Die Geschichte von Uljana
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Über dieses E-Book
Mit der "Geschichte von Uljana", dem zweiten Band des Amadoka-Epos, entführt uns Sofia Andruchowytsch in die 1930er-Jahre, in das galizische Städtchen Butschatsch mit seiner multiethnischen Bevölkerung. Zwischen dem ukrainischen Mädchen Uljana und dem jüdischen Jungen Pinkhas wächst eine ungestüme, jedoch heimliche Liebe. Mit der nationalsozialistischen Besatzung 1941 beginnen die Deportationen der jüdischen Bevölkerung. Uljanas Vater versucht unter Lebensgefahr zu helfen, manche im Ort allerdings beteiligen sich aktiv am Morden, und wieder andere schlagen sich auf die Seite der anrückenden Sowjets. Zu Kriegsende jedoch zieht sich eine Schlinge aus Geheimnis, Verrat und Gewalt unerbittlich zu – und weder Uljanas Liebe noch ihre Familie werden ihrem grausamen Schicksal entgehen …
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Buchvorschau
Die Geschichte von Uljana - Sofia Andruchowytsch
Fotografie: Eine alte Frau blickt ins Objektiv.
Sieh sie dir nur an, was für ein vorsintflutliches Wesen sie ist. Sehr alte Menschen geraten irgendwann in einen Zustand, in dem sie bei anderen ein ähnliches Gefühl von Schwäche und Rührung hervorrufen wie Neugeborene. Schau dir ihre Augen an, hier kannst du sie sehen. Du hast gesagt, dass sie früher grünbraun waren. Selbst auf den Fotos, die vor zwanzig Jahren gemacht wurden, sieht man, dass ihre Augen noch dunkel sind. Aber auf diesem letzten, auf dem großen Porträtfoto, sind sie schon ausgeblichen: Die Iris hat fast das trübe Weiß der Hornhaut angenommen, nur die punktförmige Pupille in der Mitte, umgeben vom Blut geplatzter Äderchen, ist dunkel geblieben. Doch obwohl ihre Augen tief in den Hautfalten versunken sind, eingeschlagen in welliges Gewebe wie in ein Krautblatt, ist ihr Ausdruck erstaunlich stark: so absolut hilflos, wie man ihn nur bei einem Menschen erwartet, dessen Boot von einer starken Strömung auf einen Wasserfall zugetrieben wird, und gleichzeitig voller Ironie.
Ein ironisches Lächeln schwebt wie der Heilige Geist über allem, es verdeckt die Bitte um Vergebung, die Scham, die Furcht eines in die Enge getriebenen Tieres und die Verwunderung: über alle Dinge ihres langen, bis ins biblische Alter andauernden Lebens. Alle Körperfunktionen waren aus dem Ruder gelaufen, die Gewebe vertrockneten und begannen bereits zu verwesen, das schwach glimmende Lebensflämmchen war kaum mehr als ein Missverständnis.
Dieses ironische Lächeln war ihr letzter Kraftakt. Wie konnte es dazu kommen, es ist unglaublich, wer hätte gedacht, dass sie überleben würde, und noch dazu so lange, dass sie noch immer hier ist? Wie lächerlich: Seht euch ihre Zehen an, die Nägel völlig vom Pilz zerfressen, kein Körper mehr, sondern ein verlassenes Wespennest. Kein Unterschied zwischen Einschlafen und Aufwachen, zwischen Wachzustand und Schlaf – ein einziges Dahindämmern, Trübheit, Schwäche, Schläfrigkeit, Schmerz, Kribbeln, knackende Knorpel. Das gibt es doch nicht: Salz mit Streichhölzern verwechseln, Wasser mit Wind, ihren Körper mit dem Kissen. Es wäre gut, sich die Ursachen allen Leids ins Gedächtnis zu rufen, all ihre Schuld, die sie einst daran gehindert hat, normal zu atmen. Zumindest für einen Moment an die eigene schwere Schuld zu denken, was wäre das für ein Trost.
Stattdessen die Stunden erschöpfend wie ein langer Marsch durch die Wüste. Halb liegend, der Körper mit Decke und Kissen verwachsen, in die Matratze eingesunken. Sie lauscht, wie mit einem dumpfen Zischen die letzte Feuchtigkeit aus ihren Gehirnzellen verdampft, wie sie eine nach der anderen absterben. Wie Froschlaich auf ausgetrocknetem Boden, wo im Frühling noch grüner Sumpf war.
Ha ha.
Die Augen verwandeln sich in zwei schmale Schlitze, das Gesicht schlägt Falten wie ein Lederhandschuh, das unschuldige rosa Zahnfleisch wird sichtbar. Sieh sie dir auf diesem Bild an: Ist sie nicht wie ein kleines Mädchen, das man eben aus dem Badewasser gehoben hat? Ein pummeliges Kindchen, das lacht, weil es sich gerade wohlfühlt oder irgendetwas es kitzelt. Die zwei dünnen, weißen Zöpfe unterhalb der gewaltigen, fleischigen Ohren. Die riesige Nase, deren Spitze fast bis zum Kinn reicht. Hat sie selbst noch eine Ahnung, warum sie lacht? Weiß sie überhaupt noch, wer sie ist?
Du hast gesagt, dass sie kurz vor ihrem Tod keine allzu große Belastung mehr war. Ihr musstet täglich nur eine Abfolge einfacher Rituale beachten, etwas zwischen der Pflege eines Säuglings, eines kranken Pferdes und einer Topfpflanze. Doch im Unterschied zu diesen konnte sie erzählen, und man musste ihr zuhören. Wie sie Salz mit Streichhölzern vertauschte, Wasser mit Wind, ihren Körper mit dem Kissen, wie sie die eigene schwerste Schuld nicht erinnern konnte, nicht begriff, warum sie lachte, und nicht wusste, wer sie war.
Aber du hast gesagt, dass die letzte Zeit einfacher war als alle anderen Zeiten – für sie selbst und für die anderen. Sonst hätte sie bestimmt nicht gelächelt wie auf diesem Foto. Hätte nicht lauthals gelacht, weil sie der Verdacht beschlich, dass sie wieder alles auf der Welt verwechselt hatte. Du sagtest, dass du sie früher nie lächeln gesehen hast.
Mit dem Vergessen kam das Lächeln. Als sie vergaß, konnte sie sich zunehmend entspannen, die Anspannung viele Jahrzehnte trat als Schweiß aus ihren Poren. Von irgendwo waren plötzlich Sanftheit und Milde gekommen. Du hättest nie Sanftheit in dieser Frau vermutet.
Wenn ich jetzt dieses faltige Mädchen mit den zwei dünnen, weißen Zöpfen unter den großen Ohrläppchen betrachte, kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass all deine Erzählungen über sie wahr sind.
Du hast gesagt, dass sich in der Tiefe ihrer Augen manchmal ein Schatten der Angst bewegte, als zöge ein großer Fisch in einem Teich vorbei. Sie versuchte, nach ihm zu greifen, ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz. Sie versuchte, zurückzukehren. Aber da war kein Schatten mehr, der Sonnenstrahl fiel in klares Wasser.
Vielleicht war es die beste Zeit ihres Lebens. Vielleicht hatte das Vergessen sie glücklich gemacht, sie von ihrer Last befreit. Von dir kann man das allerdings nicht behaupten. Du hast dein Gedächtnis verloren, aber die Last ist geblieben. Bei jedem ist es anders.
Was meinst du, Bohdan, wenn sie ihren Verstand nicht verloren hätte, wenn sie hätte entscheiden können, hätte sie dann ihre Last weiter getragen? Ja? Das hast du auch früher gemeint, siehst du, du hast dich nicht verändert.
Mir gefällt, wie sie hier ins Objektiv schaut. Als sähe sie etwas Bekanntes, als hätte sie jemanden erkannt, auf den sie schon so lange gewartet hatte.
Fotografie: Schwestern im Garten
Kennst du das Gefühl, wenn du Alben mit sehr alten Fotos durchblätterst, die unscharf, verschwommen und ausgeblichen sind, mit braunen Flecken, die vor vielen Jahren irgendwie daraufgeraten sind und dich nun daran hindern, den Gesichtsausdruck und die Züge auszumachen, die Person zu erkennen – es ist ein Gefühl, als befändest du dich auf einem vernachlässigten Friedhof.
Hast du bemerkt, dass die Leute auf den alten Fotos nicht lächeln? Sieh nur, wie sie ins Objektiv blicken: ernst, würdig, als erfüllten sie eine überaus wichtige Mission, finster und beleidigt, als würden sie zu etwas Unsinnigem gezwungen, ins Lächerliche gezogen, an der Nase herumgeführt, zu Idioten gemacht. Siehst du die nervösen, ängstlichen Gesichter, die weit aufgerissenen Augen, siehst du ihre zusammengezogenen Augenbrauen, das Misstrauen in ihren Blicken, siehst du die vor Überraschung weit offenen Münder oder aber die zusammengebissenen Zähne, diese Anspannung, die eingezogenen Hälse, diese erstarrten, unnatürlichen Posen, in denen man so lange ausharren musste, bis der ganze Körper taub wurde?
Die Posen und Gesichtsausdrücke zeugen davon, dass die Menschen früher, wenn sie sich fotografieren ließen, ein anderes Ziel, einen anderen Gedanken verfolgten als wir heute. Etwas Gewichtiges, ja, sogar Schweres führte sie zu den großen, schwarzen Apparaten auf Stativen. Der Prozess des Fotografierens war langwierig und feierlich, man bereitete sich darauf vor, man plante und durchdachte ihn. Man fürchtete, die Prozedur könnte Folgen haben, sie würde den Menschen verdammen oder Unheil über ihn bringen, man könnte dadurch etwas Wichtiges verlieren oder das dunkle Glasauge könnte einen Teil der eigenen Seele einsaugen. Das Posieren für Fotos barg ein großes Risiko: Wenn du dich darauf einlässt, rechne mit Folgen. Sei dir im Klaren, dass du deinen Frieden einbüßen könntest, dass deine Gedanken offengelegt werden könnten, dass du an einer unbekannten Krankheit erkranken, dass dein Leben sich ändern und du dich selbst erkennen könntest.
Es war keine allen zugängliche, beiläufige, unwichtige, schnelle und leichtfertige Angelegenheit. Doch zugleich war sie oberflächlich und leichtfertig, denn allein der Wunsch, das eigene Abbild zu vervielfältigen, hatte etwas Beschämendes, Liederliches, etwas allzu Freizügiges. Das Eingestehen der Liebe zu sich selbst, die heimliche Überzeugung, dass der Fotografierte dessen würdig war, dass man ihn betrachtete und bewunderte, dass man sich an ihn erinnerte. Indem man diese Überzeugung preisgab, riskierte man, sich lächerlich zu machen. Als verwundbarer Idiot dazustehen, der weiß Gott was von sich hielt. Daher kamen auch die beunruhigten Blicke, das Misstrauen, die finsteren Gesichter.
Außerdem weißt du selbst, Bohdan, dass es damals keine tausenden und abertausenden Fotos geben konnte, von denen man den Großteil sofort und für immer löscht, um nur das Eine, das Schönste zu behalten. Das Ergebnis beinhaltete immer etwas Schicksalhaftes, Vorbestimmtes: Man wählte nicht aus Varianten, entschied sich nicht für die Maske, die man für geeignet hielt, den anderen gezeigt zu werden. Man erhielt eine der raren Abbildungen seiner selbst, eine Diagnose, unerbittlich, endgültig, nicht zu korrigieren.
Bei alten Fotos ist ihre Existenz zugleich ihre Essenz. Der Tropfen verfestigten Harzes, fast Bernstein.
Die linke Hälfte des Fotos ist beinahe schwarz, die rechte zu stark belichtet. Sieh nur, zwischen den Füßen erkennt man wirre Grasbüschel, Kleeblätter, Wegerich, sogar Walderdbeeren. Hinten ist eine Wand aus Flieder. Trotz der schlechten Qualität und der Fehler beim Entwickeln sieht man den wächsernen Glanz der Blätter.
Das Mädchen in der Mitte sitzt auf einem Hocker. Sie hat langes, helles Haar, glatt und glänzend. Einige Strähnen liegen wie ein Kranz um ihren Kopf und werden von Haarnadeln am Hinterkopf fixiert. Ja, wir sehen die tatsächlichen Farbtöne nicht, das Bild ist klein und unscharf, aber ihr Aussehen lässt vermuten, dass sie Sommersprossen hat. Ihre Augen sind zusammengekniffen, ihr Kinn ist spitz, das Gesicht schmal, ähnlich wie das eines Fuchses. Das Mädchen ist ernst, aber bestimmt siehst auch du das neckische Feuer in ihren dunklen Augen. Sie trägt ein einfaches, schwarzes Kleid mit hohem Kragen. Oder ist es ein Rock mit Bluse? Oder eine Schuluniform? Auf dem Foto ist es nicht auszumachen.
Was hat sie da um den Hals, einen runden Anhänger an einer kurzen Kette?
Sie trägt weiße, bis über die Waden reichende Stutzen und Riemchenschuhe: weder schwarz noch weiß, mehr kann man nicht sagen.
Irgendetwas ist mit ihrer Wange. Schau, ein dunkler Fleck. Schmutz wird es nicht sein. Und wohl auch kein Schatten. Ein blauer Fleck? Die Spuren eines Schlags?
Die zwei Mädchen, die rechts und links leicht hinter ihr stehen, tragen auch weiße Stutzen und Riemchenschuhe. Beide haben einen Pagenkopf und lockiges Haar. Die drei Mädchen sind unterschiedlich alt: die mittlere und die jüngste stehen, die älteste sitzt. Die zwei stehenden tragen bestickte Hemden und Schürzen mit kleinen Blumen auf schwarzem Grund. Die mittlere Schwester hat sehr rote Lippen und rote Wangen. Sie ist ernst. Sie hält einen Blumenstrauß. Die jüngste ist konzentriert und neugierig, sie hat Angst, etwas zu versäumen. Ihre Augen sind ein wenig verquollen, als hätte sie vor kurzem bitterlich geweint. Die Mädchen sind elf, sieben und vier Jahre alt.
Die älteste Schwester stellt das Zentrum des Fotos dar. Man erkennt es an ihrem herausfordernden, sturen Blick. Daran, dass sie in der Mitte sitzt. Schwarz gekleidet ist.
Auf der Rückseite steht in gestochen scharfen Ziffern: 1932.
Fotografie: Stillleben, Rainfarn in einem Dreiliterglas
Das ist das letzte. Das letzte, auf dem man ihren Körper sieht. Was meinst du, wieso fotografiert man Tote? Wieso hebt man diese Fotos auf, in einem Stapel von Fotos, die Säuglinge, Familienfeste und Szenen des täglichen Lebens zeigen? Um den Menschen so in Erinnerung zu behalten? Um nicht zu vergessen, dass er wirklich gestorben ist, in einen Sarg gelegt wurde, seine Hände auf der Brust überkreuzt wurden, sein Kiefer mit einer Schnur zusammengebunden wurde? Dass dieser Mensch nicht spurlos verschwunden ist, sich in Luft aufgelöst hat, nein, dass mit ihm die einfachste Sache der Welt passiert ist: Seine Zeit ist abgelaufen, seine Tage sind zu Ende gegangen, und seine Liebsten haben alles entsprechend arrangiert, sich um seine Überreste gekümmert, sie an den dafür vorgesehenen, verborgenen Ort gebettet.
Was meinst du? Gibt uns das ein Gefühl von Ordnung? Beruhigt es? Und was beruhigt mehr: Das Foto eines sorglosen Säuglings mit speckigen Hautfalten, der das gesamte Chaos der Welt, unzählige Entdeckungen und die gnadenlose Erkenntnis der Ausweglosigkeit des Lebens noch vor sich hat? Oder das Foto vom Ende, vom Sarg mit dem Leichnam auf einem Tisch in der Mitte des Raums, wenn klar ist, dass es schlimmer nicht werden kann, dass der Faden der Geschichte abgerissen ist, dass das Chaos keine Früchte mehr tragen und sich nicht mehr vermehren wird, dass seine Quelle versiegt ist.
Denkst du wirklich, Bohdan, dass nach dem Tod eines Menschen das Durcheinander seines Lebens erschöpft ist, dass dessen Griff sich mit einem Mal lockert und dann erstarrt? Denkst du, die Geschichte reißt für immer ab? Vielleicht ist es umgekehrt? Vielleicht liegt genau darin die wahre Unsterblichkeit? Vielleicht pulsieren die Motive des Verstorbenen und die Folgen seiner Taten in jenen der Lebenden weiter, können nicht verstummen?
Deine Großmutter hatte einen schwierigen Charakter. Wobei, wer hat schon einen einfachen Charakter? Wenn, dann vielleicht ich.
Selbst du, Bohdan, auch ohne zu wissen, wer du bist, selbst ohne Gedächtnis bleibst du der Enkel deiner Großmutter. Das ist einer der wenigen Züge, die dir geblieben sind, die ich an dir erkenne. Hartnäckig Fragen nicht zu beantworten, nicht auf meine Worte zu reagieren, durch mich hindurchzuschauen, als wäre ich Luft. Sich an jedem Wort festzubeißen. Alles ins Lächerliche zu ziehen, selbst wenn es um die wichtigsten Dinge geht. Nicht zu sagen, was du wirklich denkst. Und dann, wenn man es am wenigsten erwartet, die ungemütliche Wahrheit zu verkünden und von Liebe und Ehrlichkeit zu sprechen. Kalt und emotionslos zu sein, auf ein Lächeln nicht zu reagieren, mich nicht zu umarmen, wenn ich weine. Jeder meiner Aussagen zu widersprechen, den alleinigen Anspruch auf die Wahrheit zu erheben. Mich mit Ignoranz zu strafen, nie die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Nach einer Phase der Nähe ohne Vorwarnung auf Distanz zu gehen. Meine Entscheidung, alles auf mich zu nehmen, als gegeben zu sehen: Schuld, Schwäche, Zärtlichkeit. Ich könnte noch viel mehr aufzählen. Ich kenne dich doch.
Manchmal, wenn ich zu zweifeln beginne, ob du es wirklich bist, wenn mich der Gedanke quält, ob ich nicht einen Fremden aufgelesen habe, wenn ich die Form deiner Augen und deiner Nase nicht mehr erkenne, deine Schuh- und genaue Körpergröße vergesse, retten mich nur die kleinen Besonderheiten deines verdammten Charakters. Ich habe sogar den Eindruck, dass sich dein Geruch und deine Stimme ein wenig verändert haben. Aber deine Übellaunigkeit ist dieselbe geblieben. Früher dachte ich, sie würde uns entzweien. Nun verbindet sie uns. Denn oft erkenne ich dich allein an ihr.
Über deine Eltern kann ich dir nur wenig erzählen, außer dass sie in deiner Kindheit selten an deiner Seite waren, denn dein Vater ist plastischer Chirurg und deine Mutter Musiklehrerin und Sängerin. Dafür weiß ich viel über deine Großmutter und ihre Schwestern.
Hier sieht man einen Teil des Zimmers deiner Kindheit. Das Haus steht auf einem Hang, inmitten von Apfelbäumen, Pflaumenbäumen, Kirschbäumen und Flieder. Die Obstgärten erstrecken sich bis an den Fuß des Hügels, da und dort umgeben sie die Häuser, nachts sieht man einzelne trübe Lampen zwischen den Zweigen hervorleuchten. Direkt hinter dem Haus führt die Torhowa-Straße vorbei, der Hügel heißt Torhowyzja. Die Straße kommt vom Busbahnhof, sie wölbt sich den Hügel hinauf, führt auf der rechten Seite am jüdischen Friedhof vorbei. Die weißen Mazewas inmitten des wuchernden Grüns haben sich in verschiedene Richtungen geneigt, wie schief stehende Zähne. Der Straßenrand ist mit weißen Steinen ausgelegt, mit Bruchstücken von Grabplatten. Sie waren von Leuten hierhergebracht worden, die sie im Fundament ihrer Häuser oder auf Wegen gefunden hatten. Dorthin waren die jüdischen Grabsteine während der deutschen Besatzung geraten.
Der Friedhof zieht sich über eine weite Strecke entlang der Straße und tief in die Vegetation hinein. Wo er zu Ende ist, tauchen die ersten Wohnhäuser mit Obst- und Gemüsegärten auf. Dort steht auch das Haus deiner Großmutter.
Von dem Fenster, das auf dem Foto wegen des Begräbnisses schwarz verhängt ist, hat man einen schönen Blick auf die Dächer der Stadt, die Türme und Ruinen des Schlosses. Man überblickt beinahe das ganze Städtchen, das in einer gemütlichen Senke zwischen sanften Hügeln liegt. Ihre langgestreckten Rücken gehen in Felder über, die sich unter dem geblähten Schirm des Himmels weit in die Ferne hinziehen. In der Stadt ist alles dichter: Turmspitzen, Türme, schiefe Ebenen, die sich eine über die andere legen, mittelalterliche Steine und sowjetischer Beton, Kopfsteinpflaster, löchriger Asphalt, ein Markt mit Buden aus Gipskarton am Platz der zerstörten Synagoge und der Jeschiwa, eine Kirche, in deren Keller ein paar Hundert Leichen gefunden wurden, mit Kalk bestreut und einzementiert, der mäandernde Fluss zwischen dem Weidengehölz, die Türme des Klosters auf dem Berg, die elegante Silhouette des halb zerstörten, ständig eingerüsteten Rathauses.
Die Gässchen liegen übereinander an den Hängen, eine über der anderen, auf verschiedenen Ebenen geschichtet, in steilen Winkeln. In deinem Städtchen kann man in einem Augenblick hunderte Ereignisse zugleich beobachten, man muss nur einen günstigen Aussichtsspunkt finden. Wenn du die Stadt von Großmutters Haus aus betrachtet hast, erinnerte sie dich an den Querschnitt eines Ameisenhaufens.
Als Kind hast du am liebsten Ameisenhaufen erforscht. Vorsichtig hast du ein Segment entfernt, du hattest dir mit der Zeit dafür Werkzeuge zugelegt, die du immer bei dir getragen hast: eine gute Schaufel, ein Küchenmesser mit breiter Klinge, ein paar angespitzte Stöcke unterschiedlicher Stärke. Du hast alles in ein altes Geschirrtuch mit Waffelmuster eingeschlagen, es mit der Schnur, die von einem Bündel dünner Kirchenkerzen aus gelbem Wachs stammte, zusammengebunden und das Päckchen in deinem Schulranzen aufbewahrt.
Im Dickicht des jüdischen Friedhofs wölbten sich viele stattliche Ameisenhaufen. Du konntest dich mit deinen Ausgrabungen beschäftigen, ohne dich allzu weit von zu Hause zu entfernen, wie zum Beispiel zu den Ruinen des Schlosses auf dem Berg Fedir. Dort gab es auch Ameisenhaufen, aber der Boden war nicht so nachgiebig, oft hart, von Lehm und Wurzeln verdichtet; diese Expeditionen dauerten viele Stunden und nährten den großmütterlichen Zorn.
Wenn du besonders viel Glück hattest, ging das Messer so leicht durch den Ameisenhaufen, als wäre er ein großer Honigkuchen. Das schmale, längs abgetrennte Stück legte sich zur Seite wie auf einen Festtagsteller. Und deinem Blick eröffnete sich das geheime Königreich der Ameisen.
In deinem Bauch wurde es wohlig warm. Du hast dich hinuntergebeugt und deine Beobachtungen begonnen: Trotz der Panik und des erhöhten Tempos bewegten sich die Insekten geordnet und zielstrebig. Die meisten schalteten augenblicklich vom Alltagsmodus in einen an die außergewöhnliche Situation angepassten Reaktionsmodus um: Kolonnen von Arbeiterinnen strömten durch die schmalen Gänge, eilten zu den Kammern mit Eiern und Larven, die entgegenkommenden Ameisenkolonnen schleppten den Nachwuchs ins Freie. Soldatinnen mit glänzenden Bäuchen umringten ihre langbeinige Königin – ihr majestätisches, zeugendes Ungetüm – von allen Seiten, geleiteten sie durch spezielle Gänge und drängten dabei das einfache Fußvolk unbarmherzig zur Seite. Ein Teil der Ameisen rettete die Nahrungsreserven: Stücke anderer Insekten, Samen und Körner. In den Seen, die sich durch die Zerstörung plötzlich in den unteren Höhlen gebildet hatten, ließen andere Ameisen demütig ihr Leben, zuckten dabei schwach mit den dünnen Beinchen und streckten sich noch nach ein paar halbersoffenen Eiern. Ein anderer Teil der Arbeiterinnen verschloss systematisch Durchgänge, während ein wiederum anderer Trupp begann, einen neuen Tunnel zu graben. Tausendmal liefen sie ein und denselben Abschnitt entlang, trugen Sandkörnchen um Sandkörnchen von da nach dort. Vor deinen Augen füllte sich allmählich die Höhle in der Form und Größe eines kleinen Fingers, bis sie nur noch an der anderen Farbe und Beschaffenheit des Erdreichs zu erkennen war.
Du hast dabei alles andere vergessen. Die Großmutter hatte recht, wenn sie dir später den Hintern versohlte. Wenn du endlich auf dem Weg zurück zum Haus der Großmutter warst, verkrampften sich vor Angst deine Arme und Beine, du bekamst schreckliche Bauchschmerzen und in deinen Ohren rauschte es. Du hast den kürzesten Weg zum Torhowyzja-Hügel genommen, bist durch fremde Gärten gegangen, hast dabei Hundegebell ausgelöst, dich in Erbsen- und Weinranken verfangen und den Geruch von deinem eigenen Kinderschweiß, deiner eigenen Angst wahrgenommen.
Du bist ins Haus gegangen, und der rotgestrichene Holzboden knarrte tückisch. Die Großmutter saß wie immer auf ihrem königlichen Platz: auf dem an die Wand geschobenen Doppelbett mit lackiertem Kopfteil, auf einer Pyramide aus bestickten Kissen mit Fransen, die andere Leute nur zur Zierde besaßen, allein deine Großmutter pfiff auf die Gepflogenheiten und saß mit dem Hintern darauf wie eine Königin. An der Wand hinter ihrem Rücken hing ein Wandteppich in Rottönen, den sie selbst mit kleinen Nägeln befestigt hatte. Wenn du nicht einschlafen konntest, hast du mit den Nägeln gewackelt, bis die Löcher, in denen sie steckten, immer größer wurden und der intensiv riechende Putz von der Wand bröckelte. Du hast an der Wandseite geschlafen, die Großmutter am Rand.
Als sie dein Vergehen entdeckte, bekamst du wieder eine Portion Erziehung ab. Du bist sehr langsam von der Tür bis zu ihr gegangen. In dem Moment konntest du nicht mehr an den Genuss denken, den dir das Sezieren des Ameisenhaufens verschafft hatte. Das düstere, irgendwie schmutzige Licht der schwachen Glühbirne, das zusätzlich von den staubigen Lampenschirmen gedämpft wurde, intensivierte die Schatten und verzerrte die Formen. In eurem Haus waren die Decken hoch, die Wände dick und von Rissen durchzogen. Bei jedem Schritt vibrierte der gedrungene Eichenschrank mit der Glasvitrine, in der Geschirrteile aus verschiedenen Zeiten klirrten: ungarische Fayence-Teller mit Goldrand, eine Suppenschüssel und eine Sauciere aus Porzellan, auf deren Boden deutlich ein kleiner schwarzer Adler über einem Hakenkreuz zu erkennen war, versilberte polnische Messer, Löffel und Gabeln und deine geliebten Löffelchen mit gebogenem Stiel und rundem Bauch, braun vom Alter, dunkelblaue tschechische Kaffeetassen und ein Sektglas in der Farbe von rotem Traubensaft, eine Teekanne aus Neusilber, eine Tasse aus Kupfer, eine goldene Gabel mit zwei Zinken, ein paar Löffel und ein Becher mit eingravierten hebräischen Buchstaben, Gläser, eine Weinkaraffe aus der Glasfabrik Lilijen in Schowkwa und Schälchen aus Bereschany, sowjetisches Neusilber mit einem Emblem in Form einer Ente, Speise- und Dessertteller mit Sauerkirschen und olympischen Bären darauf, außerdem ein Tontopf und tiefe Keramikteller. Du hattest den Eindruck, als würden die rankenden Triebe der Topfpflanze dich gleich berühren, sich um deinen Hals und deine Brust schlingen, dich zu erwürgen versuchen. Du wusstest, dass dort, hinter der anderen Tür, die niemals geöffnet wurde und ins Zimmer der Schwestern deiner Großmutter führte (aus Gewohnheit nanntest du auch die beiden »Baba«), zwei alte Frauen saßen und auf jedes Geräusch, jedes Klirren und Knarren, lauschten. Du hattest den nicht ganz ausgereiften Verdacht, dass diese vergilbten Wesen mit den fleckigen Gesichtern sich an deiner Angst labten, und an allem, was mit dir in diesem Zimmer geschah.
Und dann noch der Rainfarn. Hat er tatsächlich das ganze Jahr über auf dem Tisch gestanden? Dieser üppige Strauß mit ockerfarbenen Blümchen und dem trockenen, herb-sandigen Aroma? Du gehst also an dem Tisch vorbei, auf dem dieser Strauß in einem gewöhnlichen Dreiliterglas steht. Das Wasser – dunkelgrün, dickflüssig und mit Schleimklumpen – war lange nicht gewechselt worden und verströmte Leichengeruch.
Leichengeruch hatte dir stets große Angst eingejagt. Selbst als du schon erwachsen warst, fürchtetest du den Moment, wenn du ihn an jemandem wahrnehmen müsstest, den du dein Leben lang gekannt hattest. Du hattest Angst, du würdest ihn nicht ertragen und dein Ekel würde für andere offensichtlich werden. »Er trauert ja garnicht, er leidet ja nicht einmal! Seht nur, er ekelt sich!«
Als die Großmutter starb, als sie mit dem seltsamen Pfeifen eines Luftballons das letzte bisschen Luft aus sich herausließ, nahmst du jedoch nichts wahr, das dem Geruch des fauligen Blumenwassers ähnelte. Wenn da überhaupt irgendein Geruch war, dann erinnerte er eher an vertrocknete Rainfarnblüten und ungereinigtes Wachs mit einer Note von Schwefel, Ammoniak und noch etwas Undefinierbarem. Sie hatte vielleicht Glück, denn sie ging so fließend von einem Zustand in den anderen über, dass sie es offensichtlich selbst nicht bemerkte.
Man kann es aber auch anders sehen. Kann der Meinung sein, dass sie in den letzten Jahren gar nicht mehr wirklich gelebt hatte: Beinahe alle Feuchtigkeit war aus ihrem Körper gewichen, sie war krumm und schrumpelig geworden, ihr Gehirn hatte sich in einen schwarzen Walnusskern verwandelt. Als sie aufhörte, sich selbst zu erkennen, als sie still und hilflos wurde, als sie aufhörte, unerträglich zu sein, etwa zu jener Zeit war sie unbemerkt gestorben.
Aber das Begräbnis fand erst statt, als ihre steife, faltige Hand mit den krummen Fingern in deiner Hand erstarrt war.
Sieh nur, auf dem Tisch, wo zuvor das Glas mit dem Rainfarn gestanden hatte, steht nun ein solider Sarg. Du wusstest nicht mehr, was mit dem Glas geschehen war. Hatte deine Mutter es weggeworfen, hatten die Schwestern deiner Großmutter es woanders hingestellt? Damals drängten sich so viele Menschen in dem alten Haus auf dem Torhowyzja-Hügel – dem Haus mit der großen Veranda wie die Gangway eines Schiffes und einem runden Fenster unter dem Dach, das dir wie ein alles sehendes Auge vorkam –, dass jede beliebige Person ungehindert mit dem Glas hätte anstellen können, was sie wollte.
Chrystja, die jüngste der drei Schwestern, war völlig aus der Bahn geworfen. Sie war so daran gewöhnt, dass ihre beiden älteren Schwestern sie für jung und dumm hielten, für ein ewiges Baby, das mit Stöckchen und Topinamburwurzeln spielt, dass das jetzt einfach nicht in ihren Kopf passte: Wie konnte es sein, dass ihre Stütze, ihr Donnerwetter, ihre ältere Schwester Uljana nicht mehr auf dieser Welt war? Sie fasste es nicht als natürlichen Lauf der Dinge auf, sondern als Tragödie, als unerwartete und niederschmetternde Katastrophe. Selbst war sie zu diesem Zeitpunkt schon an die neunzig und plötzlich überkam sie die Ahnung, dass auch ihr bald Ähnliches widerfahren könnte.
Und trotz allem war es Chrystja, die dieses Foto machte, so hast du es mir erzählt, wer denn sonst. Es ist eines der wenigen Farbfotos in deinen Familienalben. Chrystja hielt ihrer analogen Kamera die Treue und bevorzugte Schwarz-Weiß-Filme. Die Tatsache, dass sie den Körper ihrer ältesten Schwester in Farbe fotografierte, zeugt von der Intensität ihrer Gefühle und ihrer Verzweiflung. Chrystja empfand die brennende Notwendigkeit zusätzlicher Hilfsmittel, zu denen sie früher nie gegriffen hatte. Der blutleeren Haut der Schwester Farbe zu verleihen, ihr Leben einzuhauchen, das war ihr Ziel, als sie zögerlich den Auslöser der »Leica« drückte, die du ihr geschenkt hattest.
(Du hast mir auch erzählt, dass du ihr einmal die Möglichkeiten von Digitalkameras vorführen wolltest. Und wie sie – schon an Demenz leidend – entweder absichtlich oder unter dem Einfluss der Krankheit und der Degeneration, all deine Versuche vollkommen ignorierte. Sie drehte den Kopf weg, wandte den Blick ab, sprach über alles Mögliche, nur nicht über das flache silberne Kästchen in deiner Hand. Und kaum hast du sie in Ruhe gelassen, begann sie emsig etwas an ihrer alten, halbautomatischen »Zenit« einzustellen.)
Die mittlere Schwester Nusja dagegen legte während der Beerdigung ihr ganzes Organisationstalent an den Tag. Das war ihre Art, sich zu schützen: Sie überwachte die Abläufe, lenkte, kontrollierte und kritisierte.
So konnte Nusja eine Nachbarin vom Fuße des Torhowyzja-Hügels gerade noch davon abhalten, die Schnur an den Füßen der Toten durchzuschneiden. Nusja erzählte diese Geschichte später viele Male: wie sie den Raum betreten und die Nachbarin erblickt hatte, die die Füße der Toten mit beiden Händen hielt, wie sie die Nachbarin fragte, was sie da mache, wie die zusammenfuhr und rot wurde, und Nusja mit erschrockenen Augen anstarrte, auf frischer Tat ertappt, armselige Ausreden vor sich hin stammelte, sogar in Tränen ausbrach, während sie die Tote in höchsten Tönen lobte. Diese sei ein aufrichtiger und guter Mensch, eine echte Heilige gewesen. Sie habe anderen immer geholfen, dabei das eigene Leben aufs Spiel gesetzt und selbst auf das Nötigste verzichtet. Jeder kenne doch die Geschichte von dem jüdischen Jungen, den sie versteckt hatte – den Preis dafür zahlte die eigene Familie, Christen. Auch ihr, der Nachbarin, habe die Verstorbene immer wieder alle schwer verdienten Lebensmittel gegeben, die sie eigentlich ihren Schwestern hatte bringen wollen. Auch der Mann der Verstorbenen, Gott hab ihn selig, sei ein Heiliger gewesen, er wäre der beste aller Priester geworden, wäre nicht der Krieg gewesen. Beide seien sie jetzt im Himmel.
Diese Nachbarin begann Nusja über die Leichenwaschung auszufragen. Wer sie durchgeführt habe, was sie danach mit dem Wasser gemacht hätten und so weiter. Doch Nusja zweifelte keinen Augenblick, worum es eigentlich ging, trotzdem konnte sie es der Frau nicht ins Gesicht sagen, sie konnte sie auch nicht aus dem Haus werfen, denn das wäre ein schlechtes Omen gewesen, und überhaupt machte man so etwas nicht, trotzdem gab sie ihr mit ihrer Haltung und einigen halbdurchsichtigen Anspielungen deutlich zu verstehen, dass sie überführt sei. Die Frau versuchte danach noch im Haus aufzukehren, aber man nahm ihr den Besen sofort ab und fauchte sie auf Gänseart an, wonach sie sich offensichtlich aus dem Staub machte und nicht wieder auftauchte.
Allen, die zur Beerdigung kamen, erzählte Nusja von ihren beiden Träumen, die den Tod vorausgesagt hatten. Im ersten Traum habe sie eine reizbare Katze aus ihrer Kindheit gesehen, eine dreifärbige Katze mit abgerissenem Ohr, die auf Uljanas bestickten Kissen unter dem Wandteppich gesessen sei, auf Uljanas Platz, und – das Maul weit aufreißend – in Menschensprache geschimpft habe. Der zweite Traum handelte von Nusja selbst: Sie trug auf dem Friedhof Köpfe von Toten von da nach dort und legte sie sorgfältig und vorsichtig in hübsche Ruhestätten aus Stein. Nusja war völlig erschöpft, sie konnte die Füße kaum heben, denn die Köpfe waren schrecklich schwer, fast nicht zu tragen, aber sie musste sie an ihren Platz bringen, sie konnte sie nicht liegenlassen.
Du hattest fast zwei Tage nicht geschlafen: Die Großmutter war gegen Ende der vorletzten Nacht gestorben. Davor warst du nicht von ihrer Seite gewichen, hattest mit ihr gelitten. Du hattest dich durch Zeitwüsten ohne Wasser und Sauerstoff geschleppt und wolltest dir selbst nicht eingestehen, dass du das Ende herbeisehntest. Und als sie mit Pfeifen und Zischen das letzte Mal ausatmete, hast du auf etwas gewartet, auf ein endgültiges Zeichen, dass es tatsächlich vorbei war, so wenig überzeugend erschien dir ihr Dahinscheiden. Du hast darauf gewartet, dass sie sich wieder bewegen würde. Hast sogar darauf gewartet, dass sie etwas sagen würde, obwohl die Großmutter schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesprochen hatte.
Danach musstest du einen ganzen Tag herumlaufen und Dinge für das Begräbnis regeln – irgendwelche Dokumente und Dienstleistungen, einen Platz auf dem Friedhof, Kleidung, Sarg, Priester. Die Großmutter hatte ihren eigenen Priester. Er begann zu weinen, als du ihm von ihrem Tod erzähltest. Er weinte und strich mit der Hand über seine glänzende Glatze. Die Tränen kullerten über seine Wangen in das