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Flucht von der Hudson Bay
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eBook224 Seiten3 Stunden

Flucht von der Hudson Bay

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Über dieses E-Book

Haben sie auch schon geplant und dann kam dennoch alles ganz anders? Eddie Palmer ist Multimillionär und ein Planer. Alles, was er plant, ist detailliert. Für ihn unmöglich, dass eine ausserplanmässige Änderung sich zum Guten wenden kann.

Tom Barker, hauptberuflicher Bettler aus Southampton, erfüllt sich seinen Traum nach einem neuen Leben, ohne betteln. Anfangs verläuft alles nach Plan, doch dann trifft Tom auf den in Not geratenen Multimillionär Eddie Palmer. Tom beschliesst ihm, gegen eine angemessene Belohnung, zu helfen. Nicht aber sind seine Probleme mit einem Schlag gelöst, sondern sie nehmen eine neue Dimension an. Als sich dann Eddies Frau Shannon auch noch das Leben nimmt, werden die Ziele der beiden grundverschiedenen Männer neu definiert. So verschieden die beiden sind, so ähnlich sind sich ihre Probleme. Es bestätigt sich der längst allgemein bekannte Grundsatz: Gegensätze ziehen sich an.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum15. März 2012
ISBN9783844220100
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    Buchvorschau

    Flucht von der Hudson Bay - Mario Ziltener

    Der Autor

    Mario Ziltener, am 12. Mai 1973 in St. Gallen, Schweiz, geboren begann schon als Primarschüler zu schreiben. Aus anfänglich kurzen und widerwillig geschriebenen Aufsätzen wurden bald schon Geschichten, welche die Lehrkräfte erstaunten. So erschien im März 2001 sein Erstlingswerk ‘Als ich Dich vermisste’ und mit dem nun vorliegenden Werk legt er bereits das zweite Buch vor.

    Impressum

    Mario Ziltener

    Flucht von der ‘Hudson Bay’

    Print-Version:

    © 2002-2008 Mario Ziltener

    Rechte: Alle Rechte liegen beim Autor

    Kontakt: www.zilti.com

    Herstellung: BOD, D-Norderstedt

    Printed in Germany

    ISBN 3-8311-3501-0

    Ebook:

    Flucht von der Hudson Bay

    Mario Ziltener

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Copyright: © 2012 Mario Ziltener

    ISBN 978-3-8442-2010-0

    Prolog

    Eine Kreuzfahrt ist schon immer ein ungewöhnliches Ereignis gewesen. Nicht nur, weil da einige Menschen zusammentrafen, die dies eigentlich gar nicht wollten, es aber auf sich nehmen mussten, sollten sie wirklich ihren Urlaub auf dem Wasser verbringen wollen. Sicher, es gab auch die Möglichkeit sich auf einem Kanal mit einem Hausboot zu vergnügen, aber auch dort war das Gedränge in der Hochsaison und mit ihm die Gefahr einer „Havarie grosse" sehr gross. Zweitens mussten sich diese Hobbykapitäne selber versorgen. Das heisst der erste Maat hatte dies zu tun - in persona meist die Ehefrau. Sonnenklar, dass die Besatzung des Kahnes meist schon streikte, bevor sie überhaupt angeheuert war. Dennoch, wer es sich leisten konnte in der Hochsaison zu verreisen, war im Dorf ein vielbewunderter Mensch. Nicht zuletzt deswegen waren die Arrangements in dieser Zeit des Jahres gefragt wie nie. Je weiter die Reise führte, je exotischer die Desti­nation, je höher das Ansehen in der Gemeinde. Jeder wollte im Mittelpunkt stehen und tat dafür sehr viel bis nahezu alles. Einige verklemmten sich gar das Feierabendbierchen oder den Kinobesuch, nur um mit einem Ticket in den Urlaub gross angeben zu können. Jene, die keine Entbehrungen über sich ergehen lassen mussten um sich den Urlaub zu leisten, waren diejeni­gen, die garantiert nicht auffielen. Die auch nicht über den geplanten Urlaub sprachen.

    Eddie Palmer war sich sicher, dass eine Kreuzfahrt eher das Richtige sein würde, da Shannon zu Hause erstens nie kochen musste und zweitens würde er es schlicht nicht ertragen drei Wochen nur mit ihr auf einem kleinen Kahn, in Hausboot-Grösse, gefangen zu sein. Lieber ein grosses Schiff, eines auf welchem man im Fitnesscenter die jungen Mitzwanziger beobachten konnte, oder aber an der Bar ein gutes Männergespräch führen. Beinahe war es also schon klar - nur musste er noch Shannon überzeugen und dafür würde er noch Unterlagen, viele Unterlagen, brauchen. Sie wollte immer Bilder sehen, weil sie glaubte, dass es auf einem solchen Schiff dann auch immer genau so auszusehen habe wie im Prospekt.

    Gedanken über den Preis machte sich Eddie keine, denn als Besitzer eines internationalen Textilkonzerns, welcher in der ganzen Welt trendige Shops für junge Menschen betrieb, brauchte er sich nicht um Finanzen zu kümmern. Diese waren einfach vorhanden. Auch das Reiseziel stellte kein Problem dar. Er würde ein­fach seinen gesamten Beraterstab zusammenrufen und ihnen mitteilen, was sie zu tun hatten. Daraufhin wür­de er sich abmelden - ob für drei Wochen oder ein halbes Jahr, gerade so wie es halt passte. Lediglich zum Abschluss der Buchhaltungsperiode wollte er wieder zurück sein. Denn dann wurde er noch immer gebraucht, sicher auch dieses Jahr wieder. Längstens also standen ihm sieben Monate zur Verfügung. Ganz anständig für eine Reise mit einem Ozeandampfer. Die Schwierigkeit bestand nur noch darin, rechtzeitig für das bevorstehende Nachtessen die Unterlagen zu besorgen. Aber auch dies war kein wirkliches Problem für ihn, hatte er doch ziemlich viel Macht, welche er in solchen Situationen sehr gerne ausspielte. Er streck­te sich nach seiner Gegensprechanlage aus, drückte mit seinem viel zu dick geratenen Mittelfinger auf die Sprechtaste, was zu einer überlauten, trommelfellbe­lastenden Rückkopplung führte, weil er gleich alle drei Tasten auf dem Gerät erwischt hatte und diese sich in der Folge verklemmten. Sein Gesicht verzog sich lustig zu den Schmerzen, und schnell versuchte er das Problem mit dem Pfeifen zu beheben, was aber nicht ganz so einfach war.

    »Tammy, kommen Sie bitte mal rüber in mein Büro!«, brüllte er in die Gegensprechanlage und mit einem lauten Knacken im Lautsprecher war ihm klar, dass die Sprechtaste ihre Ruheposition wieder eingenom­men hatte.

    »Komme sofort!«, lispelte Tammy ins Mikrofon ihrer Gegensprechanlage.

    Sie war noch neu in der Firma, unsicher und hatte bemerkt, dass sie auf ihren direkten Vorgesetzten Eddie Palmer eine grosse Wirkung hat­te. Obgleich ihr klar war, dass sich diese Wirkung nur auf eine räumlich sehr begrenzte Region auswirkte. Sie konnte, allerdings die Hoffnung auf mehr nicht wirklich verleugnen. Ihr Traum war es einen Liebhaber zu angeln, welcher sie mit Geld versorgte - Geld, welches sie am liebsten für Schuhe und anderen Schnickschnack auszugeben pflegte. Alles Dinge, von denen sie nach getätigtem Kauf wusste, dass sie diese eigentlich gar nicht wirklich gebraucht hätte.

    „Mist!", dachte sie dann jeweils und nahm sich vor, in Zukunft diese Aussetzer des - wie sie es zu nennen pflegte - Konsumhirns tunlichst zu verhindern oder wenigstens einzudämmen. Durch gezieltes Training. Immerhin hatte sie, mit der Anstellung als Direktionssekretärin bei Palmer Clothing Incorporated, ein anständiges Salär, welches sie nicht gleich nach dem ersten Shop­ping Absturz in Bedrängnis brachte. Tammy war asiati­scher Abstammung, beherrschte aber die Sprache ihrer Eltern nicht mehr. Als sie sich von ihrem abge­wetzten Bürodrehstuhl erhob und sich in Richtung der Verbindungstüre bewegte, welche den Vorraum von Eddies Büro abtrennte, konnte man den typisch asiati­schen Gang erkennen. Kleine, kurze, aber schnelle Schritte, aus den Kniekehlen federnd, einem Känguru ähnlich.

    Ohne anzuklopfen drehte sie am Knauf, schob die Türe auf und trat ein.

    »Sie haben mich gerufen?«

    »Ja, Tammy! Schön, dass Sie sich gleich Zeit nehmen konnten. Ich brauche Ihre Hilfe in einer sehr delikaten Angelegenheit. Weil ich weiss, dass delikate Angele­genheiten bei ihnen bestens aufgehoben sind, habe ich

    Sie gerufen.«

    »Das ehrt mich aber«, erwiderte sie errötend und fuhr, um dies zu kaschieren, umgehend fort: »Was kann ich für Sie tun, Mr. Palmer?«

    »Sie könnten mir einige kleinere Besorgungen ma­chen, solche, die mich entlasten.«

    »Und das wären Besorgungen welcher Art?«

    »Nichts, was gross oder schwer wäre, sondern ich benötige lediglich Unterlagen aus einem Reisebüro. Unterlagen über Kreuzfahrten in allen Erdteilen. Sehen sie doch mal nach, was die einzelnen Reisebüros so anbieten, oder für welche Agenturen sie Buchun­gen entgegennehmen.«

    »Alles klar - wann soll ich denn dies erledigen?«

    »Jetzt gleich! Das klappt schon, Sie werden sehen!«

    »Gut, mach ich sofort! Dann wird allerdings der Ver­trag, welchen ich bis heute Abend noch hätte vorberei­ten sollen, liegen bleiben. Nur dass sie dies gleich von Beginn weg wissen.«

    Mit einem leisen Grollen wandte sich Eddie wieder seiner Arbeit zu und liess die verdatterte Tammy ein­fach im Büro stehen, ohne sie weiter zu beachten. Ein wenig unsicher stand sie noch eine Weile mitten im Raum, sah ihren trotz fortgeschrittenen Alters noch immer gut aussehenden Boss an und wünschte sich insgeheim, dass er ihr wohlhabender Liebhaber wäre. Ein frommer Wunsch, welcher, wie sie vermutete, nicht ohne weiteres zu erfüllen war. An ihr allerdings lag dies wohl nicht. Sie gab sich alle Mühe, ihrem Chef zu zeigen, dass sie bereit war, alles zu tun um an sein Geld heranzukommen. Sie hatte sich vorgenom­men, nötigenfalls gar mit ihm zu schlafen, sollte sie die Chance dazu überhaupt bekommen.

    Als Tammy bemerkte, wie fehl am Platz sie gerade sein musste, verliess sie Eddies Büro und kramte in ihrem viel zu kleinen Schrank hinter ihrem Drehstuhl nach dem Mantel. Ohne Mantel ging sie niemals auf die Strasse im Winter, auch wenn es nur für zwei Mi­nuten war. Tammy war anfällig auf sämtliche Krank­heiten. Im Winter war sie stets erkältet und wenn es Frühling war, litt sie an Heuschnupfen. So gehörten Papiertaschentücher ganzjährig zu ihrer Ausrüstung und waren für Tammy mindestens von gleich grosser Wichtigkeit wie für andere das Abonnement für den Bus zur Arbeit. Tammy zwängte sich in den Mantel aus einer Art Filzstoff, welcher ihr ein wenig zu eng war, vergewisserte sich noch einmal, dass sie auch die Schlüssel zum Büro eingepackt hatte - für den Fall, dass Eddie länger zum Lunch fahren würde, als er dies normalerweise tat. Dann verliess sie das Bürogebäude und stand bei grellem, nichts-desto-trotz winterlichem Sonnenschein auf der Strasse. Wohin sollte sie gehen um die von Eddie Palmer gewünschten Unterlagen mit dem kleinstmöglichen Aufwand zu organisieren? Sie fragte sich, ob es Sinn machte, in die Stadt zu fahren, ganz ins Zentrum und dort bei einem Spazier­gang durch die bekannten Ladenstrassen von einem Reisebüro zum anderen zu ziehen. Sie wusste ob der Gefahr der anderen sündhaft teuren Läden und ent­schloss sich deshalb, noch eine Weile zu überlegen.

    Plötzlich fiel es Tammy wie Schuppen von den Au­gen, dass es am Flughafen Heathrow sicher einige Reisebüros gab, durch welche wiederum Reedereien vertreten waren. So entschied sie sich dazu, mit dem Express-Zug nach Heathrow zu fahren und die Termi­nals zu durchwandern. Dort gab es wenigstens nicht unbeschränkt viele frei zugängliche Ladenlokale, zweitens waren dort in den Reisebüros sicher nicht so viele Leute anzutreffen und wenn doch, waren diese wohl nur gerade dabei, ihre Tickets abzuholen oder liessen sich zu Hause vergessene Gutscheine im Duplikat ausstellen. Alles in allem also eine sehr gute Idee. Ferner kannte Tammy den Flughafen Heathrow nur vom Hörensagen. Wenn sie jeweils nach Asien verreiste, dann tat sie dies immer vom Flughafen Gatwick aus. Gatwick hatte früher den Ruf, ein reines Touristenabfertigungszentrum zu sein. Geschäftsleute versuchten, wenn immer möglich, diesen Flughafen zu meiden. War nicht gut für das Image einer Person oder der Firma. Meist allerdings drehte es sich um beides in einem. Tammy konnte sich also wichtig fühlen, so tun, als ob sie sich selber in wichtiger Mis­sion am Flughafen befand. Anderen vorspielen, dass sie gerade von einem wichtigen Business Meeting aus den Vereinigten Staaten kam. In der Schule hatte sie immer an den Theaterprojekten mitgewirkt und dort immer Bestnoten erreicht. Eine heimliche Leiden­schaft also, die sie gerade in diesem Moment wieder befriedigen konnte. Glaubwürdigkeit hin oder her, Hauptsache war, dass sie Spass hatte an diesem

    Nachmittag, welchen sie mit einer Spezialaufgabe des Chefs verbringen würde.

    Die Strasse hinunter bis zum Bahnhof ging Tammy zu Fuss, schlenderte, trat hin und wieder nach leeren Getränkedosen, welche sich auf dem Bürgersteig fan­den, hüpfte, oder stimmte ein kleines Liedchen an, genauso wie früher, als sie draussen gespielt hatte, oder so wie damals, als sie noch mit Grossvater ein­kaufen ging. Das war schon eine Weile her. Vorges­tern wurde sie dreiundzwanzig Jahre alt, damit waren die Zeiten, in denen man sich wie ein Kind benehmen durfte, seit mindestens fünf Jahren vorbei. Schade eigentlich. Ehe sie sich versah, hatte sie den Bahnhof erreicht und indem sie ihren Oberkörper scharf nach links neigte, bog sie ins Gewühl ein, welches ganz egal zu welcher Tageszeit in diesem Bahnhof Lon­dons herrschte. Hier kamen sie alle durch, die tüchti­gen Geschäftsherren, welche in den Vororten zu woh­nen pflegten und in der Stadt arbeiteten, die Bettler, Penner und Verlierer, die Stadtstreicher und die mo­dernen, selbstbewussten Frauen. Dieser Bahnhof war, wenn man sich einmal Gedanken darüber machte, der Nabel der Millionenmetropole. Ging hier nichts mehr, dann ging auch in der ganzen Stadt nichts mehr, war er doch ein Knotenpunkt für die Vororts- und Unter­grundbahnen, genauso wie wichtiger Umsteigebahnhof im nationalen wie auch internationalen Bahnverkehr. Nicht nur Nabel der Stadt, sondern - zusammen mit Heathrow und natürlich Gatwick - Nabel des gan­zen Landes.

    Mit durchgestrecktem Rücken, der Brust wichtig her­ausgestreckt und hohlem Kreuz stach Tammy ziel­strebig durch die Halle, machte sich ein Spiel daraus niemandem auszuweichen, die Bettler und Stadtstrei­cher gutmütig anzulächeln, wenn diese sie um ein wenig Kleingeld fragten. Die Fahrkarte wollte sie an einem Automaten kaufen, danach machte sie noch einen kurzen Stopp in einem der Läden, die alles für die Reise verkauften, um dort ein Sandwich und ein Getränk zu erstehen. In diesem Laden ging alles wort­los und arrogant über die Bühne, Tammy aber schien dies nicht im Geringsten zu stören, denn sonst hätte sie sich bemüht, mit der Kassiererin ins Gespräch zu kommen, oder wenigstens freundlich zu sein. Es war ihr aber mehr als nur recht, nicht sprechen zu müssen. Sie glaubte, das gehöre zum Spiel, welches sie spielen wollte - arrogant und eingebildet zu sein. Tammy schien zu vergessen, dass nicht alle wichtigen Perso­nen wirklich hochnäsig und arrogant, geschweige denn frech und verachtend waren. Aus dem Geschäft für Reisezu­behör direkt auf den Bahnsteig und von dort auf den Zug - die sonst übliche Reiselektüre vergessend. Tammy war, wie immer, sehr gut angezogen - für ihren Job eher zu gut. Für ihr Spiel allerdings gerade gut genug.

    Sie bestieg den Zug durch einen Wagen der ersten Klasse, schlich sich dann aber von da aus in die zwei­te Klasse, hoffte, dass sie nicht entdeckt werden wür­de, denn die gewählte Klasse entsprach nicht ihrer Kleidung und das wäre ihr mehr als peinlich gewesen.

    Verständlich. Gleich im ersten Waggon der zweiten Klasse liess sie sich ein wenig versteckt in einer Ecke nieder und streckte ihren Kopf sofort in das Magazin, welches in einem Halter aus Acrylglas auf einen Leser oder eine Leserin gewartet hatte. Mit diesem geschickten Schachzug sicherte sich Tammy auch die Gewissheit, dass sie von niemanden in ein Gespräch verwickelt werden würde. Der Zug setzte sich mit einem leisen, beinahe unmerk­lichen Ruck in Bewegung. Pünktlich wie immer. Noch immer strömten Leute durch den Waggon mit Sack und Pack nach einem Platz suchend, welcher gross genug war, um mindestens einen Koffer und seinen Besitzer aufzunehmen. Noch war Tammy die einzige in ihrem Abteil und sie hoffte inbrünstig, dass dies auch so bleiben würde. Nach einigen wenigen Seiten schon bemerkte Tammy, wie langweilig das Hochglanzmagazin eigentlich war und so legte sie es beiseite, nicht aber in den dafür vorgesehenen Halter, sie warf es auf die ihr gegenüberliegende Sitzbank. Noch dauerte die Fahrt zwanzig Minuten, zwanzig lange, öde und monoton rumpelnde Bahnminuten. Sie presste ihre Nase an die Fensterscheibe, welche übel roch, sich schmierig anfühlte, mit einem dünnen Film menschlicher Ausdünstungen behaftet war und stetig leise vibrierte. An ihr vorbei flogen die ersten Vororte Londons, Strassen, Parks und Reihenhäuser. Die typi­schen Reihenhäuser aus Englands Zeit der Industriali­sierung. Backsteine und die gängige grau-schwarze Färbung derselben. Nicht im Geringsten aufregend hätte Tammy die Szenerie in einem Aufsatz beschrie­ben.

    »Tickets vorweisen, bitte!«, durchdrang die tiefe und klare Stimme des Schaffners ihre Gedanken und kaum war das Wort ‘Tickets’ verklungen, hob sich der Ge­räuschpegel im Waggon merklich an. Von allen Seiten her raschelte es, einige stritten sich darüber, wer jetzt wohl im Besitze der Tickets war, wieder andere schauten sich fragend an - weil sie, vermutlich, gar kein Ticket hatten oder aber nichts verstanden hatten.

    »Nächster und einziger Halt: London Heathrow!«, schmetterte die Bass-Stimme des Schaffners die letzten Informationen den Mittelgang des Waggons hinunter. Als ob sich jetzt noch jemand zum Aussteigen hätte entscheiden können. Vorstellbar aber auch, dass diese Informationen jenen Fahrgästen galt, welche über ein sehr kleines und sehr schlechtes Kurzzeitgedächtnis verfügten.

    So gesehen konnte man dieser wohl etwas verspäteten Information dennoch etwas Gutes abgewinnen. Ein weiterer Blick zur Uhr. Noch einmal zehn Minuten. Durch das Fenster waren bereits die grossen Werfthallen zu sehen, hin und wieder die Heckflosse eines Flugzeuges, manchmal aber auch lediglich die Scheinwerfer, welche eine lustige Lichterkette bildeten. Wie eine Treppe, aus der letzten Flughöhe langsam auf die Landepiste absinkend. Wie der Zug, stetig und unaufhaltsam. Ein Knacken in

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