Wilhelmine: Was ich euch noch sagen wollte
Von Wolfgang Berg
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Über dieses E-Book
Den Lebensunterhalt bestreitet Wilhelmine nach ihrem Schulabschluss als Dienst- und Küchenmädchen, so auch auf dem Rittergut Briesen im Schloss des Barons
von Wackerbarth. Dort lernt sie die Mamsell Käthe Scholz kennen, die ihr den Weg zur großen Liebe mit Paul ebnet. Mit ihm gemeinsam steht ihr ein
entbehrungsreicher, steiniger Weg durch Krieg und Elend bevor. Ohne Reichtum, dennoch glücklich, verbringt Wilhelmine ihren Lebensabend in Burg.
Wilhelmine – eine Zeitreise von der Kaiserzeit des späteren 19. bis hin ins 21. Jahrhundert.
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Buchvorschau
Wilhelmine - Wolfgang Berg
Prolog
- 2008 -
„So, Kinder, jetzt habe ich wieder viel zu viel erzählt", sagte Wilhelmine. Sie stand auf und gab ihren soeben noch lauschenden Zuhörern, die selbst gar nicht zu Wort kamen, zu verstehen, dass sie jetzt gehen könnten. Sie selbst würde sich ihren Tee brühen, Abendbrot essen und schlafen gehen.
„Das ist ja ein glatter Rausschmiss!", reagierte ihr neunjähriger Urenkel spontan, der solange wie gefesselt an den Lippen seiner betagten Uromi hing. Ihre alten Geschichten aus längst vergangenen Zeiten hatte er wie Märchen aufgesogen. Das registrierte Wilhelmine natürlich mit Wohlwollen und amüsierte sich dann köstlich über die Kessheit des Kleinen. Doch dann wurde sie mit einem Male nachdenklich.
„Kinder, sagte sie nach kurzem Schweigen, „ich habe etwas für euch, nichts Besonderes.
Wilhelmine stand auf, ging zum Wohnzimmerschrank und öffnete das rechte obere Fach, das durch eine Tür mit gewölbter Glasscheibe verschlossen war. Wenn sie etwas Besonderes aus diesem antiken Möbelstück benötigte, griff sie stets auf dieses Schrankfach zurück.
„Schmeißt es einfach in den Ofen, wenn ihr nichts damit anfangen könnt", meinte sie, während sie Papierkram durchwühlte und einen Stoß handgeschriebener DIN-A4-Blätter herausholte. Es schien, als hätte sie diese vergilbten Seiten aus alten Heften gerettet und sie mit ihrer eigenen Handschrift aufgewertet. Jetzt waren sie mit Sütterlin- und lateinischen Lettern beschrieben.
„Eigentlich wollte ich alles selbst verbrennen und nicht darüber reden, sagt Wilhelmine. „Es sind ja Sachen dabei, die niemand wissen muss. Aber ich gebe euch trotzdem das, was ich aufgeschrieben habe, nur für euch. Da steht so viel drin, was meine Mutter mir von sich und ihren Eltern erzählt hat. Es wäre schade, wenn das alles in Vergessenheit geriete
.
Aber schon beim Abschied äußerte Wilhelmine Bedenken:
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig gemacht habe."
„Keine Sorge, Mutter, sagte ihr Sohn. Ich vermute, dass es sich um deine Memoiren handelt. Es ist auf jeden Fall eine gute Sache, das aufzuschreiben. Du musst dir darüber keine Gedanken machen. Dennoch sollten wir jetzt losfahren"
Er verspürte plötzlich große Eile und wollte den Abschied nicht weiter hinauszögern. Nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, tauchte er sofort in die mysteriösen Seiten ein und um Mitternacht wusste er: Es ist ein wahrer Schatz.
Kaum war die Nacht vorbei, als am frühen Sonntagmorgen um sieben Uhr das Telefon klingelte. Es gab nur eine Person, die zu dieser Zeit anrufen konnte. Mit einer Vorahnung, was als nächstes kommen würde, ging er zum Telefon. Als er „Wilhelmine auf dem Display las, sagte er leise „Natürlich
und überlegte:
„Soll ich jetzt rangehen oder mich erst am Montag melden? Bis dahin könnte ich alles irgendwo kopieren lassen." Er hat das Telefon abgenommen und seine Mutter wie gewöhnlich ohne Pause sprechen gehört. In ihrem Tonfall war ihre innere Aufregung zu spüren, als sie fragte:
„Hast du die Seiten schon gelesen? Ich habe das Geschriebene nicht richtig durchdacht. Du musst mir alles, was ich dir gestern mitgegeben habe, unbedingt zurückbringen; sofort!"
Mutter ließ sich nun nicht mehr umstimmen. Er hatte absolut keine Chance. Wenn sie ihr Werk so dringend verlangte, musste er nach Burg fahren und es ihr bringen.
Was war der Grund für ihre Entscheidung? Sie hatte lediglich über sich selbst, ihre Familienmitglieder und Bekannte geschrieben. War es die Nennung der Namen, welche sie nun nicht mehr preisgeben wollte oder waren es die bislang unerwähnten Details in ihren Geschichten, die sie verbergen wollte?
Seitdem hat Wilhelmine nie wieder über ihr Leben gesprochen. Die außergewöhnlichen Erinnerungen, die der Autor vorübergehend als Skript in seinen Händen hielt, und die zahlreichen Geschichten, die sie teilte, inspirierten ihn, diesen historischen Roman zu verfassen.
Herzlichen Dank, Wilhelmine!
*
Um den vermeintlichen Wunsch Wilhelmines nach größerer Anonymität zu respektieren, hat der Autor einige Namen geändert.
1
Nein, ich war noch nicht richtig wach. Ich träumte in meinem warmen Federbett noch einen schönen Traum aus. Der gleichmäßige Rhythmus des Plätscherns, der seinen Ursprung im Eimer neben meinem Bett hatte, fügte sich nahtlos in diesen Traum ein. Die Klänge waren wie eine vielschichtige Melodie, die ich aus jedem aufgeschlagenen Tropfen heraushörte.
Ich schaute nach oben und entdeckte einen großen braunen Fleck auf der weiß gekalkten Lehmdecke, dessen Umrandung eine abstrakte Form mit kunstvoll gestaltetem Muster bildete. Im Zentrum dieses Flecks bildete sich in rascher Folge ein Wassertropfen, der dann im Eimer sein Ziel fand.
Ein lautes Geräusch unterbrach meine Träumerei. Es war die Haustür, die Mama sicher mit großem Kraftaufwand in ihren Rahmen fallen ließ – mit Erfolg. Sie hatte soeben ihre Tochter geweckt.
„Mama, Mama!, rief ich aufgeregt, „der Eimer läuft über!
Dann wurden meine schönen Träumereien endgültig von Mamas Schimpfkanonaden abgelöst.
„Der alte Suffkopf treibt sich nur in den Kneipen herum, statt das Dach zu reparieren!"
„Welcher alte Suffkopf?", wollte ich wissen.
„Na, Papa, wer denn sonst? Frag nicht so viel und steh lieber auf! Waschen, Zähne putzen, los, los, wir haben keine Zeit! Nimm das Wasser gleich aus dem Eimer, dann wird er auch nicht mehr überlaufen. Es ist auch nicht so braun wie das Wasser aus der Pumpe.
„Ja, Mama, ich stehe ja schon auf."
Ich richtete mich in meinem Bett auf und verharrte einen Moment im Schneidersitz. Die offenstehende Zimmertür gewährte mir einen Blick bis hinauf zum löchrigen Strohdach des Flures. Hier hindurch drangen nun schon erste Sonnenstrahlen, die den eben noch starken Regenguss ablösten. Geblendet sprang ich aus meinem Bett heraus und verfehlte dabei knapp die bereitstehenden Holzpantoffel. Ich stakste auch lieber barfuß durch den weißen Sand des feuchten Fußbodens. Dabei musterte ich meine Fußspuren, die sich von den parallelen Linien, die mit einer Harke gezeichnet wurden, interessant abhoben.
Die Träume der Nacht waren nun endgültig gewichen und ich konnte wieder klare Gedanken fassen: Es ist Ostersonntag und Mama will mit mir zu meinen Patentanten gehen. Dies wird voraussichtlich bis zum Abend dauern.
Schnell füllte ich die Waschschüssel mit klarem Regenwasser aus dem Eimer, schüttete mir zwei Hände voll Wasser ins Gesicht und glaubte, fertig gewaschen zu sein. Mama ermahnte mich jedoch:
„Keine Katzenwäsche, mein Kleines; Du musst dich bei den Patentanten in deinen neuen Sachen sauber präsentieren!"
„Neue Sachen?", wunderte ich mich. Ich nahm den Waschlappen und strich mit der harten, groben Kernseife darüber. Endlich hatte ich so viel Seifenschaum produziert, dass Mama sich mit meinem Waschen zufrieden gab. Dann lüftete sie das Geheimnis des Zähneputzens.
„Minka!, rief sie, „Überraschung! Eine Zahnbürste! Jeden Tag werden ab heute die Zähnchen geputzt, damit sie immer schön weiß bleiben und dir nicht verloren gehen. Das darfst du auch nicht vergessen, sonst siehst du bald so aus, wie die alte ‚Sultkanka‘.
Was ich nun als Geschenk in den Händen hielt, war ein Knochen, in den in regelmäßigen Abständen kurz gestutzte Schweineborsten versenkt waren. Mama erklärte mir die Funktion dieses „modernen" Zahnpflegegerätes und dann rubbelten wir mit diesem in meinem Mund herum.
„Und das soll ich nun täglich machen?", fragte ich etwas verunsichert.
Mutters Geschenke kamen nicht immer so gut bei mir an. Meist waren es praktische Dinge, die ich sowieso irgendwann brauchte.
„Mama, ich ziehe mich jetzt an.", rief ich.
„Minka, warte noch einen Moment mit dem Anziehen!", antwortete Mama, ging zum Schrank und kam von dort mit einer wendischen Tracht auf den Armen zurück. Dieses umfangreiche Kleidersortiment breitete sie auf meinem Bett aus. Es fand kaum Platz darauf.
„Selber genäht!", sagte sie stolz und wies dabei auf Trägerrock, Schürze, Samtweste, Schultertuch und Haube. Mein Gesicht muss dieses Freude ausdrückende Strahlen meiner Mutter nicht gerade erwidert haben, denn sie fragte verwundert:
„Freust du dich denn überhaupt nicht?"
In meinem Kopf spielte sich das Anziehen dieser Sachen ab, wovon ich wusste, dass es sehr umständlich war und viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Außerdem fand ich damals Mamas wendische Sachen nicht so schick, wie die der deutsch gekleideten Frauen in Burg-Dorf.
„Mama, ich will diese Tracht nicht haben!", sagte ich trotzig. Mutter fiel fast aus allen Wolken.
„Aber Kind, du solltest dich über die Tracht freuen und dankbar sein. Andere Kinder im Dorf haben so eine schöne Tracht gar nicht."
Das wusste ich ja, aber ich hätte lieber ein normales schönes Kleid, eines, wie es die meisten Mädchen im Dorf trugen, eines, das ich schnell anziehen und wieder ausziehen könnte.
Minuten später stand ich in Unterwäsche vor meiner Mutter und ließ die Prozedur des Anziehens über mich ergehen. Jetzt half kein Weinen und Zetern. Ich musste den ständigen Ermahnungen zum Stillstehen oder zu anderen erforderlichen Handlungen folgen, bis ich nach einer Stunde angezogen und somit reisefertig war.
Wilhelmine mit Mutter Luise
2
Wie ein kleines Hündchen lief ich neben meiner Mama her, in der Hand eine Semmel, an der ich kaute. Wir hatten sie als Proviant mitgenommen; nicht zum Sattwerden, denn schließlich sollte bei den Paten noch ein guter Appetit vorhanden sein. Ich hatte mich meinem Schicksal ergeben.
Beim Laufen betrachtete ich Mutters wendischen Rock mit den bunten, gestickten Blumen drauf. Dann zog ich meine Schürze beiseite und bewunderte die Blumen auf meinem Rock. Auf einmal fand ich diese Kleidung gar nicht so schlecht. Mich plagte ein schlechtes Gewissen. Mama hatte sich bestimmt große Mühe beim Nähen meiner Tracht gegeben, da hatte sie meine Undankbarkeit nicht verdient. Unsere Blicke begegneten sich einen Moment. Jetzt hatte ich meine Mama wieder ganz lieb und als könnte sie Gedanken lesen, nahm sie mich in die Arme und drückte mich.
Hand in Hand führten wir unseren Weg ohne ein Wort fort. Ich ertappte mich schon lange dabei, Gefallen an unserer Reise zu finden, hatte meine Störrigkeit längst abgelegt und war offensichtlich mit meiner Mutter auf einer Wellenlänge. Schließlich wollte ich ja Geschenke bekommen. Meine Tracht fand ich nun sogar lustig. Ich sah fast wie Mama aus, nur eben viel kleiner.
Meine Mutter war eine zierliche Frau mit einem gutmütigen und fröhlichen Gesichtsausdruck. Obwohl sie in ihrem Leben nicht gerade vom Glück begünstigt war, hatte sie oft ein Lächeln auf den Lippen. Schon damals waren feine Nuancen in ihrem Gesicht zu erkennen, die ich nicht zu deuten vermochte. Ihr langes, schwarzes Haar trug sie akkurat gescheitelt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Sie trug stets ein schwarzes Samtband über dem Kopf, möglicherweise zur Zierde, vielleicht auch für den Halt der Frisur. An besonderen Anlässen, wie an diesem Ostertag, trug Mama jedoch eine große, weit ausladende Haube, die ihre Frisur verdeckte. Lediglich der Mittelscheitel guckte an der Oberstirn noch heraus. Ich kannte meine Mutter ausschließlich in ihrer Tracht. Andere Kleidungsstücke hatte sie nicht. Ich konnte sie mir auch gar nicht anders vorstellen als in ihrer Tracht.
Schritt für Schritt näherten wir uns unserem ersten Ziel. Die Vögel zwitscherten und in der Ferne hörte man das fröhliche Lachen von Kindern. Vielleicht hatten sie schon ihre Osternester gefunden und freuten sich deshalb. Ich fühlte mich wie in einer verzauberten anderen Welt. Die Sonnenstrahlen drangen durch die Kronen der knorrigen Kopfweiden, die unseren Weg rechts und links flankierten. Mal waren sie grell und dann wieder verdeckt von den Zweigen.
Blumen, die eben noch vom Regen der Nacht fast erdrückt wurden, reckten nun befreit ihre Köpfe gen Himmel. Sie wiegten sich im Wind und nahmen dabei die Morgensonne gierig entgegen, um sich vom Nass der Nacht zu entledigen. Störche schnappten auf den feuchten Wiesen nach Fröschen.
Oft überquerten wir Fließe und Gräben, die sich wie Krakenarme durch die Landschaft zogen. Bänke waren es, über die wir dann gingen. So nennen die Spreewälder ihre nach oben gewölbten Brücken, die manchmal nur aus einzelnen Bohlen bestehen. Einem Kahnfährmann begegneten wir, der seinen Kahn voller Gäste unter solch einer Bank problemlos durch die Spree stakte. Seinem Gegenverkehr wich er gekonnt aus. Diese Gesellschaften genossen offensichtlich genau wie wir die Spreewaldlandschaft, dieses Geschenk der Natur.
Burg-Kauper nannte sich das Dorf, in dem wir uns jetzt befanden. Hier sah es anders als in Burg-Dorf aus. Kleine Wiesen- und Feldflächen waren in diesem Landstrich von Gräben oder Fließen umgeben, an deren Ufern meist Erlen wuchsen. Heuschober - um eine Stange gestapeltes Heu - gaben der Landschaft eine ganz besondere Note. Manchmal ragten diese Heugebilde noch aus den Resten des Winterhochwassers heraus.
Foto-Werkstätte Erhard Steffen Burg Spreewald
Als unser Weg unter hohen, Schatten spendenden Erlen an einem Fließ vorbeiführte, stoppte Mama ihren Schritt. Sie zog ihr Taschentuch hervor, denn sie hatte Tränen in den Augen. Die plötzliche Traurigkeit meiner Mutter machte mich fassungslos. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie so plötzlich weinen musste.
Wir standen vor einem großen Haus. Es stach von den hier vereinzelt stehenden kleinen Spreewaldhäusern, die unserem Zuhause ähnelten, erheblich ab. Es hatte kein Strohdach, wie alle anderen Häuser weit und breit, sondern ein rotes Ziegeldach. Große Fenster mit bunten Butzenscheiben zierten die vorgebaute Veranda. Durch die geschmackvoll verzierte Eingangstür aus Eichenholz würde ich gerne gehen.
Ratlos stand ich neben meiner Mutter und fragte ganz traurig:
„Mama, warum weinst du denn?"
Mutter streichelte mein Haar und sagte:
„Das war mal mein Elternhaus, hier bin ich geboren worden."
Das konnte ich nicht verstehen und fragte sofort:
„Und warum wohnen wir nicht mehr hier?"
„Als ich noch ganz klein war, hat mir meine Mama einmal erzählt, dass wir alle von hier wegziehen müssen."
„Warum?"
„Nun, das ist eine lange Geschichte. Mein Papa und meine Mama waren sehr reich und haben dann plötzlich alles verloren. Deshalb mussten wir von hier weg und deshalb sind wir auch jetzt so arm. Später, wenn du größer bist, werde ich dir alles erklären. Jetzt bist du noch zu klein dafür."
„Mama, ich möchte auch einmal reich sein", sagte ich zu meiner Mutter. Da wurde plötzlich unser Gespräch von zwei wütenden Hunden unterbrochen, die mit gefletschten Zähnen über uns herfielen. Glücklicherweise hatte meine Mutter alles im Griff und konnte schnell in die große Tasche ihres wendischen Rockes greifen, in der sie extra für solche Zwischenfälle rohe Knochen aus der Fleischerei ihres Bruders deponiert hatte. Die Hunde stürzten sich jetzt auf die Knochen und wir konnten unversehrt unseren Weg fortsetzen. Vor lauter Aufregung hatte ich jedoch ganz vergessen, dass ich eigentlich vorhatte, reich zu werden.
Mein Magen fing an zu knurren.
„Mama, sind wir bald bei Tante Günther?", fragte ich.
„Wir sind gleich da, sagte Mama. „Sieh nur dort hinten das große Haus, dort wohnt Tante Günther.
Ich sah ein auf einem Feldsteinsockel errichtetes Haus, auch mit roten Ziegeln eingedeckt.
„Aber so schön wie dein Elternhaus ist es lange nicht.", sagte ich.
„Jetzt sei endlich still!, mahnte Mama. „Siehst du denn nicht, dass Tante Günther uns an ihrer Haustür schon erwartet?
Meine Schritte wurden immer schneller, bald rannte ich und dann begrüßte ich Tante Günther mit „Dobry źeń".
„Na Minka, kommst du nach rote Eier?, fragte sie in wendischer Sprache. Ich konnte sie verstehen, aber antworten wollte ich nicht. Wendisch konnte ich sowieso nicht so gut sprechen, deshalb beließ ich es meist beim Grüßen in dieser Sprache. Außerdem zweifelte ich an der Ernsthaftigkeit der Frage mit den „roten Eiern
. Ich sah die Tante ungläubig an. Bunte Ostereier und andere Geschenke hatte ich mir eigentlich als Geschenk vorgestellt und wusste nicht, dass dieser Osterbrauch des Patenbesuchs „wir gehen nach rote Eier" genannt wurde.
Inzwischen war meine Mama angekommen. Auch wenn ich mich auf Tante Günther gefreut hatte, so war ich jetzt froh, dass ich nicht mehr ihre vielen wendischen Fragen beantworten musste. Über meine Antworten lachte sie und ich dachte, sie lacht mich aus, weil ich nicht so gut wendisch sprechen konnte. Jetzt hatte sie sich mit Mama viel zu erzählen, und ich konnte die Geschenke gar nicht erwarten. Tante Günther muss das bemerkt haben, denn sie unterbrach Mama in ihrem Gespräch und sagte mir zugewandt: „Ja raz pó cerwjene jaja pójdu, Minka njamóžo je wěcej docakaś. (Ich werde mal die roten Eier holen, Minka kann es doch nicht mehr erwarten.)
Ich war glücklich, denn neben drei verschiedenfarbigen Eiern bekam ich dann auch noch eine Ostersemmel in Form eines flachen Spreewaldkahnes mit zwei Pfefferkuchen obendrauf - einer mit Abziehbild, der andere ohne.
Das krönende Geschenk war aber eine Tasse mit meinem Namen in goldener Schrift versehen. „Maš teke dobry tykańc? (Hast du auch guten Kuchen?)", fragte ich, nachdem ich meine Geschenke empfangen hatte. Ich hatte diese Frage zuvor gründlich durchdacht, Tante Günther sollte meine schlechte Aussprache nicht mitbekommen.
„Se wě, až mam teke dobry tykańc!" (Natürlich habe ich auch guten Kuchen!), sagte die freundliche Frau lachend. Sie hatte sicher das Knurren meines Magens gehört.
„Getta", sprach die Tante meine Mutter an, „ich hole mal schnell den Kuchen aus dem Keller, die Minka verhungert uns sonst