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Wilde Schwäne
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eBook371 Seiten4 Stunden

Wilde Schwäne

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Über dieses E-Book

Von der Natur, dem Meer und der Ruhe auf der Insel erhofft Thomas sich den nötigen Abstand, um sich mit seinem Leben auseinandersetzen und bei sich ankommen zu können. Im Institut auf der Insel arbeitet er mit Georg, einem anderen Studenten, zusammen. Georg ist froh, Unterstützung zu bekommen. Angeleitet von dem Naturkundler Professor van Bergen, vertiefen sich die beiden in ihre Aufgaben und verbringen viel Zeit in den Beobachtungsposten und bei den Auswertungen der Daten. Schnell freunden sich Thomas und Georg an. Beide verbindet die Begeisterung für die Natur und ihre Liebe zur See. Bald muss Thomas sich eingestehen, dass er den bodenständigen Georg weit mehr als nur sympathisch findet, und er muss einsehen, vor seiner Neigung nicht davonlaufen zu können. Georg seinerseits ist ebenso verwirrt darüber, dass er sich mit Thomas so gut versteht und Gefühle in ihm wachsen, mit denen er zunächst nicht umgehen kann und auch gar nicht umgehen möchte. Nach ersten, unbeholfenen Annäherungen, wagen jedoch beide den Schritt, sich auf ihre Gefühle einzulassen und erfahren dabei auch, wie sich Sexualität zwischen zwei Männern anfühlt.
SpracheDeutsch
HerausgeberHimmelstürmer
Erscheinungsdatum1. Jan. 2015
ISBN9783863614744
Wilde Schwäne

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    Buchvorschau

    Wilde Schwäne - Berron Greenwood

    Teil 1

    Thomas auf Reisen

    Der Himmel verhieß keinen Regen, trotz Wolken. Der Wind trieb sie vom Meer herüber, wo sie in der Erwartung des nahen Festlandes scheinbar aus dem Nichts langsam emporgestiegen waren. Weiß waren die Wolken und machten sich im Blau des Frühjahrs auf den Weg ins Landesinnere. Später, wenn sie irgendwo vielleicht einen Berg erreichten, müssten sie weiter aufsteigen und dann ihr Wasser freigeben, damit es sich auf den Weg zurück machen konnte; hierher, in die scheinbar unendliche See, aus der es kam. Und dann müsste das Wasser auch jenen Teil des Weges zurücklegen, den Thomas schon hinter sich hatte.

    Er wuchtete sich seinen großen Rucksack auf den Rücken und griff nach der nicht minder riesigen Sporttasche. Damit trug er alles, was er aus seinem bisherigen Leben mitzunehmen gedachte, bei sich. Ein tiefer Atemzug, und Thomas machte sich auf den Weg vom Bahnhof durch den kleinen Küstenort. Die Schilder zum Hafen waren nicht zu übersehen; eigentlich waren der Ort und der Hafen eins. Über die niedrigen Dächer kreisten Möwen und stritten sich lauthals um die besten Futterbrocken. Einem alten Reflex folgend, blieb Thomas vor einem Souvenirshop stehen. Er betrachtete die Fischerhemden und überlegte, ob er in ein paar Monaten genau solche Kleidung tragen würde. Andererseits wollte er ja gar nicht fischen. Sein Blick fiel auf ein Buch über die lokale Vogelwelt. Er nahm es kurz zur Hand, blätterte unschlüssig darin. Währenddessen dachte er an seine Fachbücher, die sich merklich durch den Rucksack am Rücken drückten. Das Schlagen der nahen Kirchturmuhr erinnerte Thomas an seine Fähre, das Buch legte er schnell weg und ging weiter.

    „Retour?", fragte der Verkäufer am Fahrkartenstand für die Überfahrt. Thomas schüttelte den Kopf und zahlte eine einfache Fahrt.

    „Ich bleib länger", sagte er und lächelte kurz.

    Als er jetzt das Ticket betrachtete, wurde ihm doch flau im Magen. Das war nicht mehr mit aller grauen Theorie zu vergleichen. Eine kleine Insel. Fünf, sechs kleine Dörfer. Eine handvoll Menschen. Acht Monate Arbeit in einem riesigen Naturreservat; auf seine vorlesungsfreie Zeit verzichtete Thomas. Hier sollte er Vogelarten bestimmen und das Brutverhalten von Schwänen beobachten. Es gab ein kleines Institut auf der Insel.

    Thomas sah rechts neben der Fähre entlang. Zur Insel. Da lag sie, als ob sie wartete. Auf ihn? Sicher nicht. Sie war einfach da, egal, was er machte. Etwa eine Stunde Fahrzeit entfernt. Eine Stunde, in der er sein Leben hinter sich zurück ließ. Ein paar Kilometer nur, aber für ihn gefühlte Lichtjahre, die er zwischen sich und das legte, was dort bleiben sollte, von wo er kam. Vielleicht unbewusst stapfte Thomas ein wenig mit dem Fuß auf, um sich das Festland noch einmal ins Gedächtnis zu rufen; albern, wie er dann fand. Oder er brauchte das vielleicht jetzt. Waren da doch Zweifel? Machte er das Richtige? Oder lief er einfach nur davon? Selbst wenn, dachte er; jetzt war er hier, das fühlte sich gut und richtig an, und Thomas wurde gewahr, dort zu sein, wo er sein wollte. Endlich einmal in seinem Leben, wenn nicht gar zum ersten Mal überhaupt.

    Er schulterte wieder die Tasche und ging an Bord, entschied sich sogleich, draußen an Deck zu bleiben. Zwar war die Luft noch kalt, aber die Sonne schien und gab sich redliche Mühe, erste Hoffnungen auf einen frühen Frühling zu verbreiten. Thomas setzte sich hin und rieb die schmerzende Schulter. Dann holte er den Zettel mit seinem eigentlichen Reiseziel aus der Tasche. Die Pension „Südwind" war für die kommenden Monate sein Zuhause. Die Adresse könnte er finden, es war ein Plan dabei. Außerdem sollte er abgeholt werden. Thomas sah sich um. Er würde mit einem anderen Studenten zusammenarbeiten, der schon im Hauptstudium war und sich auf der Insel als Hilfskraft eine Stelle beschafft hatte. Thomas fragte sich, ob der schon auf der Insel war oder gerade mit ihm auf der Fähre anreiste. Diese Zusammenarbeit verunsicherte Thomas ein wenig, er war eher ein Einzelgänger und außerdem ... aber darüber wollte er jetzt nicht weiter nachdenken.

    Die Motoren ließen das Schiff erzittern, die Fähre legte ab. Thomas stand auf und lehnte sich an die Reling. Er heftete den Blick auf das Festland, sog die Landschaft schier in sich auf. Abschied nehmen.

    Thomas erinnerte sich an das Gespräch mit den Eltern, als er ihnen seine Entscheidung für diese Arbeit mitteilte. Seine Mutter war traurig. Später fragte sein Vater ihn unter vier Augen, ob Thomas vor etwas wegliefe. Damals hatte er gesagt, er laufe nicht vor etwas weg, sondern ginge auf etwas zu. Den Ausspruch im Sinn, fragte er sich, warum er dann jetzt eigentlich zurück sah anstatt nach vorne. Mutter nahm ihn beim Abschied in die Arme, und sie wussten beide, was mit ihm los war.

    Von Anne hatte sich Thomas als erstes getrennt. Es passte nicht. Er wollte weg von ihr. Aber das war noch ein ganz anderes Thema. Davor rannte er vielleicht wirklich weg, das konnte durchaus stimmen. Er rannte auch weg vor Dieter. Ein Kommilitone von der Uni, mit dem er sich angefreundet hatte. Thomas mochte Dieter sehr. Sie verbrachten viel Zeit miteinander. Sie gingen ins Kino, zum Schwimmen, zum Wandern oder machten sich einfach gemütliche Abende. Und es lag irgendwann eine besondere Spannung zwischen ihnen. Dieter machte ihm Komplimente. Thomas’ Augen, seine Statur, die Behaarung seines Körpers, sein Charakter. Dieter überraschte immer wieder mit Bemerkungen, die Thomas einerseits schmeichelten, während sie ihn gleichzeitig verunsicherten. Er wäre gerne etwas sportlicher gewesen. So wie Dieter zum Beispiel. Thomas bewunderte Dieter für seinen trainierten Körper, nein, er bewunderte den trainierten Körper. Und nicht nur den von Dieter, wenn er ehrlich zu sich war. Außerdem mochte er Dieter sehr gerne, fühlte sich sogar ein wenig zu ihm hingezogen, was er sich aber nicht eingestand. An einem der Abende hatte Dieter schließlich eine vorsichtige Annäherung versucht, die Thomas jedoch nicht zulassen konnte.

    Er war an diesem Abend früher nach Hause gegangen als sonst. Thomas war verwirrt gewesen, besonders, als er sich später vorstellte, was vielleicht passiert wäre, wenn er sich nicht gewehrt hätte, eine Vorstellung, die abschreckend und verlockend zugleich für ihn war. Offen darüber geredet hatten sie nie. Thomas schüttelte den Kopf, vertrieb die Gedanken, wischte sie fort, mit der Absicht, sie am Festland zurücklassen zu können. Er wollte das alles nicht. Anderseits schon. Thomas wollte fort. Jetzt ging er fort. Jetzt konnte er nachdenken. Zum Abschied hatte Dieter ihn in die Arme genommen, und ihn ganz fest an sich gedrückt. Sehr vorsichtig und zart hatte er an den herausguckenden Brusthaaren im Ausschnitt des T-Shirts gezupft und dabei traurig gelächelt. Dieter hatte ihm in die Augen gesehen und ihm alles Gute gewünscht. Dann sagte er, dass er Thomas liebe, nun aber gehen ließe, weil alles andere keinen Sinn habe. Thomas konnte nichts sagen. Auf dem Weg zum Bahnhof hatte er ein paar Tage später einen Briefumschlag mit einem Zettel bei Dieter eingeworfen. Darauf stand „Lebe wohl". Thomas wusste, was mit ihm los war, was er empfand. Er war schwul. Homosexuell. Aber er rannte davor weg. Zumindest vorerst. Ganz bewusst. Er wollte es nicht. Nicht jetzt.

    Das hoffte er nun, auf dem Festland zurück zu lassen. Anne, Dieter, sich selber, sein augenblickliches Leben. Thomas hob die Hand, winkte noch einmal einem unbestimmten Punkt an der Küste zu, wandte sich um, und sah seinem Ziel entgegen. Man konnte bei gutem Wetter beide Küstenstreifen sehen. Von beiden Seiten. Thomas müsste also sein bisheriges Leben nicht vollends aus den Augen verlieren. Das hofften zumindest jene, die er zurückließ.

    Die Küstenlinie der kleinen Insel schien grün, war aber auch felsig, jedoch ohne größere Klippenformationen. Dünen zogen sich sanft an ihr entlang. Der Anblick wirkte auf Thomas einladend. Er freute sich auf die Arbeit an der frischen Luft. Den Kragen der Windjacke zog Thomas jetzt etwas enger. Vom Tragen des Gepäcks schwitzte er, aber nun kühlte ihn der Wind aus, der in die Jacke hinein pfiff. Thomas besorgte sich einen heißen Tee und schaute weiter auf das Meer. Die See mochte er, aber eine Schiffsreise wollte er nie machen. Auf entfernten Sandbänken lagen Seehunde faul in der Frühjahrssonne, hin und wieder konnte er auch einige der eleganten Schwimmer im Wasser erkennen. Möwen umkreisten die Fähre, wohl in der Hoffnung, dass jemand der Passagiere einen Happen für sie übrig hätte. Die kehligen Schreie der Vögel erfüllten die salzige Luft, sie trugen seit jeher für Thomas immer etwas Sehnsuchtsvolles und Beruhigendes in sich. Wahrscheinlich war das auch einer der Hauptgründe gewesen, weshalb er sich gerade hierfür entschieden hatte. Thomas sog die klare Seeluft tief in sich ein. Abgesehen von dem, was er gerade hinter sich zu lassen versuchte, hatte er auch bereits das Gefühl, anzukommen. Das war ein gutes Gefühl.

    Georg am Samstag

    Durch das Fenster schien die tief stehende Morgensonne und tauchte das kleine Zimmer in einen frischen, rötlichen Schimmer. Georg räkelte sich und gab quiekende Laute von sich. Hier und da knackte es hörbar, als sich Sehnen und Bänder nach der Ruhe der Nacht anspannten. Das tat gut. Langsam öffnete Georg die Augen. Heute hatte er frei, konnte also noch ein wenig liegen bleiben. Er sah auf die Uhr; kurz nach Acht. Das war nun wirklich noch nicht die Zeit zum Aufstehen, schon gar nicht am Samstag. Georg schaute sich um und griff nach dem Stapel Post, den er gestern Abend beim Heimkommen nur noch lustlos und müde auf den kleinen Tisch neben dem Bett gelegt hatte. Rechnungen und dergleichen hatten wirklich bis zum nächsten Tag warten können. Nun sah er die Sachen in Ruhe durch. Ein Natur-Magazin, der Werbekatalog eines Outdoor - Ausstatters, eine Abholkarte für ein Päckchen beim Inselpostamt, die Handyrechnung und ein Brief von Hannes. Seit dem Zivildienst sahen sie sich sehr selten. Hannes war umgezogen und lebte jetzt mit seiner Verlobten zusammen. Und Hannes schrieb auch im Zeitalter von SMS und E-Mail lieber noch richtige Briefe. Das mochte Georg besonders an ihm.

    Er und Hannes kannten sich seit der Grundschule, und jeder trug seinen Teil dazu bei, dass die Freundschaft fortdauerte. Der Brief war deutlich dicker als sonst. Georg öffnete ihn neugierig und fand zwischen drei beschriebenen Blättern ein kleines Bündel mit Fotos. Zuerst wollte er aber die Neuigkeiten aus Hannes’ Alltag wissen, also las er die paar Seiten. Dann sah er sich die Bilder an. Sie zeigten Hannes und Georg bei der Arbeit in der Zivildienststelle. Schöne Erinnerungen. Außerdem war noch ein älteres Bild dabei, von der Schulabschlussfahrt. Das war jetzt mehr als drei Jahre her. Eine Aufnahme mit Selbstauslöser. Hannes und er saßen nackt auf einem Bett, an die Wand gelehnt. Georg musste schmunzeln.

    Bei einer Zeltfreizeit in der Unterstufe hatte es angefangen. Sie hatten sich ein Zelt geteilt, und Hannes weihte Georg in die Geheimnisse der Selbstbefriedigung ein. Alle täten es, sagte Hannes damals. Das hatte Georg nie näher überprüfen wollen. Aber er und Hannes taten es seitdem beinahe jeden Abend gemeinsam während der Freizeit. Und auch später hielten sie dieses Ritual in ihrer Freundschaft ab und zu aufrecht.

    In der Oberstufe kam Nico in die Klasse. Nico lebte offen schwul, hatte einen Freund und sorgte mit seinem Selbstbewusstsein bei den Lehrkräften der Schule häufiger für rote Köpfe. Georg bewunderte Nico für dessen Souveränität. Jedoch blieb Nico nicht lange in der Stufe, sondern zog bald schon wieder weg, so dass er bei der Abschlussfahrt nicht dabei war. Aber Georg und Hannes hatten wieder ihr gemeinsames Zimmer. In dieser Woche war auch dieses Foto entstanden. Eines Abends hatten sie sich gerade ausgezogen, saßen auf dem Bett und Hannes fragte plötzlich, ob das, was sie hier machten, irgendwie „was Schwules" wäre. Georg verneinte und wollte sich damit nicht auseinandersetzen. Sie sprachen lange über Nico und ließen ihren Vorstellungen über Sex zwischen Männern freien Lauf. Schließlich stellte Hannes an Georg die Frage, ob er mal dessen Glied anfassen dürfte. Das ging Georg zunächst zu weit. Hannes bot ihm an, seinen Penis auch mal zu berühren. Georg zögerte. Dann tat er es aber irgendwann. Es fühlte sich seltsam an; vertraut und doch ungewohnt. Nun war es ihm auch egal, Hannes durfte jetzt auch ihn anfassen. Hannes begann, Georgs Glied zu reiben und Georg tat einfach das gleiche bei Hannes, ohne weiter darüber nachzudenken. Sie ejakulierten später beide in Sekundenabstand nacheinander. Dann sahen sie sich an. Georg wusste nicht genau, was er davon halten sollte. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie gemeinsam onanierten. Für Georg war klar, dass sie eine Grenze überschritten hatten, die nicht unbedeutend war und die er auch niemals hatte überschreiten wollen. Er war lange Zeit sehr verstört gewesen. Hannes und Georg hatten nie mehr über jenen Abend gesprochen. Nach einigen Freundinnen lernte Hannes Daniela kennen. Nun wollten die beiden in wenigen Monaten heiraten.

    Georg fühlte sich damals nach der Abschlussfahrt seltsam zurückgelassen. Es war etwas in ihm ausgelöst worden, mit dem er plötzlich klarkommen musste. Eigentlich lag ihm nichts an Männern. Und was hätte Sonja gedacht. Trotzdem trennte Georg sich damals kurz danach von ihr. Das war alles völlig absurd, Georg wollte nicht weiter darüber nachdenken.

    Aber das Foto fand er gut. Es weckte alte Erinnerungen an schöne Zeiten. Und es machte Lust. Georg bemerkte jetzt erst bewusst, dass er schon seit einiger Zeit sein steifes Glied sanft massierte. Jetzt legte er das Bild beiseite, zog sich schnell das Shirt und die Boxershorts aus und verschaffte sich einen lustvollen Start in den Tag. Dann lag er noch eine Weile einfach so da und ließ die Gedanken kreisen. Er könnte zum Schwimmen in das kleine Kurzentrum fahren. Vielleicht war ja auch der Fitnessraum nicht zu überfüllt. Georg brauchte die Abwechslung vom ständigen Sitzen. Er verbrachte viel Zeit in den Beobachtungsposten im Vogelschutzgebiet und am Rechner mit den Statistiken.

    Mit dem Frühstücken ließ er sich Zeit, räumte dann noch ein wenig seine kleine Wohnung auf, und setzte am Mittag seinen sportlichen Vorsatz in die Tat um. Am Nachmittag machte er sich noch auf den Weg zum Naturreservat. Das Rad kettete er sicherheitshalber an, obwohl er das gute Stück im Ernstfall sicherlich auf der Insel schnell wieder fände. Außerdem kannte er längst den einzigen Polizisten von der Inselwache, wie alle anderen Bewohner des Eilandes auch. Auf einem der wenigen Wege begab er sich zu einem Beobachtungsposten und überließ sich der noch kalten Luft, der Sonne, dem Blick über die Dünen aufs Meer und den Rufen der Möwen. Er hatte seine Kleidung der Dünenlandschaft angepasst, und sein dunkelblonder Haarschopf fiel von oben vor dem Sand und den Sträuchern eh nicht auf. Er blickte durch das Fernglas und schaute über die Kolonien. Noch waren keine Schwäne zu sehen. Aber es war ja noch Zeit. Am Montag sollte der neue Student das erste Mal mitkommen. Georg war gespannt, wer ihn da erwartete. Hoffentlich nicht so ein Weichei, das kein raues Wetter verträgt, dachte er. Auf dem Heimweg kam ihm ein Radfahrer entgegen, den er hier noch nie gesehen hatte. Andererseits war er selber auch erst wieder seit einer Woche hier. Dennoch erstaunte ihn das neue Gesicht so sehr, dass er sich umwand. Sein Gegenüber tat dies ebenfalls, so dass sie einander kurz ansahen. Aus irgendeinem Grund erinnerte der Typ ihn an Hannes. „Nett ...", murmelte Georg. Dann runzelte er die Stirn.

    Ankommen am Samstag

    Thomas verließ die Fähre. Er schaute kurz zurück über das Meer und fragte sich, ob man das Festland auch bei schlechtem Wetter noch sah. Dann musste er sich aber um andere Dinge kümmern. Er entdeckte schnell Professor van Bergen, der ihn abholen kam.

    „Hallo, Herr Professor." Er streckte ihm die rechten Hand hin und musste aufpassen, mit seinem Gepäck nicht aus dem sorgsam eingependelten Gleichgewicht zu geraten.

    „Grüß dich, Thomas. Hattest du eine gute Reise?" Die Frage drückte ehrliches Interesse aus.

    „Ja, danke, sagte Thomas. „Die Zugfahrt war zwar recht lang, aber ich habe ein wenig geschlafen. Die Überfahrt jetzt war sehr schön. Er wies mit dem Kopf zurück zur Anlegestelle.

    „Bist du überhaupt schon mal auf einer so kleinen Insel gewesen?"

    „Das ist eine Weile her. Als Kind, im Urlaub", erinnerte sich Thomas.

    Van Bergen lachte. „Du wirst sehen, entweder fühlst du dich nach vier Wochen so wohl, als wärst du nie woanders gewesen, oder du hast nach zwei Wochen den Inselkoller und reist wieder ab. Aber davor hab ich dich ja schon gewarnt."

    Thomas schaute sich um. „Ich habe vor, durchzuhalten", erwiderte er fest.

    „Das ist schön, sagte der Professor. „Dort ist das Auto. Leg alles hinten rein. Er wies auf einen Kombi, der an den Seiten das Emblem des Reservates trug.

    Den kleinen Ort hatten sie schnell verlassen. Das Auto fuhr über gute Straßen und man konnte ab und zu einen kleinen Weiler sehen. Sie durchfuhren zwei Ortschaften, die allerdings jeweils aus höchstens zehn Häusern bestanden.

    Van Bergen gab ein paar Tipps, und am Ende der Fahrt wusste Thomas fast alles, was für ihn in der nächsten Zeit wichtig sein sollte.

    Sie bogen in eine Straße in einem kleinen Dorf ein, und van Bergen brachte den Wagen zum Stehen.

    „Pension Südwind", sagte er.

    Thomas stieg aus. „Willkommen am Ende der Welt."

    Der Professor runzelte die Stirn und sah ihn zweifelnd an.

    Thomas sog wieder die frische Luft tief ein. „Keine Sorge. Genau da wollte ich hin." Er grinste.

    „Dann bist du bei uns genau richtig." Van Bergen stieg aus dem Auto.

    In diesem Moment wurde die Tür der Pension geöffnet. Eine kleine Frau trat heraus, in Landestracht, ein wenig gebeugt, und Thomas fiel sofort das Wort „hutzelig" ein. Sie erinnerte ihn an eine Pensionsbesitzerin, die er einmal in der Bretagne kennengelernt hatte. Sie adoptierte ihn für vier Tage mehr oder weniger und ließ es sich nicht nehmen, ihn bei seinem Aufenthalt von vorne bis hinten zu verhätscheln. Er wusste um seine Wirkung auf solche Menschen, und auch hier konnte er sich darauf verlassen.

    Er stellte sich vor und wurde von der Dame gleich gebührend empfangen.

    „Nu mach mal keinen Stress, Junge, bist ja ne Weile hier. Ich bin Frau Jakobs. Bring deinen Kram mal nach oben, erster Stock, den Gang runter, am Ende. Bis dahin ist der Tee fertig." Sie lachte herzlich.

    Nun wandte sie sich an den Professor. „Na, haben Sie einen Kollegen für den Georg gefunden?"

    „Scheint so, grinste van Bergen. „Überfüttern Sie ihn nicht, der soll nicht dick werden. Beide lachten. Der Forscher verabschiedete sich von Thomas und überließ ihn der Obhut von Frau Jakobs.

    Thomas schaffte sein Gepäck die Treppen hinauf und lud einfach erst einmal alles im Zimmer ab. Er schaute sich um. Der Raum war klein. Eine Kochecke war da, hinter einer Tür verbarg sich ein WC mit Waschbecken. Seine Dusche befand sich auf dem Gang, direkt neben seinem Zimmer. Thomas öffnete kurz den Schrank, der reichte für seine Sachen. Auf dem Tisch vor dem Fenster lagen eine Landkarte von der Insel und ein eingeschweißter Institutsausweis; seine Zugangsberechtigung für das Reservat. Den Ausweis steckte er sofort ein, die Karte ließ er liegen.

    „Thomas, der Tee ist fertig!", schallte es von unten herauf. Thomas verschob das Auspacken und verließ das Zimmer.

    Nach dem Teetrinken wusste er fast alles über die Geschichte der Insel, der Entstehung des Naturreservates und über die Arbeit von Professor van Bergen. Frau Jakobs schien das wandelnde Informationszentrum der Insel zu sein. Eine herzensgute Frau, entschied Thomas für sich, die man sich von Zeit zu Zeit aber sachte vom Leib halten musste, wenn man nicht über kurz oder lang unwillkürlich „Mutti" zu ihr sagen wollte.

    Am Nachmittag hatte Thomas sich loseisen können. Er entschied sich dafür, das Auspacken auf den Abend zu verlegen. Stattdessen wollte er noch ein wenig raus, wenn möglich auch an den Strand. Wenn er der Karte vertraute, war das nicht weit. Thomas fand in der Garage wie vereinbart ein Trekking-Rad, an welchem ein Zettel mit seinem Namen hing. Er nahm ein paar Einstellungen an der Lenkstange und dem Sattel vor, dann konnte es losgehen. Er fuhr Zuhause nicht viel mit dem Rad, freute sich aber darauf, hier mal etwas für seine Kondition machen zu können. Und die würde er bei Wind sicher brauchen.

    Der Hauptstraße folgte er in Richtung Küste, kam nach etwa drei Kilometern in den Ort, wo auch das Institut lag. Thomas orientierte sich kurz mit Hilfe der Karte und fuhr weiter auf das Schutzgebiet zu. Auf halber Strecke kam ihm ein junger Mann auf einem Rad entgegen. Die dunkelblonden Haare vom Fahrtwind zerzaust, radelte er an Thomas vorbei.

    Warum Thomas sich umsah, wusste er nicht, jedenfalls trafen sich ihre Blicke, zumal der andere Radfahrer es ihm gleichtat.

    „Nett", murmelte Thomas, ärgerte sich jedoch sofort über sich selber.

    Das Rad kettete er an der Zufahrt zum Reservat fest und setzte seinen Weg zu Fuß fort. Durch die Dünen zog sich der schmale Pfad, wand sich nach rechts, gleich wieder nach links. Thomas folgte dem gleichmäßigen Rauschen der Brandung und nach der nächsten Biegung öffneten sich die Dünen, um den Blick auf die tiefblaue See freizugeben. Er beschleunigte seinen Schritt und fand sich an einem großen Strandabschnitt wieder. Die Dünen ließ er schnell hinter sich, nach gut fünfzig Metern musste er aufpassen, wenn er nicht am ersten Tag direkt nasse Schuhe bekommen wollte. Thomas hob den Blick und schaute auf das Meer hinaus. Er war an der See. Immer wieder schaffte es dieser Anblick, in ihm eine Woge unterschiedlichster Empfindungen auszulösen. Das Meer hatte eine beruhigende Wirkung auf Thomas. Ein tiefer Atemzug entrang sich ihm. Er beugte sich hinunter, nahm eine Handvoll Sand und ließ ihn durch die Finger rinnen. Dann sah er wieder auf das Wasser hinaus und genoss für eine Weile die scheinbare Unendlichkeit der See. Er versuchte sich an seinen ersten Aufenthalt am Meer zu erinnern; an den Weg durch die Dünen hinauf, und plötzlich war es da. Thomas bedauerte es, damals einfach so daher gegangen zu sein; plötzlich war das Meer da gewesen. Beinahe profan. Er wünschte sich im Nachhinein, irgendwie auf diesen Augenblick vorbereitet worden zu sein, jemanden an seiner Seite gehabt zu haben, der ihm vielleicht geraten hätte, auf dem Weg erst die Augen zu schließen und sie dann oben auf dem Dünenkamm stehend langsam zu öffnen. Ein solcher erster Anblick hätte einen anderen Auftritt verdient, dachte er oft.

    Nun lag die See wieder einmal vor ihm. Das dunkle Blau ließ das Wasser kalt erscheinen, was um diese Jahreszeit auch sicherlich der Realität entsprach. Thomas würde das jetzt nicht überprüfen, entschied er sich, während er die Hände rieb, um den Sand zu entfernen, bevor er sie in den Jackentaschen versenkte. Die Vorstellung, dass er diesen Anblick nun täglich haben konnte, gefiel ihm gut. Er würde morgens vielleicht am Strand joggen gehen. Thomas hoffte auf einen warmen Sommer. Das Rauschen der Brandung hatte eine fast hypnotische Wirkung, der sich Thomas gerne überließ. Die See strahlte einen sanften Gleichmut aus; eine Präsenz, über alles andere erhaben, keinen Zweifel an ihr zulassend, eine Macht, die im entfesselten Zustand eine unwiederbringliche Zerstörung bedeuten konnte, deren ruhige Weite aber auch besänftigend und heilend war. Letzteres suchte Thomas. Er war auch hier, um dem Meer sich und seine Heilung anzuvertrauen. Er spürte beinahe die Lebenskraft, die Welle um Welle den Strand hinaufrollte. Diesen Wellen wollte er vieles mitgeben, damit sie es wohl fort trugen. Gleichwohl erhoffte er sich auch, von diesen Wellen jenen Mut zurückzubekommen, den er seit längerer Zeit vergeblich in sich suchte. Aber er würde ihn wieder finden, dessen war er sich sicher. Thomas spürte ein Lächeln um seinen Mund herum. Das war ein gutes Gefühl. Und der Eindruck, dass er so etwas lange nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte. Trotz der noch kalten Luft durchströmte ihn eine sanfte Wärme. Das hatte er lange vermisst.

    Am Abend hatte Frau Jakobs ein ganz fantastisches Essen gekocht. Thomas leistete ihr noch kurz Gesellschaft, dann machte er sich in seinem Zimmer daran, seine Sachen auszupacken. Er hatte bei ein paar Dingen zuerst den Impuls, sie in der Tasche zu lassen. „Thomas, du bleibst länger", murmelte er und machte weiter.

    Den Kleiderschrank hatte er schnell gefüllt. Jetzt bezog er noch das Bett und packte die zweite Garnitur oben in ein Fach im Schrank. Die hohen Wanderschuhe stellte er neben die Tür zu den anderen, niedrigeren, die er heute schon angehabt hatte. Für das Zimmer hatte er sich Badeschlappen mitgenommen. Aus dem Rucksack holte er einige Fachbücher und deponierte sie in dem kleinen Regal neben dem Tisch. Sein teures Fernglas, den Kompass und ein Klappmesser räumte er in die Seitentaschen seines Tagesrucksacks, da konnte nichts verloren gehen.

    Die Nebenfächer der Reisetasche enthielten andere, persönliche Gegenstände. Ein Bild von seiner Familie hatte er mitgenommen. Er entdeckte auch ein Foto von Dieter, von dem er sich gar nicht erinnern konnte, es eingepackt zu haben. Thomas überlegte kurz, ob er es an das Familienbild lehnen sollte, doch er konnte sich nicht entscheiden. Er legte das Bild zunächst einfach auf den Tisch. Als nächstes holte er noch ein kleines Notebook und einen mp3-Player aus der Tasche, sowie ein paar Bücher als Bettlektüre. Dann fiel ihm ein Stein in die Hände; er hatte ihn aus einem Steinbruch in der Nähe seines Elternhauses mitgenommen, ein Stück Heimat, das ihn begleitete und nun einen Platz auf dem Tisch bekam. Nach und nach füllte Thomas den Raum mit sich auf.

    Den Inhalt seines Kulturbeutels teilte er zwischen dem Waschbecken in der kleinen Toilette und der Dusche auf dem Gang auf. Ein kurzer Blick in alle Taschen und den Rucksack, das war es. Thomas schaute auf die Uhr. Es war kurz nach Neun, Samstagabend. Irgendwo auf einer kleinen Insel vor der Küste. Normalerweise wäre er jetzt mit Dieter unterwegs. Oder vorher mit Anne. Ach, egal. Thomas begann, sich auszuziehen. Die Unterhose behielt er an. Er griff nach einem großen Duschtuch und nach dem Duschgel. An der Tür seines Zimmers horchte er kurz, ob sich Frau Jakobs draußen herumtrieb. Zwar wohnte sie unten, doch man konnte ja nicht wissen. Thomas schlüpfte in die Badeschlappen und trat auf den Flur hinaus. Die Dusche war zwei Schritte entfernt,

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