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Minds like Midnight Blue
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eBook337 Seiten4 Stunden

Minds like Midnight Blue

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Über dieses E-Book

Ramon ist 6 Jahre alt, als er seine erste Vision bekommt, in der er seine neugewonnene Freundin Luana sterben sieht. Kurz darauf stirbt diese tatsächlich, was alles in seinem Leben verändert. 
Es folgen weitere Visionen, die alle dasselbe Ende nehmen; die Person aus der Vision stirbt. 
Auf den Wunsch seiner Mutter begibt sich Ramon in Behandlung einer Therapeutin, die ihm nicht glauben möchte, was er sieht. Sie stellt Fehldiagnosen auf, die Ramon allmählich zu glauben beginnt, bis eines Tages ein neues Mädchen in dasselbe Haus wie er einzieht, das erstaunliche Parallelen zu Luana aufweist und auf den Namen Luna hört.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum19. Okt. 2023
ISBN9783740742836
Minds like Midnight Blue
Autor

Alina Bachmann

Alina Bachmann wurde im Jahr 2000 in einer kleinen Stadt zwischen Köln und Bonn geboren. 2018 begann sie ihr Studium von Germanistik und English Studies. Ihre Liebe zum Schreiben entwickelte sich bereits in der Kindheit. Was anfangs Kurzgeschichten über Dinos oder Mäuse waren, wurden später Fanfictions über verschiedene Youtuber, bis sie im März 2020 nach drei Jahren Arbeit ihren ersten eigenen Roman "Minds like Midnight Blue" herausbrachte.

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    Buchvorschau

    Minds like Midnight Blue - Alina Bachmann

    Kapitel 1

    Obwohl es schon über 12 Jahre her war, kam es ihm so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Die Erinnerung war noch lange nicht verblasst, sie hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt und er bezweifelte stark, dass er jemals in der Lage sein würde, diesen Tag vergessen zu können, wenn er es bis jetzt nicht einmal annähernd geschafft hatte, diesen Tag zu verdrängen.

    Sommer, schon immer liebte er den Sommer. Er liebte es, die Zeit mit seinen unzähligen Freunden draußen zu verbringen, Abenteuer zu erleben und lange aufzubleiben, da die Sonne noch bis in die Nacht zu sehen war und somit diese erleuchtete. Es fiel ihm schon immer leicht, neue Freunde zu finden oder Leute anzusprechen, was ihn zu einem guten und lustigen Freund machte. Wollten seine Freunde raus, so fragten sie ihn immer als Erstes, ob er mitkommen wollte. Er war ziemlich beliebt bei ihnen. Sein bis jetzt noch so kurzes Leben von sechs Jahren verlief normal bis hin zu jenem Tag, der alles, wirklich alles, veränderte.

    Es war ein Samstagmorgen, wie jeder andere, und seine Mutter beschloss, einen spontanen Ausflug zu seiner Oma zu machen. Sofort packte er die wichtigsten Sachen, die er für die etwas längere Fahrt gebrauchen konnte, in einen kleinen Rucksack. Seine Mutter packte noch ein zusätzliches Paar Socken und andere Klamotten ein, da sie vorhatten, zwei Tage dort zu bleiben. Dann ging die Fahrt los.

    Er freute sich schon auf die alte Villa der Oma, die zwischen einem großen, abenteuerlichen Wald und einem Spielplatz lag. Er hätte sich keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen können.

    Die Fahrt kam ihm dieses Mal gar nicht so lange vor; er merkte selber, wie er mit der Zeit immer geduldiger wurde. Er hatte gelernt abzuwarten und so verging die Zeit wie im Fluge. Sein kleines Herz klopfte vor Freude ganz schnell, als sie durch den Wald fuhren, der sie zum Hause der Oma führte.

    Er mochte die alte, von Efeu bedeckte Villa, in der seine Oma schon seitdem er auf der Welt war, lebte. Er mochte die großen Fenster, durch die die Sonne ins Innere gelangte und für Licht und Wärme, in dem sonst so kalt wirkenden Haus, sorgte. Auch mochte er den verspielten Garten mit den Rosen und dem kleinen Pavillon neben dem winzigen Teich. Ihm war durchaus bewusst, dass das große Haus mit den vielen Zimmern schon bessere Tage gesehen hatte, doch er liebte es.

    Die Villa war schon ziemlich alt, doch trotz der Aufforderungen ihrer Kinder, diese restaurieren zu lassen, damit ihr nicht eines Tages wortwörtlich das Dach auf den Kopf fallen würde, weigerte sich seine Oma, dies zu tun. Sie sagte immer, dass das Haus ein Stück Geschichte war und es ihre Pflicht wäre, diese zu schützen. Er sah das genau so, denn er war fasziniert von der Tatsache, dass dieses Haus nach so langer Zeit immer noch unverändert am selben Ort stand, an dem es gebaut wurde. Von der Geschichte, die seine Oma beschützte, kannte er nur Bruchteile. Eines Tages, sagte sie, so würde er die ganze Geschichte erfahren, aber jetzt war er noch zu jung dafür.

    Nachdem noch andere Familienmitglieder bei der alten Villa angekommen waren, gab es Kaffee und Kuchen in dem kleinen Garten. Die Erwachsenen freuten sich, einander zu sehen, da sie alle in anderen Städten, überall verteilt im Land, wohnten und nur selten gemeinsam an einem Tisch saßen. Er hingegen fühlte sich aufgrund mangelnder Spielpartner ziemlich verloren. Deshalb erlaubte ihm seine Mutter, auf dem Spielplatz nebenan spielen zu dürfen, woraufhin er begeistert aufsprang und aus der Villa auf den Spielplatz stürmte.

    Auch hier fiel es ihm nicht besonders schwer Freunde zu finden. Schnell hatte er sich einer Gruppe von vier Jungs angeschlossen und spielte mit ihnen Verstecken, bis er bemerkte, dass er von einem etwas kleineren Mädchen verfolgt wurde. Er musterte sie genauer und wollte dann wissen, ob sie mitspielen mochte, doch sie verneinte diese Frage. Sie hatte einen der Jungs schon vorher gefragt, ob sie mitspielen dürfte, doch sie wollten es nicht. Zwar war sie traurig darüber, doch sie ließ es sich nicht anmerken. Sie wusste nicht einmal, warum es sie traurig gemacht hatte Genau so wenig wusste sie, warum sie einen von diesen Jungs so gerne beobachtete.

    Um das Schweigen, das mittlerweile über ihnen herrschte, zu durchbrechen, fragte er sie nach ihrem Namen; Luana. Ihre von Sommersprossen überzogenen Wangen glühten kurz auf, als sie das sagte. Noch bevor er sich vorstellen konnte, verabschiedeten sich seine neu gewonnenen Freunde von ihm, da es schon spät geworden war und ihre Eltern mit ihnen nach Hause gehen wollten. Innerlich freute sie sich, dass seine Freunde gehen mussten, doch äußerlich ließ sie sich nichts anmerken. Das Einzige, was sie ärgerte, war die Tatsache, dass er seinen Namen nicht genannt hatte. Zwar wusste sie ihn, da sie gehört hatte, wie einer der Jungs ihn gerufen hatte, doch das konnte er nicht wissen.

    Als er wieder zu ihr zurückkam, wollte er wissen, wie alt sie war. Etwas schüchtern blickte sie auf ihre Hände und zeigte fünf Finger. Um zu zeigen, wie alt er war, wollte er noch einen weiteren, sechsten Finger herausstrecken und griff vorsichtig nach ihrer Hand. Doch in dem Moment, in dem sich ihre Hände berührten, passierte etwas Merkwürdiges.

    Ein kurzes Kribbeln durchzuckte seinen Körper, das so schnell wieder vorbei war, wie es gekommen war. Er merkte, wie sich seine Stirn kräuselte, dann wurde sein Bild schwarz. Doch es blieb nicht lange schwarz. Schnell konnte er die Farben wiedererkennen - erst nur unscharf, dann wurde das Bild wieder scharf.

    Nun befand er sich plötzlich nicht mehr auf dem Spielplatz, sondern mitten auf einer Straße vor einem großen Mehrfamilienhaus mit Garten. Er sah eine Frau, die erstaunliche Ähnlichkeiten mit Luana aufwies, dann sah er auch Luana. Sie spielte mit einem kleinen Ball. Doch plötzlich rollte dieser auf die Straße und Luana rannte ahnungslos hinterher. Sie sah das Auto nicht, was auf sie zufuhr, aber er sah es. Er konnte nichts machen. Ein Scheppern. Ein Schrei. Eine Autotür. Eine weinende Mutter. Stimmen. Viele Stimmen. Viele Stimmen, die wild durcheinanderredeten. Stille.

    Sein Bild wurde wieder unscharf, dann wurde es schwarz und zu guter Letzt befand er sich wieder auf dem Spielplatz. Ein merkwürdiger Tagtraum. Erst nachdem er ein paar Mal geblinzelt hatte, wurde er sich wieder über seinen geistigen Zustand bewusst. Er befand sich wieder in der Realität. Das Ganze ging so schnell, dass sie gar nicht erst bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Und bevor er ihr sagen konnte, dass er sechs Jahre alt war, wurde auch sie von ihrer Mutter gerufen. Erschreckenderweise musste er feststellen, dass die Frau, die sich als Luanas Mutter erwies, genau wie die Frau aus seinem kurzen Tagtraum aussah. Sie verabredeten sich noch für den nächsten Tag, dann stieg sie ins Auto ein und sah, wie er ihrem Auto hinterherschaute, bis es hinter der Kurve verschwunden war.

    Am nächsten Morgen hatte er es ziemlich eilig, zum Spielplatz zu kommen, er wollte unter keinen Umständen zu spät kommen. Mit unerklärlicher Vorfreude setzte er sich auf die Schaukel am Rande des Spielplatzes und wartete.

    Nach einiger Zeit fing es an zu regnen, doch er wollte nicht aufstehen und ins Trockene gehen; er könnte sie ja verpassen. Also blieb er sitzen. Im strömenden Regen. Und wartete. Irgendwann verzog sich der Regen wieder. Kinder kamen und gingen, doch sie kam nicht. Dann irgendwann sah er ein vertrautes Gesicht. Luanas Mutter. Sie sagte ihm, er solle lieber nach Hause gehen, Luana würde nicht kommen können.

    Sie musste es gar nicht aussprechen, da wusste er schon, was passiert war. Sein Tagtraum wurde wahr. Luana war tot.

    „Sie sehen nicht gut aus", sagte Frau Müller und seufzte.

    „Ich sehe nie gut aus", antwortete er kalt.

    Er hatte es satt, fünf Stunden in der Woche in ihrem Sprechzimmer festzusitzen, ohne auch nur einen einzigen Fortschritt erlangt zu haben.

    „Sie sind schon wieder so negativ", mahnte sie ihn und setzte sich ihre eckige, rosa Brille auf die spitze Nase.

    Sie begann in dem Schriftstück zu lesen, das er ihr vor wenigen Minuten überreicht hatte, und murmelte zwischendurch Sachen wie 'Interessant' oder 'Merkwürdig'.

    Als sie sich durch die neusten Seiten geblättert hatte, setzte sie ihre Brille wieder ab und sah ihn mit ernstem Blick an: „Ich kann in Ihrem Traumtagebuch keine Unebenheiten finden. Keine Angstzustände, keine Tagträume und keine negativen Gedanken mehr. Sie wissen sicherlich, was das bedeutet, oder?"

    „Dass Sie mich endlich entlassen können?", fragte er hoffnungsvoll.

    „Nein", sie schüttelte den Kopf.

    „Das heißt, dass wir etwas verändern müssen. Wenn Sie seit mehr als 10 Jahren nicht dazu bereit sind, sich zu öffnen, muss ich Sie an einen anderen Psychologen weiterleiten. Sie wissen, dass ich sehr interessiert an Ihrem Fall bin, aber das wäre nur zu Ihrem Besten. Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie nicht damit aufhören, irgendwelche ausgedachten Geschichten in Ihre Tagebücher zu schreiben", ihre Stimme war ruhig und sachlich, dennoch war er aufgebracht.

    Wie sollte er ehrlich sein, wenn ihm niemand glaubte?

    „Haben Sie in letzter Zeit noch einmal solche Träume gehabt?", hakte sie etwas strenger nach.

    „Es sind keine Träume, es sind Voraussagen", warf er ein. Er hasste diese Diskussion. Es war reine Zeitverschwendung. Im Laufe der letzten 13 Jahre war er sich immer sicherer geworden, dass die ganze Sache mit Luana kein Zufall war. Es war eine Voraussage gewesen, doch niemand glaubte ihm.

    Narkolepsie, Traumata, schwere Angstzustände und Depressionen, so lautete die Diagnose der Psychologin, deren Sprechstunden er anfangs freiwillig besucht hatte. Mittlerweile besuchte er sie nur noch, da er seiner Mutter versprochen hatte, wieder gesund zu werden und sein Leben unter Kontrolle zu bekommen, kurz bevor er merkte, dass ihre Zeit abgelaufen war. Auch ihren Tod hatte er vorhergesehen; es war nur einer von mittlerweile ziemlich vielen, weshalb es seine Meinung bezüglich seiner Voraussagen bestätigte. Gleichzeitig aber bestätigte dies auch Frau Müller mit ihren Diagnosen.

    „Ramon, sagte sie sanft, um ihn aus seinen Gedanken in die Realität zurückzuholen. „Sie wissen genau, dass das menschliche Gehirn in der Lage ist, Erinnerungen so zu manipulieren, dass man im Nachhinein denkt, man hätte etwas vorhergesehen, ihre Stimme wurde wieder ernster.

    Er schluckte. Klar, an ihrer Theorie war etwas Wahres dran, aber es war ja nicht so, als hätte er das nicht schon für sich selbst überprüft. Er hatte seine Voraussagen aufgeschrieben, noch bevor sie überhaupt eingetroffen waren und jedes verdammte Mal hatte er Recht gehabt. Aber das sagte er nicht. Sollte sich Frau Müller ihm doch überlegen fühlen.

    „Wenn Sie das sagen", murmelte er deutlich genervt von ihrer allwissenden Haltung ihm gegenüber.

    Ja, er war mit seinen 19 Jahren deutlich jünger als sie, aber dennoch wusste er mehr über sich selbst, als sie jemals erfahren würde. Er wartete nur noch auf den richtigen Moment. Auf die richtigen Beweise, um ihr zu zeigen, dass sie immer falsch gelegen hatte.

    Es konnte kein Zufall mehr sein, dass sich seine Voraussagen, seitdem sie angefangen hatten, stetig verändert hatten. Anfangs kamen sie nur bei Berührungen, später genügte ein Blickkontakt. Mittlerweile reichte es, dass er irgendeinen Menschen sah und sie traten auf. Zufällig und somit auch unkontrollierbar.

    „Die Zeit ist um", stellte Frau Müller mit einem Blick auf die Uhr fest.

    Erleichtert verabschiedete er sich von ihr und trat hinaus in die Freiheit.

    Er hatte Glück, es war noch nicht viel los auf den Straßen. Wenig Menschen bedeuteten für ihn, dass seine Voraussagen nicht so oft, oftmals auch gar nicht auftreten würden. Schnell stieg er in sein Auto, das er zu seinem 18. Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, und fuhr die zwei Straßen bis zu seiner Wohnung.

    Zwar hätte er den Weg um diese Uhrzeit auch problemlos zu Fuß gehen können, aber er wollte nichts riskieren. Wenn es um so etwas ging, war er lieber alleine. Es gab nur zwei Gründe für ihn, das Haus überhaupt zu verlassen: Einkaufen und die Sprechstunden mit Frau Müller. Die restliche Zeit verbrachte er alleine zu Hause. Zwar hatte er noch seinen Vater, doch er war direkt nach seinem Abitur ausgezogen. Er könne sich alleine besser auf seine Arbeit konzentrieren - so hatte er ihm seinen frühen Auszug begründet. In Wahrheit aber fürchtete er sich davor, auch ihn sterben zu sehen.

    Diese Angst beeinflusste ihn so sehr, dass er fast immer alleine war. Seit seinem 7. Lebensjahr hatte er sich von all seinen Freunden abgewendet, nachdem er den Tod eines seiner Freunde vorhergesehen hatte. Nur einer von ihnen war übriggeblieben; Tim, sein bester Freund.

    Aus irgendwelchen Gründen hatte Tim es mit ihm ausgehalten und deswegen fiel es ihm auch so schwer, ihn aus seinem Leben zu verbannen. Vielleicht tat ihm diese Freundschaft auch ganz gut. Ohne Freunde würde er vielleicht wirklich durchdrehen, aber mit Tim wusste er, dass er eine Person auf der Welt hatte, die trotz seiner komischen Visionen zu ihm hielt.

    Das war ein guter Ausgleich für die regelmäßigen Sitzungen mit Frau Müller, die ihn behandelte, als wäre er anders, als würde ihm etwas fehlen, als wäre etwas falsch mit ihm.

    Es war leicht, einen Parkplatz vor seinem Haus zu finden, da er in einer nur selten befahrenen Straße wohnte. Und genau deshalb war er so verwundert, dass vor seinem Haus ein großer Umzugswagen parkte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass in letzter Zeit jemand ausgezogen war, allerdings war er auch nicht großartig interessiert an seinen Nachbarn. Er hatte schon, seitdem er eingezogen war, vermieden, mit den Nachbarn in Gespräche verwickelt zu werden oder sie gar zu sehen.

    Er hatte sich an den Rhythmus des Mehrfamilienhauses angepasst und wusste ungefähr, wer wann ein und aus ging. Zwischen diesen Zeiten konnte er sich frei durch das Treppenhaus bewegen. Das funktionierte bis jetzt ziemlich gut und die meisten seiner Nachbarn hatten ihn noch nie zu Gesicht bekommen, dennoch passierte es manchmal, dass er der freundlichen älteren Dame aus dem Erdgeschoss begegnete.

    Er konnte es nicht übers Herz bringen, einfach so an ihr vorbeizulaufen und ihre freundliche Begrüßung zu ignorieren und bis jetzt verlief auch jede dieser Begegnungen gut, aber er wusste, dass das keine Versicherung für die Ewigkeit war. Er wusste, dass er besser aufpassen musste.

    Zögernd stieg er aus seinem Auto aus und versuchte, sich so unauffällig wie möglich ins Haus zu schleichen. Erleichtert stellte er fest, dass keine Menschen in der Nähe des Umzugswagens waren. So schnell wie möglich versuchte er in den vierten Stock zu gelangen und wieder einmal schaffte er es, seine Wohnung zu erreichen, ohne auch nur einem Menschen zu begegnen.

    Kapitel 2

    Es dauerte ziemlich lange, bis alle Kartons in der Wohnung gelagert waren. Dementsprechend müde ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Irgendwie kam ihr der vorherige Umzug angenehmer vor, was daran liegen konnte, dass sie jetzt alt genug war, um mitzuhelfen, und ihre Mutter diese Hilfe auch gut gebrauchen konnte.

    Müde und erschöpft warf sie einen kurzen Blick auf den Wecker, der auf ihrem improvisierten Nachttisch – einem Karton gefüllt mit Büchern und anderen Sachen – stand, und stellte fest, dass sie länger still die Decke anstarrend dagelegen hatte, als sie dachte. Sie setzte sich auf, gähnte kurz und streckte sich. Sie würde heute nicht um eine heiße Dusche herumkommen.

    Immerhin war es Sonntag und schon ziemlich spät. Sie hatte ziemlich geschwitzt und fühlte sich total ausgelaugt, aber das änderte auch nichts an der Tatsache, dass morgen ein ganz normaler Schultag sein würde. Niemanden würde es interessieren, dass sie keine Lust auf diese Stadt hatte oder das ganze Wochenende mit diesem Umzug beschäftigt war. Ihr Leben würde weitergehen und niemand würde sich für sie und ihre Probleme interessieren.

    Generell hatte sie nicht verstanden, weshalb ihre Mutter unbedingt wegziehen wollte, und noch weniger verstand sie, weshalb diese Wahl ausgerechnet auf diese Stadt gefallen war, wo es doch so viele schönere Städte gab. Sie stieg aus der Dusche und wickelte sich in das hässliche, graue Handtuch ein, welches das Erstbeste war, das sie in dem ganzen Chaos finden konnte.

    Beim Vorbeigehen zur Tür blieb ihr Blick an dem Spiegelschrank hängen, in dem sie ihr Gesicht erkennen konnte. Blass. Unter ihren Augen waren tiefe Schatten und auch sonst konnte sie nichts an sich finden, das auch nur irgendwie besonders schön, geschweige denn annähernd schön war.

    Nicht heute.

    Heute war nicht ihr Tag. Das wusste sie bereits, als sie sich am Morgen von ihrer besten Freundin Sina auf unbestimmte Zeit verabschieden musste. Dabei waren sie schon Freundinnen gewesen, seit sie überhaupt denken konnte. Sina war für sie die Schwester, die sie nie hatte und auch vom Aussehen hätten die beiden Schwestern sein können. Mit ihren braunen, langen Haaren und ihren Sommersprossen sahen sie sich immer schon sehr ähnlich. Nur ihre blauen Augen unterschieden sie stark von Sina.

    Mit der Zeit ähnelten sie sich immer weniger, was ihrer Freundschaft allerdings keinen Schaden zufügte. Verdammt, sie wollte wieder zurück. Sie wollte nicht in die neue Schule gehen und erst recht nicht mitten im Schuljahr. Wäre es nach den Sommer- oder sonstigen Ferien gewesen, wäre das Ganze erträglicher. Aber so mittendrin im Schuljahr würde ein neues Gesicht in der Stufe stärker auffallen und genau das wollte sie nicht.

    Sie wollte sich nicht einmal die Mühe machen, Freunde zu finden. Sie wollte einfach nur den nächsten Tag überleben und das bis zu ihrem Abitur.

    „Luna, wenn du pünktlich kommen möchtest, dann steh sofort auf!", hörte sie ihre Mutter rufen.

    Ein Blick auf ihren Wecker verriet, dass sie viel zu spät dran war. Verdammt. Sie beeilte sich und schlüpfte in die erstbeste Jeans, die sie finden konnte. Darauf ein graues Shirt, eine Lederjacke und fertig. Nach einem Blick in den Spiegel musste sie feststellen, dass sie schon viel erholter aussah als am Tag zuvor, weshalb sie auf Foundation und Concealer verzichten konnte.

    „Fertig", rief sie, als sie aus dem Bad stürmte. Im Gehen griff sie noch nach ihrem Frühstück und einem Becher mit Kaffee, der schon auf der Küchentheke bereitstand und hastete mit ihrer Schultasche in der anderen Hand aus der Wohnung im dritten Stock.

    Der Weg bis zu ihrer neuen Schule war kürzer als der zu ihrer alten Schule, weshalb sie ihn problemlos zu Fuß gehen konnte. In ihrer alten Heimatstadt musste sie immer den Bus nehmen. Vor dem Gebäude angekommen, atmete sie einmal tief durch, dann trat sie ein.

    Die Tür der Eingangshalle ließ sich nur schwer öffnen, sodass ich mich zu fragen begann, wie die kleineren Schüler in der Lage sein konnten, diese zu öffnen, wo ich, eine Schülerin der gymnasialen Oberstufe, schon Probleme hatte. Es mochte wahr sein, dass ich nicht die Größte war und es durchaus Schüler der 7. Klasse gab, die größer waren als ich, dennoch würde ich mich mit meinen 1,67m nicht als winzig bezeichnen.

    Mit offenem Mund stand ich also in der Eingangshalle der Schule und blickte mich erstaunt um. Irgendwie hatte ich mir meine neue Schule anders vorgestellt. Nicht ganz so alt und trostlos. Doch es war gut so. Ich mochte alte Sachen.

    Die Wände der Eingangshalle waren aus dunklen, leicht moosigen Steinen gemauert, was der ganzen Halle eine ziemlich düstere, aber irgendwie auch magische Atmosphäre gab. Die dunkle Decke war ziemlich hoch, sodass es aussah, als würden die ewig langen Wände irgendwo in einem Nichts enden. Und tatsächlich würde ich nicht überrascht sein, wenn ich dort oben Hexen hätte fliegen sehen, so naturwidrig schien mir dieser Ort.

    In der Mitte der runden Eingangshalle befand sich ein Baum, unter dem eine alte Holzbank stand. Allerdings kam mir der Baum dort aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse in der Eingangshalle ziemlich fehl am Platz vor. Tatsächlich grenzte es ein bisschen an Magie, dass der Baum hier stand und noch nicht abgestorben war, da sein Fotosynthesepotenzial hier nicht gerade atemberaubend sein konnte. Streberin. Beschimpfte ich mich selber in Gedanken und zwang mich, von dem Baum, dem Zentrum der Eingangshalle, wegzuschauen.

    An der Wand gegenüber von der Eingangstür konnte ich ein paar Tische und Bänke erspähen. Bestimmt verbrachten die anderen Schüler hier ihre Pausen und Freistunden. An den Wänden rechts und links von mir gingen jeweils zwei Gänge ab. Wohin diese führten, war mir noch unklar. Vor meinem inneren Auge konnte ich schon sehen, wie ich mich hier tagtäglich verlaufen würde.

    Man bräuchte ein Navigationssystem, um sich hier zurechtfinden zu können. Oder vielleicht bräuchte nur ich so etwas. Mein Orientierungssinn war noch nie besonders ausgeprägt gewesen, aber dafür hatte ich andere Talente. Gut versteckte Talente. So gut versteckt, dass ich sie selber noch nicht kannte.

    Schließlich schaffte ich es, mich aus dieser Starre, ausgelöst durch eine gewisse Faszination und Abneigung für und gegen diesen Ort, zu lösen. Da ich so in Gedanken vertieft war, hatte ich nicht gemerkt, dass sich die Eingangshalle geleert hatte; der Unterricht hatte angefangen, und da ich generell schon spät dran war, hatte ich nicht mehr viel Zeit, um das Sekretariat aufzusuchen und meinen Stundenplan zu erhalten.

    Da ich allerdings momentan das einzige atmende Lebewesen in dieser riesigen Halle war und die Schule um einiges größer und verwirrender war, als ich es erwartet hatte, wusste ich nicht, wie ich den Weg zum Sekretariat finden sollte, ohne mich mindestens einmal zu verlaufen.

    Verzweifelt ging ich in Richtung des alten Baumes und setzte mich auf die Bank. Von dort aus hatte man einen besseren Überblick über die Gänge. Man hätte ja wenigstens ein paar Schilder anbringen können, dachte ich verärgert. Warum musste meine Mutter auch ausgerechnet hier hinziehen?

    „Auf was wartest du?", hörte ich eine Stimme hinter mir.

    Erschrocken drehte ich mich um. Doch da war niemand. War ich gerade dabei, den Verstand zu verlieren oder hatte gerade der Baum mit mir geredet?

    „Ich warte auf gar nichts", behauptete ich trotzig und verwirrt zugleich.

    „Und was machst du sonst hier?", fragte dieselbe Stimme.

    Das konnte nicht wahr sein. Ich redete gerade mit einem Baum. Mit einem verdammten Baum. Das war doch nicht möglich. Das konnte nicht möglich sein.

    „Über den Sinn des Lebens nachdenken, was soll man sonst hier machen?", antwortete ich mit einem sarkastischen Unterton.

    „Falls du das Sekretariat suchst, ich kann dich hinbringen."

    Während ich in Gedanken überlegte, ob es normal sei, mit einem Baum zu reden, und ob es denn überhaupt möglich wäre, dass dieser mir den Weg zum Sekretariat zeige, löste sich eine Silhouette aus dem Schatten des Baumes.

    „Bevor du mich weiterhin so fragend und verstört anguckst, nein, ich bin gerade nicht aus dem Baum getreten. Ich bin lediglich zu spät gekommen und dachte mir, du könntest vielleicht Hilfe gebrauchen", lachte die Person und kam näher.

    „Ich bin übrigens Julius."

    „Und ich werde an meinem ersten Tag zu spät zum Unterricht kommen", sagte ich kalt.

    Julius lachte kurz auf, dann gingen wir zusammen zum Sekretariat.

    „Man sieht sich", sagte er, nachdem er mich sicher zum Sekretariat geführt hatte und hob zum Abschied lässig seine Hand.

    Ich sagte gar nichts, sondern öffnete die braune, schwere Tür, die den Gang vom Sekretariat abtrennte.

    „Entschuldigen Sie die Verspätung, ich bin die neue Schülerin", brachte ich hervor.

    „Das ist doch kein Problem. Für Neulinge ist die Schule das reinste Labyrinth", antwortete eine Sekretärin freundlich.

    Daraufhin blätterte sie in einigen Ordnern und holte ein paar Blätter heraus, von denen eins mein zukünftiger Stundenplan war. Freundlich verabschiedete ich mich und kehrte in die Eingangshalle zurück, weil das der einzige Ort war, den ich sofort finden konnte und an dem ich mich fast schon ein wenig wohl fühlte.

    Ich stellte meine Tasche auf einen der Tische und guckte mir die Blätter an. Ein paar Informationszettel zu Kursfahrten, Ausflügen, den Computerräumen und anderen Veranstaltungen. Dann erst widmete ich mich meinem Stundenplan.

    Wenn man sich meine neue Schule so anschaute, hätte man damit rechnen können, Fächer wie Verteidigung gegen die dunklen Künste auf seinem Stundenplan vorzufinden, doch natürlich war dem nicht so. Also folgte ich meinem Stundenplan

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