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Narbensammler: Brandwunden
Narbensammler: Brandwunden
Narbensammler: Brandwunden
eBook386 Seiten4 Stunden

Narbensammler: Brandwunden

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Über dieses E-Book

"Alles, was du tust, jede deiner Entscheidungen, schadet anderen. So war es schon immer. Oder siehst du das anders?"

Sechs Jahre nach der Vergewaltigungsserie des Narbensammlers findet Patrick sich erneut in einer Situation wieder, in der er nicht weiß, wie er diese Frage beantworten soll. Gestern war sein Happy End noch in greifbarer Nähe. Heute strecken die Monster der Vergangenheit ihre Arme nach ihm aus. Diese drohen ihn und alles, was ihm heilig ist zu zerstören. Es gibt viele Wege, einen Menschen zugrunde zu richten. Beruf, Freunde, Familie, Liebe. Patricks Peiniger schreckt vor nichts zurück und zwingt ihn zu einer Entscheidung, die er unmöglich treffen kann. Manche Taten sind unverzeihlich.

Nicht jede Narbe verblasst mit der Zeit. Einige brennen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Nov. 2023
ISBN9783347857575
Narbensammler: Brandwunden
Autor

Jessica Keim

Als überzeugte Selfpublisherin lege ich Wert auf die Qualität meiner Arbeit. Derzeit veröffentliche ich mein zweites Buch, welches als Nachfolger des ersten die Geschichte fortführt, aber auch vollkommen unabhängig gelesen werden kann. Ich freue mich auf auch.

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    Buchvorschau

    Narbensammler - Jessica Keim

    Sieben Jahre später …

    Heute

    Letzte Vorbereitungen

    Heute, 31.03, 00:10 Uhr

    Der Grat zwischen Stolz und Selbstüberschätzung ist nicht besonders groß, überlegt er, während er auf sein Opfer herabblickt. Doch alles ist so reibungslos gelaufen, da ist ein wenig Eigenlob nur angebracht.

    Es ist zehn nach zwölf nachts. Das böse Erwachen wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Nur noch ein paar Minuten, vielleicht eine Viertelstunde.

    Neben seinem Opfer geht er in die Knie und dreht dessen Gesicht am Kinn in seine Richtung. Glatze, markante Gesichtszüge, Dreitagebart, ein gepflegtes Äußeres sowie die absurd kräftige Gesamtstatur. Eine durchaus attraktive Erscheinung, das muss er schon zugeben.

    Um sicherzugehen, dass sein Opfer keine Gefahr für ihn darstellt, rüttelt er an der Kette. Sie liegt eng um den Hals. Dann kontrolliert er die Halterung an der hinteren Wand des eigens für den Detective gebauten Käfigs. Alles ist, wie es sein soll. Perfekt. Also erhebt er sich.

    Als er sich herumdreht, blendet dieser verfluchte Flutlichtstrahler. Eine Notlösung, denn um den Keller ausreichend zu beleuchten, fehlte die Zeit. Zu spät hatte er von den Urlaubsplänen des Detectives erfahren. Eine Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen konnte.

    Bevor er den Käfig verlässt, verharrt er. Schließlich tritt er mit all seiner Kraft in den Magen des wehrlosen Mannes. Nach einem Treppensturz und zwei Schussverletzungen kommt es darauf nun wirklich nicht mehr an.

    Erfüllt von vollkommener Genugtuung tritt er aus dem Käfig heraus und verschließt die Tür.

    Bevor es losgeht, überprüft er alles, was er in den kommenden Stunden brauchen wird. Angefangen bei der Pistole. Diese zu benutzen ist nicht seine Absicht. Doch nach dem, was er in den letzten Monaten über Detective Patrick Seed in Erfahrung gebracht hat, ist ein Plan B angebracht. Wer ein Zusammentreffen mit dem Narbensammler unbeschadet überlebt, hat sich das Privileg jeder erdenklichen Vorsichtsmaßnahme wahrlich verdient.

    Die Waffe ist geladen und einsatzbereit, also widmet er sich dem Koffer, den er vor einer Stunde aus der Wohnung des Detectivs mitgenommen hat. Der Inhalt ist allerdings gänzlich uninteressant. Abgesehen von der silbernen Halskette samt Anhänger. Insbesondere die Gravur. Happy End. Daraus wird nichts, so viel steht fest.

    Zum Schluss bringt er seinen Stuhl in die richtige Position, setzt sich und schaltet das Licht aus. Damit sind die letzten Vorbereitungen abgeschlossen.

    Er kann nicht anders, als stolz auf sich zu sein. Endlich wird abgerechnet.

    Sechs Wochen zuvor

    Danielle

    Mittwoch, 16. Februar. Noch sechs Wochen

    Verdammter Mist! Krachend lässt Danielle ihre Faust gegen die beschmierte Tür donnern. Ihre flehend klingenden Bitten werden weiterhin ignoriert. Wie schon in den letzten zwanzig Minuten. Sie richtet ihren Blick an die Decke. Der Platz würde reichen, um über die Kabine zu klettern, doch alkoholisiert wie sie ist, wird das kaum gelingen. Das verklebte Türschloss lässt sich unter keinen Umständen von außen öffnen.

    »Scheiße!«, flucht sie vor sich hin. Hinter der Tür ist die Stimme ihrer Freundin zu hören, welche zwischen Geflüster und Wimmern wechselt.

    Irgendetwas muss sie unternehmen, um Venia da rauszuholen. Damit sie hier verschwinden können, bevor der nächste dieser widerlich betrunkenen Typen kommt. Also beschließt Danielle, es trotz ihres Alkoholpegels zu versuchen. Ein kleiner Sprung reicht, damit sie sich an der Kabinentür festhalten kann. Doch sie schafft es nicht, sich heraufzuziehen und lässt los. Als sie wieder vermeintlich festen Boden unter den Füßen hat, kämpft sie auf den dünnen Absätzen ihrer Stiefel um Gleichgewicht. Fester Boden, am Arsch!

    Allmählich überkommt sie Verzweiflung. Sie dreht sich einmal um die eigene Achse und sucht etwas Hilfreiches. Das Waschbecken ist zu weit weg. Der kleine Mülleimer droht schon unter der überwältigenden Last einer Plastiktüte in sich zusammenzufallen.

    »Vens, wir sind auf dem verdammten Männerklo. Lass uns endlich verschwinden. Gleich kommt der nächste Kerl oder einer der Türsteher«, beschwört sie ihre Freundin.

    Deren Reaktion ist ein beunruhigend klingendes Würgegeräusch. Reizend! Entmutigt rüttelt Danielle ein weiteres Mal an dem Türgriff. Unverändert.

    Wäre ich mal zuhause geblieben. Wie sie sich überhaupt dazu überreden lassen konnte, an einem Mittwoch in eine Bar zu gehen, ist ihr ein Rätsel. Es ist halb zwei nachts und sie müssen morgen beide arbeiten. »Komm schon, wir sind fünfundzwanzig. Schlafen können wir mit fünfundvierzig«, tönt Venias Stimme durch Danielles Kopf.

    Viele Möglichkeiten bleiben ihr nicht mehr. Also doch der Papierkorb. Sie schnappt sich das wenig vertrauenerweckende Teil und platziert es vor der Kabinentür. Dann betrachtet sie kritisch den Boden. Ihre Schuhsohlen haften an den Resten verschütteter Getränke. Auf keinen Fall will sie diese Sauerei mit nackten Füßen berühren. Daher versucht sie es trotz der Absätze und klettert auf den Mülleimer. Kaum steht sie drauf, knackt es unheilvoll, dann gibt das dünne Plastik unter ihr nach. Danielle landet unsanft auf dem Boden.

    »Fuck«, brüllt sie ihren Frust heraus. »Venia, mach jetzt diese gottverdammte Tür auf.«

    Angeekelt von dem dreckigen Fußboden rappelt Danielle sich auf. Sie fragt sich, ob es nicht doch sinnvoll wäre, Hilfe zu holen. Sollte sie doch einen der Türsteher um Hilfe bitten? Alleine bekommt sie Venia nicht hier raus. Nur ist der Handyempfang gleich null, was bedeutet, dass sie ihre Freundin alleine zurücklassen müsste. Betrunken und vermutlich unter Drogen auf der Männertoilette einer Bar.

    Diese Idee scheint nicht die Beste oder trügt der Blick durch den Alkohol?

    »Na, Süße, hast du dich in der Tür geirrt?«, klingt eine Stimme hinter ihr, die sich weit nüchterner anhört, als die anderen davor. Dafür höchst amüsiert. Ihre Fantasie reicht aus, um sich vorzustellen, wo die Hand des Typen steckt. Genervt dreht sie sich herum.

    Zuerst erkennt sie den kräftigen Körperbau sowie die breiten Schultern eines Hünen. Der lehnt mit vor der Brust verschränkten Armen am Türrahmen und lächelt sympathisch. Dann blickt sie in vertraute graue Augen.

    »Patrick? Was suchst du denn hier?«

    Der Anblick ihres Onkels ist so ziemlich das Schönste, was Danielle sich jetzt vorstellen kann.

    Er macht eine Kopfbewegung in Richtung der Tanzfläche. »Einer der Türsteher ist ein Freund von mir. Der hat dich erkannt und mich angerufen weil meine Nichte und ihre Freundin das Herren WC belagern. Das wollte ich mir persönlich ansehen.« Patrick tritt einige Schritte auf sie zu und rüttelt selbst an der Türklinke der Kabine. »Was ist los mit ihr?«

    Alex

    Donnerstag, 17. Februar. Noch sechs Wochen

    Der Morgen drängelt sich langsam in Alex Wahrnehmung und verscheucht den düsteren Traum vorerst in die Tiefen des Unterbewusstseins. Unabsichtlich, davon ist sie überzeugt. Erschöpft vergräbt sie ihren Kopf unter der Bettdecke, um sich noch eine Weile vor dem Tag zu verstecken. Immerhin hat der Wecker nicht einmal geklingelt.

    Im Schutz ihres Kokons versucht sie, sich an den Traum zu erinnern, bis ein rauschendes Geräusch unaufdringlich durch die Schlafzimmertür dringt und sie ablenkt.

    Die Dusche?

    Im ersten Impuls schreckt Alex hoch. Dann kommt ihr der Gedanke, dass Ryan gestern noch hergekommen sein muss. Verwundert darüber lässt sie sich zurück in die Kissen fallen. Damit hatte sie nach ihrem Streit nicht mehr gerechnet. Aber er duscht. Das heißt, ihr bleibt Zeit, um in Ruhe einen Kaffee zu trinken, bevor sie sich der schlechten Stimmung stellt, die zweifellos vorherrschen wird.

    »Ich habe Venia deine Schlüssel gegeben, damit wir die Wohnung und dieses heruntergekommene Haus endlich loswerden können.«

    Diese Worte, gestern im Auto reichten aus, um Alex aus der Haut fahren zu lassen. Damit hat er das letzte bisschen Toleranz, welche sie seinem respektlosen Verhalten entgegenbringen konnte, irgendwo zwischen zwei Kreuzungen auf die Straße geworfen. Im Rückspiegel sah Alex, wie der Bus hinter ihnen gnadenlos drüber gefahren war.

    Der Streit, der daraufhin entbrannte, zog sich lautstark, bis Ryan irgendwann das Weite suchte.

    »Mach dich nicht lächerlich. Diese Verlobung ist für uns beide die beste Option, das weißt du«, kommentierte er ihre Äußerung, sich von ihm trennen zu wollen.

    Alex schüttelt den Kopf, verscheucht die Gedanken und erinnert sich an ihren Kaffee. Bevor Ryan aus der Dusche kommt. Dazu muss sie allerdings aufstehen. Wie spät ist es überhaupt? Sie dreht sich herum. Halb sechs, strahlen die Ziffern des Weckers ihr in einem teuflischen Rot entgegen. Eineinhalb Stunden hätte sie noch schlafen können.

    Die Frage, ob sie es lieber mit dem Monster aus ihren Träumen oder denen in ihrem Alltag aufnehmen möchte, stellt sie sich schon lange nicht mehr. Stattdessen kämpft sie sich nun endlich aus dem Bett, zieht ihren Satin-Morgenmantel über und schlendert in die Küche. Dort steht sie unverhofft ihrem Bruder gegenüber.

    »Wow. Hätte ich gewusst, dass du einen Quickie unter der Dusche planst, wäre ich doch wieder ins Hotel gefahren«, begrüßt er sie in einem derart vergnüglichen Ton, dass sie ihn am liebsten aus dem Fenster werfen würde.

    Hektisch zieht Alex den Morgenmantel zu. »Was suchst du um halb sechs morgens gut gelaunt in meiner Küche?«

    »Bleib locker. Ich habe Schlimmeres gesehen als meine Schwester in Unterwäsche. Ryan und ich haben einen Termin. Eigentlich wollte ich ihn abholen, er hat verschlafen. Jetzt warte ich, dass er mit Duschen fertig wird. Kaffee?«

    Genervt nickt sie und reißt ihm die Tasse aus der Hand.

    »Nicht, warte …«, versucht er zu warnen. Doch zu spät. Alex hat vergessen, dass Ryan und ihr Bruder dem Kaffee vor einigen Monaten abgeschworen haben.

    Der kräftige Schluck ungesüßter Schwarztee verkürzt ihre ohnehin kaum vorhandene Zündschnur noch einmal.

    Mit gespielt angeekelter Mine, unter der sie das Lachen sehen kann, wendet er sich ab und holt eine neue Tasse aus dem Schrank. Ohne darauf zu warten stampft Alex auf ihren Balkon. Dort setzt sie sich, zieht den Aschenbecher unter dem Tisch hervor und steckt sich eine Zigarette an. Vier Züge später tritt er zu ihr heraus und überreicht ihr eine Tasse.

    »Ich dachte, du wolltest mit dem Rauchen aufhören?«

    »Habe ich«, antwortet sie und zieht ein weiteres Mal.

    »Ryan hat gesagt, er musste auf dem Sofa schlafen, weil ihr Streit hattet.«

    »Ryan musste gar nichts. Er hat ein eigenes Bett. In seiner Wohnung.«

    »Wieso wehrst du dich so dagegen, deine Immobilien zu verkaufen?«

    »Wann geht dein Flugzeug?«, wechselt Alex das Thema und hofft, dass er den Wink versteht.

    »Nach dem Termin. Keine Sorge, heute Nachmittag bin ich wieder in Manhattan. Seattle ist mir zu nass.«

    »Die meisten Frauen ziehen etwas an, bevor sie auf den Balkon gehen«, erklingt überraschend eine Stimme, die sie herumfahren lässt.

    »Die Verlobten dieser Frauen laden nicht einfach Gäste ein, die sie gut gelaunt überfallen, wenn sie halb nackt die Küche betreten«, gibt Alex zurück und steht auf. Sie will nicht wieder streiten.

    »Ich bitte dich, das ist dein Bruder. Der hat Schlimmeres gesehen, als dich in Unterwäsche. Wobei du durch das Rauchen nicht attraktiver wirst.«

    Einen Augenblick mustert Alex ihren Verlobten stumm. Eins neunzig, in einem sündhaft teuren Anzug, der perfekt sitzt. Seine schlanke Figur wirkt durch die Größe beinahe hager. Die braunen Haare passen zu den dunklen Augen und sind wie immer penibel gestylt.

    Dann zieht sie ein letztes Mal an ihrer Zigarette, steckt diese in Ryans Tasse, nimmt ihre eigene und verlässt wortlos den Balkon. Deeskalation zählte noch nie zu ihren Stärken. Die Schritte, die ihr folgen, machen das deutlich.

    Im Schlafzimmer schließt Ryan die Tür hinter sich und bekommt ihr Handgelenk zu packen. Mit diesem Griff löst er augenblicklich Panik aus. Ihre Haut unter seiner Hand juckt. Hektisch atmend zerrt sie an ihrem Arm.

    »Lass mich los, Ryan.«

    Sein Griff festigt sich. »Musst du dich so aufführen? Wir sind nicht alleine«, zischt er auffallend leise.

    Was logisch ist. Ein solches Verhalten soll niemand mitbekommen. Schließlich will seine charmante, stets zuvorkommend freundliche Fassade gewahrt werden.

    Die Berührung an ihrem Handgelenk brennt mit jeder Sekunde mehr. Es lässt einen Sturm in ihrem Kopf aufkommen. Alex will raus aus dieser Situation. Weg von Ryan.

    Das abschließbare Badezimmer sollte dem entgegenkommen. Also drängelt sie sich an ihrem Verlobten vorbei. Der zieht sie zurück.

    »Ich rede mit dir, lass mich nicht einfach stehen.«

    »Das Gespräch ist beendet. Ich gehe duschen. Wenn du nicht riskieren willst, dich vor deinem besten Freund mit mir zu streiten, laut, dann seid ihr beide aus meiner Wohnung verschwunden, bis ich fertig bin. Jetzt lass mich los!«

    Eine simple, aber effektive Drohung.

    Sich in Gegenwart anderer zu streiten ist Ryan ebenso zuwider wie eine Frau, die sich nicht seinen Erwartungen gemäß verhält.

    Er gibt ihren Arm frei, wirft ihr gleichzeitig einen eisigen Blick zu. »Darüber reden wir noch.«

    Sofort drängt sie sich an ihm vorbei. Die Badezimmertür verschließt sie hinter sich und lehnt mit dem Rücken dagegen. Langsam sinkt Alex zu Boden und zieht hektisch die Ärmel ihres Morgenmantels runter, um die Narben an ihren Handgelenken darunter zu verstecken. Relikte ihrer Begegnung mit dem Narbensammler.

    Diesem Monster nicht die Kontrolle ihrer Gedanken zu überlassen verlangt ihr alle Konzentration ab.

    »Er ist tot«, flüstert sie sich selbst zu, um sich die Realität deutlich zu machen und nicht von dem Sturm in ihrem Kopf mitgerissen zu werden. Mit einer Hand drückt sie ihr Handgelenk, bis es wehtut.

    Patrick

    Donnerstag, 17. Februar. Noch sechs Wochen

    Skeptisch beobachtet Patrick, wie Scottie keuchend auf die Knie sackt. Sie beugt sich vor, stützt auf ihre Hände und atmet eine Weile angestrengt den Boden an, ehe sie sich auf den Rücken fallenlässt.

    »Sadist!«, wirft sie ihm entgegen, während sie sich mit beiden Händen Luft zufächelt.

    Patrick zieht eine Augenbraue hoch. »Sadist? Du wolltest doch unbedingt«, gibt er zurück, bemüht, einen ernsten Ton anzuschlagen, der sein Schmunzeln überdeckt.

    Sie schnaubt verächtlich. »Ich konnte nicht ahnen, dass du aus Spaß Leute quälst.«

    »Du bist nur verweichlicht. Komm schon, hoch mit dir. Eine Runde noch, bevor wir zur Arbeit fahren.«

    Grinsend reicht er ihr eine Hand, um ihr aufzuhelfen, woraufhin sie entschieden den Kopf schüttelt.

    »Nein. Ich will unter die Dusche. Wieso kannst du überhaupt noch atmen? Du verdienst keinen Sauerstoff.«

    »Weil ich weniger verweichlicht bin. Du wolltest deine Kondition verbessern. Jetzt steh auf, Scottie. Es sind acht Grad und du liegst im Park mitten auf dem Gehweg. Nach Hause laufen wir so oder so. Ich werde dich nicht tragen.«

    Ihre Lippen verzieht sie zu einem Schmollmund. »Wozu hast du sonst all diese Muskeln?«

    Als sie schließlich wieder auf den Beinen ist, bittet sie Patrick eindringlich, den Heimweg zu gehen. Sie will nicht weiter joggen.

    »Machst du das wirklich jeden Morgen? Vielleicht bist du doch eher ein Masochist.«

    »Du hast keine Ahnung, was du da red…« Patricks Aufmerksamkeit wird von seiner Kollegin weg auf eine hübsche Blondine gezogen. Die joggt an den beiden vorbei und wirft ihm ein zuckersüßes Lächeln zu. Einen Augenblick schaut er ihr hinterher. Dann gilt seine Konzentration wieder Scottie.

    Diese versprüht böse Funken in seine Richtung. »Hast du der Frau eben auf die … auf ihre Oberweite gestarrt?«

    »Auf den Arsch, wenn du es genau wissen willst.«

    Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnt Patrick zwei Stunden später im Department an seinem Schreibtisch.

    Amüsiert schaut er Scottie bei ihrem Treiben zu. Ihr dunkelblondes Haar ist vorgefallen und hängt beinahe in dem Pappbecher, auf dessen Rand sie beißt, um ihn festzuhalten. Mit einer Hand hält sie gleichzeitig ihr Handy und ihre Handtasche auf, während sie mit der anderen darin herumwühlt.

    »Was macht sie da?«, erkundigt sich Ben neugierig und lehnt sich ebenfalls an den Schreibtisch.

    »Sie sucht ihr Handy«, klärt Patrick seinen Freund auf.

    Ben nickt. »Wann hast du vor ihr zu sagen, dass sie es in der Hand hält?«

    »Ich wollte mal sehen, ob sie es bemerkt.«

    »Was soll das mit dem Becher?«, fragt Ben als Nächstes.

    »Sie hat keine Hand frei, weil sie ihr Handy sucht.«

    »Wann hast du vor ihr zu sagen, dass direkt neben ihr ein Tisch steht?«

    »Dasselbe Prinzip«, gibt Patrick grinsend zurück.

    »Du bist ein Arsch.«

    »Ich weiß. Lassen wir ihr noch einen Moment. Du wolltest mich sprechen?«

    Ben nickt erneut. Diesmal ernst. Das bedeutet nie etwas Gutes. Der sonst selbstsichere und stets humorvolle Detective wirkt plötzlich alles andere als das. Eine zögerlich vorgetragene Bitte lässt Patrick seine Partnerin augenblicklich vergessen. Die Entgeisterung steht ihm scheinbar ins Gesicht geschrieben, denn Ben spricht eilig weiter.

    »Komm schon, Ricky. Ich weiß, du fühlst dich schuldig, nach dem, wie es damals gelaufen ist. So schlimm wird es vielleicht nicht. Alex braucht Hilfe. Es ist wichtig.«

    Dass Ben noch in Kontakt zu ihr steht, war Patrick nicht bewusst. Er wollte es auch nicht wissen. Die Dringlichkeit in der Stimme seines Freundes versucht er zwar zu überhören, doch das will ihm nicht gelingen. Widerwillig stimmt er schließlich zu, heute Abend zu seiner Ex zu fahren. Das wird unangenehm.

    Ben nickt zufrieden, dann richten die beiden Polizisten ihre Aufmerksamkeit wieder auf Scottie.

    »Da zieht Ärger auf.« Ben deutet in ihre Richtung.

    Neben ihr hat sich Taylor Smith eingefunden. Ein rückgratloser Kollege der Mordkommission, der nach Patricks Ansicht überflüssiger kaum sein könnte. Seit Scottie vor elf Monaten als frisch gebackener Detective seine Partnerin wurde, hat dieser Typ sie auf dem Kieker. Viel zu oft sah Patrick sich gezwungen, einzugreifen, weil sie sich dessen aufdringliche Verhalten gefallen ließ.

    Sein Blick klebt an den beiden. Taylor nimmt ihr den Kaffeebecher ab und sagt etwas, das Patrick aus der Entfernung nicht versteht. Das ist auch nicht nötig.

    Scottie erstarrt augenblicklich. Nahezu bewegungslos steht sie da. Die Lippen zusammengepresst. Mit geröteten Wangen schaut sie zu Boden, während Taylor ein schmieriges Lächeln aufsetzt.

    Patrick tritt vor, wird aber prompt von Ben gestoppt.

    »Nein. Gib ihr die Gelegenheit, das selbst zu klären.«

    »Wird sie nicht. Er steht im Rang über ihr. Sie glaubt, er hört schon irgendwann damit auf.«

    »Du kannst sie nicht immer beschützen, Ricky. Scottie arbeitet seit fast einem Jahr hier und muss endlich lernen, sich durchzusetzen. Sie braucht ein dickeres Fell.«

    »Was sie braucht, ist Selbstbewusstsein.«

    »Davon hast du mehr als genug, auch wenn du ihr die Hälfte abgibst.«

    Kommentarlos beobachtet Patrick seine Partnerin weiter. Jetzt tritt Taylor hinter sie. So nahe, dass das unangenehme Gefühl bis zu ihm herüberweht.

    »Schluss damit.« Ohne sich aufhalten zu lassen, schießt Patrick rüber, nimmt Scottie am Arm, zieht sie ein Stück zu sich und baut sich schützend vor ihr auf.

    »Glatze, was soll das? Wir haben uns gerade unterhalten«, blafft Taylor ihn an.

    »Du kannst zwischen einem Gespräch und Belästigung nicht unterscheiden, das ist allgemein bekannt.«

    »Wenn ihr etwas nicht gefällt, kann sie es mir sagen.«

    »Du hörst dich selbst zu gerne reden, da kommt kaum ein anderer zu Wort. Hat deine Frau mir erzählt.«

    Taylors Gesichtszüge verdunkeln sich. »Das entspricht deinem Niveau, Glatze. Ich habe drei Tote, also kümmere mich mal um richtige Fälle.« Er drückt Patrick den Kaffeebecher in die Hand und stolziert davon.

    Kopfschüttelnd sieht er ihm hinterher und reicht seiner Kollegin ihren Kaffee. »Können wir los?«

    Sie fängt sofort wieder an, in ihrer Tasche herumzuwühlen. »In einer Minute, Ricky. Ich suche mein Handy. Ich glaube, es liegt im Auto. Oder ich habe es verloren. Aber eigentlich müsste es hier irgendwo sein. Wenn ich es verloren habe, wäre das echt blöd. Vielleicht fahren wir noch einmal bei mir vorbei. Möglich, dass ich es zu Hause vergessen habe.«

    All das blubbert in atemberaubender Geschwindigkeit aus ihr heraus. Grinsend nimmt Patrick ihr das Handy aus der Hand und reicht es ihr zurück. »Können wir dann?«

    Irritiert zieht sie die Augenbrauen runter und funkelt ihn aus verengten Augen böse an. »Deswegen hast du mich die ganze Zeit beobachtet.«

    Auf dem Weg zum Auto fangen seine Gedanken an, sich um Alex zu drehen. Ihre braunen Haare, ihre großen Augen, ihre engen Röcke … Es ist zwei Jahre her, seit er sie zuletzt gesehen hat. Damals versteckte sie sich in dem Haus ihrer besten Freundin vor ihm. Als sich dieses Bild in seinem Kopf festsetzen will, bemerkt er, dass Scottie rennt, um mit ihm Schritt zu halten.

    »Wie fühlst du dich?«, fragt er sie und wird langsamer.

    Sie senkt ihren Blick. »Danke für die Rettungsaktion.«

    »Schau nicht auf den Boden. Was hat er gesagt?«

    An seinem Auto presst sie ihre Lippen zusammen und steigt wortlos ein. Patrick muss ein weiteres Mal fragen.

    »Er hat den Becher genommen und gesagt, es gibt Besseres, womit sich mein Mund beschäftigen kann«, klärt sie ihn verlegen auf.

    »Dieser Typ ist ein Tiefschlag für die Evolution. Wieso lässt du dir das gefallen?«

    »So schlimm ist das nicht. Der wird schon irgendwann damit aufhören.«

    »Nur wenn du dich dagegen zur Wehr setzt. Du bist klein, süß und leicht aus der Fassung zu bringen, Scottie. Ein gefundenes Opfer für so jemanden. Das ist Belästigung und das weißt du.«

    »Ich bin eins fünfundsiebzig. So klein ist das gar nicht. Meine Frau sagt das Gleiche. Aber er meint das bestimmt nicht so. Macho-Platzhirsch-Alphatier-Blödsinn. Einer wie du kennt sich damit doch aus.«

    Resigniert schüttelt Patrick den Kopf. »Wie du meinst. Aber er wird nicht aufhören, solange du ihm keine Grenzen aufzeigst. Ein netter Mensch zu sein hilft da nicht.«

    »Das predigst du ständig. Ich bin anders als du. Ich will kein Arsch sein. Da, wo ich herkomme, ist man nett zueinander. Wir fangen keinen unnötigen Streit an, provozieren nicht. Wir können uns entschuldigen und suchen die Fehler nicht immer bei anderen. Wobei wir auch nicht alles so eng sehen wie ihr Städter. Wir sind höflich und freundlich. Go Vikings«, sprudelt es aus ihr heraus.

    Patrick sieht zu ihr herüber und zieht eine Augenbraue hoch. »Go Vikings?«

    Scottie nickt eifrig. »Was meint er mit richtige Fälle?«

    »Wir kümmern uns um Sexualstraftaten und er sich um Morde. Deswegen hält er sich für wichtiger.«

    Ihrem Blick nach zu urteilen passt ihr das genau so wenig wie ihm. »Taylor scheint aber auch nicht dein größter Fan zu sein. Was hat er gegen dich?«, fragt sie ihn während der Fahrt.

    »Ich hatte eine Affäre mit seiner Frau.«

    »Ricky!« Tadelnd schüttelt Scottie den Kopf. Ihre grünen Augen verengen sich und funkeln böse.

    »Um Mal fair zu bleiben, ich wusste nicht, wer sie war. Nachdem ich es herausgefunden habe, habe es beendet.«

    Mit einem Schnauben macht sie ihm klar, dass sie dies als Ausrede abtut. »Wenn du die Frauen erst kennenlernen würdest, hättest du weniger Probleme. Ein guter Mensch tut so etwas nicht.«

    »Ich habe nie behauptet, ein guter Mensch zu sein, bin aber deiner Meinung. Verheiratete bringen mehr Ärger als Spaß. Deswegen habe ich das beendet.«

    »Wie kannst du mit einer Frau zusammen sein, ohne wenigstens ihren Nachnamen zu kennen?«

    »Wir waren nicht zusammen und haben nicht viel geredet. Die Exkursion in mein Liebesleben ist jetzt zu Ende.«

    Mit Scottie über Sittlichkeit zu diskutieren macht keinen Spaß. So viel hat Patrick im letzten Jahr verstanden. Sie hat Wertvorstellungen, die sich grundlegend von seinen unterscheiden. In ihrer Welt wird Sex hinter geschlossenen Schlafzimmertüren praktiziert und ist fest verbunden mit Liebe und emotionaler Bindung. Menschen gehören sowieso in Beziehungen, Affären oder gar One-Night-Stands sind dreckig und unanständig.

    »Soll mir recht sein. Wir brauchen uns gar nicht unterhalten. Ich kann auch mysteriös schweigsam sein.«

    Mit hochgezogener Augenbraue mustert Patrick seine Partnerin und ihre vor der Brust verschränkten Arme. »Du hast viele tolle Eigenschaften und Fähigkeiten, Scottie. Das gehört nun wirklich nicht dazu. Was hast du plötzlich für ein Problem?«

    »Gar keins«, gibt sie schnippisch zurück, beugt sich vor und drückt auf einen Knopf am Radio.

    Patrick zuckt mit den Schultern. »Wie du meinst.«

    Gedanklich gesteht er ihr dreißig Sekunden mysteriös schweigsam zu. Er zählt innerlich bis fünfundzwanzig, als sie erneut auf den Knopf drückt.

    »Es ist schwierig, dich kennenzulernen. Wir unterhalten uns nur über Berufliches. Du mauerst, sobald es privat wird. Obwohl ich mir wirklich Mühe gebe, weiß ich nach einem Jahr so gut wie nichts über dich. Ich habe gehofft, dass wir uns irgendwann näher stehen. Wir sind immerhin Partner. Ich finde, ich habe ein Recht darauf wenigstens irgendetwas über dich zu wissen.«

    »Du hast das Recht auf eine eigene Meinung.«

    »Sag ich doch … Moment was?« Verärgert zieht sie ihre Augenbrauen zusammen.

    Ein kurzes Lachen kann Patrick sich nicht verkneifen. »Was willst du denn wissen?«

    »Keine Ahnung. Wie ist dein zweiter Vorname?«

    »Jonathan.«

    »Jonny. Das ist ein toller Name. Dann bist du ja ein P.J.« Plötzlich quietscht sie entzückt. »Das ist süß. Wieso nennt dich niemand so?«

    »Weil das kein Name ist.«

    »Jetzt sei nicht knurrig. Darf ich dich P.J. nennen?«

    »Nicht wenn du eine Antwort erwartest.«

    Vibration unterbricht diese irritierend sinnlose Unterhaltung. Es ist Patricks Handy. Ein Anruf, der ihn die Route ändern lässt. Er steuert das Krankenhaus an.

    Es gibt ein neues Opfer.

    Patrick

    Donnerstag. 17. Februar. Noch sechs Wochen

    Nach dem Anruf lenkt Patrick seinen Wagen auf direktem Weg zum Krankenhaus und seine

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