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Nervenspiel: Nur einer spielt
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eBook617 Seiten7 Stunden

Nervenspiel: Nur einer spielt

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Über dieses E-Book

Wir sind in Peru, mitten im Regenwald. Es gibt keinen Ausweg, nur die Gruppe.
Wer ist der erste? Drehen wir eine Flasche.
Veit ist kein normaler Achtzehnjähriger. Veit spielt ein Spiel.
Es gibt nur einen, der es sicher überlebt.

Setz dich doch zu uns.
SpracheDeutsch
HerausgeberWOLFSTEIN
Erscheinungsdatum13. Nov. 2023
ISBN9783954521241
Nervenspiel: Nur einer spielt

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    Buchvorschau

    Nervenspiel - Friederich Benedict

    Prolog 

    Als die Polizisten in die kleine Hütte kamen, in der wir über fünf Tage lang eingesperrt waren, bewegten sie sich langsam. Als hätten sie Angst, einer von uns würde sie gleich anspringen. Sobald sie ihn sahen, stürzten sie sich auf Daniel, den blonden Riesen. Wir hatten ihn nach dem vierten Tag an die Heizung gefesselt, die natürlich keine Hilfe gegen die Kälte gewesen war, da sie – wie zu erwarten in so einer Situation – nicht funktionierte. Jetzt sah ich, wie zwei der Polizisten ihn vorsichtig von den Fesseln befreiten, während ein dritter mit vorgehaltener Pistole zuschaute. Sein linkes Augenlid zuckte leicht. Er würde nicht zögern, abzudrücken, falls er musste, das spürte ich.

    Der Junge dagegen war fast apathisch; er wehrte sich nicht. Versuchte nicht mal mehr, seine Unschuld zu beteuern, so wie gefühlt tausend Male zuvor. Seine Reserven waren leer. Kein Wunder. Ich sah ihm ein letztes Mal in die dunklen, blutunterlaufenen Augen, in denen so viel Hass lag, als er meinen Blick erwiderte. Ein neunzehnjähriger Junge, der eigentlich noch das ganze Leben vor sich gehabt hatte. Bis zu diesem Mountainbike-Trip, bei dem er einen seiner besten Freunde in der Nacht erschlagen hat. Zumindest glaubten wir das. Oder halt – das stimmt so nicht ganz. Die anderen glaubten das. Ich nicht.

    Denn ich bin der wirkliche Mörder.

    Bevor ich mehr dazu sage, möchte ich mich vorstellen. Also, ich heiße Veit. Falls ihr jetzt das Bild eines klassischen Wahnsinnigen im Kopf habt, muss ich euch enttäuschen. Ich glaube, ich wirke ziemlich normal. Ich bin durchschnittlich groß, knapp über eins achtzig, und habe mittellange, schwarze Haare. Ich weiß, dass ich attraktiv bin, vor allem meine hellblauen Augen kommen oft gut an, aber ich bin auch kein Adonis. Niemand, nach dem sich alle umdrehen, wenn er vorbeigeht. Achtzehn Jahre alt, sportlich, relativ faul in der Schule. Normal halt.

    Bei meinen Eltern ist das was anderes, die unterscheiden sich von den meisten Leuten. Sie sind irre reich, was heißt, dass wir in einer großen Villa wohnen und fünf Porsche in der Garage stehen haben. Das heißt allerdings auch, dass sie fast nie zu Hause sind, da sie im Ausland arbeiten. Was sie da machen, kann ich euch, um ehrlich zu sein, gar nicht so genau sagen. Ganz einfach aus dem Grund, dass es mir ziemlich egal ist. Sie bringen Geld heim, ich kann mir kaufen, was ich will, machen, was ich will, Partys veranstalten, so viele ich will … Kurz und gut, ich kann all das machen, was sich wohl die meisten Jugendlichen auf der Welt sehnlichst wünschen. Das Ärgerliche ist nur, dass ich weder Geschwister noch viele Freunde in der Nähe habe, wodurch mir meistens unheimlich langweilig ist. In die Schule gehe ich nur ungefähr jeden zweiten Tag, was die Lehrer wahrscheinlich sogar freut. Dennoch habe ich es mittlerweile geschafft, eine Attestpflicht zu bekommen, aber auch das ist dank der Beziehungen meiner Eltern kein Problem. Und selbst wenn es eins wäre, ich habe sowieso keine besondere Lust auf das Gymnasium. Ich mache das nur, weil ich mich ziemlich leicht tue mit den Prüfungen und nicht groß lernen muss. Welchen Schnitt ich am Ende haben werde, ist mir herzlich egal.

    Das mag für euch jetzt alles ganz cool klingen, aber ich muss zugeben, dass ich meine Eltern eigentlich nicht besonders mag. Liegt vielleicht daran, dass ich ihnen genauso egal bin wie sie mir. Und die Tatsache, dass ich sie nun seit fast neun Monaten nicht mehr persönlich gesehen habe, mag auch eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen.

    Vielleicht versteht ihr jetzt ja, dass ich manchmal trotz des ganzen Geldes vor Langeweile fast eingehe. Da kommt man dann halt auf etwas besondere Ideen.

    Meine Idee war ein Spiel. Kein langweiliges Brettspiel, das insgeheim niemand leiden kann. Auch kein Computerspiel. Nein, ich dachte mir, es sollte etwas Außergewöhnliches sein. Etwas Einfallsreiches.

    Am Anfang hatte ich natürlich meine Zweifel. Ich hatte Angst, das Ganze nicht durchziehen zu können, Angst, dass ich irgendwas falsch machen würde, was mich dann in den Knast bringt. Aber das erste Mal ist ganz gut gelaufen, und das zweite Mal war ich dann schon deutlich entspannter. Nummer drei war das Mountainbike-Camp. Aber erstmal von Anfang an.

    Ich habe schon immer gerne diskutiert. Mit Lehrern, mit Mitschülern, mit meinen Eltern, wenn sie denn mal da waren … Und ich muss sagen, ich habe meine Diskussionen fast immer gewonnen. So bin ich dann auch auf das Spiel gekommen: Ich wollte austesten, ob ich die anderen auch in Extremsituationen intellektuell besiegen kann. Es stellte sich heraus, dass das gar nicht so schwer war wie erwartet.

    Vielleicht kennt ihr das Spiel »Werwolf«? Wir haben das oft auf Klassenfahrten gespielt. Man muss die anderen davon überzeugen, dass man selbst nicht die Karte mit dem Täter – dem Werwolf – gezogen hat, also ein Opfer ist. Das kann man machen, indem man sich ganz still verhält und hofft, nicht aufzufallen, oder man fängt an, andere »Dorfbewohner« anzuklagen. Das macht die Sache dann nochmal deutlich spannender: Man versucht, dem Publikum weiszumachen, dass ein harmloses Mitglied der Gemeinde in Wirklichkeit der Werwolf ist. Dazu hat man die Möglichkeit, eine Anklagerede vorzutragen, worauf sich der Angeklagte verteidigen darf. Am Ende stimmen alle Mitspielenden ab, wer in der Dorfgemeinschaft hingerichtet werden soll. Wenn die Gemeinde richtig entscheidet, ist der Werwolf beseitigt. Wenn nicht … kann dieser sich in der Nacht sein nächstes Opfer suchen.

    Wie ihr euch denken könnt, habe ich dabei immer sehr gerne mitgemacht und ich stand meistens auf der Gewinnerseite, egal ob ich Opfer oder Werwolf war. Also habe ich mir gedacht, ich könnte mein eigenes Spiel doch so ähnlich gestalten. Ich werde euch jetzt so knapp wie möglich die Regeln erklären, und dann dürft ihr mich auf meinen neuen geplanten Ausflug, Spiel Nummer vier, begleiten. Na, wie klingt das?

    Zuallererst solltet ihr wissen, dass ich vor meinen Trips immer erst gründlich recherchiere. Ich suche mir also im Internet, in Zeitschriften oder in Broschüren passende Jugendorganisationen heraus, die zum Beispiel Campingausflüge anbieten. Dann schaue ich mir die Umgebungen an, anhand von Bildern oder Google Maps. Und dann fange ich an, nachzudenken. Denn man braucht einen passenden Ort, um mein Spiel spielen zu können. Einen Ort, der möglichst eng, möglichst ungemütlich und vor allem möglichst ausweglos ist. Eine Berghütte ist dafür zum Beispiel sehr geeignet, oder auch eine Höhle.

    Natürlich kommt man da nicht von Anfang an rein, erst recht nicht mit den Betreuern, die bei solchen Jugendausflügen immer dabei sind. Also muss ich versuchen, die anderen dazu zu überreden, mich auf eine »Tour auf eigene Faust« zu begleiten. Das kann manchmal kompliziert sein, da man sich sicher sein muss, dass kein Angsthase die Gruppe verpetzt. Wenn wir dann unterwegs sind, führe ich die anderen durch ein paar Tricks in eine ausweglose Situation, also zum Beispiel eine verschüttete Höhle. Ich will euch nicht langweilen, deshalb erspare ich euch Einzelheiten, aber ihr könnt euch sicher vorstellen, dass ich immer gut vorbereitet sein muss, um zum Ziel zu gelangen. Mehr verrate ich noch nicht, ich will euch ja nicht alles vorwegnehmen, wenn ihr dann gleich mitkommt. Ich kann euch aber schon mal sagen: Das Spiel ist ein verdammt guter Nervenkitzel!

    Ich saß auf dem Waldboden und sah gerade dabei zu, wie sich ein riesiger, brauner Bär aus dem Dickicht wälzte, als ein ohrenbetäubendes, schrilles Geräusch die friedliche Stille durchbrach. Der Bär und ich blinzelten uns verwundert an, dann riss der Himmel über mir auf und im nächsten Moment starrte ich an meine Zimmerdecke, mit der Erkenntnis, dass ich im Bett lag. Benommen versuchte ich, den Arm unter der Decke hervorzustrecken, zog ihn aber sofort wieder zurück, sobald ich die Kälte spürte. Ich zwang mich dennoch, mich aufzurichten und warf einen Blick auf die an die Decke projizierten Ziffern, die mir die Uhrzeit anzeigten. 6:30 Uhr. Erschöpft ließ ich mich wieder in die Kissen sinken und beschloss feierlich, die Schule heute zum wiederholten Mal zu schwänzen. Nachdem mein Entschluss gefasst war, presste ich auf den Knopf am Wecker, wo ich vermutete, das Getöse abzustellen, nur, um zwei Sekunden darauf von einem anderen, noch viel schrilleren und höheren Ton durchzuckt zu werden. Entnervt drückte ich auf drei oder vier verschiedene Knöpfe, bis der Störenfried endlich Ruhe gab. Dann schloss ich die Augen wieder und war zehn Sekunden später eingeschlafen.

    Als ich nach weiteren zweieinhalb Stunden dann endgültig aufwachte, schlappte ich ins Badezimmer, klatschte mir mit Wucht drei Ladungen kaltes Wasser ins Gesicht und zog mich anschließend an. Blaue Jogginghose von Adidas und gelbes Hemd von Armani. Mein Vater würde mich wahrscheinlich umbringen, wenn er wüsste, wie ich mich manchmal anzog. Schließlich hatte ich bei drei Kleiderschränken genügend geschmackvollere Kombinationsmöglichkeiten.

    In der Küche nahm ich eine Tasse aus dem Schrank – die letzte, ich musste dringend mal wieder die Spülmaschine einräumen – und löffelte zwei Landungen Kakaopulver hinein. Dann stellte ich sie unter die Kaffeemaschine und drückte auf »Caffè Crema«. Kurz umrühren – fertig. Bestes Getränk zum Aufwachen.

    Nachdem ich mir zwei kräftige Schlucke genehmigt hatte, griff ich, wie jeden Morgen, zur Zeitung. Wieder mal eine ernüchternde Masse an Katastrophen. Wem konnte es heute überhaupt noch Spaß machen, Zeitung zu lesen, bei den Nachrichten? Kopfschüttelnd legte ich sie beiseite und griff mir das Jugendheft, das ich mir gestern Nachmittag besorgt hatte. Ich schlug es auf und überflog die Zeilen. Kreuzfahrt zu gewinnen. Ich runzelte die Stirn und sah nochmal vorsichtshalber auf das Titelblatt. Eindeutig ein Jugendheft. Ich hob die Augenbrauen. Welcher Jugendliche will denn heutzutage noch eine Kreuzfahrt mit lauter Achtzigjährigen gewinnen? Ich suchte weiter und stieß auf eine Doppelseite über irgendwelche TikTok-Stars, die ich schon überblättern wollte, als mir in einer Spalte rechts eine Anzeige ins Auge sprang. Die dicke, grüne Überschrift klang vielversprechend: »Wir machen unser eigenes Dschungelcamp!« stand da, umringt von Lianen und Schlangen. Ein »Dschungelcamp« also. Interessiert überflog ich die Zeilen.

    Es war tatsächlich ein Jugendcamp im Urwald. Organisiert von einer deutschen Agentur; die Reise sollte aber nach Peru gehen. Ich fing an, die Beschreibung zu lesen:

    »Du wolltest schon immer mal raus in die richtige Natur? Du wolltest schon immer mal in echter Dschungelatmosphäre ein Lagerfeuer machen? Du wolltest schon immer mal … nach PERU? Dann bist du bei uns genau richtig! Wir organisieren einen aufregenden Abenteuertrip mitten in die Wildnis Südamerikas! Geplant ist ein dreiwöchiger Aufenthalt in einem Camp, in dem du Überlebenstipps lernst, die du bei kleinen Touren zu Fuß gleich praktisch anwenden kannst – natürlich mit einem erfahrenen Guide an deiner Seite. Wenn du also Lust hast, zusammen mit bis zu neun anderen Jugendlichen dieses Abenteuer zu erleben, melde dich noch heute an! Unser Team freut sich auf dich!«

    Darunter stand ein Link zu einer Website sowie eine E-Mail-Adresse für die Anmeldung und Fragen. Zufrieden nahm ich noch einen Schluck Kaffee und griff nach einer Schere. Nachdem ich den Artikel ausgeschnitten hatte, steckte ich ihn mit einem Reißnagel an eine Pinnwand, die ich extra für solche Anzeigen angelegt hatte. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete, was ich bis jetzt so gesammelt hatte. Ein Surf-Camp in Frankreich. Ein Kletter-Kurs in den Bergen Österreichs. Zwei verschiedene Wander-Clubs in deutschen Wäldern. Ein Beachvolleyball-Camp an einem Strand in Italien. Und das »Dschungel-Abenteuer«.

    Ich musste nicht lange überlegen.

    Ich wollte schon immer mal nach Südamerika.

    Ich stand am Flughafen in Frankfurt und fror. Der Regen prasselte mir eiskalt ins Gesicht und es fiel mir zugegebenermaßen nicht leicht, mir vorzustellen, dass ich mich in weniger als zwanzig Stunden in der tropischen Hitze Südamerikas befinden würde. Es fiel mir dagegen ziemlich leicht, mir vorzustellen, wie schön warm und trocken es doch wäre, wenn ich in der Flughafenhalle warten könnte. Aber Treffpunkt war nun mal der Platz vor der Halle.

    Natürlich war ich wieder mal der Erste, nicht mal die Betreuer befanden sich in Sichtweite. Ich dachte kurz daran, wie meine Eltern sich gefreut hatten, als ich ihnen per Skype erzählt hatte, dass ich nach Peru fliegen würde. Für sie waren das drei weitere Wochen, in denen sie ihr ohnehin nicht gerade ausgeprägtes Gewissen beruhigen konnten. Also hatten sie mir die kostspielige Reise ohne zu zögern bezahlt. Lustige Vorstellung, dass sie dadurch sozusagen zu Mord-Sponsoren wurden.

    Ich rieb mir mit der Hand über den Kopf und bereute dabei sehr, keine Jacke mit Kapuze angezogen zu haben. Meine Haare sahen wahrscheinlich aus wie nasses Hundefell. Ich schüttelte mich. Wo blieben denn die anderen? Ungeduldig sah ich mich nach allen Seiten um. Niemand. Ich musste hier wie der größte Vollidiot aussehen, ganz allein im prasselnden Regen. Direkt vor dem Eingang in die überdachte Halle. Mit einem völlig durchnässten Rollkoffer in der Hand. Nicht dass es dem Koffer etwas ausmachte, der war dicht. Aber meine Geduld war nicht ganz so wasserabweisend.

    Nach beinahe fünfzehn Minuten wurde ich misstrauisch. Noch immer war niemand zu sehen, und eigentlich konnte das nicht sein. Entweder ich hatte eine Mail nicht bekommen und der Zeitpunkt hatte sich verschoben, oder …

    Ich warf einen Blick über die Schulter auf die Halle hinter mir. Hoffentlich hatte sich der Treffpunkt nicht nach drinnen verlagert. Dann würde ich eine schön blöde Figur machen, so durchnässt, wie ich war. Ich gab mir einen Ruck und beschloss, nachzusehen. Je näher ich der Flughafenhalle kam, desto sicherer war ich mir, dass alle bereits drinnen warten würden. Ich ärgerte mich sehr darüber, nicht früher auf die Idee gekommen zu sein. So würde ich nicht gerade einen Traumstart hinlegen. Eigentlich zog ich es vor, bei einem ersten Treffen einen positiven Eindruck zu hinterlassen und mich nicht gleich zum Affen zu machen.

    Ich betrat die Halle und sofort flog mir der Geruch von frischen Brötchen in die Nase. Ich hatte heute Morgen das Frühstück ausgelassen, und jetzt forderte mein Magen eindeutig seinen Tribut dafür. Ich sah mich um. Zuerst mal musste ich die Gruppe finden.

    Ich erblickte einen Haufen junger Touristinnen, die hysterisch Fotos von einem blonden Jungen schossen, der sich verstört an der Jacke seiner Mutter festklammerte. Daneben eine alte Frau, die ihrem noch älteren Mann mit einem Taschentuch die Nase abwischte. Sah nicht so aus, als würden die dazugehören.

    Genervt ließ ich meinen Blick über weitere Menschengrüppchen schweifen, sah aber niemanden, der aussah, als würde er mit einer Jugendgruppe nach Peru reisen. Also doch zum Bäcker. Ich entschied mich für ein Schinken-Ei-Sandwich mit viel Mayo, genau das Richtige für meine Zwecke. Gerade als ich mich ärgerte, dass ich nicht daran gedacht hatte, um eine Serviette zu bitten, spürte ich eine Hand, die sich fest um meine Schulter schloss.

    Ich zuckte zusammen und ließ das halbe Sandwich in einem eleganten Bogen auf den Boden segeln. Fluchend wischte ich mir die Hände an meinem Hemd ab und drehte mich um. Das verlegene Gesicht eines Mannes Anfang dreißig mit schwarzem Vollbart und Baseball-Cap blickte mir entgegen.

    »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken«, grinste er. Dann sah er schuldbewusst auf die Reste meines Frühstücks, die auf dem Boden verteilt lagen.

    »Soll ich dir ein neues kaufen?«

    Ich folgte seinem Blick. »Ach was. War sowieso fast fertig.«

    Der Mann lachte. »Na dann. Ich bin Flo, der Betreuer.« Dann musterte er mich genauer. »Du bist doch Veit, oder? Auf dem Bild warst du zwar nicht klitschnass, aber …«

    Ich musste lächeln und zuckte mit den Schultern.

    »Ja, ich hab nicht gecheckt, dass wir uns hier drinnen treffen.«

    Flo blickte mich verwundert an. »Du hast draußen gewartet? Tut mir leid, als es angefangen hat zu regnen, sind wir einfach rein. Hätten wir vielleicht irgendwo hinschreiben sollen.«

    Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sind denn schon alle da?«

    Er schüttelte den Kopf. »Nein, drei fehlen noch. Vielleicht schauen wir mal, ob die auch draußen sind.«

    Ich sah mich nach der Tür um. »Also, ich hab niemanden gesehen.«

    Der Betreuer zuckte mit den Schultern. »Dann warten wir einfach noch. Ich bring‘ dich mal zu den anderen.« Ich nickte und fuhr mir instinktiv mit den Fingern durch die nassen Haare. Ich war ein großer Anhänger des ersten Eindrucks. Wenn ich jetzt bei den anderen Jugendlichen wie ein Idiot rüberkam, würde es ganz schwer werden, diesen Eindruck schnell zu korrigieren. Ich erblickte links von mir einen Gang, der zu den WCs führte und gab Flo Bescheid, ich würde gleich nachkommen. Dann betrat ich die Herrentoilette und betrachtete dort mein Spiegelbild.

    Wie ich befürchtet hatte: Ich sah aus wie ein begossener Pudel. Ich versuchte, meine Haare in eine etwas ordentlichere Position zu bringen, aber auch nicht zu ordentlich. Dann zog ich Jacke und Hemd aus, ließ beides ins Waschbecken fallen und kramte mein Ersatz-Hemd aus dem Rucksack, das ich für solche Fälle meistens mitnahm. So weit so gut, nur die Hose war noch nass. Sah jetzt bei genauerer Betrachtung auch komisch aus, mit dem trockenen Hemd. Aber beim ersten Eindruck wird meistens sowieso nicht so genau auf die Beinpartie geachtet, also konnte ich das wohl verkraften. Ich checkte noch ein letztes Mal mein Aussehen, grinste probehalber meinem Spiegelbild zu und nickte zufrieden. So konnte ich mich durchaus sehen lassen.

    Schon beim ersten Schritt aus dem Gang bemerkte ich die Gruppe, die ungefähr fünfzig Meter weiter zu warten schien. Ich setzte mein charmantestes Lächeln auf und zwang mich, nicht zu schnell und doch bestimmt auf sie zuzugehen. Noch bevor ich sie erreicht hatte, kam mir ein blonder Junge mit mittellangen Haaren entgegen, der seine Hand ausstreckte und mir freundlich ins Gesicht lachte. Er schien ungefähr in meinem Alter zu sein und trug lockere Kleidung, wirkte aber trotzdem irgendwie wohlhabend.

    »Hey, alles klar?«, fing er an. »Ich hab gehört, dass du draußen warten musstest. Tut mir leid, Mann. Ich glaub‘, ich wär auch nicht reingegangen, wenn ich Flo nicht zufällig kurz vorher getroffen hätte.«

    Ich ergriff seine Hand und grinste zurück. »Kein Problem, meine Haare sehen so eh besser aus.« Er lachte. »Du heißt Veit, oder?«

    Ich nickte und scannte ihn dabei unauffällig. Seine Offenheit wirkte aufrichtig, zumindest auf den ersten Blick.

    »Und wer bist du?«

    Wieder lächelte der Junge. »Eigentlich Jonathan, aber ich hasse meinen Namen. Nenn‘ mich einfach Johnny.«

    »Geht klar, Johnny.«

    »Danke. Für dich auch irgendeinen Spitznamen? Jetzt ist die Chance.«

    Ich schmunzelte. »Das haben schon ganz andere versucht, mein Name ist da ungeeignet. Beiß‘ dir nicht die Zähne aus.«

    Johnny grinste. »Challenge accepted.«

    Als wir uns zur Gruppe gesellten, war ich zufrieden mit dem Start. Schien ein ganz cooler Typ zu sein, dieser Johnny. Mit ihm würde ich mich sicher gut verstehen. Fragte sich natürlich nur, für wie lange.

    Der nächste in der Gruppe, der mir sofort auffiel, war ein dürrer Junge, den ich ungefähr auf neunzehn schätzte und dessen Kopf bis auf einen schmalen Streifen in der Mitte kahlrasiert war. Der Streifen zog sich über seinen Schädel von knapp oberhalb der Stirn bis zum Nacken und war dunkelgrün gefärbt. Der Junge trug ausschließlich schwarze Klamotten, teilweise mit roten Totenköpfen und Schlangen geschmückt, und eine dicke Silberkette um den Hals, an der ein grün funkelndes Kreuz baumelte. Seine Ohrläppchen wurden durch zwei gewaltige, schwarze Knöpfe gedehnt, und an der Nase war ein goldener Ring zu erkennen. Die Tätowierungen an Unterarmen und Händen wurden noch durch schwarze und silberne Ringe an seinen Fingern unterstützt. Kurz: Er sah nicht nach jemandem aus, den man auf dem Cover der Apotheken-Umschau erwarten würde. Ich bemerkte, wie der Kerl meinen Blick mit einer seltsamen Intensität erwiderte und nach einem weiteren Augenblick seine Zähne fletschte. Dabei wurden zwei beeindruckende Eckzähne sichtbar, die aussahen, als seien sie künstlich zugespitzt worden. Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief und versuchte, die Situation mit einem breiten Grinsen zu entschärfen.

    »Hey Leute, ich bin Veit«, begrüßte ich die Gruppe. Einige erwiderten meinen Gruß, aber der tätowierte Typ blickte mich nur weiter mit diesem seltsam starren Gesichtsausdruck an. Ich gab es bei ihm vorerst auf und wandte mich den anderen zu.

    Da war einmal ein breitschultriger Muskelprotz mit dunklem Pferdeschwanz und hervorstehendem Kinn, der sich mir als Anton vorstellte. Dann noch ein langer, unsportlich aussehender Junge namens Marvin, der anscheinend mit einundzwanzig Jahren der Älteste von uns war, abgesehen von unserem Betreuer natürlich. Marvin trug eine Brille und eigentlich bin ich überhaupt nicht der Ansicht, dass Brillenträger automatisch Streber sind, ganz im Gegenteil, aber … bei ihm schien sich das Klischee zu bewahrheiten, da er gleich damit begann, uns mit unnötigen Fakten über Peru zuzuschwafeln. Mit sichtlicher Freude. Na, das konnte ja heiter werden. Ich beschloss, mich im Flugzeug auf keinen Fall neben ihn zu setzen.

    Ich lenkte meinen Blick auf die zwei anderen, die schon da waren. Zwei Mädchen. Die eine sah aus, als würde sie gleich in sich zusammenfallen, so verängstigt und unscheinbar war sie. Graue Klamotten, eine Brille, die so aussah, als hätte sie ihre Oma zur Einschulung bekommen und ein verschlissener Rucksack, den sie sich zwischen die Beine geklemmt hatte wie einen pferdelosen Sattel. Sie senkte den Blick sofort, als sie bemerkte, dass ich sie ansah. Etwas weiter rechts dann das krasse Gegenteil von ihr: eine vollkommen überschminkte Blondine, die mit bauchfreiem Top und Hotpants ihre attraktive Figur mehr als genug betonte. Sie lächelte mir gleich zu und ich lächelte zurück. Keine zwei Sekunden, und sie war auf dem Weg zu mir.

    »Hi!«, fing sie an. Ihre Stimme war genauso schrill wie ihr viel zu aggressives Parfüm.

    »Ich bin Larissa. Fliegst du auch nach Peru?«

    Was für eine dämliche Frage. Ich lächelte zuckersüß, ließ mir nichts anmerken und begab mich auf ihr Neandertaler-Niveau herunter: »Ja, du auch?«

    Sie lachte schrill auf und zeigte dabei strahlend weiße Zähne, auf denen ich meinte, einzelne Glitzersteine funkeln zu sehen.

    »Na klar, sonst wär‘ ich doch nicht hier, oder?«

    Mich hätte zwar brennend interessiert, warum es denn bei mir dann nicht genauso klar gewesen war, aber ich war gnädig mit ihr. Ich sah auf ihre knallrosa Plateau-Schuhe hinunter, deren hohe Absätze alles andere als flugzeugtauglich aussahen.

    »Nette Treter. Willst du damit auch in den Dschungel gehen?«

    Larissa lachte wieder und entgegnete strahlend: »Ich hab auch Flip-Flops im Koffer.«

    Bevor ich darüber nachdenken konnte, ob sie auf meine Ironie eingestiegen war oder das ernst meinte, fuhr sie mir mit ihren langen, lackierten Fingernägeln über die Kopfhaut.

    »Boah, du hast voll schöne Haare.«

    Flirtete sie schon mit mir? Eigentlich ein guter Start, aber ich musste vorsichtig sein. Schließlich war es wichtig, dass ich mir alle Optionen offenhielt. Generell versuchte ich, Beziehungen, die über normale gruppeninterne Flirts hinausgingen, zu vermeiden, es sei denn, es entstanden dadurch Vorteile für mich. Wenn ein Mädchen beispielsweise eine starke Stellung in der Gruppe einnimmt oder mit wichtigen Mitgliedern befreundet ist, kann es Gold wert sein, sie durch eine Liebesbeziehung hinter mir zu wissen. Das hatte ich bei meinen letzten Spielrunden gelernt. Also reagierte ich, indem ich lächelte, irgendein Kompliment zurückgab und Larissa dabei kurz tief in die Augen blickte. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Dann ließ ich absichtlich meinen Rucksack fallen, um die Situation zu beenden und drehte mich anschließend um.

    Ja, ich hatte richtig gehört: Ein Neuankömmling. Ich musterte den kleinen, rundlichen Jungen, der die Runde mit einem interessierten Blick betrachtete. Seine Augen blieben kurz an Johnny hängen, dann an mir, bis sie sich schließlich an den Muskelprotz Anton hefteten, auf den der Typ dann auch zielstrebig zulief. Er sprach mit ihm, wobei er sich immer wieder nervös durch die rappelkurzen roten Haare fuhr, dann blieb er stumm an seiner Seite stehen. Ich wusste sofort, was für eine Art Junge das war: ein Mitläufer. Er suchte sich den vermeintlich Stärksten aus der Gruppe aus und heftete sich dann an dessen Fersen, um immer auf der richtigen Seite zu stehen und keine Entscheidung selbst treffen zu müssen. Ich fand dieses Verhalten derart erbärmlich, dass ich eigentlich keine große Lust hatte, mich mit ihm zu beschäftigen. Leider sind es aber genau Typen wie er, die bei meinem Vorhaben sehr wichtig sein können. Sie stehen fast bedingungslos auf deiner Seite, wenn du derjenige bist, den sie sich als Vorbild nehmen. Ähnlich wie ein Hund. Ein erbärmlicher kleiner Hund, der ein Scheusal zum Herrchen hat, das ihn immer wieder tritt, und trotzdem bleibt er ihm treu bis in den Tod. Ich musste den Kerl unbedingt möglichst bald auf meine Seite locken. Und ich wusste auch schon, wie.

    Betont gleichgültig schlenderte ich in seine Richtung und tat so, als wollte ich nur zu Anton. Dabei würdigte ich ihn keines Blickes, bis ich ihm absichtlich mit voller Kraft auf den Fuß trat und so tat, als wäre es ein Versehen.

    »Oh Shit, sorry, Mann!«, fing ich an. »Ich hab dich nicht gesehen, tut mir leid. Geht’s wieder?«

    Nachdem der Kleine zwei-, dreimal wehleidig aufgejault hatte – übrigens tatsächlich wie ein Hund – beruhigte er sich schnell wieder und antwortete mit einer überraschend tiefen Stimme, die so gar nicht zu seinem Äußeren passte: »Ja, geht schon. Nichts passiert.«

    Ich nickte freundlich und machte mich wieder auf den Rückweg. Ich konnte seine Blicke förmlich in meinem Rücken spüren, während ich mich an eine Säule lehnte und in aller Ruhe ein Päckchen Kaugummis aus der Tasche holte. Während ich so kaute, zählte ich die Sekunden: Dreiundvierzig, vierundvierzig, fünfundvierzig … und schon war der Rotschopf an meiner Seite. Ich lächelte in mich hinein. Der erste Schritt war getan. Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn freundlich an.

    »Na, alles wieder cool mit dem Fuß?«

    Er grinste vorsichtig und trat ein paar Mal testweise auf der Stelle. Dann nickte er und fing gleich mit dem Schleimen an.

    »Cooles Hemd. Steht dir.«

    Ich hätte am liebsten laut gebrüllt angesichts einer so schmerzhaft peinlichen Schleimattacke, tat aber stattdessen so, als wäre ich tatsächlich geschmeichelt: »Danke! Ist neu.« Stimmte nicht, ich hatte das Hemd schon ewig, aber damit gab ich dem Kleinen das Gefühl, er hätte genau den richtigen Punkt getroffen. Er grinste auch tatsächlich und machte sogar einen kleinen Hopser. Es dauerte nicht mehr lange, und ich würde ihm aus Versehen ein Leckerli vor die Füße werfen. Wichtig war nur, dass er mich nicht nur als freundlich, sondern auch stark erlebte, damit er mich als seinen großen »Beschützer« empfand, für den er alles tat.

    Also fing ich an: »Wie heißt du eigentlich, Kleiner?«

    Ich sah in seinem runden Gesicht deutlich, wie er das »Kleiner« erstmal schlucken musste.

    Dann antwortete er: »Sven, und du?« Ich wartete kurz und versetzte ihm dann nach einem lauten Schnauben den nächsten Schlag: »Sven? Klingt wie aus einem Kinderbuch.« Ich lachte laut auf, als hätte ich einen super Witz gerissen.

    Der Junge schluckte wieder und zwang sich ein unsicheres Lächeln auf die Lippen. »Ja, äh, keine Ahnung. Ich find‘ den Namen auch blöd.«

    Na sicher, dachte ich bei mir. Wenn ich gesagt hätte, der Name ist cool, hättest du ihn auch cool gefunden. Ich nickte verständnisvoll und wechselte wieder in den »Ich bin der freundliche Typ, an den du dich immer wenden kannst«-Modus.

    »Tja, manchmal weiß man halt nicht, was so in den Elternköpfen vorgeht, was?«

    Sven lachte nervös und fragte dann nach einer Weile des Schweigens vorsichtig: »Also … wie heißt jetzt eigentlich du?«

    Ich hatte ihm die Frage beim ersten Mal absichtlich nicht beantwortet, um ihm klarzumachen, dass ich derjenige war, der das Gesprächsthema bestimmte und um ihn zu zwingen, die Frage nochmal zu stellen. Trotzdem tat ich überrascht: »Hab ich dir doch schon gesagt!«

    Ich sah genau die Verwunderung in seinen Augen und war gespannt, wie sehr ich ihn schon unter meiner Kontrolle hatte. Nach langem Zögern, während dem ich aufmerksam sein Gesicht betrachtete, antwortete er endlich: »Äh, ja … ich hab ihn schon wieder vergessen, sorry.«

    Ich musste ein breites Grinsen unterdrücken. Er wusste ganz genau, dass ich ihm noch nicht gesagt hatte, wie ich heiße. Aber er tat dennoch so, als hätte ich recht, nur um mir zu gefallen, beziehungsweise hauptsächlich, um mich nicht zu verärgern. Lief also wie geschmiert, das Ganze. Ich lächelte nachsichtig und antwortete: »Alles gut mein Freund, kein Thema. Ich heiße Veit.« Während ich das sagte, klopfte ich ihm auf die Schulter. Damit fütterte ich ihn mit purem Zucker: Ich beantwortete seine Frage, nannte ihn »mein Freund« und unterstrich das Ganze noch mit einer vertrauten Geste. Was will man mehr als jemanden, der die ganze Zeit nach Anerkennung durch einen Überlegenen, sozial Starken sucht? Ich hatte ihn schon voll in der Tasche.

    Plötzlich riss mich Flo aus meinen Gedanken, indem er laut seine erste Ansage begann: »So, alle mal herhören, bitte!«

    Alle Köpfe wandten sich zu ihm.

    »Wir müssen noch auf zwei Leute warten, die eine hat gerade angerufen und gesagt, dass sie noch im Stau steht und zwanzig Minuten später kommt.« Nervöses Murmeln machte sich in der Gruppe breit. Das Ganze machte mir jetzt schon Spaß.

    Dann war die Blonde, Larissa, die Erste, die antwortete: »Aber wird das dann mit dem Flugzeug nicht ziemlich knapp?«

    Flo lächelte und entgegnete ironisch fröhlich: »Und genau das … ist die nächste große Neuigkeit! Das Flugzeug hat wegen dem Unwetter wahrscheinlich ungefähr eineinhalb Stunden Verspätung.«

    »Na klasse«, hörte man von Muskelprotz Anton. »Was machen wir dann hier so lange?« Der Betreuer zuckte nur leicht mit den Schultern.

    »Ich werd‘ euch erstmal ein paar organisatorische Dinge sagen, und dann könnt ihr hier noch Parfüms kaufen oder was essen, wie ihr wollt. Wie ihr wahrscheinlich alle schon erfahren durftet, ist der Flugzeugfraß nicht immer das Beste, was so zu kriegen ist …«

    Wie wahr, dachte ich bei mir. Vor allem, da ich heute zum ersten Mal in meinem Leben nur Economy-Class fliegen würde. Mich schüttelte es schon beim Gedanken daran, wie ich mich da fühlen würde. Eingepfercht zwischen den ganzen Sitzen, ohne Bewegungsfreiheit für die Beine, lächerlich wenige Getränkerunden und furchtbares Dosenfutter in Aluminiumboxen. Mir hatten die anderen Passagiere auf vorherigen Reisen immer ehrlich leidgetan.

    Ich klinge jetzt für euch sicherlich ziemlich verwöhnt, schon klar. Bin ich wahrscheinlich auch. Aber ich kann mich normalerweise auch auf das größte Drecksloch einstellen und damit klarkommen, wenn nötig. Nur mit dem Fliegen habe ich so meine Probleme. Ich saß noch nie gerne in einem Flugzeug – und ich bin oft geflogen, das könnt ihr mir glauben. Es gibt wahrscheinlich nicht allzu viele Achtzehnjährige, die schon in fast zwanzig verschiedenen Ländern waren. Aber trotzdem, ich fühle mich einfach nicht wohl in so einem riesigen Metallkasten. Das hängt weniger damit zusammen, dass ich Angst hätte, das Ding würde abstürzen. Es ist einfach so, dass ich mich fühle, als wäre ich an einem Ort, an den ich nicht hingehöre. Mir wird bei Start und Landung regelmäßig schlecht, und ich habe auch ein Problem mit dem Gedanken, dass ich dieses Flugzeug jetzt nicht verlassen kann, selbst, wenn ich es unbedingt wollte oder müsste. Und dass ich mich jetzt auch noch mit den Plagereien in der Economy-Class herumschlagen musste, ging mir schwer gegen den Strich.

    Flo hob wieder zum Sprechen an: »Also, Kids. Kurz mal ein paar Sachen zur Info: Wir werden nicht direkt nach Peru fliegen, da es dafür keine Verbindung gibt. Das heißt, es geht erstmal nach Amsterdam und wir machen da einen kleinen Zwischenstopp.«

    Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Anton grinsend in die Runde sah und so tat, als würde er an einem Joint ziehen. Flo ignorierte ihn, ich stieg allerdings darauf ein und simulierte einen Hustenanfall, was mir offensichtlich gleich ein paar Sympathiepunkte einbrachte.

    »Die Flüge werden mit Umsteigen et cetera wahrscheinlich um die achtzehn Stunden dauern. Hat hier irgendjemand Flugangst?«

    Niemand meldete sich, ich natürlich auch nicht. Schließlich wollte ich nicht gleich wie ein Weichling rüberkommen. Und so richtig Flugangst hatte ich ja auch nicht. Redete ich mir zumindest ein.

    Flo schien sichtlich erleichtert, dass niemand die Hand hob.

    »Gut! Ich hab da schon so einiges erlebt, das könnt ihr mir glauben. Na ja, ok. Euer Gepäck könnt ihr, denke ich, selbst an den Schalter bringen… ich hoffe stark, jeder von euch hat seinen Personalausweis dabei?«

    Alle nickten. Der Betreuer grinste glücklich und seufzte auf:

    »Das fängt doch diesmal richtig gut an! Sehr schön!«

    Warte lieber erstmal das Ende ab, bevor du dir Hoffnungen machst, dachte ich mir.

    »Alles klar!« Flo klatschte in die Hände. »Dann gebt mal euer Gepäck ab, Flugtickets habt ihr ja schon. Ich warte noch auf die zwei Fehlenden, ihr könnt euch schon mal auf die Socken machen. Wir treffen uns in, sagen wir … einer Stunde wieder hier, ok? Wenn ihr euch verlauft oder so, fragt einfach an einer Infostelle nach dem Gate, das auf eurem Flugticket steht. Falls ihr das auch noch verliert … ruft mich an. Meine Handynummer habt ihr alle?« Er sah fragend in die Runde.

    Anton hob den Arm und fragte mit spöttischem Unterton: »Und was ist, wenn wir auch unser Handy verlieren?«

    »Dann schwimmt einfach schnell nach Peru und wir treffen uns da.« Einige kicherten. Dann lösten sich die Jugendlichen in kleinere Grüppchen auf und fingen an, auf eigene Faust loszuziehen. Ich trat zu unserem Betreuer und lächelte ihm freundschaftlich zu.

    »Du hast echt schon alles erlebt, oder?«

    Er sah mich mit einem vielsagenden Blick an und nickte demonstrativ. »Du hast ja keine Ahnung, wie manche so drauf sind!«

    Ich lachte. »So schlimm?«

    Flo schnaubte. »Oh ja«, entgegnete er. »Meine Favoriten waren ein Typ, der nichts als eine Bauchtasche dabeihatte, weil er ‚die Natur da richtig spüren‘ wollte und ein Mädel, bei dem Gras im Handgepäck gefunden wurde. Das hat Spaß gemacht. Na ja, jetzt mal auf, sonst reicht die Zeit nicht mehr, um noch was zu essen.«

    Er zeigte mit dem Finger auf etwas hinter mich und fragte gleichzeitig: »Kennt ihr euch eigentlich?« Ich drehte mich erstaunt um und sah, dass der Rotschopf dicht hinter mir stand. Mein Schoßhündchen.

    »Bis gerade noch nicht«, meinte ich, legte zum Abschied zwei Finger an die Stirn und deutete dem Jungen mit einer Kopfbewegung an, mir zu folgen. Er würde zwar bestimmt später mal nützlich sein, begann aber bereits, mich zu nerven.

    Ich betrachtete ihn schweigend aus dem Augenwinkel. Wie er so neben mir her trottete. Ich hätte jetzt direkt in die Frauentoilette marschieren können und er hätte mich ohne zu zögern begleitet. Für solche Scherze war es aber definitiv nicht der richtige Zeitpunkt. Stattdessen konnte ich ja mal ein bisschen was über meinen zukünftigen Schatten lernen. Ich blickte ihn an.

    »Wie alt bist du eigentlich, Sven?«

    Ich bemerkte, wie er sich kaum merklich straffte.

    »Fünfzehn, wieso?«

    Ich zuckte mit den Achseln. »Wollte nur mal wissen, wie ich so geschätzt habe.«

    Ich zählte wieder die Sekunden und er fragte genau bei fünf:

    »Wie … wie alt hast du mich denn geschätzt?«

    »Maximal dreizehn«, antwortete ich knapp. Das war nicht mal gelogen. Er wirkte, als könnte er sich gerade so selbst anziehen. Sven nickte resigniert und lief schweigend neben mir her. Nach einer ganzen Weile fing ich wieder an, ein paar Informationen über sein Privatleben aus ihm herauszukitzeln.

    »Wo wohnst du denn?«

    »In Dresden.«

    Ich entgegnete nichts, also erzählte Sven weiter: »Ich wohne nur mit meiner Mutter zusammen. Meine Eltern sind getrennt.«

    Ich bereute es jetzt schon, ein Gespräch mit ihm angefangen zu haben. Trotzdem sah ich ihn verständnisvoll an und erwiderte:

    »Scheiße, Mann. Setzt einem zu, was?«

    Er nickte mehrfach und ich meinte, erste Tränen in seinen Augen zu erkennen. Der Kerl war anstrengender, als ich gedacht hatte. Ich überwand mich und legte ihm einen Arm um die Schulter.

    »Hey, ist schon ok. Das ist nichts, wofür man sich schämen muss.« Nach und nach wurden seine Augen immer feuchter, bis er schließlich richtig heulte. Ich zwang mich, ihm weiterhin tröstend die Schulter zu klopfen. Wie lange kannte ich ihn jetzt schon? Seit zwanzig Minuten? Scheinbar hatte der Junge tatsächlich nicht viele Menschen, denen er sich anvertrauen konnte. Ich hatte jetzt aber auch nur begrenzt Lust, für ihn den Babysitter zu spielen. Nach dem sechsten oder siebten Schluchzen, welche sich in der Lautstärke auch noch steigerten, nahm ich meine Hand von Svens Schulter und packte ihn relativ fest am Oberarm.

    »So, und jetzt wischst du dir deine Tränen ab und reißt dich ein bisschen zusammen, ja? Was sollen denn die anderen alle von dir denken?« Er zuckte trotzig mit den Schultern und murmelte etwas Unverständliches, trocknete sich aber mit einem Taschentuch die Augen. Dann atmete er tief durch und fragte mit etwas zittriger Stimme: »Wo gehen wir jetzt eigentlich hin?«

    Gute Frage. Ich konnte keinen der anderen aus der Gruppe irgendwo erkennen. Deshalb beschloss ich kurz und knapp einen Ort, den wir anstrebten. »Zu Starbucks. Ich denke mal, da werden einige von uns sein.« Sven reagierte nicht und lief weiter leise schniefend neben mir her.

    Als ich von weitem die Starbucks-Theke und die kleinen Grüppchen an Tischen und Stühlen dahinter erkannte, beschleunigte ich meine Schritte. Ich hatte natürlich Recht gehabt: Einige von uns standen bereits an der Theke an. Darunter auch der nette Typ, der mich am Anfang so überschwänglich begrüßt hatte. Wie hieß er nochmal … Johnny. Neben ihm stand der Muskelprotz Anton, der sich seinen schwarzen Pferdeschwanz mittlerweile hochgebunden hatte. Sah maximal bescheuert aus. Und ganz hinten in der Reihe erkannte ich die graue Maus, das Mädchen, das keinem in die Augen schauen konnte. Ich überlegte nicht lange und näherte mich Johnny. Als dieser mich erblickte, grinste er mir freundschaftlich zu und gab mir die Faust. Ich grinste zurück.

    »Na, auch dabei, die Koffeinquelle anzuzapfen?«, fragte ich. Johnny nickte vielsagend. »Erster Kaffee heute, freu ich mich schon den ganzen Morgen drauf.« Er stieß Anton in die Rippen, als er weitersprach: »Er hier verträgt aber den Kick nicht so, wirst du noch merken!«

    Anton stieß ein pfeifendes Geräusch aus und tat so, als würde er Johnny gleich in die Magengrube schlagen. Dann grinste er mir schief zu und klärte mich auf, als er mein verständnisloses Gesicht sah: »Ich hatte mal in der Schule ‘nen kleinen Kaffeeschock, hab dann ‘nen Verweis bekommen, weil ich ziemlich laut war …«

    Johnny unterbrach ihn sofort: »Kleiner Kaffeeschock? Du hast gezittert wie ein Junkie und den Lehrer ‚Herr Nazi-Neumann‘ genannt.«

    Anton schnaubte ihn an. »Die Geschichte erzählst du immer wieder gern, was?«

    Johnny lachte und hob theatralisch die Schultern. »Was soll ich denn sonst erzählen? Kommt doch immer wieder gut bei Leuten, die dich gerade erst kennenlernen.«

    Ich musste lachen. »Ich nehme mal an, ihr geht auf die gleiche Schule?«

    Johnny nickte bedauernd. »Leider, leider. Wir gehen auch beide nach den Ferien in die Zwölfte. Ich bin noch achtzehn, aber mein Freund hier«, dabei zeigte er auf Anton, »ist schon ein Jahr älter. Er hat die Achte wiederholt.« Er senkte seine Stimme, sprach aber trotzdem laut genug, dass sein Kumpel ihn noch hören konnte: »Ich sag‘ mal so, er ist nicht die hellste Kerze auf dem Adventskranz. Aber erwähn’s nicht ihm gegenüber.«

    Dafür handelte er sich einen Tritt auf den Fuß ein.

    Ich grinste. Die beiden Jungs schienen wirklich Humor zu haben. Trotzdem begann ich langsam, mich zu fragen, ob die zwei tatsächlich so cool und lustig drauf waren, oder ob sie hier vor mir eine kleine Showeinlage abzogen. Wahrscheinlich war ich mal wieder paranoid, aber ich hatte das Gefühl, dass sie, bevor ich dazugekommen war, über etwas anderes geredet hatten. Etwas, das mich nichts anging. Oder etwas über mich?

    Unwillig verscheuchte ich die dunklen Gedanken. Ich grübelte immer zu viel über alles nach. Vielleicht sollte ich auch einfach mal versuchen, Spaß zu haben und nicht die ganze Zeit

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