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Eine Puppe packt aus: Dokumentarroman
Eine Puppe packt aus: Dokumentarroman
Eine Puppe packt aus: Dokumentarroman
eBook472 Seiten4 Stunden

Eine Puppe packt aus: Dokumentarroman

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Über dieses E-Book

Wolf Biermanns Sohn erzählt seine packende Familiengeschichte Klaus Thaler, und der schrieb sie aus der Sicht einer Puppe auf.

Ich bin eine Puppe, my name is Zorro der Bär. Mein schicksalhaftes Buch lebt von der Vermischung aus absurdem Puppenspiel mit realer Geschichte. Kommt mit auf meinem Flug durch die Ost-Berliner Boheme vor dem Mauerfall! Gleich landen wir im Utopia 1990, direkt auf dem Tacheles mit Eimern voller Niemandsland. Der rote Faden rock'n'rollt sich vor- und rückwärts auf. Er entpuppt Biermanns "Treuehand" und entknotet Freygangs "Firma". Ich finde eine Spur ins Barocke, erzähle von der legendären Hanswurst-Vertreibung der "Neuberin" und höre vom gemeinen Rammstein. Ein Märchenbilderbuch deutsch-deutscher Aufklärung von Lessing bis Corona.

Klappe zu und Vorhang auf!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Okt. 2023
ISBN9783957494887
Eine Puppe packt aus: Dokumentarroman

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    Buchvorschau

    Eine Puppe packt aus - Klaus Thaler

    0. Zinnober der guten Vorsätze

    Die kleine miefige DDR-Diktatur war im Rückblick viel bunter und freier als wir dachten, es gab viel zu lachen bei all dem real existierenden Irrsinn. Die Gleichstellung der Frau war fortgeschrittener denn je, FKK und das Recht auf Abtreibung waren normal.

    Erich Honecker küsste nicht nur Gorbatschow links und rechts, sondern auch den Papst in Rom.

    Räuber-und-Gendarm spielen macht Spaß, solange man nicht erwischt wird und in den Knast kommt. Bombenleger, Geldsorgen, Drogen und bezahlter Sex waren in der Zone weitgehend unbekannt.

    Die Waffen der friedlichen Revolution von 1989 hießen Kunst und Phantasie. Ein anarchistisches, äh Pardon nein, ein sozialistisches Chaos. Jeder kannte mindestens zwei Sprachen: eine in den vier Wänden der Familie und eine in der Öffentlichkeit.

    Das Teekesselspielchen (Worte raten mit zwei Bedeutungen) und das „Ich sehe was, was du nicht siehst"-Spiel waren beliebt und verbreitet.

    Dieses Buch will euch verleiten, alte Spiele wiederzuentdecken, zu schmunzeln und zu lachen, denn Totlachen ist besser als Totschießen.

    Widersprüche sind eine Laichzeit des Lachens. Schon immer.

    Achtung, dieses Buch ist verpuppt und entpuppt sich als Puppe in der Puppe in der Puppe, bitte nicht mit Matroschkas verwechseln, die immer kleiner werden. Dieses Buch wächst und du bist mittendrin.

    Heidewitzka und Halleluja – die jüngsten Gerüchte.

    Wieso Matthias BAADER 1989 den Startschuss zum Mauerfall gibt,

    weshalb die Firma die Stasi an der Nase herumführt,

    warum des Herrn Korruptus Treuhand nicht in Beugehaft sitzt,

    wer seinen Esel nicht kämmt, hat die Wende verpennt,

    nicht sein oder doch bleiben und Tacheles reden,

    frag(t)mente deutsch-deutscher Verwicklungen,

    bleibt unten oben, muss Mephisto toben,

    dumm gelaufen – 1990 – Berlin im Eimer.

    Ein Orakelbuch, das mit Z anfängt, jedoch mit A aufhört und demzufolge nicht von A - Z erlogen sein kann. Es passt zum absurden Theater der Zeit! Vorhang auf – das Spiel beginnt!

    Zorro und die Zeitmaschine

    Ich sehe was, was du nicht siehst,

    und das ist hinter den Kulissen.

    1. Zorro der Bär

    Willkommen in der Zeitmaschine des ehrenwerten Herrn Mephistopheles, liebe Leser, steigt ein in das Luftschiff des Lügenbarons und macht es euch auf dem Sofa gemütlich, haltet euch gut fest an einer wohlschmeckenden Schale Tee, einem guten Glas Wein oder einem Becher Wasser.

    Geht vorsichtshalber noch einmal auf die Toilette, stellt eure Handys auf Flugmodus. Steigt ein in unsere Höllenmaschine, keine Angst, ich hab sie dem Teufel persönlich abgeluchst, wir müssen vorsichtig sein, damit Baron Lefuet uns nicht bemerkt, festhalten, wir starten.

    Mein Name ist Zorro. Zorro der Bär. Wir schreiben das Jahr 2019.

    Ich bin eine Handpuppe und knapp dreißig Zentimeter groß. Auf den ersten Blick bin ich ein stinknormaler Teddy zum Reinschlüpfen, doch wenn ihr genau hinschaut, bin ich ein Löwe. Das bleibt auf ewig mein Geheimnis und ihr vergesst es am besten gleich wieder. Mit diesem Etikettenschwindel muss ich bis heute leben.

    Es ist oft so bei euch Menschen, dass nicht das drin ist, was draufsteht. Seht euch nur die Kirchen dieser Welt an, sie sind nachts geschlossen, der Schutzsuchende schläft unter der Brücke, und hat er Hunger, bekommt er vom Pfaffen ein Stückchen Jesu Christi, also ein Stück Oblate auf die Zunge gelegt. Inszenierter Kannibalismus im Namen des Herrn. Ob das zum Sattwerden reicht, ist fraglich. Zum Glück bin ich eine Puppe und habe so gut wie nie Hunger. Meine Feinde heißen Maus und Motte, Einsamkeit und Vergessen. Dagegen kämpfe ich mit all den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Ich habe ein ockerfarbenes Fell, trage inzwischen eine Maske vor den Augen und verdecke mit meinem schwarzen Hut meine angehende Glatze.

    Ich spiele einen der Helden in der Truppe einer Puppenbühne. Jonas, der Puppenspieler, denkt, er erwecke mich bei jeder seiner Aufführungen zum Leben, allerdings hat er immer noch nicht begriffen, dass wir ihn, nicht er uns spielt und wir nebenher auch noch ein Eigenleben führen. Wir sind ungefähr fünfzig Puppen im Ensemble und wohnen, je nachdem, welches Stück auf dem Spielplan steht, in dem einen oder anderen alten Koffer.

    Auf der inneren Rückseite des Buchumschlags kann man uns sehen.

    Frauen natürlich auch. Ich versuche, beim Einpacken meistens in die Nähe der süßen, kleinen Prinzessin Mary Filou zu gelangen. Das passt unserem siebenköpfigen, echt feuerspuckenden Drachen überhaupt nicht.

    Er drängelt sich immer wieder zwischen mich und die Blondine. Am liebsten will unser Drachenspuk sie mit Haut und Haaren auffressen. Wie oft habe ich unserem Puppendirektor schon erklärt, dass er den Drachen in eine extra feuerfeste Kiste sperren soll, damit wir in Ruhe unseren Feierabend und die Winterpause genießen können. Ich spiele seit über zwanzig Jahren die Hauptrolle im Drachenmärchen „Excalibur" und wenn alles gut läuft, wird das auch weiterhin so bleiben.

    Die Kinder lieben es, wenn ich Prinzessin Mary Filou aus den Fängen des kleinsten Drachens der Welt befreie. Mit Hilfe des Magiers Merlin ziehe ich während der Vorführung das Zauberschwert aus dem Stein und obwohl mir fast jedes Mal das Herz vor Angst in die Hose rutscht, gewinne ich den Kampf, schlage dem Untier alle sieben Köpfe ab.

    An manchen Tagen meckert unser Prinzesschen nach der Show mit mir, meint, dass ich aus dem Mund stinken würde und mir endlich mal die Zähne putzen soll. Dazu müsste unser nichts ahnender Puppenspieler allerdings erst einmal ein Bad in unseren Koffer einbauen. Dies ist aus Platzgründen schier unmöglich, im Gegenteil, es ist eng, zappenduster und riecht nach Bärendreck und Drachenfurz.

    Inzwischen gibt es über zehn Koffer für uns und meistens sind die Puppen aus zwei verschiedenen Stücken in ein und derselben Behausung untergebracht. Viele meiner Kollegen aus dem Actionstück „Excalibur" werden immer wieder besetzt.

    Der König und die Königin glänzen auch in Stücken wie „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren oder „Der Soldat und das blaue Wunder.

    Wenn wir Glück haben und Jonas nicht zu faul ist, bekommen wir sogar neue Kostüme.

    Der Obermacker in unserer Truppe ist natürlich der Kasper, oder auch Hanswurst genannt. Mary Filou liebt ihn und somit also auch mich, denn wir zwei sind eigentlich einer.

    Ihr werdet euch sicher fragen, wie geht das, was für ein grober Unfug?

    Die Lösung ist ziemlich einfach: Ich bin in der Geschichte Zorro der Bär, also der Kasper im Bärenfell und unsere blonde Prinzessin erlöst mich von dem bösen Fluch der Neuberin, indem sie drei Fragen richtig beantwortet. Meist hilft ihr das Publikum dabei, damit nichts schiefgeht. Mit einem großen Donner und nach Silvester riechendem Rauch verwandle ich mich zurück in den Kasper.

    Die meisten Kinder erliegen dieser Illusion und merken nicht, dass wir zwei verschiedene Puppen sind, aber die gleiche Seele besitzen. Oft müssen wir dem Puppenspieler eintrichtern, was wir sagen wollen. Da ich bisher nur bei „Excalibur" mitspielen darf, muss ich manchmal zu Hause bleiben. Dann fehlt mir etwas, ich bin still und es kommt vor, dass mir eine Träne über die Bärenwange läuft. Nicht gebraucht zu werden, ist schwer zu verkraften, erst recht, wenn Jonas, der Puppet-Master, zu mir sagt, ich solle mich nicht so wichtig nehmen. Dabei kennen wir uns schon eine Ewigkeit und wie oft schon habe ich diesem Kerl das Leben gerettet.

    Undank ist der Puppen Lohn.

    Seid ihr bereit, liebe Leser, euch in das Innenleben und die Gedankenwelt einer Puppe zu versetzen, die Grenzen zwischen phantastischer und realer Welt zu überwinden? Ja? Fein, dann seid ihr genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort! Kommt, kommt! Schnell, husch husch steigt ein, die Zeitmaschine hebt in drei Sekunden ab, wer den Anschluss verpasst, bleibt in der Gegenwart hängen und kann das Buch ungelesen weiterverschenken. Haltet durch beim Aufwickeln des roten Fadens der Geschichte, wer die Sprache zwischen den Zeilen versteht, hat doppeltes Vergnügen.

    Vorwärts, äh nein, rückwärts marsch und vor allem: Nichts vergessen!

    Ich scheitere 1968 jämmerlich bei meinem ersten Versuch, die Berliner Mauer einzureißen. Ich sollte üben, mich beim Heldentaten vollbringen und beim Wünsche aussprechen mehr zu konzentrieren und genauer auszudrücken. Allein gegen das Böse zu kämpfen ist sinnlos, daher bitte ich unseren Magier um Hilfe. Ich rufe ihn mit all meiner Energie: „Meeerlin! Es dauert keine fünf Sekunden und er steht neben mir: „Na Teddy, was gibts? – „Du musst mir helfen, die Mauer muss wieder weg!"

    „Wieso, weshalb und … vor allem warum?", fragt er.

    „Für Jonas und die Großmutter …, antworte ich kleinlaut. „Mach dir keine Sorgen, Zottelbär, es wird geschehen!, und schwupp, ist er wieder weg. Eine Woche später bekommt Jonas, der grade mal fünfjährige Rotzlöffel aus dem Ostteil der Stadt, einen Reisepass und dass, obwohl der Betonzaun um West-Berlin schon sieben Jahre steht.

    Blutbeklebtes Moos wächst an seinen Rändern.

    Puppenbaader bei der Arbeit

    Instrumentalisiert

    Märchenbrunnen von König Friedrich II.

    Caroline Friederike Neuber, genannt die Neuberin (1697 – 1760)

    Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781)

    Hä? Einen Reisepass, wo weder Katz noch Maus ein Schlupfloch durch den eisernen Vorhang finden? Wie kann das sein? Ganz einfach.

    Wolf Biermann ist der Vater des Kleinen und gleichzeitig der Ziehbruder von Margot Feist, der späteren Ehefrau von Erich Honecker. Die spätere First Lady arbeitet fleißig als Ministerin für Volksbildung und hält die schützende Hand der Partei über das lautstark provozierende Brüderchen. Ihr Mann Erich, also der mit dem Panamahut, ist darüber nicht amüsiert und ahnt damals schon, dass er einst über den frechen Sänger stolpern wird. Wolfs Mutter lebt in Hamburg und will endlich den Enkel für mehrere Wochen auf ihrem Schoß sitzen haben. Also stiefelt sie bei einem Besuch in Ost-Berlin ins Büro ihrer Ziehtochter. Die alte Kommunistin liest Frau Margot gehörig die Leviten, die tätigt daraufhin ein Telefonat und fertig ist der Lack. Der geliebte Enkel bekommt ohne Probleme seinen ersten Reisepass zur Ein- und Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland.

    Brigitte, die Mutter des Jungen, fährt Jonas mit dem Trabbi zum Flughafen Schönefeld und übergibt ihn in die Hände einer reizenden Stewardess. Die schenkt dem drolligen Kind einen Lutscher, um beim Start den Druck auf seinen Ohren zu mildern. In Hamburg gelandet, steht Oma am Ausgang und empfängt ihr Apfelbäckchen mit Zuckerstangen. Sie küsst ihn ab und weint vor Freude riesengroße Krokodilstränen.

    Das war es, was die meisten DDR-Bürger wollten: frei reisen. Leider ist dies dem größten Teil des Volkes verboten und wer trotzdem über die Mauer klettert, wird unter widrigen Umständen erschossen.

    Jonas landet, unversehrt vom Klassenfeind, zurück in Ost-Berlin, was nicht ganz stimmt, denn er kommt bepackt mit einem Rucksack voller Lego-Bausteine und einem Dutzend geiler Matchbox-Autos nach Hause. Ab sofort mag er das sozialistische Spielzeug im Kindergarten nicht mehr und die Kindergärtnerinnen wundern sich über die schicken Billigklamotten, Marke West. Es dauert eine Weile, eh ich begreife, dass die Mauer immer noch steht und ich meinen Wunsch falsch formuliert habe. Ich hätte nur zu unserem Zauberer sagen müssen: „Die Mauer soll ganz weg, für alle!" Pustekuchen, mal wieder alles falsch gemacht, beim nächsten Versuch bin ich schlauer, versprochen, ihr werdet es erleben.

    Ich fühle mich einsam in meiner Bärenhaut und schaue schweigend aus dem Fenster. Ich blicke auf den Märchenbrunnen im Friedrichshain, ein wunderschöner Brunnen im Herzen Berlins. Jonas spielt häufig in seinem Märchenbrunnen, er liebt das Wasser, er liebt das Märchen, er liebt das Leben. Jahrzehnte später behauptet der Junge, er habe als Kind zu oft im Märchenbrunnen gebadet und hätte daher nichts anderes als Geschichtenerzähler und Puppenspieler werden können.

    Nach der Schule schmeißt das Kerlchen seinen Ranzen in die Ecke und lungert mit Freunden in den Brunnennischen. Er kennt jedes Versteck, jeden Schleichweg und jeden Baum im Park. Es werden Wasserspäße und Mutproben erdacht, die Phantasie kennt keine Grenzen. Die erfrischenden Wasserfontänen der Delphine werden mit dem Druck von Mittel- und Zeigefinger in die gewünschte Richtung gelenkt. Unter viel Gekreische wird sich gegenseitig nass gemacht. Jonas verlebt eine märchenhaft behütete, grimmsche Kindheit zwischen Hans im Glück, Rapunzel, Dornröschen, Aschenputtel, dem Froschkönig, dem liebevoll gestrengen Ziehvater und vielen anderen.

    Die ersten Ambitionen zum Puppenspieler sind bereits im zarten Alter von drei Jahren unmissverständlich zu verstehen: Während andere Jungs ausschließlich mit Autos, Pistolen und Traktoren spielen, badet mein späterer Theaterdirektor mit Hingabe kleine Gummipuppen in Plastikschüsseln. Erst werden die Objekte seiner Spiellust entkleidet, dann ausgiebig untersucht und anschließend gewaschen, wobei er schnell bemerkt, dass komischerweise immer nur Mädchen unter den Kleidern wohnen.

    Die Puppen werden natürlich auch auf den großen, roten Laster mit gelber Plastikladefläche und Kippvorrichtung verfrachtet. Unermüdlich zottelt er ihn hinter sich her. Wenn der Knirps damals schon geahnt hätte, dass er später einmal in einem großen, roten LKW wohnt, dass er mit mir und den anderen Puppenkollegen übers Land ziehen wird – er hätte sich schelmisch in die Fäustchen gelacht.

    Als Biermann, der sangesfreudige Vater mit der Gitarre und dem traurigen Schnauzbart, noch Held des Volkes ist, schenkt er dem Sohnemann zum Geburtstag ein großes, aus einem Schrankunterteil selbstgebautes Puppentheater, hinterlässt den vielsagenden Wink mit dem Zaunpfahl. Dieses Puppenhaus ist nicht nur die perfekte Bühne für kleine Darbietungen, es wird von Stund an auch beliebtester Ort des Versteckspiels. Zeitweilig muss es auch als königliches Schlafgemach herhalten. Jonas entwickelt sich prächtig und ist drollig anzusehen. Und ich, sein geliebter Teddy? Ich soll nach wie vor Heldentaten vollbringen.

    Spitzelbericht aus Biermanns Akte „Lyriker"

    Reisefreiheit mit Beziehungen

    Ich muss den Hero spielen, obwohl mir die Rolle überhaupt nicht liegt. Ich bin der klassische Antiheld, bin furchtsam und habe Angst.

    Aber ohne Missionen ist auch ein Puppenleben nur halb so wild und da Übung den Meister macht, werde ich von Mal zu Mal besser. Flüche und Verwünschungen muss man aushalten und das Beste daraus machen.

    Passt bloß auf, liebe Leser, beim Verfluchen ist es oft so, dass es am Ende denjenigen trifft, der den Fluch ausspricht. Ich als Kasbär kann euch ein Lied davon singen. In meinem Falle traf es Friederike Caroline, genannt die Neuberin, die Komödiantin aus Lessings Zeiten.

    Ab dem Moment, wo sie mich auf dem Scheiterhaufen abfackeln will, wird sie vom Pech verfolgt. Mag sein, dass die Neuberin die großartigste und modernste Komödiantin ihrer Zeit ist, aber dass sie mich, den Hanswurst, Kasper, Liebling der Kinder und der einfachen Leute, von der Bühne verbannt, das werde ich ihr nie vergessen. Rache ist Blutwurst.

    Sie stirbt einsam und verarmt. Kein Mensch wird sich an sie erinnern.

    Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

    Jonas in seinem ersten Puppentheater

    Ich sehe eine, die ihr nicht seht,

    und die hat großes Theater gemacht.

    2. Die Vertreibung des Hans Wurst

    Ich bin zwar äußerlich ein verwunschener Bär, aber innen drin, im tiefsten Herzen meines Handpuppendaseins, da bin ich Kasper, Scharlatan und Eulenspiegel. Viele Jahre, bevor der Puppenspieler mich in Besitz nimmt, stecke ich auf dem Hals dieser leeren Weinflasche.

    Ich gehöre dem großen Bruder des Kleinen und wohne in dessen Zimmer. Die Flasche gibt mir Rückhalt und Sicherheit. In dieser Zeit fühle ich in mir eine unendliche Leere. Ich bin sprachlos. Keiner spielt mit mir. Das stimmt nicht ganz, ein bis zweimal im Jahr kommt Jonas heimlich ins Zimmer geschlichen. Natürlich nur, wenn Manuel außer Haus ist. Er schaut mir tief in die Augen und versucht erfolglos, mich mit seinen kleinen Patschehändchen zu streicheln. Einmal wird er übermütig, nimmt sich einen Hocker und reißt mich von meinem Sockel. Er kriecht mit der Rechten in meinen Körper, doch sein Zeigefinger ist viel zu mickrig.

    Mein Kopf knickt zur Seite, der Zwerg kann mir noch kein Rückgrat geben. Ich genieße es trotzdem, frage mich allerdings immer öfter, ob Merlins Prophezeiung vielleicht doch nur eine Finte ist, ein übler Schabernack des weisen Mannes oder eine erneute Prüfung des Schicksals.

    Seit über zweihundertfünfzig Jahren bin ich verflucht, verflucht von dieser verdammten Neuberin, verflucht mit zwei Seelen – ach, in meiner Brust – zu leben. Schizophrenie pur. Jeder Psychiater würde verrückt werden, wenn ich auf seiner Couch liegen und plaudern würde. Ich hoffe, es ist kein Seelendoktor unter euch, wenn doch, so möge er dies Buch beiseitelegen, ich übernehme keinerlei Verantwortung, für das, was passiert, passiert ist und passieren wird. Jeder haftet für sich selbst.

    Hereinspaziert, hereinspaziert, steigt ein mit mir in die Zeitmaschine, einen Reisepass braucht ihr nicht und die Atemschutzmasken könnt ihr getrost zu Hause lassen. Wir müssen nur zusammenhalten und sehr achtsam sein, denn wenn Baron Lefuet uns erwischt, sind wir verloren. Gut festhalten, wir fliegen im Rückwärtsgang und schwuppdiwupp, dreimal an die Stirn getippt – schon sind wir da!

    Man schreibt das Jahr 1737. Bitte aussteigen.

    Wir befinden uns in einer der vielen Komödienbretterbuden in Hamburg. Die Sonne scheint, ich sitze in meinem Narrenkostüm vor der Bude am Fischmarkt. Die Menschen strömen in unser Theater, wollen sich das neueste Schauspiel unserer Truppe ansehen. An der Kasse steht eine lange Schlange. Heute wird die Bude voll.

    Ich mache nichtsahnend meine derben Späße mit den herbeischlendernden Schaulustigen. Es klingelt bereits zum dritten Mal, die Vorstellung beginnt, wir sind restlos ausverkauft. Unsere Prinzipalin Friederike Caroline Neuber, im Volksmund die Neuberin genannt, begrüßt mit einer Eröffnungsrede das anwesende Publikum. Ich quatsche wie immer dazwischen, mache blöde Witze, ziehe die Chefin durch den Kakao, furze laut, rülpse was das Zeug hält. Die Leute lachen müde. Madame droht mir auf offener Bühne mit Kürzung der Gage, wenn ich nicht augenblicklich meinen vorlauten Mund halte, mich nicht endlich sittsam benehme. Ihre Wut stachelt mich an, ich setze ihr einen derben Witz nach dem anderen entgegen. Nach zehn Minuten läuft das Fass über. Sie packt mich am Kragen, schmeißt mich lauthals von der Bühne: „Scher dich zum Teufel und lass dich hier nie wieder blicken! Hanswurst, du elender, miserabler Schmierenkomödiant, weg mit dir, du Kasperkopf!" Und sie gibt mir einen derben Tritt in meinen Allerwertesten. Ich klettere unbeeindruckt die Rampe wieder hoch, bin ganz Sau.

    Das Publikum tobt, die Leute sind endlich aus ihrer Lethargie erwacht, sie klatschen sich gegenseitig auf die Schenkel, trampeln wie verrückt mit den Füßen im Takt.

    Keiner kann mehr unterscheiden, ob unser Streit echt ist oder gar zum Spektakel gehört. Sie drängt mich erneut hinter die Kulissen, ich wechsle die Seite und erscheine frohlockend auf der gegenüberliegenden Gasse der Bühne. Sie ist so in Rage, dass sie zum äußersten Mittel greift, sie verurteilt mich vor allen Leuten öffentlich zum Tode.

    Schon seit Wochen diskutiert sie mit mir, dass ich ihre ernsthaften Tragödienspiele nicht stören, mich benehmen und einfügen soll. Ich setze ihr entgegen, dass ein gesundes Lachen, ein laut tönender Furz, ein frivoler Schabernack nie schaden kann.

    Ich reime aus dem Stegreif: „Fängt das Zwerchfell an zu rosten – stehst du auf verlorenem Posten. Die Leute johlen und ich singe lauthals: „Ist das Leben noch so kurz, lass dir Zeit für einen Furz. In gewisser Hinsicht verstehe ich ja den Anspruch unserer Chefin.

    Sie versucht seit Jahren, das Theater von meiner pöbelnden, platten und sexistischen Derbheit zu befreien, sie kämpft für die Reinheit der moralischsittlichen Tragödie.

    Sie ist gemeinsam mit ihrem Freund und Verehrer Gotthold Ephraim Lessing der Auffassung, Theater soll nicht der reinen Unterhaltung, sondern vielmehr der Bildung und Erziehung dienlich sein. Und dabei war die Neuberin dem Komischen keineswegs abgeneigt, kreischte selbst gern bei passender Gelegenheit wie eine Lachmöwe.

    Nach und nach hetzt sie das gesamte Ensemble gegen mich auf und heute, am 7. Oktober 1737 ist es so weit. Sie hat vor unserer Bretterbude einen Scheiterhaufen errichten lassen. In der Mitte des akribisch aufgerichteten Holzhaufens throne ich als Puppe, symbolisch für alle Hanswürste und Kasperköpfe dieser Welt. Auf meinem Rücken ist ein schweres Tierfell befestigt. Es ist der Bär, den sie dem Volke aufbinden will. Das Publikum steht wie immer erwartungsvoll gaffend im Halbkreis herum.

    Das Drama beginnt im wahrsten Sinne des Wortes mit Pauken und Trompeten. Die Neuberin schreitet mit einer brennenden Fackel aus dem Haupteingang der Bude. Sie entfacht den Scheiterhaufen in der Mitte, richtet die gespreizten Daumen, Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand auf mich und ist bereit für den Fluch. Das Publikum hält den Atem an, glotzt mit offenen Mündern, weiß nicht recht, was es von dem Spektakel halten soll. Das Feuer lodert auf, Rauch steigt in meine Nase und wäre eine Puppenspielerhand in mir, ich würde wild gestikulieren, anfangen nach Luft zu japsen und fürchterlich husten.

    Mein Leben läuft in Sekundenschnelle vor mir ab. Am liebsten würde ich lauthals schreien: „Friederike, die Menschen lieben mich, sie brauchen mich, tu's nicht! Aber ich habe keine Stimme, ich bin leer und vor allen Dingen machtlos. Die Neuberin tanzt drei Runden um den Scheiterhaufen und spricht mit fester Stimme: „Hanswurst, du nichtsnutziger Kasperkopf – verdammt sollst du sein bis in alle Ewigkeit! Du wirst so lange Heldentaten vollbringen müssen, bis du vielleicht eine Jungfrau findest, die dich erlöst! Nie wieder sollst du die Bretter, die die Welt bedeuten, betreten. Kein Mensch wird dir nachtrauern, hinweg mit dir!

    Ich habe nur noch einen Gedanken: „Hilfe! Hilfe! Meeeeerliiin, bitte hilf!" Es blitzt am Himmel und er erscheint. Der Mann mit dem langen, grauen Bart lächelt mir zu, schwingt seinen Zauberstab und schlagartig gießt es in Strömen. Ich schließe ohnmächtig meine Augen und ergebe mich meinem Schicksal.

    Helden werden nicht als solche geboren, sie werden von anderen dazu gemacht.

    Ein wunderbar erlösender Sommerguss fällt vom Himmel und innerhalb von Minuten steht der Platz unter Wasser. Das Feuer zischelt vor Wut, dass es mich nicht erreichen und auffressen kann, nach und nach wird aus den Flammen glimmende Glut, die langsam erlischt. Wegen des Unwetters flüchtet das zahlreich erschienene Volk panisch in seine Hütten und Häuser. Als ich aus meiner Ohnmacht erwache, liege ich mutterseelenallein in der Wüste. Ich will erst nicht glauben, dass ich den Scheiterhaufen überlebt haben soll. Ich öffne erst das eine, dann das andere Auge, weit und breit kein einziger Mensch. Meine Hände sehen aus wie Tatzen, meine Arme und Beine sind mit goldgelbem Fell überzogen. Mir ist, als wäre ich aus einem furchtbaren Traum erwacht.

    Ich reibe mir die Augen, um den üblen Alp zu verjagen. Wie schön wäre es, einfach aufzuwachen, mit den Schauspielerkollegen im Wirtshaus am Fischmarkt zu sitzen, zu frühstücken, das erste Glas Bier des Tages hinter die Binde zu kippen. Stattdessen kratze ich mir fast meine Augenlichter aus, Theaterblut tropft auf meinen Schoß, eh ich begreife, dass ich mir mit meinen langen, scharfen Krallen selbst das Gesicht zerschneide. Ich wandere tagelang, bis ich zu einem Fluss komme und mein wahres Antlitz sehe.

    Die Neuberin hat mir nicht nur einen Bären aufgebunden, nein, sie hat mich in einen Bären verwandelt und ans Ende der Welt geflucht. Wenn ihre Zauberei hält, was sie verspricht, habe ich jetzt mehrere Jahrhunderte Zeit, eine Jungfrau zu finden – eine, die mich aus Liebe erlöst. Was für ein Schicksal. Fortan friste ich mein Dasein als Tierpuppe und beginne, den Traum von der Schönen und dem Biest zu träumen.

    Es dauert Jahre, bis ich begreife, dass Puppe zu sein nicht das schlechteste Leben auf Erden ist. Kurios – heute findet genau an der Stelle, an

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