Beratungskompetenz für eine globalisierte Gesellschaft: Kultur, Globalisierung, Migration
Von Stefan Schmid
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Über dieses E-Book
Migrationsprozesse, Diskriminierung und unterschiedliche Sozialisationserfahrungen können Beratende überfordern, wenn sie keine angemessene Herangehensweise zu diesen Themen entwickeln. Die Fähigkeit zum Perspektivwechsel ist somit umso wichtiger. Stefan Schmid bietet einen selbstreflexiven Zugang, um eigenes Wissen zu erweitern, Lücken und Vorbehalte zu erkennen und so eine kultursensible Gesprächsführung aufzubauen. Diese zielt nicht darauf ab, alles zu wissen, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Also nehmen Sie die Herausforderung an und werden Sie interkulturell kompetent!
Stefan Schmid
Prof. Dr. Stefan Schmid, Diplom-Psychologe, hat in Regensburg und London studiert und an der Universität Hildesheim promoviert. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Organisationsberater, Coach und Trainer in der Wirtschaft, für Behörden und Non-Profit-Organisationen. Er ist Professor für interkulturelle Psychologie und Wirtschaftspsychologie an der FOM München, Lehrcoach und zertifizierte Senior Coach (Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, BDP). Gemeinsam mit einer Kollegin leitet er die Initiative TAFF – Therapeutische Angebote für Flüchtlinge und ist Mitbegründer von EmicLab, einem interkulturellen Beratungsinstitut in Warschau.
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Buchvorschau
Beratungskompetenz für eine globalisierte Gesellschaft - Stefan Schmid
1 Warum dieses Buch?
Globalisierung ist kein neues Phänomen, sondern stand schon an der Wiege des kapitalistischen Wirtschaftssystems, wie wir es heute kennen (Beckert, 2017; Marx u. Engels, 1859/1967). Allerdings hat sich der Personenkreis, der sich unmittelbar damit auseinandersetzt und betroffen ist, in den letzten Jahrzehnten beträchtlich erweitert. Im Alltag sind wir ständig mit Fragestellungen konfrontiert, die unmittelbar aus dem Prozess der Globalisierung resultieren. Beim Konsum gilt es zu reflektieren, wie und wo ein Artikel hergestellt wurde, im Arbeitsleben drängt die weltweite Präsenz des Arbeitgebers in eine 24/7-Verfügbarkeit. In der Beratungspraxis wird klar, dass selbst in Organisationen, die ausschließlich im Inland präsent sind, rund ein Viertel der Klient*innen Eltern haben, die eingewandert sind oder selbst Migrationserfahrung mitbringen. Arbeitet man mit Kindern in Großstädten, kann es sich auch mal um mehr als die Hälfte der Klient*innen handeln (München, 2017).
Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Fachrichtungen befassen sich mit den verschiedenen Facetten der psychischen und sozialen Auswirkungen von Globalisierung auf den einzelnen Menschen. Steht die Verdichtung, Beschleunigung und Stress im Alltag durch die Veränderung von Reise- und Kommunikationsmitteln bei manchen Autor*innen im Fokus (z. B. Rosa, 2014), rücken andere Ängste vor sozialem Abstieg, ausgelöst durch einen wahrgenommenen Optimierungsdruck, ins Zentrum ihrer Betrachtung (Bude, 2015). Auch wird der Ruf nach einer systematischen »Psychologie der Globalisierung« (Chiu u. Kwan, 2016; Diaz u. Zirkel, 2012; Marsella, 2012) lauter. Unter diesem Schlagwort versammelt sich eine Fülle von Themen, wie z. B.
Beziehungen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Zugewandertengruppen
Auswirkungen dieser Gruppenbeziehungen auf die einzelnen Personen
Bedrohungsempfinden gegenüber spezifischen Zugewandertengruppen und daraus resultierende Diskriminierung; die Reaktion der Zugewanderten darauf
Entstehung von Stereotypen bzgl. Zugewandertengruppen zu denen kein persönlicher Kontakt besteht
Kulturelles Selbstverständnis und Identitätskonstruktion von Zugewanderten, deren Kindern und von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft (Bernardo u. Presbitero, 2018; Ying yi Hong, Zhan, Morris, u. Benet-Martínez, 2016; Morris, Chiu, u. Liu, 2015)
Integrations- und Abstoßungsprozesse in einer multikulturellen Gesellschaft
Rolle interkulturellen Lernens und Förderung interkultureller Lernprozesse
Welche Auswirkungen haben diese Fragestellungen auf die Arbeit von Berater*innen? Erfahrene Coaches winken bei den zuerst genannten Aspekten, wie Stress, Ängste und Überforderung oft ab und sehen diese als altbekannte Themen eines erweiterten Personenkreis, deren Auslöser sich nur verändert hat.
Betrachtet man allerdings die interkulturellen Aspekte, wird klar, dass sich durch Globalisierung eine deutliche Veränderung abzeichnet. Es gibt nicht mehr nur einzelne spezialisierte Berater*innen für interkulturelle Themen, die sich mit wenigen Betroffenen beschäftigen, sondern der Anteil der Klient*innen, bei denen interkulturelle Aspekte in der Arbeit eine zentrale oder begleitende Rolle spielen, wächst seit Jahren. Im gleichen Sinne häufen sich Beratungssituationen, in denen Klient*in und Berater*in unterschiedlich kulturell sozialisiert wurden, also die Beratung selbst zur interkulturellen Situation wird. Dies als Berater*in zu unterschätzen und als normale Herausforderung an die eigene Fähigkeit zum Perspektivenwechsel einzuschätzen, wäre höchst unprofessionell. Therapiestudien mit erhöhten Abbruchquoten bei bikulturellen Therapiedyaden bzw. bei nicht kultursensibel agierenden Berater*innen, die glauben zu verstehen und Klient*innen, die sich nicht verstanden fühlen, sprechen eine deutliche Sprache (Owen, Imel, Adelson, u. Rodolfa, 2012; T. B. Smith, Trimble, Smith, u. Trimble, 2015; Sue, Sue, Neville, u. Smith, 2019): Hier verbirgt sich eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für Berater*innen, die gleichzeitig die Chance bietet, den eigenen Horizont beträchtlich zu erweitern.
Dieses Büchlein bietet einen Baustein, die eigene Kultursensitivität in der Beratung zu reflektieren, Lernbedarfe zu erkennen und sich vielleicht schon bei der Lektüre weiterzuentwickeln.
Das zweite Kapitel verdeutlicht die Relevanz von Interkulturalität für Beratungsprozesse. Anschließend und in Kapitel drei, werden zwei Modelle interkultureller Kompetenz vorgestellt und die spezifischen Anforderungen für Berater*innen herausgearbeitet. Das vierte Kapitel stellt einen heuristischen Rahmen zur kulturellen Selbstreflexion vor. Kapitel fünf erweitert die beraterische Perspektive um migrantische Themen. Abschließend werden Beratungstechniken in Kapitel sechs vorgestellt, die interkulturelle Aspekte in der Beratung explorieren und bearbeiteten können.
Bevor wir uns konzeptuell dem Thema nähern, werfen wir zunächst einen Blick darauf, wie sich Interkulturalität in verschiedenartigen Beratungssituationen äußern kann. Impulsfragen dienen der Selbstverortung – wie schätzen Sie folgende Situationen ein?
Integrationsberatung
Eine Sozialarbeiterin arbeitet häufig in der Beratung mit Afghaninnen und unterstützt diese beim Integrationsprozess in Deutschland. Dabei ermuntert sie die jungen Frauen, ihren Weg zu gehen und die Freiräume in der deutschen Gesellschaft zu nutzen. Anfangs schätzte sie die dabei entstehenden Konflikte in den Familien als logische Konsequenz aus dieser Abnabelung ein. Allerdings kommen ihr mit der Zeit immer mehr Zweifel, ob sie ihre Klientinnen nicht mit diesem Problem allein lässt, dieses nicht richtig versteht oder durch ihre Beratung gar verstärkt.
Zu welchem Vorgehen würden Sie raten?
Studienberatung
Ein Studienberater an der Hochschule erlebt es immer wieder, dass bei Migrant*innen Eltern oder Verwandte sehr stark in die Entscheidungsfindung der zukünftigen Studierenden involviert sind. Er ist dann oft bemüht allein mit den Studierenden zu reden und die Familienangehörigen aus dem Beratungsprozess herauszuhalten. Er sieht die Studierenden als mündige Erwachsene und als solche will er sie behandeln. Etwas unsicher wird er allerdings, als eine Kollegin anmerkt, dass es doch toll sei, dass sich die Angehörigen so engagieren und die zukünftigen Studierenden nicht auf sich gestellt sind. Ob sein Verhalten diese einer wichtigen Ressource beraubt?
Wie schätzen Sie diese Situation und die Rolle der Verwandten ein?
Karriere-Beratung/Coaching
Ein junger Coaching-Klient mit Wurzeln im Nahen Osten lässt sich zu seiner beruflichen Karriere-Entwicklung beraten. Dabei entwickelt er eine Vielzahl an Ideen, die oft schwer zu konkretisieren sind und in der nächsten Sitzung durch völlig neue Ideen ersetzt werden. Viele Ideen sind in Anbetracht seiner Berufserfahrung nicht realistisch und zu hoch gesetzt. Bei dem Coach entsteht dadurch ein eher unreifer und kindlichnaiver Eindruck des Klienten. Die Situation gewinnt allerdings eine gänzlich neue Perspektive als das Gespräch auf die Migrationssituation des Klienten kommt: Er spüre immensen Erfolgsdruck, seine Familie in der Heimat habe keine Vorstellung von der Situation in Deutschland. Die Familie hätte aufgrund seines in Deutschland abgeschlossenen Studiums sehr hohe Erwartungen an ihn.
Wie würden Sie in der Beratung weiter vorgehen?
Coaching
Ein Coach bekommt von einem langjährigen Kunden aus der Industrie einen potenziellen Klienten für ein Probecoaching vermittelt. Der Klient, ein junger Mann mit vietnamesischen Wurzeln, würde durch seine zurückhaltende Art oft unterschätzt und im Unternehmen so unter seinen Möglichkeiten bleiben. Die Probesitzung verläuft anfangs etwas zäh, aber in einem freundlichen Klima. Der Klient wirkt auf den Coach etwas unmotiviert und orientierungslos in Bezug auf das Coaching – was aus seiner Sicht aber für eine Probesitzung nicht ungewöhnlich ist. Der Klient bittet den Coach immer wieder ihm konkrete Tipps zu geben. Der Coach sieht das nicht als seine Aufgabe und erläutert dem Klienten sein Rollenverständnis und seine Arbeitsweise. So müsse zunächst ein differenziertes Bild der Situation entstehen und der Klient selbst erarbeiten, wie er die erlebten Schwierigkeiten bewältigt: Hilfe zur Selbsthilfe. Der Coach ist nach alledem irritiert, als er über die Führungskraft des jungen Mannes erfährt, dass das Coaching nicht zu Stande kommt. Der potentielle Klient sei mit der Probesitzung sehr unzufrieden gewesen, habe den Eindruck gehabt, der Coach wisse nicht weiter und könne ihm keine konkrete Hilfe geben. Stattdessen habe er nur viele Fragen gestellt. Der Coach und die Führungskraft sind etwas überrascht, denn bisher gab es nur gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit.
Haben Sie Hypothesen wie die unterschiedliche Wahrnehmung der Coaching-Sitzung zustande kommen kann?
Konfliktberatung
Eine Psychologin arbeitet in einem Frauenhaus. Bei den dort auftretenden Alltags-Konflikten zwischen den Bewohnerinnen passiert es immer wieder, dass sich Bewohnerinnen mit afrikanischen Wurzeln ihr anvertrauen und von ihr ein »Machtwort« erwarten. Die Psychologin sieht sich jedoch als Moderatorin und »allparteilich«. Agiert sie dann in den folgenden Konfliktgesprächen in dieser Haltung, gewinnt sie den Eindruck, dass die