Die Esra-Apokalypse
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Buchvorschau
Die Esra-Apokalypse - Bonifatia Gesche
Einführung
Der Text und seine Überlieferung
„Esra-Apokalypse"¹ ist die übliche Bezeichnung für einen Text, der in den Kapiteln 3–14 des vierten Esra-Buches überliefert ist, das seit dem Konzil von Trient (1545–1563) im Anhang der Vulgata, der lateinischen Übersetzung der Bibel, erscheint. Dieser Text wird hier in deutscher Übersetzung vorgelegt.
Die Bezeichnung der verschiedenen kanonischen und apokryphen Esra-Bücher ist etwas verwirrend. Die Zählung, die zu der heute gebräuchlichen Bezeichnung 4. Esra geführt hat, geht auf eine von mehreren mittelalterlichen Vulgata-Traditionen zurück, in der das Buch Esra, wie es in deutschen Bibelübersetzungen genannt wird, als 1. Esra gezählt wird, das Buch Nehemia als 2. Esra, die Übersetzung des zunächst griechisch überlieferten Buches Esdras A als 3. Esra und schließlich das lateinisch überlieferte Esra-Buch als 4. Esra.
Das vierte Esra-Buch ist nicht als Einheit entstanden; vielmehr wurde zunächst die Esra-Apokalypse abgefasst und ins Lateinische übersetzt. Später wurde der Esra-Apokalypse je ein ursprünglich Lateinisch geschriebener Text vorangestellt bzw. angehängt. In der wissenschaftlichen Literatur ist eine eigene Zählung für diese Bücher üblich geworden, die auf einer Tradition beruht, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Im Überblick sieht das folgendermaßen aus:
Die Esra-Apokalypse ist vollständig nur in lateinischer Übersetzung erhalten, die, wie allgemein angenommen, auf einer griechischen Vorlage beruht, von der keinerlei Reste erhalten sind. Weitere Übersetzungen auf der Vorlage des griechischen Textes sind auf Arabisch, Syrisch, Äthiopisch, Armenisch, Georgisch und in einem Fragment auf Koptisch überliefert. Diese Versionen bieten an einigen Stellen Varianten zum lateinischen Text, die zur Wiedergewinnung des ursprünglichen Textes beitragen können. Die sprachliche Gestalt der lateinischen Übersetzung lässt darauf schließen, dass der griechische Text ebenfalls eine Übersetzung ist und zwar aus einem ursprünglich hebräisch oder aramäisch geschriebenen Text.
Die im Text beschriebenen Ereignisse beziehen sich auf die Zeit nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.), sodass man davon ausgehen kann, dass der Text ungefähr um 100 n. Chr. geschrieben wurde.
Für die Überlieferung des lateinischen Textes in der Tradition der lateinischen Bibel war das 13. Jahrhundert von großer Bedeutung. In dieser Zeit erlebte die Bibelproduktion einen sprunghaften Anstieg. Seit etwa 1230 kamen sogenannte Taschenbibeln in Gebrauch, handliche Bücher, die die gesamte Bibel handschriftlich in lateinischer Sprache enthielten, wobei eine bestimmte Textfassung und eine bestimmte Reihenfolge der biblischen Bücher geläufig waren. Einige Exemplare dieser Bibeln enthielten neben den üblichen drei Esra-Bücher auch das Buch 4. Esra. Entscheidend für die weitere Überlieferung des vierten Esra-Buches war schließlich, dass Johannes Gutenberg für seinen Bibeldruck (1452/1454) eine Vorlage verwendete, die alle vier Esra-Bücher der lateinischen Tradition als kanonische Bücher enthielt. Auf diese Weise wurde der Text allgemein verbreitet.
Beim Trienter Konzil (1545–1563) kam man zwar zu dem Beschluss, weder 3. Esra noch 4. Esra als kanonisch anzuerkennen, gänzlich ausschließen wollte man sie aber auch nicht. So ordnete man sie in den Anhang der seither für die Kirche verbindlichen Vulgata-Ausgabe ein. Freilich geht deren Text von 4. Esra auf einen Bibelkodex des 9. Jahrhunderts zurück, in dem ein Blatt fehlt, sodass man über Jahrhunderte hinweg diesen unvollständigen Text verwendete, bis im 19. Jahrhundert das fehlende Stück gefunden wurde.
Ort und Zeit der Handlung
Der Schlüssel für die Datierung der Abfassung des Textes findet sich im ersten Vers (4. Esra 3,1), in dem das dreißigste Jahr nach dem Untergang der Stadt Jerusalem als Datum der Handlung genannt wird. Zwar ist die Erzählung in eine frühere Zeit, nämlich in die des Untergangs Jerusalems im Jahr 587 v. Chr., zurückprojiziert, gemeint ist aber sicher die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. Somit lässt sich die Entstehung des Textes etwa auf das Jahr 100 n. Chr. in jüdischem Kontext festlegen. Über den Ort der Abfassung besteht hingegen in der Forschung keine Einigkeit. Infrage kommen vor allem Rom oder Palästina.
Gattung und Gestalt des Textes
Die Bezeichnung „Apokalypse (griechisch: „Enthüllung
, „Offenbarung") steht normalerweise für eine prophetische Schrift, in der einem Menschen die Ereignisse im Vorfeld des Untergangs der Welt und des göttlichen Gerichtes am Ende der Zeiten offenbart werden. Die Esra-Apokalypse zeigt zahlreiche Charakteristika, die typisch für diese Literaturgattung sind. So handelt es sich um eine sogenannte pseudepigraphische Schrift, d. h. um einen Text, der von einer bedeutenden historischen Gestalt verfasst worden sein soll, im vorliegenden Fall von dem Gelehrten Esra, der nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft (nach 539 v. Chr.) einen großen Anteil an der Wiederherstellung des Kultes und der sozialen Ordnung in Jerusalem hatte.
Da die in Apokalypsen geschilderten künftigen Ereignisse nur schwer beschreibbar sind, wählt man zu ihrer Darstellung meist literarische Bilder und bedient sich vieler Metaphern, um eine theologische Deutung der offenbarten Vorgänge zu ermöglichen. Dies gilt zum Teil auch für die Esra-Apokalypse, die jedoch in ihren ersten drei Abschnitten die sonst unübliche Form des Dialoges verwendet, möglicherweise in Anlehnung an das biblische Buch Hiob (Ijob).
Beim Lesen des Textes wird schnell deutlich, dass er vor oder in der vierten Episode einen Bruch enthält. An dieser Stelle wechselt die Darstellung von der Dialogform zur Beschreibung von Visionen, wie man sie von anderen apokalyptischen Texten kennt. Auch ändert sich plötzlich die Einstellung Esras zu den Ereignissen, die er erlebt. Es stellt sich daher die Frage, ob in dem Text, wie er uns heute vorliegt, mehrere Überlieferungen zusammengeflossen sind oder ob es sich um eine einheitliche Komposition handelt. Da starke Argumente dafür sprechen, dass der Text als Einheit entstanden ist, geht die hier vorgelegte Deutung von der vorliegenden Textgestalt aus.
Apokalyptische Schriften entstehen oft in direkter Reaktion auf historische Ereignisse, deren traumatische Wirkung auf diese Weise verarbeitet wird. Da es solche zu allen Zeiten gibt, hat das vierte Esra-Buch auch heutigen Menschen etwas zu sagen, auch wenn als Zielgruppe dieser Apokalypse ausdrücklich nur die „Weisen im Volk", die das Geschriebene verstehen können, genannt werden (12,37; 14,46).
Die Handlung
Das Buch besteht aus sieben Episoden. Die ersten drei sind in der Form von Dialogen gestaltet, die vier folgenden beschreiben Traumvisionen, die Esra offenbart werden.
1. Episode (3,1–5,20): Esras bittere Klage angesichts des Bösen
Mit der Schöpfung beginnend, zeichnet Esra die Geschichte der Welt entsprechend der biblischen Darstellung