, aber im Sommer? Gibt es mal Kraut, so kann man es sauer einlegen, ebenso Bohnen. Obst kann man dörren. Fleisch gibt es kaum und wenn, dann hängt es geräuchert und gepökelt unter der Decke neben der Wäsche.

    Inmitten dieser Idylle tummeln sich noch zwei Schweine und zehn Hühner, die ebenfalls zum Haushalt gehören. Ihr Bereich ist mit Brettern vom übrigen Wohnraum abgegrenzt. Die Schweine sind gewissermaßen die Notration für schlechte Zeiten und vor allem für den Winter. Geräuchert und eingesalzen bringen die Fleischvorräte die Familie durch die kalte Jahreszeit. Die Hühner liefern immerhin ein paar Eier für den täglichen Bedarf. Im Sommer sammeln sie im Wald Beeren und Nüsse. Eine willkommene Abwechslung, die gut schmeckt. Manchmal, wenn er besonders gnädig gestimmt ist, gibt der Leibherr den Bauern die Erlaubnis zur Jagd jeweils eines Stückes Wild. Das passiert sehr selten und ist ein Festtag, der entsprechend gefeiert wird. Von einem Nachbarn, der Kühe hat, können Hanss und seine Familie ab und zu Eier gegen Milch tauschen und daraus Käse machen. Es gibt sogar in einiger Entfernung ein Kloster mit einem Fischteich. Dorthin machen sich die Bauern in der Fastenzeit auf und kaufen gepökelten Fisch. Der ist zwar teuer, aber sie sparen das ganze Jahr darauf, denn der Dorfpfarrer achtet sehr darauf, dass die christlichen Gebote eingehalten werden. Fisch ist nun mal die gebotene Fastenspeise.

    In einem solchen Bauernhaus geht es rund um die Uhr sehr laut zu. Die Schweine grunzen, die Hühner gackern, die Kinder kreischen, der Bauer gibt Anweisungen, meist in gebrüllter Form, die Mutter ermahnt die Kinder ständig, und über allem schweben die allgegenwärtigen Arbeitsgeräusche. Im Haus ist es zudem sehr dunkel. Die Tür hält man besser verschlossen, damit nicht irgend ein Getier herein kommt. Immerhin gibt es Wölfe in dieser dicht bewaldeten Gegend. Und die schmalen Fenster, eher sind es schmucklose Öffnungen, sind zum Schutz vor Kälte und Wind mit Weidengeflecht oder hölzernen Planken verschlossen.

    Anselm sitzt mit zunehmender Ungeduld in dem dunklen Haus, über das sich Sturzbäche von Regen ergießen. Es zeigt sich bald, dass der Dauerregen sich auch den Weg in die Hütte sucht. Weder ist das Dach wirklich dicht, noch vermögen die zugestopften Ritzen zwischen den Wandbalken der Nässe etwas entgegen zu setzen. Anselm wird es langsam recht ungemütlich. Die Mutter an der Feuerstelle hat sich ein Tuch über den Kopf gelegt und die drei kleinen Mädchen sind aus ihrer Ecke unter den großen Tisch geflüchtet. Der Vater sitzt stoisch da und brütete vor sich hin. Vielleicht denkt er an das durch den Regen verdorbene Korn und macht sich Sorgen, woher sie dafür Ersatz nehmen sollen. Den Schweinen und Hühnern scheint das alles nichts auszumachen. Sie scharren weiter in ihrer Ecke im Stroh. Es sieht wohl so aus, als ob auch Stroh bald knapp werden würde.

    Derweil steht Anselms Mutter Irmel wie immer an der Feuerstelle und kümmert sich um die zweite Mahlzeit des Tages, die zwischen vier und fünf Uhr nachmittags eingenommen wird. Sie wird etwas umfangreicher ausfallen, da Hanss und Anselm auf dem Feld waren und die morgendliche Hauptmalzeit für die beiden ausfiel. Es wird keine Überraschung geben. Bohnen mit Brei, vielleicht auch nur Bohnen mit Brot. Irmel ist – wieder einmal – schwanger. Man sieht es schon deutlich, der Bauch wölbt sich unter dem Wams. Es ist ihre siebte Schwangerschaft. Zwei ihrer Kinder sind allerdings kurz nach der Geburt gestorben. Im Dorf hat es Fälle gegeben, wo die Frauen im Kindbett gestorben sind. Irmel geht es gut, obwohl von Schonung, die ihr eigentlich zusteht, nicht die Rede sein kann. Wer soll die Arbeit im Haus denn machen? Und ist es nicht Pflicht der Bäuerin, für Nachwuchs zu sorgen? In dieser bäuerlichen Umgebung sind die Frauen ohnehin fortwährend schwanger, weil es sich so gehört. Irmel ist eine robuste Frau und verkraftet das gut. Eine angeborene Fröhlichkeit ist ihr zu eigen; bei allem, was sie tut, summt sie immer vor sich hin. Sie lacht sehr gerne und ist der völlige Gegensatz zum Vater Hanss, der immer recht verschlossen, nachdenklich oder gar mürrisch wirkt.

    Endlich lässt der Regen nach. Anselm schaut zur Tür hinaus. Überall sind große Wasserlachen, Rinnsale bahnen sich ihren Weg durch den Schlamm. Der Bach, der in einiger Entfernung vorbei fließt, wird wohl überlaufen, soviel kann man ahnen. Anselm ist es leid. Auf dem Feld kann man im Augenblick ohnehin nichts machen und auch sonst gibt es nichts zu tun. »Ich geh´ mal rüber zum Cunrad!«, ruft er in den Raum hinein. Cunrad ist der nächste Nachbar. Wegen Cunrad geht Anselm aber nicht zu Cunrad. Vielmehr hat Cunrad eine Tochter namens Neslin, die im gleichen Alter wie Anselm ist. Anselm mag Neslin und Neslin mag Anselm. Die beiden verstehen sich fast ohne Worte. So oft sie können in ihrem harten Alltag verbringen sie Zeit zusammen. Genauso wie Anselm bei der Arbeit auf dem Feld und am Haus helfen muss, ist Neslin in die Hausarbeit der Cunradschen Familie eingespannt. Sie muss spinnen, weben und kochen lernen, die kleinen Geschwister versorgen und Wäsche waschen. Da bleibt kaum Zeit für Privates.

    »Ja, mach´ das«, antwortet der Vater abwesend. Seine Sorgen werden mit dem Regenende nicht kleiner. Nicht nur, dass durch das verdorbene Korn ihre eigenen Vorräte eine bedenkliche Lücke bekommen, sie müssen ja auch von dem Wenigen, das sie ernten, einen erheblichen Teil an den Grundherrn abgeben. Denn sie und die meisten Bauern des Dorfes sind Leibeigene. Das bedeutet, dass sie praktisch Menschen ohne Rechte sind. Der Grundherr kann sie jederzeit zu Frondiensten verpflichten. Dann müssen sie eine neue Mauer oder einen Stall bauen oder sonst eine harte Arbeit verrichten, die ihnen selbst keinerlei Nutzen bringt. Leibeigene dürfen auch nicht einfach woanders hinziehen, wenn es ihnen nicht mehr gefällt. Heiraten können sie nur mit Genehmigung des Leibherrn. Oft bestimmt der auch, wer wen heiraten darf. Was Recht ist, bestimmt der Leibherr, er ist Ankläger und Richter in einem. Meist sind leibeigene Bauern auch Grundhörige und bewirtschaften den Grund und Boden ihres Grundherrn. Als Gegenleistung schulden sie ihm Naturalabgaben und Hand- und Spanndienste. So sind die Bauern in einer doppelten Abhängigkeit.

    Das alles geht Hanss durch den Kopf. Er ist Leibeigener und Grundhöriger. Es gibt nur wenige freie Bauern. Und auch die müssen nicht weniger hart arbeiten und auch Dienste leisten. Es ist schon außergewöhnlich, dass die Leibeigenen unter diesem Leibherrn eigene Tiere halten dürfen und dass sie davon nicht auch noch abgeben müssen. Trotzdem bleibt ihnen allen herzlich wenig zum Überleben übrig, das Leben der Bauern in diesen Zeiten ist ein tagtäglicher Kampf.

    Die Hütten der Bauern stehen ein wenig ungeordnet und mit einigem Abstand zueinander. Es gibt kleinere und größere, die oft auch einen eigenen Stall haben. Andere Häuser, die Handwerkern gehören, haben eine Werkstatt. Aber viele Handwerker gibt es nicht mehr im Dorf. Es zieht sie in die großen aufblühenden Städte, wo sie Freiheit vom Grundherrn haben und wo die Lebensbedingungen entschieden besser sind. Nicht alle Häuser sind aus Holz. Viele wurden aus Lehm und Stroh errichtet. Das ist billig, aber auf Dauer nicht sehr haltbar. Die Kirche mitten im Dorf ist von einer Palisade umgeben. Diese soll wohl auch den um die Kirche herum angelegten Friedhof schützen. Die Hütten der Bauern indes sind völlig ungeschützt. Um das ganze Dorf herum haben die Bauern in Eigenarbeit einen dürftigen Zaun errichtet, um wilde Tiere fernzuhalten, der aber wenig Wirkung zeigt. Oft genug reißt der Fuchs ein Huhn und selbst einen Wolf hat man schon mitten im Dorf beobachtet.

    Weit abseits der anderen Behausungen befindet sich auf einer kleinen Anhöhe das riesige Gehöft des Grundherrn. Das Gehöft ist von einer hohen Mauer umgeben, die guten Schutz bietet. Es ist ein Rittergut, das heißt, es gehört dem Ritter Ägidius von den Buchen. Dieser hat das Gut vor einigen Jahren nach dem Tod seines Vaters geerbt, dem seinerseits der Lehnsherr einst das Gut verliehen hat. Lehnsherr für das Dorf ist Graf Balduin von Braunstein, den man hier aber noch nie gesehen hat. Dem Grafen gehört aller Grund und Boden. Der Ritter ist in gewisser Weise auch ein Abhängiger. Er muss für den Lehnsherren Kriegsdienst zu Pferde leisten und vermutlich auch Ritterpferdgelder zahlen. Außerdem muss er dem Lehnsherrn persönliche Dienste leisten. Dazu gehören zum Beispiel auch das Halten des Steigbügels, die Begleitung bei festlichen Anlässen und der Dienst als Mundschenk bei der Festtafel. Ob Ägidius von den Buchen dies alles leistet, wissen die Dorfbewohner nicht.

    Er muss wohl ein eher unbedeutender Ritter sein, denn man weiß, dass es Ritter gibt, die auf großen feudalen Burgen residieren. Verglichen damit ist sein Gut eine armseliges Zuhause. Es ist den Bauern eigentlich herzlich egal. Sie haben andere Sorgen. Aber auch ein unbedeutender Ritter ist nun mal ihr Leibherr, von dem sie ganz und gar abhängig sind.

    Die Wege im Dorf sind breit angelegt und bieten genug Platz für Pferdewagen und Ochsenkarren und das Vieh, das die Bauern auf die Allmende, die dorfeigene Weide am Dorfrand, treiben. Allerdings – heute sind die Wege nach dem verheerenden Regen eine einzige Schlammwüste. Durch diesen Schlamm hindurch kämpft sich Anselm tapfer den kurzen Weg hinüber zum Cunrad. Dieser steht vor seiner Tür und schaut zweifelnd über den Hof. Der Sturzregen hat den Misthaufen derart aufgeweicht, dass sich eine träge, stinkende Brühe langsam in Richtung Haus bewegt. Da muss er wohl mit einem Schieber ran, das Ganze zurück drängen und am besten noch mit ein paar Brettern absperren.

    »Grüß Gott, Cunrad, ist Neslin da?«, fragt Anselm den geplagten Mann. »Ja, drinnen im Haus. So ein Mist, dieser Misthaufen!«, schimpft Cunrad. Anselm denkt an seine schlammigen Füße und geht lieber nicht hinein. Er beugt sich in die Türöffnung und ruft: »Neslin!« Sehen kann er nichts, denn hier ist es genauso dunkel wie daheim. Sofort erscheint das Mädchen und bricht gleich in Lachen aus: »Wie siehst du denn aus? Wie eine Schlammkröte!« Anselm schaut an sich hinunter und tatsächlich: Nicht nur seine Füße sind von Schlamm bedeckt. Bis zum Gürtelband haben sich die Dreckspritzer gut verteilt. »Na ja, an so einem Tag bleibt eben kein Auge trocken«, meint er entschuldigend, »traust du dich denn raus in den Schlamm?« »Aber sicher, Dreck hält die Mücken fern«, lacht sie, »lass´ uns hinunter zum Bach gehen.«

    Am Bach angekommen, setzen sie sich auf einen großen umgestürzten Baum und werfen Steine ins Wasser. Hier haben sie schon oft gesessen und miteinander geredet. Das ist ihr Platz. »Wie geht es bei euch?«, fragt Anselm. »Ach, irgendwie ist da ein böser Hauch in meiner Familie. Meine Eltern verstehen sich immer weniger. Ich glaube, sie haben sich nie gemocht.« Das kennt Anselm von zuhause nicht. Der Vater ist zwar oft mürrisch, aber die Mutter ist immer fröhlich und gleicht das aus. Insgesamt sind die beiden ein gutes Gespann. »Warum meinst du, dass sie sich nie gemocht haben? Sie haben doch geheiratet.« Neslin überlegt. »Nun, aus manchen Äußerungen konnte ich entnehmen, dass Vater und Mutter sich vor ihrer Heirat nicht kannten und der Leibherr ihre Hochzeit angeordnet hat. Das war der Vater unseres Ritters, der wohl um Einiges schlimmer war als unser Leibherr.« »Meine Mutter und mein Vater kannten sich aber schon vorher, genau wie wir uns kennen. Ich glaube, ihre Eltern haben die Ehe verabredet. Vielleicht macht das glücklicher.« »Kann schon sein«, vermutet Neslin, »stell dir vor, unsere Eltern würden uns verheiraten. Wären wir dann glücklich?« »Ha ha«, lacht Anselm, »so bald will ich aber nicht heiraten. Wir können ja später noch mal drüber reden.« »War ja auch nur so ein Gedanke«, lacht nun auch Neslin, »also später dann.«

    In diesem Augenblick kommt großer Lärm auf. Dicht hinter ihnen springt plötzlich aus dem Gebüsch eine Gruppe von Reitern heraus. Es mögen so zehn, zwölf Mann sein. Sie haben die Kinder nicht gesehen, vermutlich wäre es ihnen auch egal. In schneller Hatz geht es vorbei und jeder Reiter treibt sein Pferd mit einem Gertenschlag zum Sprung über den Bach an. Anselm und Neslin haben ein Gefühl, als sprängen sie über ihre Köpfe hinweg. Genau so schnell wie er kam, ist der Spuk im gegenüberliegenden Wald verschwunden.

    Das war die Truppe des Ritters Ägidius von den Buchen. Während der Ritter selbst als einigermaßen gemäßigter Charakter bekannt ist, gelten seine Reiter als kämpferisch und rücksichtslos. Vielleicht wird man so, wenn man dauernd irgendwelche Fehden und Kleinkriege auf Befehl bestreiten muss. Die Dorfbewohner sind jedenfalls nicht begeistert. Denn oft genug erfolgt der Ausritt quer durch das Dorf. Die Reiter walzen dann alles nieder, was ihnen im Weg ist. Wenn es nur eine Milchkanne ist, Glück gehabt! Wenn es ein kleines Kind ist, Pech gehabt! Einmal hat sich ein Bauer lauthals beschwert. Den haben sie genommen und in den Brunnen geworfen. Pech gehabt!

    Neslin und Anselm können ihre Unterhaltung fortsetzen. »Ich weiß nicht«, meint Anselm, »warum unsereins jeden Tag, jahrein jahraus, so arbeiten muss. Heute Morgen waren wir auf dem Feld bis der Regen kam und es hat mich fast umgebracht. So schnell wie Vater mäht kann ich die Garben kaum binden. Nur gut, dass es nicht ganz so heiß ist wie letzten Sommer. Da gab es ja fast keinen Regen und die Ernte war denkbar schlecht.« »Ja, die Arbeit. Das ist wohl unser Schicksal. Wir armen Leute haben eben niemand, der es für uns tut. Wir haben nicht mal jemand, der sich für uns einsetzt.« »Ich habe mich einmal heimlich zum Gut des Ritters geschlichen und bin bei der hohen Mauer auf einen Baum geklettert. Von dort konnte ich in den Garten blicken. Da saß doch die Tochter, die etwa so alt ist wie wir, unter einem großen Sonnenschirm und wurde von drei Dienern bedient. Es gab Milch und irgend etwas Gebackenes, das ich nicht kenne. Das dumme Ding warf das Trinkgefäß um und schrie die Diener an, die Milch schmecke nicht. Die Diener liefen sofort los, um ein neues Getränk zu holen und sie schleuderte ihnen noch das Gebackene hinterher. So eine verwöhnte und undankbare Person!« Anselm schüttelt den Kopf. Neslin ist erschrocken. »Da kannst du aber von Glück sagen, dass dich niemand auf dem Baum entdeckt hat. Du weißt, dass man dich hart bestraft hätte? Aber über das Benehmen der Ritterstochter habe ich schon Einiges gehört. Das erzählt man sich im Dorf gerne und ist schadenfroh, dass auch ein Leibherr seine Probleme hat.« Beide brechen in Gelächter aus und kriegen sich gar nicht mehr ein bei dem Gedanken, wie die Tochter dem Ritter auf der Nase herumtanzt. Anselm umarmt spontan Neslin: »Ich mag es, wenn du lachst. Dann siehst du aus wie eine Königstochter.« »Na, nun übertreibe nicht. Ich bin nun mal ein armes Bauernkind und fürchte, ich werde es immer bleiben. – Die Sonne steht schon tief. Ich glaube, wir müssen langsam zurück.«

    Als Anselm wieder zuhause ankommt, hat die Familie schon die nachmittägliche Mahlzeit eingenommen. »Du hast es aber lange ausgehalten drüben«, sagt die Mutter, »dabei soll es bei Cunrad doch gar nicht so fröhlich zugehen.« »Ach, davon weiß ich nichts«, antwortet Anselm zurückhaltend, »Neslin und ich waren am Bach. Da sind plötzlich die Reiter des Ritters an uns vorüber gerauscht und wir waren sehr erschrocken.« »Da seid bloß vorsichtig, von diesen Reitern erzählt man nichts Gutes«, warnt der Vater. »Ich weiß, aber sie haben uns nicht gesehen. Kann ich noch ein wenig Essen haben?« »Natürlich, im Topf über der Feuerstelle sind noch Bohnen für dich. Nimm sie dir!« Wenn ich Mutter nicht hätte, denkt Anselm bei sich und lässt es sich schmecken.

    Nach dem Essen hat Anselm ein dringendes Bedürfnis. Er geht hinter das Haus. Dort hat der Vater eine tiefe Grube ausgehoben und ein Brett darüber angebracht. Einmal im Jahr muss man die Grube leeren und alles auf den Misthaufen schaffen. Eine solche Grube ist schon fast Luxus. Die meisten Bauern begnügen sich damit, den Misthaufen direkt für ihre Notdurft anzusteuern. Manchmal hört man auf dem Dorf auch Gerüchte, wie es in solchen Dingen in Schlössern und Burgen zugeht. Dort soll es eigens Diener geben, die den Unrat der Herrschaft wegschaffen müssen. Unglaublich! Ein durchreisender Händler erzählte einmal, dass in den Städten die Exkremente aus dem Fenster auf die Straße geschüttet werden und es daher überall unglaublich stinkt. Dann doch lieber auf dem Land wohnen!

    Langsam wird es dunkel. Da die Bauern früh aufstehen, begeben sie auch mit Eintritt der Dunkelheit zur Ruhe. Mutter Irmel sitzt aber manchmal noch gerne mit der Familie zusammen, wenn es dunkel ist. Es sei so gemütlich, sagt sie. Die Großeltern sitzen immer still dabei. Sie sind froh, dass sie ihren Lebensabend in dieser Familie verbringen dürfen und dass man sich um sie sorgt. Es sind Irmels Eltern, die Eltern von Hanss sind schon lange tot. Wirklich alt wird man als leibeigener Bauer nicht. Das Herdfeuer wird noch ein wenig angefacht bis die Flammen lodern und ihr Schein die Decke erhellt. Hanss zündet zusätzlich eine Fackel an. Dazu hat er selbst Kienspäne angefertigt. Das sind vierkantig oder flach geschnittene Stücke unterschiedlicher Längen aus harzreichem Holz wie Kiefer, Tanne oder Fichte. Diese Kienspäne werden mit Werg umwickelt. Werg wiederum ist ein Faserstoff, der übrig bleibt, wenn Mutter Flachs oder Hanf kämmt. Das Werg wird mit Harz getränkt und angezündet. Das ist eine billige Beleuchtung, die aber einen beißenden und stinkenden Rauch erzeugt. Manchmal kann Hanss auch Tran besorgen, der dann in einer Schale angezündet wird und sehr viel harmloser verbrennt. Man hat gehört, dass es eine neumodische Beleuchtung namens »Kerze« gibt. Niemand im Dorf weiß so recht, was das ist, aber es soll sehr teuer sein. Wohl genau richtig, um ganze Burgen und Schlösser bis in den letzten Winkel zu beleuchten.

    Nun legt sich die Familie zur Ruhe nieder. Erschöpft sind sie alle. Die Mutter vom Haushalt. Anselm von der Feldarbeit und vom Regen. Der Vater von der Feldarbeit und vom Grübeln. Die drei Kleinen vom vielen Spielen. Die beiden Kinder der Schwester von der nachwirkenden Trauer um die Eltern. Und die Großeltern vom Immerälterwerden. Ein neuer, anstrengender Tag wartet.

    Sophie ist wütend. Man mag sich fragen, warum eine Dreizehnjährige so ausrasten kann. Es hilft nichts. Sophie ist wirklich sehr, sehr wütend. Sie stampft mit dem Fuß auf und wirft einen Teller auf den Boden. Der Teller war leer, es war nicht das darauf, was sie sich vorgestellt hatte. Waren doch heute die Reiter ausgeschickt worden, um im Wald das zu jagen, was Sophie so gerne isst: Reh. Unverrichteter Dinge kamen die Reiter zurück. Sie hatten kein Reh gefunden. So eine Unverschämtheit! Was sollte sie jetzt essen? Ekliges Wildschwein? Salzigen Fisch? Glitschiges Huhn? »Deine Reiter sind allesamt unfähig! Ich verlange, dass du sie sofort bestrafst!«, schreit Sophie ihren Vater an. Ägidius von den Buchen verdreht die Augen. Er liebt dieses Kind ja, aber er fühlt sich auch geschlagen von dieser Undankbarkeit. Sophie ist das erste Kind in seiner Ehe. Seiner Frau Clementia erging es nicht anders als vielen Bauersfrauen. Sie starb vor zwei Jahren bei der Geburt des zweiten Kindes, ebenso das Neugeborene, ein Junge. Der Ritter muss nun das schwierige Geschäft der Erziehung allein erledigen. Vielleicht war er immer zu nachsichtig gewesen.

    »Nun beruhige dich doch, Kind. Wir schicken die Reiter morgen noch mal los. Sie werden schon ein Reh finden.« »Morgen, morgen, gestern, vorgestern, übermorgen! Ich will heute Reh essen!«, tobt das

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