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Wintersonne: Für ein kleines Stück von Freiheit
Wintersonne: Für ein kleines Stück von Freiheit
Wintersonne: Für ein kleines Stück von Freiheit
eBook1.025 Seiten12 Stunden

Wintersonne: Für ein kleines Stück von Freiheit

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Über dieses E-Book

Die Stadt Saenda ist Vergangenheit. Vor drei Jahren wurde sie Opfer einer Katastrophe und riss all ihre Bewohner mit sich in den Tod. Der einzige Weg, die Stadt wiederzusehen, führt durch die Augen eines Sehers – Menschen, die andere ihre Erinnerungen erneut durchleben lassen können.

Vain hält nicht viel von Sehern. Aber seine Ankunft in der Stadt Term zwingt ihn zunehmend, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ebenso wie mit den Bewohnern eines Hotels, die in Vain eine Möglichkeit sehen, einer anhaltenden Bedrohung auf den Grund zu gehen. Auch gegen seinen Willen.

Auf der anderen Seite der Bucht genießt Ronan seinen Alltag als arbeitsloser Seher. Doch als sich die Gelegenheit bietet, mehr über Saenda herauszufinden, fordert jemand seine Kräfte ein … und Ronan muss erkennen, dass die Machenschaften in Term auch ihn in ein gefährliches Spiel verwickeln.

Die Wege von Vain und Ronan kreuzen sich. Sie geraten ins Visier jener, die Term ihr Eigen nennen, und schon kurz darauf können sie den Wellen, die Saendas Zerstörung geschlagen hat, nicht mehr entkommen.

Denn Saenda ging im Licht der Wintersonne unter. Derselben Sonne, die bald auch wieder am Himmel über Term stehen wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Dez. 2023
ISBN9783384053039
Wintersonne: Für ein kleines Stück von Freiheit
Autor

Sandra W. Draheim

Sandra W. Draheim, Jahrgang 1996, arbeitet seit ihrer Schulzeit an ihrem schriftstellerischen Lebenswerk. Worte, Sätze und Geschichten füllen jede noch so kleine Lücke in ihrem Alltag, den sie im Süden Bayerns verbringt. Mit ihrer Roman-Reihe »Wintersonne« öffnet sie die Tore zu einer Welt voller Geheimnisse, Rätsel und verborgener Wahrheiten, die die Grenzen der Realität verschwimmen lassen. Ganz nach dem Grundsatz: Jedes Kapitel eine Entdeckung - jeder Satz eine Spur.

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    Buchvorschau

    Wintersonne - Sandra W. Draheim

    Der Seher und der Wintergeborene

    1 - Zu neuen Ufern

    Vain stieß vor Schreck sein Glas vom Tisch, als er die Hand auf seiner Schulter spürte.

    »Oh, tut mir leid!« Die Kellnerin trat peinlich berührt einen Schritt zurück und ging in die Hocke, um das Glas aufzuheben. Bis auf einen Sprung an der Unterseite war es unversehrt.

    »Verzeihung«, setzte sie erneut an, »ich wollte Sie bloß informieren, dass wir in Kürze den Hafen von Term erreichen.« Sie versuchte ein Lächeln und wartete offenbar darauf, dass Vain etwas erwiderte.

    Der starrte sie nur an. Es war eine Herausforderung, sich nicht von ihrer violett schillernden Uniform oder den Kunstblumen in ihrem Haar ablenken zu lassen.

    Er brachte seine Gedanken in eine sinnvolle Reihenfolge.

    Term. Er befand sich auf einem Schiff nach Term.

    »Ist alles in Ordnung?«, fragte die Kellnerin und umklammerte mit beiden Händen das Glas. Unglücklicherweise durchzog der Sprung darin genau das Wappen der Schiffsgesellschaft, das in den Boden eingraviert war. Ein klassischer Anker, darunter zwei Fische.

    »Ich … « Vain zögerte, dann setzte er ein Lächeln auf, von dem er hoffte, dass es ansatzweise höflich wirkte. »Ja, alles gut. Danke.«

    Wenigstens war das Glas leer gewesen.

    »Gut. Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Term.« Die Kellnerin senkte den Kopf und drehte Vain schließlich den Rücken zu, um mitsamt Glas in Richtung Küche zu verschwinden.

    »Angenehmer Aufenthalt, auf jeden Fall«, murmelte er, sobald sie außer Hörweite war. Er stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und rieb sich die Augen.

    Nach insgesamt fünfzehn Stunden, aufgeteilt auf vier verschiedene Schiffe, wunderte es ihn kein bisschen, dass seine Aufmerksamkeit am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen war. Die übertriebenen Wartezeiten zwischen den einzelnen Etappen hatte er aus seinem Gedächtnis gestrichen und im Nachhinein überlegte er, ob eine Schlafkabine doch eine gute Idee gewesen wäre, trotz ihres hohen Preises. Dann hätte er die Zeit nicht in diesem stickigen Aufenthaltsraum verbringen müssen, wo die Decke zu niedrig und die Fenster zu klein waren.

    Aber an Schlaf war nicht zu denken gewesen.

    Vain seufzte, stand auf und griff nach seiner Reisetasche, die er auf dem Stuhl gegenüber gelagert hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass das mittlere Deck des Reiseschiffes nahezu menschenleer war, lediglich ein Paar kämpfte damit, ein protestierendes Kleinkind in einen Kinderwagen zu setzen. Vain runzelte die Stirn. Er hatte nicht bemerkt, dass die anderen Reisenden den Raum längst verlassen hatten.

    Er brauchte frische Luft.

    Vain schulterte seine Tasche und rollte die Zeitschrift zusammen, die er am Anfang der Reise gekauft und inzwischen viermal durchgelesen hatte.

    Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie die jungen Eltern die Köpfe zusammensteckten und zu tuscheln begannen. Wenn er die Blicke in seine Richtung richtig deutete, sprachen sie über ihn.

    Es wäre nicht das erste Mal. Je weiter ihn sein Weg in den Osten der Welt geführt hatte, desto mehr eben solche Blicke waren auf ihn gerichtet worden.

    Vain vermutete stark, dass es an seiner Erscheinung lag. Er mochte weder auffallend groß noch klein sein, aber hier im Osten fiel jeder Mann wie er aus der Reihe, der keinen Wert darauf legte, sich dem Sommer angemessen leicht und farbenfroh zu kleiden. Er hatte zwar vor Antritt seiner Reise mit dem Gedanken gespielt, sich anzupassen, war letztendlich jedoch zu dem Entschluss gekommen, dass es für die wenigen Tage kaum lohnenswert wäre.

    Zumal allein die Kombination aus seinen hellgrauen Augen und dem schwarzbraunen, schulterlangen Haar nicht der östlichen Norm entsprach. Zusammen mit der schmalen Statur und der nahezu farblosen Haut bot Vain das Bild eines Wintergeborenen, wie er im Buche stand. Und Wintergeborene waren in diesem Teil der Welt selten geworden.

    Vain richtete den Blick auf seine beiden Beobachter, die es auf einmal sehr eilig zu haben schienen, den Raum zu verlassen. Mit einem tiefen Atemzug steckte er seine Zeitschrift in die Tasche und folgte ihnen, wenn auch in einigem Abstand. Der Vater schob den Kinderwagen, die Mutter trug das Kind.

    »Du freust dich auch schon auf den Urlaub, nicht wahr?«, fragte die Mutter gerade ihren Sohn und pflanzte ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Das Kind zeigte keine Reaktion, aber Vain war nicht der Meinung, dass es glücklich wirkte. Ebenso wenig wie der übermüdet aussehende Vater, der gerade zurückblickte.

    Vain folgte der Familie den Gang entlang, während er versuchte, den Blick des Kindes zu ignorieren, das ihn über die Schulter seiner Mutter hinweg anstarrte und unentwegt auf ihre Bluse sabberte.

    Die übrigen Fahrgäste waren nicht schwer zu finden. Sie drängten sich allesamt unweit des Aufenthaltsraumes vor der Tür, durch die sie das Schiff betreten hatten und durch die sie es wieder verlassen würden. Aufgeregtes Stimmengewirr erfüllte die Luft, zusammen mit dem Quietschen von Schuhen auf blank poliertem Boden und dem Kläffen eines Hundes in Taschengröße.

    »Dürfte ich mal?« Vain hatte gerade den Hund beobachtet, als ein kleiner, blonder Mann sich an ihm vorbei zwängte. Ein aufdringlich süßlicher Geruch folgte ihm.

    »So, meine Damen und Herren«, klang die Stimme des Kapitäns aus den Lautsprechern, »wir sind in die Weiße Bucht eingefahren und werden in Kürze den Hafen von Term erreichen. Die Temperaturen vor Ort—«

    Der Rest ging in lauten Rufen unter.

    »Mama, ist das Term?«

    »Sei leise!«

    »Aber ist es das?«

    »Nein, Term liegt rechts von uns! Und jetzt sei still!«

    Doch der Kapitän hatte seine Ansage bereits beendet. Vain störte es nicht, er kannte diese Durchsagen zur Genüge und konnte keine Begeisterung für einen Wetterbericht aufbringen. Sein Blick folgte dem Finger des Mädchens, das den Kapitän übertönt hatte.

    Term lag nördlich der Bucht, die durch die mondsichelförmige Insel gebildet wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite, auf dem südlichen Arm der Sichel, befand sich Pulsa, allen nur bekannt als eine kleinere und weniger schöne Version von Term. Die in diesem Raum großzügigeren Fenster des Schiffes boten im Moment eine mäßig beeindruckende Aussicht auf einen Teil dieser zweiten Stadt. Die Silhouetten ihrer Häuser waren nur schemenhaft zwischen den unzähligen Bäumen zu erkennen, und selbst das Grün wirkte grau unter dem Himmel. Die Umrisse verschmolzen mit den Bergen, an die sich die Häuser am Stadtrand schmiegten.

    Eine Stadt im Schatten. Für den Großteil des Tages konnte kein Sonnenlicht die Bergkette überwinden. Völlig egal, welche der beiden Sonnen es versuchte.

    Das Reiseschiff überholte einen Fischkutter und drehte nach Norden ab, bis Pulsa aus Vains Blickfeld verschwunden war. Gleich würde er Pulsas schöne Schwester sehen. Term, das traumhafte Urlaubsziel, die Stadt, in der immer die Sonne schien und in der jeder ein zufriedenes Leben führen konnte.

    Draußen begann es zu regnen. Die Tropfen klatschten mit zunehmender Intensität auf das Schiff und rannen in Strömen die Scheiben hinunter. Vain konnte die Enttäuschung der anderen Gäste deutlich in ihren Gesichtern lesen. Ihre Erwartungen waren zu hoch.

    Der Anblick von Term begeisterte die Allgemeinheit allerdings auch im verregneten Zustand. Zuerst erschienen ein paar einzeln stehende Gebäude nah am Ufer, dann eine Promenade und schließlich die klassischen, eng aneinandergereihten Häuser aus sandfarbenem Stein. Die ungleichmäßig geneigten Dächer, Türmchen und Schornsteine gaben jedem Haus eine einzigartige Erscheinung, trotz ihrer ähnlichen Bauart.

    Es fiel Vain schwer, die Stadt nicht als schön zu bezeichnen.

    Ein Ruck durchfuhr das Schiff, als sie anlegten, gefolgt von überraschten Rufen vereinzelter Gäste. Vain fasste seine Tasche fester und sah zu, wie zwei an Land bereitstehende Angestellte die Taue auffingen, die ihnen vom Schiff aus zugeworfen wurden. Der Kapitän dankte über Lautsprecher seinen Fahrgästen, dann schwang die Glastür auf und die Leute drängelten nach draußen.

    Vain hielt sich im Hintergrund, bis er nicht mehr Gefahr lief, von übermütigen Urlaubern und ihren Kindern und Hunden zerdrückt zu werden. Es kam ihm wie eine geschlagene Stunde vor, aber endlich hatte er wieder den Boden einer Insel unter den Füßen und frischen Wind im Gesicht. Auf den Regen war er nicht vorbereitet und schon nach wenigen Augenblicken klebten seine Haare nass und schwer auf seiner Stirn. Er hoffte, dass seine Tasche wasserdicht war.

    Vain strich mit der freien Hand ein paar dunkle Strähnen aus seinem Gesicht und folgte der Menge bis zu den Einreiseschaltern, wo sich bereits Schlangen klagender Menschen gebildet hatten.

    »Warum muss es gerade jetzt regnen?«, hörte er hier und da.

    Eine durchaus berechtigte Frage.

    Vain reihte sich ein und machte sich auf eine lange Wartezeit gefasst, während er seinen Blick über die Stadt schweifen ließ und der belanglosen Diskussion einer Reisegruppe in seiner Nähe zuhörte.

    Term erstreckte sich ebenso wie Pulsa einen Hang hinauf. Die hintersten Viertel der Stadt grenzten bereits an einen Ausläufer des Bergmassivs, das den westlichen Teil der Insel prägte. Das Meer aus Dächern und spiegelnden Fenstern reichte bis an den Stadtrand, lediglich unterbrochen durch Straßen, Plätze oder Kanäle, wovon Term eine beachtliche Anzahl besaß. Dementsprechend hatte die Stadt viel Geld in Brücken investieren müssen, um dem durchschnittlich faulen Urlauber die Fortbewegung zu erleichtern.

    Vain versuchte, sich an die genaue Anzahl dieser Brücken zu erinnern, die der Kapitän des Reiseschiffes am Anfang ihrer Fahrt erwähnt hatte. Er wusste es nicht mehr.

    »Der Nächste.«

    Die Schlange bewegte sich gemächlich vorwärts. Vain tastete nach dem Stoff seiner Tasche, war aber nicht sicher, ob die Nässe bereits bis nach innen gedrungen war.

    Er musste nicht so lange warten, wie er befürchtet hatte. Der dickliche Mann am Schalter winkte ihn heran und nahm einen Schluck aus einem Plastikbecher, ehe er Vain ansprach. »Name?«

    Vain stellte seine Tasche auf ein möglichst trockenes Stück Boden und überreichte seinen Pass. Der Angestellte wischte mit der Hand über seinen Mund, wo Reste des Getränks zurückgeblieben waren, und griff mit derselben Hand nach dem Dokument. Vain verzog keine Miene.

    »Mister Neveress«, fuhr der Mann fort und schrieb etwas auf seinen Block. »Willkommen in Term. Der Grund für Ihren Besuch, bitte?« Er nieste und ließ den Stift fallen, um sich die Hand vorzuhalten.

    »Familienbesuch.« Vain sah zu, wie sein Pass einen Stempel auf Seite fünf erhielt.

    »Wie lange werden Sie bleiben?«, fragte der Mann weiter und genehmigte sich einen weiteren Schluck aus seinem Becher.

    »Nur bis morgen.« Vain nahm seinen Pass wieder entgegen. Der Mann überflog seine Liste und machte eine Notiz ziemlich weit unten.

    »Sie haben ein Zimmer für die Nacht gebucht?«, fragte er und hob die Brauen.

    Vain schüttelte den Kopf. »Dafür hat die Zeit nicht gereicht. Ich werde schon etwas finden.«

    Der Angestellte tarnte sein Seufzen wenig erfolgreich als tiefen Atemzug. »Ich kann Sie einem Hotel zuweisen, wenn Sie das möchten. Wie viel würden Sie zahlen?«

    Es musste ein Versuch sein, ihm ein besonders teures Haus zu empfehlen.

    »Sechzig?«, sagte Vain schließlich, nachdem er die Währung umgerechnet hatte. Der Mann am Schalter machte ein überraschtes Gesicht und senkte den Blick wieder auf eines seiner Papiere. Vain überlegte spontan, ob er sich beim Rechnen vertan hatte.

    »Melden Sie sich im Hallya-Hotel, das größere der beiden Gebäude«, sagte der Angestellte, bevor Vain nachrechnen konnte, und schob ihm eine kleine, quadratische Karte zu: die Visitenkarte eines Hotels. »Viel Spaß.« Er winkte die nächsten Gäste in der Reihe heran.

    Vain griff nach der Karte und schenkte dem Angestellten ein gequältes Lächeln, doch der hatte sich längst wieder seinem Getränk zugewandt.

    Vain senkte den Blick.

    Sesha sollte zu schätzen wissen, was er ihretwegen auf sich nahm.

    Das Hallya-Hotel befand sich in unmittelbarer Nähe des Hafens und wäre auch ohne Zuhilfenahme der Visitenkarte nicht zu verfehlen gewesen. Es bestand aus zwei Gebäuden mit weit überstehenden Balkonen und einem großzügig begrünten Platz, vollendet mit einem Brunnen und der Statue eines Fisches in seiner Mitte. Besonders hier im Osten der Welt zeigte ein Gebäude den Wohlstand seines Eigentümers durch aufwändig gestaltete Holztüren und verzierte Fensterrahmen, wovon dieses Haus eine beachtliche Menge besaß.

    Vain war ehrlich überrascht, dass man ihn diesem offenbar edlen Hotel zugewiesen hatte, obwohl er nur eine Nacht bleiben würde. Normalerweise gab es für spontane Gäste ohne Hotelreservierung kaum mehr als ein Bett in einer Pension.

    Er hatte sich definitiv verrechnet, was das Geld anging. Aber das war ein Problem für später.

    Das Foyer im größeren der beiden Gebäude stand seiner äußeren Erscheinung in nichts nach. Sogar die Statue des Fisches war in kleinerer Ausgabe an verschiedenen Stellen zu sehen. Der Boden glänzte im Licht des mächtigen Kronleuchters, und etwas roch stark nach Honig.

    Möglicherweise hätte Sesha Freude an solch einer Fischfigur.

    Vain war noch dabei, sich einen Überblick zu verschaffen, als er ein Hüsteln vernahm.

    »Ja?« Er entdeckte den Empfangstisch, hinter dem eine schlanke junge Frau mit aufwändiger Hochsteckfrisur saß. Sie hatte ein dünnlippiges Lächeln aufgesetzt und hielt es zweifellos für unschicklich, dass er den Raum begaffte wie ein Kind den ersten Freizeitpark, den es besuchte.

    Vain machte sich auf den Weg zum Empfangstisch und war sich der nassen Fußabdrücke, die er auf dem Steinboden hinterließ, unangenehm bewusst. Er kam sich in dieser Umgebung mehr als fehl am Platz vor, durchnässt wie er war, und beim Anblick der gut gekleideten Frau kam in seinem Kopf plötzlich die Frage auf, ob das Hotel von seinen Gästen erwartete, in Anzug und geputzten Schuhen zu erscheinen. Vain könnte weder das eine noch das andere bieten.

    Er legte seinen Pass und die Karte des Hotels auf den Tisch.

    »Neveress, Vain. Ein Zimmer für eine Nacht. Bitte«, fügte er schnell hinzu. Sie sollte ihn wenigstens nicht für so unkultiviert halten, wie er äußerlich auf sie wirken musste.

    »Sofort«, sagte die Frau mit hoher Stimme und durchkämmte den Inhalt einer ihrer Mappen mit flinken Fingern. Es war still in dem menschenleeren Foyer, nur das Geräusch des Regens drang durch die offene Flügeltür nach innen.

    »Vierter Stock«, sagte sie schließlich, »Zimmer sechs. Den Schlüssel bekommen Sie im Zwischengeschoss. Abendessen gibt es ab sechs Uhr, Frühstück morgens ab sieben Uhr. Bezahlung bei Abreise.«

    Sie schob ihm ein Formular zu, das er überflog und unterschrieb.

    »Danke.« Abermals steckte Vain seinen Pass weg. Er erhielt den Durchdruck des Formulars und machte sich auf den Weg ins Zwischengeschoss, wobei er darauf achtete, nicht zwei Stufen der Treppe auf einmal zu nehmen. Den Blick der Empfangsdame spürte er noch im Nacken.

    Der ältere Herr im Zwischengeschoss schreckte aus seinem Nickerchen, als Vain ihn ansprach, kramte einen Schlüssel aus den Tiefen eines Schranks hervor und bestand darauf, Vain die Tasche abzunehmen. Vain zweifelte, ob der Mann überhaupt noch etwas tragen sollte, denn im vierten Stock glich seine Atmung eher einem pfeifenden Keuchen. Aber er ließ sich nicht abwimmeln, bis sie die richtige Tür erreichten, wo er Vain den Schlüssel und die Tasche übergab.

    »Wenn Sie etwas brauchen«, röchelte er, »lassen Sie es mich wissen.« Vain nahm sich fest vor, das nicht zu tun.

    Er sperrte sein Zimmer auf, einen Raum von schlichter Eleganz, warf die Tasche achtlos aufs Bett und begann, darin zu wühlen. Glücklicherweise waren die Sachen trocken geblieben. Er wechselte Hemd und Hose, ehe er den Schlüssel in der Hosentasche verschwinden ließ und einen Blick in seinen Geldbeutel warf. In Term hatten sich geschliffene Muscheln als Währung durchgesetzt, aber Vain ging davon aus, dass auch die für den Westen der Welt typischen Bronzemünzen akzeptiert werden würden. Es war kaum notwendig, für seinen kurzen Aufenthalt etwas umzutauschen.

    Vain packte das Geld ein und trat wieder auf den Gang. Zurück im Zwischengeschoss hielt er doch noch einmal bei dem alten Mann inne und fragte ihn nach einem Regenschirm, woraufhin er tatsächlich ein nagelneues, rundes Exemplar in grau ausgehändigt bekam.

    Ein Schritt weiter. Immer nach vorn.

    Auf der Treppe hinunter ins Foyer bohrte sich Unbehagen in sein Inneres. Es hatte lange auf sich warten lassen.

    Vain biss die Zähne zusammen und lockerte seine Hand um den Regenschirm, durchquerte das Foyer, wo eine Putzfrau gerade dabei war, den Boden zu wischen, und ließ das edle Innere des Hallya-Hotels hinter sich. Er spannte den Schirm auf.

    Selbst durch den Nebel, der über der Bucht hing, waren die Lichter von Pulsa gut zu erkennen. Vain ließ die Aussicht vom Hafen aus auf sich wirken. Es kam ihm vor, als würden ihm alle Leute im Vorbeigehen böse Blicke zuwerfen, obwohl er darauf achtete, niemandem im Weg zu stehen.

    Vermutlich war es Einbildung. Es wäre nicht das erste Mal.

    Er bemühte sich um eine entspannte Haltung und nicht zu große Schritte, als er dem Hafen den Rücken zukehrte und sich zu den Menschen auf der ersten breiten Straße Richtung Innenstadt gesellte. Das Wetter machte den Leuten offenbar doch wenig aus, die Läden waren gut besucht und an diversen Cafés wartete ebenfalls eine ordentliche Menge Kundschaft. Für den Bruchteil einer Sekunde kam Vain die Idee, dass er Sesha etwas mitbringen könnte, aber den Gedanken ließ er auf der Stelle fallen. Sie würde von seinem Besuch nicht einmal etwas mitbekommen.

    Vain stieß die Luft aus und beschleunigte seine Schritte, nun doch sehr erpicht darauf, den Besuch so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sein Herzschlag stieg stetig an, und das Gefühl, kurz vor einem Schweißausbruch zu stehen, war wenig hilfreich.

    Je früher er wieder auf dem Rückweg war, desto eher würde es ihm besser gehen.

    Selbst, wenn er Sesha zurückließ. Verletzt. Allein. Ob sie in dieser Stadt Freunde—

    Die Türen eines Geschäfts neben ihm flogen auf. Ein Mann und eine Frau kamen herausgeeilt, um Vain den Weg zu versperren.

    »Guten Tag, Mister!«, rief die Frau mit übertriebener Fröhlichkeit, während der Mann sogar den Hut vor ihm zog. Die Leute in der unmittelbaren Umgebung starrten sie an.

    Und Vains Herz setzte einen Schlag aus.

    »Haben Sie Interesse daran, Ihre schönsten Erinnerungen noch einmal zu erleben?«, fragte der Mann und machte eine ausladende Handbewegung. Vain machte schon den Mund auf, um ihn abzuweisen, kam aber nicht dazu.

    »Meine Frau«, sagte der Mann und legte den Arm in einer besitzergreifenden Geste um ihre Schultern, »ist eine unglaublich talentierte Seherin, da bleiben keine Wünsche offen. Was sagen Sie?«

    Vain spürte die Blicke aller umstehenden Leute auf sich ruhen. Entspannend war es nicht.

    »Nein, vielen Dank«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln und setzte sich wieder in Bewegung. Zu seinem Unmut konnte er die Seherin und ihren Mann nicht so einfach abschütteln.

    Das war einer der Gründe, weshalb er Urlaubsorte mied. Es kam ihm vor, als hätten diese beiden nur darauf gewartet, jemandem ihre Dienste anzubieten – insbesondere jemandem, der nicht verbarg, ein Wintergeborener zu sein.

    »Es gibt bestimmt etwas, das Sie gerne noch einmal erleben würden«, sagte die Frau. Es konnte unmöglich normal sein, dass ihr Lächeln so verklärt wirkte. Ihre Pupillen verkleinerten sich in den wässrigen Augen. Vain brach den Blickkontakt ab.

    »Ich habe es eilig«, betonte er und heftete den Blick auf das Ende der Straße. Etwas schnürte ihm die Kehle zu.

    »Heutzutage haben es alle so eilig«, sprach wieder der Mann, der auf seiner anderen Seite mit ihm mitzuhalten versuchte. »Die Leute müssen lernen, ihr Inneres zu entspannen und nicht nur im hektischen Alltag zu leben!«

    Vain schloss frustriert die Augen. Term war ein großartiger Ort für Wahrsager, Scharlatane und sommergeborene Seher, hier konnten sie ihre Fähigkeiten nach Lust und Laune ausleben und verkaufen. Interessierte gab es genug. Zum großen Pech dieses Paares gehörte Vain nicht dazu.

    »Hören Sie«, sagte Vain. »Ich bin hier, um meine Cousine im Krankenhaus zu besuchen, und nicht, um mich zu entspannen.« Er rang sich ein Lächeln ab und nutzte die Sprachlosigkeit seiner Verfolger, um über die nächste Brücke zu flüchten. Sie folgten ihm nicht.

    Vain verbannte die Begegnung aus seinem Gedächtnis. Es brachte selten etwas Gutes, Blickkontakt zu einem Seher aufzubauen.

    Es hatte aufgehört zu regnen. Vain klappte seinen Schirm zusammen und überquerte noch vier weitere Brücken über verschiedene Kanäle, auf denen Boote mit staunenden Urlaubern auf und ab fuhren. Hinter einer Abzweigung geriet er in eine Sackgasse, die ihre Existenz mit einem Schild rechtfertigte, das den Abriss einer Brücke erklärte. Dem weiteren Text zufolge würde hier in naher Zukunft eine Haltestelle für eine Straßenbahn errichtet werden. Das Kanalbett war bereits trockengelegt, doch von Schienen fehlte bislang jede Spur.

    Vain schlug einen anderen Weg ein, folgte der künftigen Bahnstrecke ein Stück nach Norden und fand sich schließlich auf dem Marktplatz von Term wieder, wo es von Menschen nur so wimmelte.

    Alt und Jung, Groß und Klein.

    Vain überquerte den Platz und drehte sich ein paar Male um die eigene Achse. Reich verzierte, eiserne Laternen, die auch tagsüber leuchteten, schmückten die Umgebung rundherum, und selbst außerhalb der üblichen Marktzeiten präsentierten Stände verschiedenster Art ihre Waren.

    Aber es war der Tempel in der Mitte, der Vains Aufmerksamkeit einholte. Er überragte die umliegenden Häuser um bestimmt das Doppelte ihrer Höhe und war damit das höchste Bauwerk in Term. Es basierte auf einer achteckigen Grundform, um der Kontur eines Kreises nahezukommen, und bestand aus fünf aufeinandergestapelten Elementen, die sich nach oben hin verjüngten. Ähnlich einer nördlichen Pagode formte es eine Leiter zum Himmel, gekrönt von einer schillernd weißen Kugel auf der höchsten Spitze.

    Eine eigene kleine Sonne, die das Tageslicht einfing.

    Vain seufzte innerlich und verließ den Platz. Er verstand nicht, was Sesha ausgerechnet in dieser Stadt gefunden hatte. An einem anderen Ort wäre ihr womöglich nichts passiert.

    Er verlor seine Gedanken im Auf und Ab von Eindrücken, Geräuschen und Gerüchen. Er hatte sich den Weg zum Krankenhaus im Voraus eingeprägt, um zwischen Häusern, Plätzen und Brücken die Orientierung zu behalten, doch die Straßenschilder wären ausreichend gewesen. Und nachdem Vain zwei weitere Plätze passiert hatte, kam endlich das Ziel in Sicht.

    Diese Mischung aus Erleichterung und nervöser Erwartung, die Vain augenblicklich durchströmte, war etwas, auf das er gut verzichten konnte. Schnell hatte er den Haupteingang des Krankenhauses erreicht und die Glastür des Gemäuers aufgeschoben, wobei er zu seinem Unmut bemerkte, dass er das Zittern seiner Hände kaum unter Kontrolle halten konnte. Er hängte den Regenschirm in die Garderobe, steckte die Hände tief in seine Jackentaschen und blieb vor dem Pult unweit der Eingangstür stehen. Die Frau dahinter rückte ihre Brille zurecht und lächelte gutmütig.

    »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mit einer Stimme, die klang, als würde sie unter den Nachwirkungen einer Erkältung leiden. Ihre Kleidung hatte dieselbe grüne Farbe wie die fleischigen Blätter der Topfpflanze auf dem Pult.

    Vain erwiderte ihr Lächeln.

    »Neveress, Vain. Ich möchte Sesha Astaiden besuchen.«

    2 - Das zweite Hotel

    Die Tür zu Seshas Zimmer klemmte. Vain musste einiges an Kraft aufbringen, um sie zu bewegen, und er stellte sich unwillkürlich vor, wie viel Zeit in einem Notfall dadurch verloren gehen könnte.

    Nein. Sesha konnte hier nichts passieren. Und viel schlimmer konnte es sie momentan ohnehin nicht treffen.

    Langsam betrat Vain das Zimmer. Es war kühl, das Fenster an der hinteren Wand stand einen Spalt offen und ließ eine leichte Brise herein. Vain war dankbar dafür, denn der sterile Geruch des Raumes bereitete ihm Kopfschmerzen. Auch der Raumerfrischer auf der Fensterbank verfehlte seine Wirkung, mehr als ein Hauch von Minze war nicht wahrnehmbar.

    Vain fasste sich ein Herz und trat näher an das Bett heran. Er hatte sich das Wiedersehen mit Sesha anders ausgemalt, aber besonders ein Gefühl lag schwer und unnachgiebig auf seine Schultern: Wut. Nicht auf Sesha, und auch nur ein bisschen auf ihre Situation, sondern vor allem auf sich selbst. Denn sein letztes Treffen mit seiner Cousine über zwei Jahre zurück, und das war Vains Schuld.

    »Was hast du nur gemacht«, murmelte er und starrte auf Seshas schlafenden Körper herab. Sesha, mit der er aufgewachsen und zur Schule gegangen war. Sesha, die ihn verteidigt hatte, als sein Klassenlehrer der Meinung gewesen war, dass Vains schlechte Zensuren darauf zurückzuführen seien, dass er ein Wintergeborener war.

    Vain biss sich auf die Unterlippe, die Augenbrauen fest zusammengezogen, und blendete die Geräte aus, die am Kopfende des Bettes aufgereiht waren. Ebenso die Töne, die sie von sich gaben. Das Piepen, das regelmäßige Zischen, von Zeit zu Zeit ein Klicken. Nur den Anblick des Schlauches, der in Seshas Mund verschwand, konnte er unmöglich ignorieren.

    Sesha war blass. Das lange, blonde Haar war heller, als Vain es in Erinnerung hatte, vielleicht hatte es in letzter Zeit viel Sonne abbekommen. Doch die kleinen Lachfältchen um ihre Augen waren unverändert, blieben auch bei diesem vollkommen regungslosen Gesichtsausdruck sichtbar.

    Unter dem Kragen von Seshas farbloser Krankenhauskluft ragten die Ansätze eines Verbandes hervor, der sich über ihre Schulter fortsetzte und am Rücken wieder unter dem Stoff verschwand. Vain versuchte, nicht daran zu denken, wie weit er reichen mochte. Wie schwer verletzt Sesha wirklich war.

    Ein Geräusch ertönte hinter ihm und befreite Vain von den Bildern in seinem Kopf. Jemand versuchte, die Klinke hinunterzudrücken und die protestierende Tür zu öffnen.

    Es war nicht abwegig, dass Sesha auch andere Besucher hatte, und trotzdem traf es Vain unvorbereitet. Er war nicht begeistert von Gesellschaft, geschweige denn von der drohenden Gefahr, der er sich gegenübersehen würde, müsste er erklären, wer er war. Er zog in Erwägung, seinen Besuch kürzer ausfallen zu lassen als geplant. Immerhin könnte er am folgenden Tag noch einmal nach Sesha sehen, bevor er Term wieder verließ. Sie war nicht bei Bewusstsein, es machte keinen Unterschied, ob Vain den einen oder den anderen Tag bei ihr war.

    Doch es war lediglich ein Pfleger, der das Zimmer betrat. Er trug die gleiche grüne Uniform wie die Frau im Eingangsbereich, auch wenn sie viel zu groß an seinem schmächtigen Körper wirkte. Er war bestimmt einen halben Kopf kleiner als Vain.

    »Ich hoffe, ich störe nicht«, sprach er Vain durch seinen Mundschutz hindurch an und machte sich daran, das Fenster zu schließen.

    Vain schüttelte den Kopf und sah zu, wie der Pfleger einen mit dunkler Flüssigkeit gefüllten Beutel am Kopfende des Bettes anbrachte. Seine Vorstellungskraft begann unweigerlich, ihm negative Szenarien zu präsentieren. Er verschränkte die Arme vor der Brust und holte tief Luft, ehe er sich an den Pfleger wandte.

    »Können Sie mir sagen, wie es aussieht?«, fragte er. Der Pfleger musterte Vain von oben bis unten, als würde er abwägen, welche Informationen er ihm guten Gewissens anvertrauen konnte.

    »Ihr Unfall war vor zwei Wochen«, berichtete er nach einigem Zögern und nahm wieder Blickkontakt auf. »Sie wurde in diesem Zustand eingeliefert und hat bisher keine Anzeichen gezeigt, aufzuwachen.«

    Das war nicht das, was Vain sich von der Antwort erhofft hatte. »Und was ist das?«, fragte er, um sich abzulenken, und nickte in Richtung des Beutels.

    »Das …« Der Pfleger fischte ein Stück Papier aus seinem Kittel und drehte es in der Hand, bevor er Vain entschuldigend ansah. »Es tut mir leid, ich sollte es nur aufhängen.« Das beruhigte Vain kein bisschen. Er wollte Seshas Leben nicht in die Hände eines verplanten Auszubildenden legen.

    »Aber ich weiß, dass es gegen innere Blutungen helfen soll«, fügte dieser eilig hinzu.

    Innere Blutungen. Vain wurde schlecht. »Danke.« Er wünschte fast, er hätte nicht gefragt.

    Vain wurde zunehmend unsicherer, ob er sich länger in diesem Raum aufhalten wollte als nötig. Er hatte Sesha einen Besuch abgestattet, seine Pflicht war erfüllt. Für Schuldgefühle würde er auf der Rückreise noch ausreichend Zeit haben.

    Der Pfleger verrichtete schweigend seine Arbeit, während Vain ihn beobachtete. Das Klicken und Piepen brannte sich in sein Gedächtnis, bis er überzeugt war, den Nachhall in seinem Kopf fühlen zu können.

    Er schnitt den Gedanken ab.

    »Kann man sagen, ob sie überhaupt aufwachen wird?«, fragte er.

    Der Pfleger hielt in der Bewegung inne und hob die Schultern. »Möglich ist es. Dennoch ist unklar, wann das der Fall sein wird.« Er runzelte die Stirn, sein Blick blieb freundlich. »Sind Sie ein Freund von ihr?«

    »Ihr Cousin.« Vain sah weg. Er wünschte, das Fenster würde noch offenstehen, die Luft war mit einem Mal schwer und stickig geworden. Der sanfte Geruch nach Minze vernebelte seine Sinne, doch das konnte unmöglich der einzige Grund dafür sein.

    »Wie schön!«, rief der Pfleger plötzlich aus. »Noch ein Cousin, der Miss Astaiden besuchen kommt!«

    »… noch einer?« Vain hatte das Gefühl, dass sein Denken verspätet einsetzte.

    »Aber ja«, bekam er als Antwort. »Sie scheinen eine sehr fürsorgliche Familie zu sein.«

    »Ist das so.«

    Der Pfleger nickte eifrig. »Dann wussten Sie gar nicht, dass noch jemand aus Ihrer Familie hier ist? Wenn Sie noch eine Weile warten, könnten Sie sich treffen. Er kommt oft hierher, es könnte einen Versuch wert sein.«

    Die Geräusche schienen anzuschwellen.

    »Wer?«, fragte Vain verhalten.

    »Wenn ich seinen Namen bloß wüsste«, sagte der Pfleger. Er hielt seine Hand ein gutes Stück über seinen eigenen Kopf. »Er ist etwa so groß. Blonde Haare, etwas breiter als Sie.« Er ließ die Hand wieder sinken. »Hilft Ihnen das?«

    Vain hatte prompt das richtige Gesicht vor Augen. Nur eine einzige männliche Person in seiner Familie war überhaupt blond.

    Dennoch schüttelte er den Kopf.

    »Sehr bedauerlich«, seufzte der Pfleger und ging weiter seiner Arbeit nach.

    Vain richtete seinen Fokus derweil auf seine unmittelbar bevorstehende Flucht. Er sah noch einmal auf Sesha herab, auf ihr helles Haar, das denselben Farbton hatte wie das des Mannes, den der Pfleger soeben beschrieben hatte.

    Vain kannte seinen Namen genau.

    Sanseer war hier.

    Noch jemand, mit dem Vain seine Kindheit geteilt hatte. Allerdings auch jemand, der nie von dem Standpunkt abzubringen gewesen war, dass Wintergeborene schwächer waren. Körperlich und geistig.

    »Ich sollte gehen«, brachte Vain hervor, schenkte dem verwunderten Pfleger einen letzten Blick und machte auf dem Absatz kehrt. Er spürte die Präsenz des Mannes in seinem Rücken, wusste, dass das steigende Gefühl, nicht atmen zu können, einzig und allein aus seinem eigenen Inneren kam, aber er kam immer weniger dagegen an. Weniger. Weniger.

    Sanseer war hier. Die Vorstellung allein nahm Vain die Fähigkeit, klar denken zu können. So sehr, dass er Sesha zurückließ. Er sollte sie nicht zurücklassen.

    Die Türen des grellen Ganges flogen an ihm vorbei, während er sich auf den Rückweg zur Eingangshalle machte.

    Es war ein Fehler gewesen, nach Term zu kommen.

    Bis jetzt hatte er es durch reine Willenskraft geschafft, seine Nervosität in Schach zu halten, aber er vergaß zunehmend, wie das funktionierte.

    Er bog um die Ecke und zuckte zurück, als ihm eine Person entgegenkam.

    Eine Ärztin. Kein Sanseer.

    Trotzdem blieb die Erleichterung aus.

    Vain verstand es nicht.

    Er ließ die Abteilung für Knochenbrüche links liegen und schlug den nächsten Weg zum Ausgang ein.

    »—sollten wir andere Möglichkeiten in Betracht ziehen«, ertönte eine Stimme unweit von ihm, hinter der nächsten Ecke.

    Vain blieb abrupt stehen. Wie hörte sich Sanseers Stimme an?

    Schritte näherten sich, kamen in seine Richtung. Er versuchte, sich zu erinnern, wie Sanseers Stimme klang, wie er sprach. Sein Gedächtnis ließ ihn im Stich.

    Er konnte es nicht riskieren. Er drehte um und lief in die entgegengesetzte Richtung, wählte einen seitlichen Korridor, in der Hoffnung, einen anderen Ausgang zu finden.

    Was er vorfand, war eine Sackgasse. Eine Tür, die mit einem Schloss versehen war. Auf Augenhöhe prangte das Symbol einer tiefroten Schneeflocke, das ihn regelrecht zu verhöhnen schien.

    Hier ging es nicht weiter. Der Bereich für Blutfieber-Kranke war nur im Stand der Wintersonne geöffnet.

    »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

    Vain fuhr herum. An der Kreuzung zum Hauptflur war ein Mann in langem, weißem Kittel aufgetaucht.

    »Ich muss falsch abgebogen sein«, brachte Vain hervor. »Eigentlich wollte ich zum Ausgang.«

    Der Arzt betrachtete ihn abschätzig. »Sie können sich an die Wegweiser halten. Sie finden sie an den Wänden.«

    »Ah. Danke.«

    »Keine Ursache.« Der Arzt schenkte ihm einen letzten Blick, ehe er über die Schulter sah. »Wir können weiter, Mister Visaider.« Er verstummte. »Stimmt etwas nicht?«

    Visaider. Vains Magen drehte sich um.

    »Gehen Sie schon vor«, beantwortete eine zweite Stimme die Frage des Arztes. »Mir ist gerade etwas Wichtiges eingefallen.«

    »Wie Sie meinen.« Der Arzt setzte seinen Weg fort.

    Visaider.

    Vain starrte an die Stelle, an der eben noch der Arzt gestanden hatte, bis eine zweite Gestalt hinter der Ecke auftauchte, langsam, bedächtig.

    Er befand sich in einer Sackgasse. Und den Weg voraus versperrte ihm Sanseer Visaider. Sein eigener Bruder.

    Wie hätte Vain auf diese Begegnung vorbereitet sein können, noch dazu am anderen Ende der Welt?

    »Sanseer«, sagte er knapp. Es war des Pechs zu viel. Sanseer konnte nicht hier sein, nicht genau an diesem Tag, in diesem Moment.

    Vain starrte ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der mit großer Wahrscheinlichkeit genau den Schreck widerspiegelte, der ihm den Atem verschlug. Die Gedanken rasten ohne Sinn und Ordnung durch seinen Kopf und sein Körper tat das Einzige, das er für angebracht hielt: Er gab sich einen Ruck und lief los, um den Korridor fluchtartig zu verlassen.

    Vain hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Schob sich an Sanseer vorbei.

    »Warte.« Sanseers Stimme war schon immer laut gewesen und ließ Vain auch jetzt zusammenfahren, und er verkrampfte sich noch mehr, als er eine Hand um seinen Unterarm spürte. Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, nicht zu Sanseer aufzusehen.

    »Du solltest mich besser loslassen«, sagte Vain kalt.

    Der Fußboden hatte eine wirklich eigenwillige Musterung. Grüne und blaue Sprenkel, schwarze Punkte dazwischen, wahllos verteilt auf einer grauen Ebene—

    »Was machst du hier?«, fragte Sanseer, ohne den Griff um Vains Arm zu lockern.

    Vain beschwor sich dazu, Ruhe zu bewahren. Er befreite sich in einer ruckartigen Bewegung, machte dabei jedoch den Fehler, in Sanseers Gesicht zu sehen.

    Der Blick versetzte seinem Herzen einen Stich. Da war etwas in den Augen seines Bruders, das er nur als Enttäuschung bezeichnen konnte. Er hatte Wut erwartet.

    Ein Augenblick verstrich, in dem weder Vain noch Sanseer ein Wort über die Lippen brachten.

    Es verwunderte Vain nicht, dass sie nach zwei Jahren kein Gespräch beginnen konnten.

    Optisch hatte sich sein Bruder kaum verändert. Kräftige Statur, breite Schultern, strenger Gesichtsausdruck. Die blonden Haare trug er nach wie vor in dieser nichtssagenden Frisur, die er schon im Jugendalter bevorzugt hatte, und Vain könnte schwören, dass er auch das graue, kurzärmelige Hemd schon gesehen hatte.

    Aber die Falten auf Sanseers Stirn waren tiefer. Die blauen Augen wirkten dunkler.

    Endlich erlangte Vain das Gefühl in seinen Beinen zurück. Er ließ Sanseer stehen, bog nach links ab und prallte zu allem Überfluss auch noch gegen eine junge, schwarzhaarige Frau, die den Gang entlang ging. Etwas fiel klappernd zu Boden und sie stolperte einen Schritt nach hinten, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Als Vain zu Boden sah, erblickte er einen Gehstock.

    »Tut mir leid«, presste Vain hervor, hob den Stock auf und drückte ihn der Frau in die Hand. Sie blinzelte ihn aus großen, blauen Augen an. Blaue Augen wie die von Sanseer.

    Vain eilte zur Treppe, ohne Sanseer eines weiteren Blickes zu würdigen.

    Was Sanseer in Term tat, war Vain schleierhaft. Er hatte Sesha nie gut leiden können, es ergab keinen Sinn, dass er sie jetzt besuchte, aber in Vains Hinterkopf nisteten sich Zweifel ein. Er konnte unmöglich wissen, wie Sanseer und Sesha zueinanderstanden, nicht mehr. In zwei Jahren konnte viel passiert sein. Möglicherweise hatten sie ihre gegenseitige Abneigung längst hinter sich gelassen und akzeptierten einander, so wie Vain es sich in der Vergangenheit von ihnen gewünscht hatte.

    Der Gedanke war auf eine bösartige Weise lachhaft.

    Sanseer folgte ihm nicht. Die einzigen Schritte, die Vain durch das Treppenhaus hallen hörte, waren seine eigenen. Im Erdgeschoss angekommen warf er einen Blick zurück, um sicherzugehen, und er war tatsächlich allein.

    Es war ein Wunder, das Vain lieber nicht in Frage stellen wollte.

    Er erreichte die Eingangshalle und eilte mit großen Schritten nach draußen. Die verabschiedenden Worte der Frau am Empfang nahm er kaum wahr und auf halbem Weg über den Platz stellte er fest, dass er den Regenschirm des Hallya-Hotels in der Garderobe des Krankenhauses vergessen hatte. Er kehrte nicht um.

    Die Sommersonne suchte sich genau diesen Zeitpunkt aus, um durch die Wolkendecke zu brechen und der Stadt für die letzten Stunden des Tages ein wenig Licht und Wärme zu spenden. So viel wohlwollender als ihr winterlicher Zwilling, der noch für einige Monate hinter dem äußersten Rand der Welt verborgen sein würde.

    Vain hatte nicht das Gefühl, dass das Sonnenlicht gegen die Kälte half, die sich in ihm ausgebreitet hatte. Er hatte längst eine Entscheidung gefällt. Seine Füße trugen ihn wie von selbst durch Terms Straßen, über die Brücken und Plätze, mit einem einzigen, sehr klaren Ziel vor Augen.

    Er würde nicht bis zum nächsten Tag bleiben.

    Das würde ihm sogar die Hotelkosten ersparen.

    Wenn er sich beeilte, wenn er es schaffte, rechtzeitig zum Hotel zu gelangen, seine Sachen zu holen und am Hafen zu sein, könnte er mit ein wenig Glück einen Platz auf dem letzten Schiff des Tages bekommen. Das Problem war, dass er selten Glück hatte.

    Vain hielt dennoch an der Hoffnung fest. Er erreichte den Marktplatz, in dessen Mitte der Tempel seine bunten Glasfenster inzwischen weit geöffnet und so positioniert hatte, dass das Sonnenlicht hindurchfiel und den Boden mit tanzenden Farbflecken schmückte. Für Vain waren die länger werdenden Schatten ein weiterer, äußerst motivierender Grund, sein Tempo weiter zu beschleunigen. Er brauchte dieses Schiff.

    Die Begegnung mit Sanseer hatte ihn mehr aus der Bahn geworfen, als er je für möglich gehalten hätte. Der Blick in den Augen seines Bruders war genau derselbe gewesen wie damals, als sie sich das letzte Mal verabschiedet hatten.

    Vain wählte eine andere Straße als auf dem Hinweg, um dem Seher-Pärchen kein weiteres Mal über den Weg zu laufen, aber auch diese war voll von Urlaubern und Händlern. Vain vermied es, jemandem in die Augen zu sehen, besonders dann, wenn er hörte, wie ein Seher seine Fähigkeiten an den Mann bringen wollte. Niemand sprach ihn an.

    Bis zu seiner Ankunft im Hallya-Hotel war Vain erfolgreich mehreren Händlern ausgewichen. Am Hafen erlaubte er es sich, stehenzubleiben und den Blick suchend über die Bucht schweifen zu lassen, bis er tatsächlich ein Schiff entdeckte, von dem er annahm, dass es das richtige war. Das Schiff, das ihn weit aus Term wegbringen würde. Der Anblick schenkte ihm einen Tropfen Zuversicht.

    Er empfand einen weiteren Anflug von Dankbarkeit, dass das Hallya-Hotel in unmittelbarer Nähe des Hafens lag. Den Platz davor hatte er schnell hinter sich gebracht, ebenso wie das Foyer, wo er die Stimme der Empfangsdame ignorierte, die seinen Namen rief, vermutlich um ihn darauf hinzuweisen, dass er in diesem Haus nicht rennen sollte.

    Vain nahm zwei Stufen jeder Treppe nach oben auf einmal und holte mit zitternder Hand den Schlüssel zu seinem Zimmer hervor. Erst beim vierten Versuch traf er das Schlüsselloch.

    Die Tür schwang geräuschlos auf. Die Sonne war inzwischen so tief gesunken, dass Vain das Licht einschalten musste, um etwas sehen zu können.

    Die letzten Stunden kamen ihm vor wie eine Ewigkeit.

    Das Licht flackerte einmal hell auf und nahm dann einen warmen, goldenen Ton an. Es sollte vermutlich den Eindruck von Geborgenheit vermitteln, aber diese Wirkung prallte an Vain erfolglos ab.

    Etwas fehlte.

    Vain blinzelte.

    Das Zimmer sah aus, als hätte es nie jemand betreten. Und Vains Tasche war verschwunden.

    »Was soll das heißen?«, fragte Vain die Dame im Foyer. Er hatte seine Fassung erstaunlich schnell zurückgewonnen, war aber wieder drauf und dran, sie zu verlieren, nachdem er um eine Erklärung gebeten hatte.

    »Es tut mir sehr leid«, sagte die Frau und hielt seinem stechenden Blick mit Leichtigkeit stand. »Wir können daran nichts ändern. Wir haben Sie verlegen müssen, weil wir das Zimmer für einen spontanen Langzeitgast benötigen. Ihre Sachen wurden bereits abgeholt, erst vor wenigen Minuten.«

    Es kam Vain beinahe unverschämt vor. Er massierte seine Stirn und wandte sich kurz ab, um durchzuatmen. »Und in welches Zimmer?«, fragte er dann.

    Er hatte keine Zeit dafür. Wenn er sein Pech richtig einschätzte, war seine Tasche in das Nachbargebäude gebracht worden, möglichst weit weg von seinem jetzigen Standpunkt, sodass er lächerlich viel Zeit verlor. Er musste rechtzeitig am Hafen sein. Er war diese Art von Stress nicht mehr gewöhnt und sie trieb ihn in den Wahnsinn.

    Die Frau faltete die Hände zusammen, wobei die Ringe an ihren Fingern leise gegeneinanderschlugen. Sie wählte ihre nächsten Worte hörbar mit Bedacht.

    »Leider konnten wir in unserer Anlage kein Zimmer mehr für Sie finden«, sagte sie. »Es wurde entschieden, Sie in einem anderen Hotel unterzubringen. Es ist nicht weit von hier, keine Sorge.«

    Das hatte er nun davon, dass er sich nicht im Voraus um ein Hotel gekümmert hatte.

    Vain nahm die quadratische Karte, die die Frau ihm entgegen schob, und gab ihr seinen Zimmerschlüssel in die ausgestreckte Hand.

    »Sie brauchen nur zehn Minuten«, versuchte sie ihn zu beruhigen und Vain hoffte, dass sie ihn anhand seiner Reaktion nicht für verrückt hielt. Ihm kam der Gedanke, ohne seine Tasche und deren Inhalt abzureisen, allerdings musste er die Idee sofort wieder verwerfen, denn ohne seinen Pass würde ihn niemand auf das Schiff lassen. Und der Pass war in seiner Tasche.

    Das Glück war wie üblich nicht auf seiner Seite. Auch eine Diskussion würde ihm wertvolle Zeit stehlen, also hob er kurz die Mundwinkel und winkte ab, als die Frau zu einer weiteren Entschuldigung ansetzte.

    »Sie können nichts dafür«, sagte er und begutachtete die Visitenkarte seines neuen Hotels. Noch während er sie las, verabschiedete er sich und verließ das Foyer.

    Mittlerweile war die Sonne vollständig hinter dem Horizont verschwunden und zwischen den Wolken wurden die ersten Sterne am Himmel erkennbar. Eiserne Laternen erhellten den Weg in regelmäßigen Abständen.

    Hotel Diago, entnahm Vain der Karte und folgte der Wegbeschreibung auf der Rückseite, während er diesen Besuch, der kurz und einfach hätte sein sollen, zunehmend verfluchte. Er sah wehmütig zum Hafen. Sein Schiff lag noch vor Anker, die Flagge wehte im Wind, und alles in ihm sträubte sich dagegen, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Doch vielleicht schaffte er es trotz aller Umstände noch rechtzeitig.

    Er lief schneller, mit der Absicht, die geschätzten zehn Minuten zu unterbieten, und folgte dem Weg am äußersten Stadtrand bis zum Ende, wo er sich vom Wasser entfernte. Eine dunkle Straße zwängte sich zwischen zwei Häuserreihen. Laut der Wegbeschreibung waren es nur noch ein paar Minuten Fußweg, aber die enge Straße wirkte nicht wie ein geeigneter Ort für ein Besucherhotel.

    Vains Gedanken schweiften ab, als er sich dieses Haus vorzustellen versuchte.

    Er begegnete keiner Menschenseele, was ihm in Anbetracht der Uhrzeit merkwürdig vorkam. Allerdings würde er hier wenigstens keinen weiteren Sehern begegnen müssen.

    Wer auch immer sich um die Instandhaltung des Hafens kümmerte, war nicht für diese Straße zuständig. Putz und Farbe blätterten von den Wänden der dicht an dicht errichteten Gebäude, die sich in Pfützen zwischen gebrochenen Bodensteinen spiegelten.

    Vertrocknete Büsche in farblosen Kübeln.

    Ein kaputter Stuhl am Wegesrand.

    Dunkle Seitengassen, in denen formlose Schatten darauf warteten, den nächsten Passanten in ihre Tiefen zu ziehen.

    Es schien keine interessante Gegend für Besucher zu sein, weswegen die Verwahrlosung wenig Bedeutung für die Stadt hatte.

    Vain fand das richtige Gebäude auf Anhieb. Es schmiegte sich eng zwischen die benachbarten Häuser, mit denen es sich einen kleinen Vorgarten teilte, der in keinem Vergleich zu dem prächtigen Platz vor dem Hallya-Hotel stand. Dieser Garten bestand aus vereinzelten Grasflächen und hüfthohen Büschen, zwischen denen steinerne Statuetten erkennbar waren. Nachbildungen von Schwänen und Raben mit seltsam leeren Augen.

    Ein leises Lachen ließ Vain zusammenzucken, doch es rührte nur von einer Holzbank her, auf der zwei junge Frauen saßen und gedämpft miteinander sprachen.

    Vain wandte sich wieder dem Hotel zu. Es sah gepflegt aus, und das Licht, das hinter den Fenstern brannte, wirkte sogar einladend. Die Scheiben waren geputzt, der Weg war gefegt, und die Efeuranken, die die steinernen Wände emporwuchsen, schienen regelmäßig gestutzt zu werden.

    Es könnte wirklich schlimmer sein.

    Vain rief sich seine Aufgabe ins Gedächtnis, durchschritt den Garten und kam vor dem Haupteingang des Hotels zum Stehen. Das Vordach hatte einen Teil seiner Schindeln verloren, was bei dem sichtlich hohen Alter des Gebäudes kaum ein Wunder war, aber jemand hatte sich offenbar Mühe gegeben, den Eingang dennoch gastfreundlich zu gestalten. Zwei große, gläserne Lichtkugeln flankierten die schlichte Tür und brachten den polierten Klopfer zum Glänzen. Aus dem Augenwinkel entdeckte Vain ein unscheinbares Schildchen, auf dem in sanft glimmenden Lettern der Name Diago geschrieben stand.

    Vains Hand war schon auf halbem Weg zum Klopfer, als ihm die Klingel ins Auge sprang, sodass er sich lieber dafür entschied. Ein heller Ton erklang von drinnen. Fast augenblicklich wurde die Tür geöffnet.

    Der Innenraum ließ den Eindruck des umgebenden Viertels endgültig in Vergessenheit geraten. Die Wände aus rauem, dunklem Stein waren sauber und wiesen kaum Risse auf, der dunkel geflieste Boden musste erst vor kurzem makellos poliert worden sein und die Möbel waren offensichtlich von hoher Qualität. Drei Kronleuchter hingen auf halber Höhe im Raum und erhellten den Empfangsbereich. Vain entdeckte drei weitere Gäste, die die bereitgestellten Sessel in Beschlag genommen hatten und ein Kartenspiel spielten.

    »Sind Sie unser Gast für diese Nacht?«

    Ein hochgewachsener Mann hatte Vain die Tür geöffnet. Er trug eine schwarze, geknöpfte Weste über einem weißen Hemd, an dessen Kragen eine Brille hing. Sein kurz rasiertes, gräuliches Haar ließ ihn älter erscheinen, als er vermutlich war, und der strenge Blick in den hellen Augen machte deutlich, dass er nicht die beste Laune hatte.

    »Ja«, sagte Vain. »Aber ich musste meine Pläne leider kurzfristig ändern. Wenn Sie mich also nur meine Sachen holen lassen würden, wäre ich sehr dankbar. Ich muss noch heute abreisen.«

    Der Mann hob die Augenbrauen, aber das blieb seine einzige Reaktion darauf. Er machte sich auf den Weg zu der Rezeption, die in die Wand links von ihnen eingelassen war, und verschwand für eine Weile dahinter.

    Vain trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, bis der Rezeptionist mit einem sehr großen, sehr alten Schlüssel zurückkam. Ein Muster aus Rost schmückte die abgegriffene Oberfläche.

    »Folgen Sie mir bitte.«

    Vain tat wie ihm geheißen und beschwor seinen Begleiter gedanklich zur Eile, da er das Schiff vor seinem inneren Auge bereits die Bucht verlassen sah.

    Ohne ihn.

    Sie durchquerten das Foyer. Ein Großteil der hinteren Hälfte des Raumes wurde von einer mit braunem Teppich belegten Treppe eingenommen, die sich nach einigen Stufen gabelte und mit jeweils einem Lauf nach links und rechts auf eine Galerie führte, die das Foyer auf halber Höhe umlief. Ein gut gekleideter Mann mit Spitzbart kam gerade die Stufen hinunter.

    Vain hielt sich an den Mann von der Rezeption. Sie folgten der Treppe weiter nach oben, durchquerten einen Flur und gingen eine schmalere Treppe bis ins oberste Stockwerk hinauf. Vain betrachtete am Rande die Gemälde, die an den Wänden befestigt waren, ebenso wie die verschiedensten Arten von Kunst und Dekoration in Wandnischen, auf Schränkchen und an vereinzelten Türen. Sogar ein Aquarium schmückte eine ansonsten kahle Steinwand. Ein Schwarm winziger Fische schwebte knapp über dem Grund im Wasser.

    »Was führt Sie nach Term?«, fragte Vains Begleiter in die Stille hinein und warf ihm über die Schulter einen nachdenklichen Blick zu. Sie hatten die Mitte des Ganges im obersten Geschoss erreicht und machten noch immer nicht Halt.

    Wenn das letzte Zimmer im letzten Stockwerk das Ziel war, wäre Vain endgültig davon überzeugt, von einem bösen Fluch befallen zu sein.

    »Ich habe jemanden aus meiner Familie besucht«, erklärte er.

    Der Mann drehte den Kopf wieder nach vorn. »Ein ziemlich kurzer Besuch«, sagte er.

    Vain hob die Schultern, auch wenn es seinem Begleiter verborgen blieb. »Mir ist etwas dazwischengekommen.«

    Er glaubte, Sanseers Hand um seinen Arm zu spüren. Es war lächerlich. Beim Ausatmen schlich sich der Anflug eines Lächelns auf sein Gesicht, dessen Ursprung er jedoch mehr in nahender Verzweiflung sah als in Belustigung. Er hatte mehr Spaß in der Kantine seiner Schule gehabt, und das sollte etwas heißen.

    Es war nicht das letzte Zimmer des Ganges, sondern das vorletzte, was die Situation nur geringfügig besserte. Vain wartete, bis der wortkarge Mann von der Rezeption die Tür aufgeschlossen und ihn hereingebeten hatte, und er stellte sich alle möglichen Szenarien vor, was noch schiefgehen könnte. Vielleicht war er doch am falschen Ort und seine Sachen waren nicht hier, immerhin war er nicht einmal nach seinem Namen gefragt worden. Sie könnten ihn verwechselt haben. Oder der wahrscheinlichste Fall trat ein und er verpasste das Schiff, würde gerade noch sehen, wie die Taue gelöst würden … Menschen, die einander zum Abschied zuwinkten …

    Vains Blick fiel in das Innere des Zimmers. Sein Begleiter hatte den Lichtschalter bereits betätigt und hielt ihm erwartungsvoll die Tür auf. Am Fußende des Bettes konnte Vain seine Tasche erkennen.

    Er dankte still den Himmeln.

    Vain betrat das Zimmer und steuerte auf das Bett zu, um die Tasche zu holen. Er konnte es noch schaffen, selbst wenn er im beinahe entferntesten Zimmer des Diago-Hotels stand, und sobald er sicher an Bord des Schiffes war, konnte er den heutigen Tag getrost aus seinem Gedächtnis streichen. Das war ein guter Plan. Außerdem war es sicher von Vorteil, früher als geplant zurück zu sein.

    Die Zimmertür fiel leise ins Schloss.

    Vain wühlte in seiner Tasche, bis er seinen Pass gefunden hatte. Erleichterung durchströmte ihn und das Lächeln auf seinen Lippen war zum ersten Mal am heutigen Tag echt.

    Er verstaute den Pass wieder in der Tasche, bevor er sich zum Gehen wandte.

    Der Rezeptionist war noch da. Er stand vor der geschlossenen Tür, die Arme vor der Brust verschränkt und völlig regungslos, die eisblauen Augen starr auf Vain gerichtet. Der musste an sich halten, nicht zurückzuweichen, denn in seinem Inneren wusste er sofort, dass der Mann nicht nur darauf wartete, bis Vain seine Tasche geholt hatte.

    »Was soll das?«, fragte Vain und drehte den Kopf leicht zur Seite, die irritiert verengten Augen auf sein Gegenüber fixiert.

    Der Mann sagte nichts. Er streckte die Hand zur Seite aus, bis sie die Wand berührte.

    Vain ließ die Tasche fallen und wich nun doch zurück.

    Das Licht ging aus.

    3 - Kein Weg zurück

    Vain hatte nicht vor, sich in einem dunklen Hotelzimmer umbringen zu lassen. Selbst wenn in diesem Haus ein Irrer wohnte, der seine Opfer mit den einzigen erleuchteten Fenstern der Straße lockte.

    Kaum vorstellbar, dass niemand davon wusste.

    Er tastete sich an Wand, Tisch und Sessel entlang durch den Raum, die geweiteten Augen auf die Stelle gerichtet, an der er seinen künftigen Mörder vermutete, aber er brauchte zu lange, um sich an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Sein Atem ging flach. Nicht einmal bei seiner Begegnung mit Sanseer hatte er seinen Herzschlag so hart und deutlich in seiner Brust gefühlt. Scheinbar gab es doch schlimmere Dinge.

    Vain erreichte sein Ziel. Seine Hand berührte den schweren Stoff des Vorhangs, der das Fenster an der Wand verdeckte, und er wollte ihn zur Seite ziehen, damit wenigstens ein schwacher Schein des Abendlichts hereinfallen konnte. Aber bevor er dazu kam, erhellte ein gleißender, weißer Strahl den Raum. Vain schloss reflexartig die Augen, zu langsam, denn als er sie wieder öffnete, sah er nichts als verschwommene Flecken von Licht. Panik schlug ihre Klauen in sein Herz.

    Er konnte nichts unternehmen, wenn er nahezu blind war.

    Ein Schritt zur Seite. Vain riss die Vorhänge auf und drückte eine Hand nach hinten an die Glasscheibe. Er starrte ins Nichts und versuchte, seine Atmung leise zu halten, in der Hoffnung, eine Bewegung in seiner Nähe zu hören, und seien es nur Schritte, die in seine Richtung kamen, oder das Rascheln von Stoff.

    Nichts.

    Vain blinzelte, bis er die Umrisse der Möbel in der Dunkelheit ausmachen konnte. Genauso wie den Mann von der Rezeption, der sich keinen Meter bewegt hatte. Zu dem ohnehin schon erheblichen Gefühlschaos in Vains Innerem gesellte sich Verwirrung, die er beim besten Willen nicht mit seiner Panik vereinen konnte. Am Rande sah er, wie der Mann die Hand hob und sie langsam, fast vorsichtig in Richtung Lichtschalter bewegte. Kurz darauf ging der Deckenleuchter wieder an. Licht durchströmte den Raum, offenbarte rot gemusterten Teppichboden und Möbel aus dunklem Holz, reflektierte im Spiegel über dem Tisch. Es blendete Vain, obwohl es nicht besonders hell war, und er brauchte ein paar lange Sekunden, bis er sich daran gewöhnt hatte.

    Seine Aufmerksamkeit fiel auf ein kleines, silbernes Etwas in der Hand seines Gegenübers. Es sah aus wie eine Taschenlampe und es dämmerte Vain schlagartig, dass es die Quelle des Lichtblitzes von eben war.

    »Was ist das?«, brachte er hervor und riss den Blick von dem Gerät los. »Was willst du von mir?«

    Einen Augenblick bekam er keine Antwort. Aber dann öffnete der Mann doch den Mund.

    »Ich musste etwas überprüfen«, sagte er. Keine Emotion.

    »Was denn überprüfen?!«

    Ihre Blicke trafen sich, kaltes Blau bohrte sich in Vains helles Grau.

    Jeder Muskel in Vains Körper stand unter Anspannung. Er würde um einen Weg aus diesem Zimmer kämpfen, wenn es nötig war, und in diesem Moment war es nötig.

    Er kannte solche Blicke.

    Leider schien seine Absicht zu deutlich in seinem Gesicht ablesbar gewesen zu sein, denn der Mann verengte die Augen und kam in großen Schritten auf Vain zu.

    Vain hatte keine Waffe.

    »Denk gar nicht erst dran.« Die Worte drangen unerwartet laut an Vains Ohr. Ein Zittern durchfuhr seinen Körper, bevor er erstarrte.

    »Was willst du von mir?«, fragte er. Sprechen kostete erstaunlich viel Kraft.

    »Ich möchte nur reden.« Der genervte Unterton ließ Vain aufhorchen.

    »Wirklich«, sagte er. »Was sollte das mit dem Licht?«

    »Wie ich bereits sagte, ich musste etwas überprüfen.«

    »Und ich habe gefragt, was es war«, gab Vain zurück. Er vergrub die Furcht. Sperrte sie hinter stählerne Stäbe und warf den Schlüssel weg. »Geh zur Seite. Ich muss ein Schiff bekommen.«

    Der Mann runzelte die Stirn und machte einen Schritt rückwärts, allerdings nur, um Vains Tasche in seinen Besitz zu bringen.

    Vain behielt ihn im Auge. Regungslos.

    »Du kannst alles haben«, sagte er. »Nur den Pass brauche ich.« Er musste all seine Willenskraft in Anspruch nehmen, um an seiner Position stehenzubleiben. Um nicht direkt zu fliehen, auch ohne den Pass. Immerhin trennte ihn nichts mehr von der rettenden Tür. Doch dann säße er in Term fest. Auf die Schnelle würde er keinen neuen Pass bekommen, und in Vains Vorstellung gab es kaum etwas Schlimmeres, als sich bis dahin vor seinem Bruder verstecken zu müssen.

    Vermutlich musste er in einer ruhigen Minute seine Prioritäten gründlich überdenken. Er spürte den rasenden Puls unter seinen Fingern, als er seinen Hals rieb.

    »Warum warst du bei Sesha?«, fragte der Mann.

    Vain wurde kalt. »Wer bist du überhaupt?«, wollte er wissen. »Und was geht es dich an?« Noch nie hatte er es so sehr bereut, seine Familie so lange nicht gesehen zu haben. Würde er den Mann vor sich kennen, wenn der Kontakt zu Sesha nicht abgebrochen wäre?

    »Akeo«, sagte der Mann zu Vains Überraschung, »Dakoda. Jetzt du.«

    »Gib mir den Pass und ich lese es dir vor.«

    Akeo schüttelte den Kopf. »Ich habe Zeit«, sagte er. »Aber ich bezweifle, dass dein Schiff auf dich wartet. Es ist ziemlich spät.«

    Vain verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin Vain. Sesha ist meine Cousine. Reicht das?«

    Akeos Gesichtsausdruck blieb derselbe. »Was wolltest du im Krankenhaus?«

    »Sie besuchen, weil sie vielleicht nie wieder aufwacht?«

    Akeo schloss die Augen und schüttelte erneut den Kopf.

    »Du hast Nerven, hier aufzutauchen«, sagte er.

    »Was soll das heißen?«, fragte Vain. »Natürlich komme ich, wenn man meine Sachen stiehlt.«

    »Nicht hier«, sagte Akeo gereizt. »In Term. Als ob wir nicht schon genug Probleme mit Seshas anderem Cousin hätten.«

    Vain schwieg. Jedes Wort, das auf seiner Zunge lag, zerfiel zu Asche.

    Akeo kannte Sanseer.

    Akeo seufzte tief und fuhr fort.

    »Der, mit dem du im Krankenhaus gesprochen hast. Blonde Haare, graues Hemd?« Er hob die Augenbrauen.

    Akeo musste sie beobachtet haben. Oder möglicherweise hatte er eine Art Spion im Krankenhaus. Langsam festigte sich Vains Verdacht, dass das Hallya-Hotel gar nicht ausgebucht war.

    Er hielt dem Blick stand. »Zu sagen, ich hätte mit ihm gesprochen, ist etwas übertrieben«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.

    »Also bist du wirklich Sanseer Visaiders Bruder«, sprach Akeo weiter. »Sesha hat dich erwähnt. Sie meinte, sie hätte seit Jahren nichts von dir gehört.«

    Vains Verdacht bestätigte sich mehr und mehr.

    »Und?«, fragte er. »Ich weiß nicht, was du von mir willst, oder von Sanseer, aber ich habe damit nichts zu tun. Gib mir den Pass.«

    Akeo öffnete die Tasche, sah hinein und holte das kleine Heftchen hervor. Mit einem kurzen Blick in Vains Richtung klappte er es auf.

    »Neveress. Dein Nachname ist anders als der deines Bruders.«

    Vain hob das Kinn. »Ich bin nicht der Erstgeborene. Neveress ist der Nachname meiner Mutter.«

    Akeo schwieg, während seine Augen weiter über den Pass huschten. Er schien nachzudenken.

    Vain betete, dass das Schiff verspätet abfuhr.

    »Wie können wir Sanseer erreichen?«, fragte Akeo dann.

    Vain lehnte sich betont entspannt gegen die tapezierte Wand, ein Versuch, Akeo zu zeigen, dass er unbeeindruckt von ihm war. Eine Lüge.

    »Weiß ich nicht«, sagte er. »Frag im Krankenhaus nach der Besucherliste, mich hast du doch auch gefunden.«

    »Auf der Liste steht er nicht. Nie.«

    Akeo suchte bereits länger nach Sanseer, so viel stand fest.

    Vain wünschte, er hätte seinen Namen auch nicht in die Liste eingetragen. »Dann frage jedes Haus in Term nach ihm, wenn du ihn so dringend sehen willst«, meinte er. »Ich kann dabei nicht helfen.«

    Akeo ging zum Bett, wo er Vains Tasche abstellte. Das silberne Gerät, das er nach wie vor in der freien Hand gehalten hatte, ließ er in seiner Hosentasche verschwinden. »Ich denke schon«, sagte er.

    Vain lächelte ungläubig und legte den Kopf schief. »Dann denkst du falsch. Außerdem will ich nicht helfen, weil ich auf Sanseer gut verzichten kann.«

    Ebenso wie auf Leute, die mit seiner Angst spielten. Angst, die noch immer in seinen Knochen saß.

    Es war lächerlich.

    Akeo wandte sich ihm wieder zu. Vain hob das Kinn, machte sich bereit, für den Fall, dass Akeo ihm zu nahe kam.

    Nichts passierte.

    »Du würdest nicht helfen wollen?«, fragte Akeo stattdessen.

    »Bestimmt nicht«, sagte Vain.

    »Und wenn ich dir sage, dass Seshas Unfall kein Unfall war?«

    Das brachte Vain tatsächlich ins Stocken, wenn auch nur für einen Augenblick.

    »Nein«, sagte er schließlich. »Weil ich dir zutraue, dass du dir so etwas ausdenken würdest.«

    »Aber sicher bist du dir nicht«, erwiderte Akeo. »Und ich kann dir noch etwas dazu sagen.« Er machte eine Pause. »Es besteht die Möglichkeit, dass Sanseer schuld an Seshas derzeitiger Verfassung ist.«

    Vain lachte leise und schüttelte den Kopf. »Selbst wenn er bei dem Unfall anwesend war, macht ihn das nicht zu einem Verbrecher. Was willst du mit ihm machen, ihn einsperren? Hier vielleicht?«

    »Ich habe Sesha vor zwei Wochen gefunden«, sagte Akeo mit drohendem Unterton. »Ich weiß, dass es kein Unfall war. Wenn auch nur der kleinste Hinweis zu Sanseer führt, gehe ich ihm nach.«

    Vain zögerte. Die Ernsthaftigkeit in Akeos Worten verwirrte ihn, auch wenn er es nicht zulassen wollte. »Sanseer würde Sesha niemals absichtlich schaden«, sagte er. »Warum sollte er sie dann im Krankenhaus besuchen?« In seinem Hinterkopf meldete sich die Erinnerung, dass Sanseer und Sesha nie Freunde gewesen waren. Vain schob den Gedanken in die hinterste Ecke seines Verstandes, auf die unterste Ebene, fest entschlossen, sich nicht davon beeinflussen zu lassen.

    »Wegen dieser Frage haben wir Leute dort«, sagte Akeo. »Würdest du zulassen, dass dein Bruder deiner Cousine etwas antut?«

    Vain verengte die Augen, die böse Erwiderung schon auf der Zunge, aber er hielt sie zurück.

    »Du hast also Leute im Krankenhaus«, sagte er, »und ihr passt auf Sesha auf. Dann wird Sanseer ihr nichts tun können, und sobald Sesha aufgewacht ist, kann sie euch erzählen, was mit ihr passiert ist.« Genau genommen wollte er weder Akeo noch einen seiner Freunde in Seshas Nähe wissen. Nach Akeos Worten wäre es ihm auch lieber, wenn Sanseer sich von ihr fernhalten würde, aber über nichts davon hatte er Kontrolle.

    Was das nicht für ein Gefühl war.

    »Wir wissen nicht, wann sie aufwacht«, warf Akeo ein. »Oder ob sie es überhaupt schafft. Und ich möchte nicht warten, bis die Wintersonne aufgeht.«

    »Was hat denn das damit zu tun?«

    Akeo sah ihn ausdruckslos an. »Hilf uns, deinen Bruder zu finden, und ich sage es dir.«

    Als ob er darauf eingehen würde.

    »Ich werde jetzt gehen«, sagte Vain fest. »Das ist euer Problem. Wenn Sesha aufwacht, kannst du ihr sagen, dass ich hier war.«

    Er schaffte es mit großer Überwindung, an Akeo vorbeizugehen, ohne ihn anzusehen. Er nahm seine Tasche vom Bett und wandte sich zum Gehen. Doch Akeo ergriff erneut das Wort.

    »Du schaffst es nicht aus Term raus.«

    Vain atmete einmal langsam ein und wieder aus. »Wenn ich Glück habe, gab es ein Problem mit der Abfahrt«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Er öffnete die Tür, und tatsächlich hielt Akeo ihn nicht auf. Seltsamerweise brachte diese Tatsache seine Zweifel zum Wachsen. Wäre es doch besser, das Gespräch mit Sanseer zu suchen?

    »Nein«, unterbrach Akeo seinen Gedankengang. »Selbst wenn du das Schiff erreichen solltest, es wird dich nicht an Bord gehen lassen.«

    Vain blieb im Türrahmen stehen. »Und aus welchem Grund sollte es das nicht tun?« An der Wand gegenüber der Tür hing ein

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