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Auf Esbras Fährte: Zeitenwandel
Auf Esbras Fährte: Zeitenwandel
Auf Esbras Fährte: Zeitenwandel
eBook759 Seiten9 Stunden

Auf Esbras Fährte: Zeitenwandel

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Über dieses E-Book

Vidar ist Magier der Bruderschaft der Krähen und seit Jahren stagniert er auf seinem Rang, da er keinen Lehrmeister findet. Wochenlang hat er bereits Albträume, als er weitergeschickt wird, um Liya von der Schwesternschaft der Katzen mitsamt wichtiger Schriftstücke aus dem Archiv von Korbo in die Hauptstadt zu begleiten.
Dort trifft er zum ersten Mal seit Jahren wieder auf Meginfrid, mit dem er so manche Konflikte hatte, die ihm den Aufstieg im Orden ebenfalls erschwert haben.
Es stellt sich heraus, dass mehr hinter diesen Träumen steckt. Sie folgen dem Gott der Magie auf eine Fährte, um die Welt zu retten. Dabei lernt Vidar vor allem sehr viel über sich selbst, den Sinn des Lebens und die Vielfalt der Liebe.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Juli 2023
ISBN9783347962545
Auf Esbras Fährte: Zeitenwandel
Autor

N. Jakob

Schon über ein halbes Leben schreibt N. Jakob (Pseudonym, geboren 1986 in Mittelfranken), um Figuren aus dem Kopf herauszubekommen. Das begann um die Jahrtausendwende noch zur Schulzeit und nahm in den vergangenen zehn Jahren zum Bewältigen des Arbeitsalltags als Pflegefachperson zu. Sie fühlt sich in Drama und Phantastik wohl und greift gerne queere und psychosoziale Themen auf und lebt mit der Familie in Mittelfranken, arbeitet weiter im Gesundheitswesen und schreibt in ihrer spärlichen Freizeit.

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    Buchvorschau

    Auf Esbras Fährte - N. Jakob

    Auf Esbras Fährte

    Zeitenwandel

    Von N. Jakob

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    2. Auflage, 2023

    © 2023 N. Jakob – alle Rechte vorbehalten.

    N. Jakob

    c/o COCENTER

    Koppoldstr. 1

    86551 Aichach

    na.jakob1986@gmail.com

    Buchsatz: Karl-Heinz Zimmer

    erstellt mit SPBuchsatz

    Druck und Distribution im Auftrag von N. Jakob:

    tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

    ISBN Print: 978-3-347-96253-8

    ISBN eBook: 978-3-347-96254-5

    Buchbeschreibung:

    Vidar ist Magier der Bruderschaft der Krähen und seit Jahren stagniert er auf seinem Rang, da er keinen Lehrmeister findet. Wochenlang hat er bereits Albträume, als er weitergeschickt wird, um Liya von der Schwesternschaft der Katzen mitsamt wichtiger Schriftstücke aus dem Archiv von Korbo in die Hauptstadt zu begleiten. Dort trifft er zum ersten Mal seit Jahren wieder auf Meginfrid, mit dem er so manche Konflikte hatte, die ihm den Aufstieg im Orden ebenfalls erschwert haben. Es stellt sich heraus, dass mehr hinter diesen Träumen steckt. Sie folgen dem Gott der Magie auf eine Fährte, um die Welt zu retten. Dabei lernt Vidar vor allem sehr viel über sich selbst, den Sinn des Lebens und die Vielfalt der Liebe.

    Über den Schreibmensch

    N. Jakob (Pseudonym) beansprucht für die Welt, in der die Handlung spielt, und die gesamte Geschichte inklusive der Figuren geistiges Eigentum.

    Widmung

    Für die, die gegen die innere Finsternis kämpfen.

    Dieses Buch enthält Inhaltshinweise / Content Notes

    auf der letzten Seite.

    Siehe auch: https://wasdnedsagsd.wordpress.com/2023/04/30/das-ist-es/

    Götter und Orden

    Übersicht Götter

    Jur: Tag, Recht, Ordnung – Waagschalen/Weiß

    Solai: Sonne, Ehe, Familie – Sonnenscheibe/Gold

    Nui: Nacht, Illusionen, Träume, Geheimnisse – Schleier/Schwarz

    Lunai: Mond, Fruchtbarkeit, Orientierung – Mondsichel/Silber

    Ari: Luft, Verstand, Morgen, Winter – Schwert/Gelb

    Tompa: Wetter, Stürme – Wolken/Grau

    Foe: Feuer, Wille, Mittag, Sommer – Flammen/Stab/Rot

    Fera: Metall, Schmiede, Glut – Hammer/Orange

    Losa: Wasser, Gefühle, Abend, Herbst – Kelch/Blau

    Pwasa: Wassertiere, Schifffahrt, Reisen – Boot/Türkis

    Tera: Erde, Materie, Pflanzen, Frühling, Mitternacht – Münze/Grün

    Agri: Ackerbau, Handwerk, Handel, Viehzucht, Wild – Beutel/Braun

    Esbra: Äther, Geisterwelt, Tod, Magie – Rad/Violett

    Die Orden und ihre Ränge

    Allgemein: Neulinge, Ungeschworene, Eingeschworene, Aufgestiegene, Lehrende (Meister, Meisterin), Älteste, Oberste/Großmeister

    Männer:

    Drachen: Aspirant, Akolyth, Geweihter, Adept, Magister, Ältester, Patriarch

    Krähen: Häher, Elster, Wanderkrähe, Saatkrähe, Rabenkrähe, Nebelkrähe, Vater Krähe

    Wölfe: Beute, Welpe, Knappe, Schildknappe, Ritter, Grauer Wolf, Vater Wolf

    Frauen:

    Eulen: Küken, Waldkauz, Waldohreule, Sumpfohreule, Schreieule, Schleiereule, Uhu

    Katzen: Maus, Kätzlein, Samtpfote, Katzenauge, Katzenkralle, Katzenzahn, Katzenzunge

    Schlangen: Klientin, Mündel, Schwester, Sippenschwester, Ratsschwester, Stellvertretende Hochschwester, Hochschwester

    Karte

    Um 90 Grad nach links gedrehte, in Graustufen gehaltene, beschriftete Karte der Landstriche und Orte des Kontinents Ziatha. Eine Windrose gibt die Himmelsrichtungen an. Zentral im Kontinent befindet sich der ‚Große See‘. Im Norden der Karte eingezeichnet der Urwald namens Regenlande mit der Hafenstadt Avix am Strom, der im Norden dann ins Meer mündet. Südlich davon von einem Gebirge abgetrennt liegt die Steppe der Periger Ebene mit der namensgebenden Hauptstadt Perig. Östlich des Stroms schließt die Wüstenregion Kolor an, deren Hauptstadt Karota ebenfalls am Strom liegt. Eingezeichnet sind am Fuße eines ausladenden Gebirges, das mit ‚Große Riesen‘ beschriftet ist, die Stadt Erba, die noch zur Region Kolor gehört. Südlich des Gebirges befinden sich die ‚Dunklen Wälder‘ mit der Hauptstadt Kakuma angrenzend ans verschneite Südgebirge, östlich davon die ‚Wilden Lande‘, in der es keine einzige Stadt oder Siedlung gibt. Südlich des zentralen, großen Binnensees liegt direkt am See die große Stadt Saker, neben der ein Fluss mündet, der im Süden entspringt. Relativ weit im Süden liegt eine Stadt namens Korbo, die einzig durch einen großen Turm mit ein paar wenigen Häusern im Umfeld dargestellt wird. Südlich davon nur noch das Südgebirge. Westlich folgen die Schleierwälder, die einzig und allein aus einem Wald voller Nebelschwaden und Flüssen zu bestehen scheinen. Westlich der Schleierwälder folgen die Sumpflande mit der Hafenstadt Zurax am Fluss und der Stadt Korax in einem Gebirge mitten in den Sumpflanden. Die Sumpflande grenzen sich im Norden durch ein weiteres Gebirge von der Periger Ebene ab.

    Der Kontinent selbst ist umgeben von Ozean. In West, Nord und Ost sind bergige Inseln auszumachen. In allen Himmelsrichtungen und im großen See sind Ungeheuer eingezeichnet.

    Kapitel 1

    Der Wanderer

    Berge

    Ein grausames Lachen hallte von den Felswänden wider. Krähen fielen mitten im Flug vom Himmel, als wolle die Luft sie nicht mehr weiter tragen. Glühende Augen blickten aus dunklen Tiefen und starrten ihn feindselig an. Tod und Zerstörung warteten hinter den hohen Bergen im ewigen Eis. In seiner Brust wurde es eng. Er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

    Donnergrollen …

    Vidar sprang auf und rollte sich zur Seite ab. Gerade noch rechtzeitig.

    Der vermeintlich sichere Felsvorsprung, unter dem er am Abend Deckung vor dem strömenden Regen gesucht hatte, war eingestürzt. Das Geröll donnerte den Hang hinab und verschwand im nebligen Abgrund.

    Er atmete tief durch und legte sich die Hand aufs Herz. Langsam glitt er auf die Knie und dankte den Göttern, dass sie ihn rechtzeitig geweckt hatten. Hätte Nui ihn weiter fest in den Armen des Schlafes gehalten, wäre er gemeinsam mit dem Gestein unten in der Schlucht verschwunden.

    Dieser fürchterliche Albtraum quälte ihn bereits seit Wochen, aber weniger beängstigend fand er ihn deshalb leider noch lange nicht. Die unheilvolle Aura, die jene Augen umgab, löste jedes Mal aufs Neue Furcht in ihm aus und er war so einiges gewohnt.

    Sein Blick wanderte über das Firmament zum Horizont. Ein heller Streifen kündigte den Morgen an und die Sterne verblassten zusehends. Der Osten verfärbte sich von Nachtschwarz zu Graublau und von Orangerot zu allen Pastelltönen, die ein Sonnenaufgang auf Wolken malte. Der Himmel glich zunehmend einem Aquarell und sogar hier oben auf dem Gebirgspass gab es Vögel, die einen Gesang anstimmten, um den Tag zu begrüßen.

    Kaum, dass das Licht der ersten Sonnenstrahlen sich im Morgentau des spärlichen Bewuchses im Gebirge brach, riss er seinen Blick los und schob die Gedanken an den Albtraum beiseite. Träume waren Schatten der Nacht und auch wenn dieser, der sich wiederholte, ganz anders gewesen war, als alles, was er bislang kannte, blieb er eben doch nur ein Hirngespinst und war nicht mehr.

    Obwohl er unter diesem Felsvorsprung Schutz vor dem Regen gesucht hatte, war sein dunkler Wollmantel nass. Bereits seit Tagen war er klamm und schwer. Das Schwarz hatte sich schon längst in schmutziges Graubraun verwandelt. Vidar war durchnässt und erschöpft, aber es half alles nichts: Er musste weiter.

    Der Weg, der vor ihm lag, schlängelte sich über einige Hügel hinab ins Tal. Die kleine Stadt, die sein Ziel war, schmiegte sich in den fernen Nebeln wie eine Geliebte an den See, der sie nährte.

    Das Städtchen gab neben Fischern, Handwerkern und Händlern auch einigen Gelehrten eine Heimat. In ihrer Mitte fand sich eine große Bibliothek, die zu einer Festung ausgebaut worden war. Weshalb sie ausgerechnet dort war, entzog sich seiner Kenntnis. Aus der Siedlung um eben jene herum hatte sich mit den Jahrhunderten die Stadt entwickelt. Im Umland gab es nur Gehöfte und Dörfer mit gewöhnlichen Leuten. In einem anderen Leben hatte er einmal zu ihnen gehört, aber das war lange her.

    Eine Krähe kam auf ihn zugeflogen und ließ sich auf seiner schmerzenden Schulter nieder. Am Bein des Tiers war eine kleine Tasche aus Leder. Darin fand er eine knapp verfasste Nachricht an ihn.

    Wir kündigen dich bei den Wachen an.

    Vidar schmunzelte und strich seiner Krähe über das glänzende Gefieder. Diese ordentliche Handschrift würde er unter Tausenden erkennen.

    Ansgar war einer seiner engsten Vertrauten. Sie hatten sich kennengelernt, als der Blondschopf zur Bruderschaft kam und schnell angefreundet, obwohl sie sich derart unterschieden. Der helle Gelehrtenspross und der dunkle Bauernsohn. Sie hatten sich einiges beigebracht.

    Vidar ging davon aus, dass Ansgar, wie so oft, die Hände über dem Kopf zusammenschlug, wenn er ihn sah. Der ungewöhnlich harte Winter und die Schneeschmelze hatten dem Pass mehr zugesetzt, als er erwartet hatte.

    Ari und Tompa waren in den vergangenen Monaten gnadenlos gewesen. Deshalb hatte eine Passage, für die er eigentlich nur wenige Tage hätte brauchen sollen, fast zwei Wochen in Anspruch genommen. Wahrscheinlich lebte er nur deswegen noch, weil sie gemeinsam mit Pwasa entschieden hatten, ihn nicht abstürzen zu lassen.

    Vierzehn Tage in der Wildnis waren nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Sein sonst schon bartschattiges Gesicht verunstaltete ein ungepflegter Bart und sein dunkles Haar war starr vor Dreck. Die Kleidung hing in Fetzen, die ehemals dunkelgrauen Lederstiefel waren abgenutzt, löchrig und durchweicht und der schwarze Reisemantel aus Walkloden nass, voller Schlamm und an den Säumen in Auflösung begriffen. Hose und Tunika hatten Löcher und auch alles andere an ihm taugte höchstens noch zum Putzlappen.

    Am Stadttor würde man ihn garantiert für einen Landstreicher halten. Darauf mit den Wachen zu diskutieren verzichtete er nach all den Strapazen gern. Unter anderem deswegen hatte er am Tag davor die Krähe mit einer Nachricht vorgeschickt.

    Mehrmals war er auf der Passage in Lebensgefahr geraten.

    Erschöpft hielt er inne und stützte sich auf seinen langen, harten Stab aus schwarz gebeizter Eiche.

    Endlich hatte Vidar den Fuß des Gebirges erreicht. Jeder Einzelne seiner Muskeln brannte und die Knochen taten ihm weh. Um ihn herum brummten Hummeln, flogen vereinzelte Schmetterlinge und sangen Vögel, doch er beachtete sie nicht weiter. In der Ferne sah er einen Schäfer. Im Tal herrschte dank Tera der Frühling, aber in den Bergen war durch Ari und Tompa erneut Schnee gefallen.

    In der hellen Morgensonne war die Gravur des Kampfstabs deutlich zu erkennen. Das harte Holz hatte dem Wetter getrotzt, weil er es vor seinem Aufbruch noch einmal geölt hatte. Er hatte sich Mühe gegeben, den Stab in Ehren zu halten. Zu Lasten des Umhanges zwar, aber der war ohnehin nicht mehr zu retten.

    »Wie viele andere Krähen hast du gesehen?«

    Seine Stimme war heiser, nur noch ein Hauchen. Er fröstelte im Wind.

    Der intelligente Vogel auf seiner Schulter verstand ihn trotzdem bestens und krächzte viermal. Dann spreizte sie ihre Flügel und raschelte mit dem Gefieder – und miaute.

    Ari hatte eine Schwäche für die schlauen Vögel. Mit den Jahren hatte Gjona das Imitieren von Tierlauten gelernt, aber er stutzte dennoch.

    Eine Katze? Die Anwesenheit einer Katze in der Bibliothek bedeutete zwangsläufig, dass eine Katzenschwester in Korbo war. Die Zauberinnen der Schwesternschaft der Katzen verirrten sich für gewöhnlich nicht derart tief in den Süden.

    Die Ausläufer des Gebirges waren hier unten im Vorland bestens zu erkennen und südlich davon gab es nichts mehr, was eine Menschenseele lockte. Für die Mehrheit endete die bekannte Welt in Korbo und hätte die Stadt weder Bibliothek noch Wollwaren, würde niemand sie kennen. Die Provinzstadt war so klein, dass nicht einmal ein richtiger Tempel existierte, weil sich keiner fand, der einen Bau stiftete. Es gab nur Schreine.

    Landauf und landab wurden auf dem Kontinent Ziatha dreizehn Götter verehrt. Das Brauchtum variierte je nach Region ein wenig, aber man war sich weitläufig einig.

    Neben Jur, Solai, Ari, Tompa, Tera, Agri und Nui gab es weitere. Nuis Gefährtin Lunai, die Mondin zum Beispiel, die den Menschen Orientierung im Monatsverlauf bot und ihnen sagte, wie viel Zeit vergangen war. Ihr schrieb man auch die weibliche Fruchtbarkeit zu.

    Das war jedoch nicht alles, was sie bewirkte. Sie widmete sich dem außerdem nicht allein. Zeit war etwas, was die Gottheiten gemeinsam bestimmten. Ihre Schwester Solai, die Sonne, machte Selbiges tagsüber und im Jahresverlauf. Doch eben nicht nur das, denn die Götter, die den Elementen zugeordnet waren, hatten alle vier ihre Tageszeit. Ari, Herr der Luft, gehörte der Morgen. Foe, Beherrscher des Feuers, herrschte über die Mittagsstunde. Losa, Gebieterin des Wassers, gebot den Abend. Tera, die Herrin der Erde, lenkte zu Mitternacht. Aber nicht nur das ordneten die Menschen ihnen zu. Es gab zahlreiche Eigenschaften, die man den Gottheiten zuschrieb.

    Vidar folgte der Krähe mit dem Blick, als sie sich wieder in die Lüfte erhob. Obwohl er so dreckig war, dass seine Kleidung sicher auch ohne sein Zutun stand, erkannte ein aufmerksamer Betrachter in ihm einen Krähenbruder. Die Mantelschnalle in Form des namensgebenden Vogels und die feingliedrige Silberkette darunter waren nicht zu übersehen. An dieser Kette hingen die vier Amulette der Gottheiten, die in seinen Orden hauptsächlich verehrt wurden: Nui, Lunai, Ari und Esbra.

    Letzteres war das geschlechtslose Wesen der Magie, des Äthers und des Todes. Das ewige Rad, das sich endlos drehte.

    Er überlegte, wem wohl die Katzen zugetan waren, aber über die anderen Orden wusste er in der Regel nur Triviales. Vidar war geläufig, woran er sie erkannte, in welchen Regionen man sie gewöhnlich antraf und was das gemeine Volk über sie erzählte.

    Von der Bruderschaft der Drachen war ihm mit Abstand am meisten bekannt. Sie verehrten vor allem die Luft, das Wetter, das Feuer und den Äther. Ari sicher schon allein wegen des Wissens, das sie ungern mit anderen teilten. Die Wölfe ehrten vorwiegend Erde, Nacht, Mond und Äther. Derart viel Dunkelheit fand er persönlich etwas unheimlich, aber das waren die Wolfsbrüder für ihn ohnehin. Mit den Schwestern der Eulen und Schlangen war er ebenso wenig vertraut wie mit den Katzen. Da blieben ihm nur Mutmaßungen, für die er im Augenblick aber definitiv zu müde war.

    Seine schmerzenden Füße hatten ihn endlich bis in die Ebene getragen. Vor ihm erstreckte sich das satte Grasland der Grünen Lande. Den Schäfer mit seinen Tieren erkannte er gerade noch in der Ferne.

    Zu Beginn seiner Wanderjahre war er oft wochenlang zu Fuß gereist. Inzwischen aber wurden ihm häufig wichtige Nachrichten mit einem Handgeld für einen Platz auf dem Karren einer Karawane oder einem Schiff überreicht. An solch eine Bequemlichkeit auf Reisen gewöhnte man sich schnell. Das und sein längerer Aufenthalt, an ein und demselben Ort über den Winter, hatte zusätzlich zu dem beschwerlichen Weg seinen Tribut gefordert.

    Vidar war erschöpft. Jeder Schritt fiel ihm inzwischen unendlich schwer. Unterwegs hatte er seine gesamte Ausrüstung verloren. Seine Packtasche mitsamt Zelt, Decke und Proviant waren fort. Wäre Pwasa weniger gnädig, hätte er wohl auch sein Leben verloren.

    Doch beklagen durfte er sich deshalb nicht. Eine der Losungen seines Ordens lautete ›triff Entscheidungen und lebe mit den Konsequenzen‹. Er hatte das Angebot, über den Winter in der Festung zu bleiben und erst wieder mit der Schneeschmelze nach Korbo zurückzukehren, angenommen. Der Verlust seiner Ausrüstung war ein Teil der Konsequenzen daraus. So war das eben. Jammern würde nichts ändern.

    Stadt

    Beim Erreichen des Stadttores von Korbo stand die Sonne im Zenit. Solai wärmte ihm bereits seit Stunden schon den Rücken. Die Augen der Torwache huschten lediglich über seine verwahrloste Erscheinung. Der Mann setzte zu einer höchstwahrscheinlich äußerst beleidigenden Äußerung an und stockte. Der Blick war an Vidars Stab hängengeblieben und glitt jetzt zum Umhang weiter. Anstatt der Bemerkung folgte ein peinlich berührtes Hüsteln. »Eure Brüder haben Euch angekündigt, Wanderer«, gluckste die Wache.

    Der Mann bemühte sich um Ernsthaftigkeit, scheiterte daran aber gnadenlos. Mürrisch schob Vidar sich an ihm vorbei, als er endlich eingelassen wurde. Das Lachen der Wache hinter ihm entging ihm nicht.

    Nach einem Winter in den Bergen und zwei Wochen Zweisamkeit mit seiner Krähe kam ihm Korbo in der geschäftigen Mittagszeit deutlich zu laut und voll vor. Dabei hatte die Kleinstadt keine tausend Einwohner und war damit weder ungewöhnlich groß noch lebhaft.

    Einige der Passanten wichen ihm angewidert aus. Manche tuschelten, weshalb die Wachen einen Landstreicher durchs Tor gelassen hatten. Wieder andere erkannten wer und was er war. Sie sahen ihn teils fragend, teils belustigt an. Er versuchte zwar, sich möglichst unauffällig zur Bibliothek zu bewegen, fiel aber dennoch auf.

    Da seine Krähe Vorhut gespielt hatte, wurde er bereits an seinem Ziel erwartet. Vor der Festung stand im vollen Ornat gekleidet der Archivar von Korbo. Das traditionelle Gewand des Ordens war vollumfänglich schwarz. Das galt für die Hosen mit den Beinschienen und die Lederstiefel mit den drei Riemen genauso wie für das langarmige Unterhemd, über dem eine Tunika getragen wurde. Darüber trug Ansgar seinen tiefschwarzen, langen Mantel mit silbernen Stickereien. Der stand den Krähen erst zu, wenn sie den Rang der Saatkrähe erreichten.

    Neben ihm sah ein gewöhnlicher Eingeschworener wie Vidar nur dunkelgrau aus, da der Stoff mehr Züge in der Farbe erhalten hatte. An Ansgars Gürtel hingen Taschen und Schlüssel. Kein Raum der Festung blieb für den Inhaber des wichtigen Amtes verschlossen.

    Der Blonde war nicht dazu in der Lage ein amüsiertes Grinsen zu unterdrücken. Bevor dieser allerdings etwas zu seinem Aufzug sagte, räusperte er sich und begrüßte Vidar des Brauchs gemäß, um die Form zu wahren. »Sei mir gegrüßt, Krähenbruder, der du bist auch mein Bruder. Deine Schwingen trugen dich zu uns und du sollst uns willkommen sein.«

    »Habt Dank, Brüder«, antwortete er leise, weil es so üblich war, und verbeugte sich mit einer Eleganz, die gar nicht zu seiner Erscheinung passte. Zu seinem Bedauern auch nicht zur körperlichen Verfassung. Er unterdrückte ein Ächzen und schlug die zerfranste Kapuze des Umhangs erst zurück, als er seine Mimik wieder im Griff hatte.

    Ansgars aufmerksamen Blick entging es allerdings nicht. »Das Wetter hat dir übel mitgespielt«, stellte er stirnrunzelnd fest.

    »Der Weg war ausgewaschen und voller Geröll. Tompas Stürme waren gnadenlos. Meine übrig gebliebene Habe trage ich bei mir. Die Taschen sind fort«, fasste Vidar seine Reise knapp zusammen.

    Der Aufgestiegene legte den Kopf zur Seite und sah ihn forschend an. Das gepflegte Äußere des blonden Mannes mit den grauen Augen stellte einen harten Kontrast dar. Mit seiner dunkelhaarigen, bärtigen und schmutzigen Erscheinung sah er schon erbärmlich aus. Deutlicher war ihr ursprünglicher sozialer Status nicht darzustellen. Ansgar sah aus wie aus dem Ei gepellt, war erhaben und eindrucksvoll. Eben ganz seinem einstigen Stand gemäß. Vidar eher wie ein Landstreicher, abstoßend und unansehnlich. Er stammte aus dem einfachen Volk.

    Der helle Gelehrtenspross und der dunkle Bauernsohn waren sie bereits als Neulinge gewesen, weil Ansgar blond und Vidar dunkelhaarig war. ›Die beiden ungleichen Häher‹ hatte man sie genannt. Wie Tag und Nacht und dennoch die besten Freunde. Das war Jahre her, aber unter den Ältesten waren sie noch heute ›das ungleiche Gespann‹.

    Der Archivar beugte sich vor, um den Arm um seine Schultern zu legen und ihn hinein zu bitten, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und rümpfte die Nase. »Vidar, mein Freund, du brauchst dringend ein Bad. Neue Kleidung sollst du auch bekommen. Alles andere wird sich regeln lassen. Keiner unserer Brüder muss nackt und mittellos durch die Lande ziehen. Besonders du nicht.«

    Mit diesen Worten bedeutete Ansgar, ihm einzutreten. »Also hast du die Post mit der Krähe vorgeschickt, damit sie nicht verloren geht? Ich hatte mich schon gewundert, warum du dich nicht an die üblichen Regeln hältst. Das ist nämlich sonst nicht so deine Art.«

    Bereits vor zwei Tagen hatte er Gjona mit den Briefen nach Korbo geschickt. Ein weiteres Unwetter hatte sich angekündigt und er war in Sorge gewesen, dass Tompa ihn einen der Hänge hinunter wehte, wie seine Taschen im Sturm davor.

    Das war gänzlich unüblich, da jeder Wanderer Briefe üblicherweise persönlich übergab. Damit nahm es sogar Vidar sehr genau, obwohl er hin und wieder gegen andere Regeln verstieß.

    Er strich sich durch den Bart. »Auch deshalb. Außerdem hatte ich die Hoffnung, mich könnte ein Bad erwarten, wenn ich ankomme.«

    Der andere grinste sein listiges Grinsen und legte den Kopf erneut schief. Das Wesen der gerissenen Krähe hatte Scholar Ansgar deutlich mehr verinnerlicht als der Krieger Vidar.

    »Nun, dann lass uns doch einmal überprüfen, ob dein Vorhaben von Erfolg gekrönt wurde«, meinte der Blondschopf betont hochgestochen und schob den massiven Riegel des Eingangsportals hinter ihnen zu.

    Vidar fiel es nicht schwer sich vorzustellen, wie sein bester Freund die Häher triezte und forderte. Ansgar gingen die für Aufgestiegene charakteristischen Aufgaben sicher leicht von der Hand. Er hatte sie nämlich auf deren Eignung und Fügsamkeit zu prüfen. »Ich bilde mir ein, dass ich zwei Häher angewiesen habe, Wasser heiß zu machen. Nur wage ich, zu bezweifeln, dass sie deinen verwegenen Bart zähmen können.« Sprach ausgerechnet der glattrasierte Schönling.

    Es gelang ihm nicht, ein Augenrollen zu unterdrücken. »Ich bin viel zu jung, um mir einen Bart stehen zu lassen. Vielleicht eines Tages, wenn ich einmal Rabenkrähe bin.«

    Ansgar lachte. »Werde doch erstmal Saatkrähe, mein alter Freund. Deine Ambitionen dahingehend wirken auf mich nicht nennenswert.«

    Vidar seufzte. »Ich hab mich nicht beliebt gemacht. Ich habe einige unpopuläre Entscheidungen getroffen.«

    Sein Freund schwieg und schritt ein wenig vor ihm in Richtung des Wohnturms.

    Die sogenannte Bibliothek von Korbo war eine Jahrhunderte alte Burganlage mit fünf Türmen. Der große, runde, mit vielen Fenstern ausgestattete Mittelturm, in dem neben einem Schrein für die Gottheiten zahlreiche bedeutende Schriften untergebracht waren, wurde flankiert von vier Kleineren, die an den Himmelsrichtungen ausgerichtet waren. Der Zutritt zu einigen der Stockwerke des zentralen Turms wurde erst ab einem gewissen Rang erteilt und um ihn herum waren Hof und Garten. Der Wohnturm im Norden bot Platz für Küche, Speisesaal und Waschküche im untersten Geschoss. Darüber lagen die Schlafräume. Unter dem Dach jenes Turms hausten die Krähen der Krähenbrüder. Im Osten waren die Unterrichtsräume, im Westen vor allem Lagerräume und im Süden die Unterkünfte für etwaige Gäste.

    Ansgar brach das Schweigen. »Weißt du, Vidar, du musst es endlich wagen, deine Flügel auszubreiten und über den Abgrund vor dir hinwegzufliegen.«

    Sein einstiger Studienkollege wandte sich zu ihm um. »Dein größer Feind ist dein eigener Schatten. Hast du dort draußen in den Bergen eigentlich gefunden, wonach du gesucht hast?«

    Er zögerte. »Ruhe? Reichlich davon. Klarheit? Ein wenig.«

    Ansgar musterte ihn. »Manchmal muss man einen Schritt zurück, um das Bild zu komplettieren.«

    Vidar entschied an dieser Stelle einmal mehr in seinem Leben, dass sein Jugendfreund der Weisere von ihnen beiden war.

    Der Blonde setzte seinen Weg fort, schob die Tür zum Speisesaal auf und geleitete ihn an zwei verwundert blickenden Neulingen direkt vorbei ins Bad.

    »Die sind ja so neu, dass sie noch quietschen«, murmelte Vidar.

    Sein Freund lachte erneut. Es war angenehm, sein Lachen nach den langen Wochen in der Festung wieder zu hören. Er hatte Ansgar vermisst. Das tat er immer, wenn sie sich eine Weile nicht sahen. »Oh ja, und das sind nur die, die sich halten konnten. In der ersten Zeit waren sie noch zu fünft.«

    Vidar sah das dampfende Wasser in der Wanne.

    »Setz dich erstmal rein und wärme dich auf! Du siehst sehr müde aus. Ich kann selbst durch deine Lumpen sehen, wie deine erschöpften Muskeln dich zitternd warmzuhalten versuchen. Soll ich dir helfen, aus dem zu kommen, was von deiner Kleidung übrig ist?«

    Er überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. »Du machst dich nur schmutzig. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, was für eine undankbare Arbeit es war, diese Roben zu waschen. Das Material ist so empfindlich.«

    Der Blonde rollte mit den Augen, streckte die Hände aus und löste den zerschlissenen Mantel, nur um ihm diesen dann von den Schultern zu schieben. »Du musst sie doch nicht mehr reinigen, Wanderkrähe Vidar«, meinte er, trennte die Mantelschnalle mit einem kleinen Messer ab und warf den ausgedienten Walk in die Ecke. »Ich befürchte ja, das, was du trägst, wird sich nur noch als Unrat wiederfinden.«

    Vidar trat zurück und schlüpfte selbst aus der fadenscheinigen Tunika und dem löchrigen Unterhemd. Ansgar ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihm aus den Stiefeln und den kläglichen Überresten seiner Beinschienen zu helfen.

    Wie von ihm erwartet, wurde die Kleidung des Archivars dabei verschmutzt. Ein wenig bedauerte er die Häher doch, denn die Roben benötigten eine ziemliche Sonderbehandlung. Nicht zuletzt deshalb, weil die schwarze, fein gesponnene Wolle mit den Stickereien ihre Eigenheiten hatte. Ein bisschen zu viel Lauge, Hitze oder Reibung und das Stück war ruiniert.

    Sein Freund half ihm dabei, in die Wanne zu steigen. Allein hätte er es, müde wie er war, kaum über den Rand geschafft. »Ich schicke die Häher mit etwas Tee und um dir beim Waschen zu helfen. Ich werde mich wohl doch erst einmal umziehen müssen, bevor ich in die Kleiderkammer gehe.«

    »Ich hatte dich gewarnt«, nuschelte er.

    Nun, da er in der Wanne saß, breitete sich die Erschöpfung noch mehr aus. Obwohl das Wasser warm war, fror er, ausgekühlt wie er war, entsetzlich von innen heraus.

    Er wäre wohl eingedöst, hätte er nicht die Tür aufgehen hören. Zwei Jungen kamen zögerlich herein. Der eine trug ein Tablett, das er auf einem Beistelltisch abstellte, der andere hatte ein Bündel Kleidung dabei und holte alles heraus, was zum Waschen benötigt wurde.

    Vidar ließ sich einen Becher reichen und erduldete mit geschlossenen Augen das Einseifen. In seiner Zeit als Häher hatte er es gehasst, anderen dabei zu helfen, und noch weniger ertrug er es, wenn Fremde ihn wuschen. Allerdings musste er sich eingestehen, dass er im Augenblick zu ausgelaugt war, um das selbst zu übernehmen.

    Einer der beiden Jungen begann ihm den Rücken zu waschen. Dem Dreck von zwei Wochen war nur mit reichlich Seife und Schrubben Herr zu werden.

    Der Bursche entfernte Teras Spuren von der schwarzen Rabenfeder auf seiner linken Schulter. Diese Tätowierung erhielt man bei den Krähen, sobald man Ungeschworener wurde. Die Angehörigen jenes Ranges nannten sie Elstern, weil sie sich quasi ihre erste Feder selbst geholt hatten. Im Anschluss drückte der Junge den Schwamm auf seinem Nacken aus und die Krähenflügel auf dem Rücken, die ihn als Eingeschworenen auszeichneten, kamen zum Vorschein. Wanderkrähen brauchten nun einmal Flügel, um durch die Lande zu ziehen.

    Neben diesen Kunstwerken aus Tinte unter der Haut wurden jedoch auch zahlreiche andere Male sichtbar. Mehrmals gerieten die Burschen bei der Verrichtung ihrer Arbeit ins Stocken. Er wusste genau, dass sie bei manchen seiner Narben das schiere Entsetzen packte. Annähernd jeder Zoll seines Körpers, der sonst von Kleidung bedeckt war, hatte welche. Sie waren unterschiedlicher Herkunft und Alters. Diverse Waffen, Feuer und Magie hatten Spuren auf ihm hinterlassen. Jede Narbe erzählte eine eigene Geschichte.

    Die gesamte linke Seite seines Oberkörpers und Teile des Arms waren vor Jahren von einem rätselhaften Feuer gezeichnet worden. Dergleichen hatten die unerfahrenen Burschen sicher noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen. Er selbst hätte gern auf die Erfahrung verzichtet.

    Vorsichtig wuschen die Jungen darüber. Im Anschluss entwirrten sie ihm das Haar und rasierten ihn stümperhaft. Duldend saß Vidar mit geschlossenen Augen da und versuchte, die beiden auszublenden. Vor allem ihr gelegentliches Zögern empfand er als störend. Hin und wieder griff er jedoch nach dem gesüßten Tee.

    Als die zwei endlich von ihm abließen, stand er auf. Sofort gaben sie Vidar ein Handtuch, nur um ihm dann auch noch beim Abtrocknen zu helfen. Außerdem gingen sie ihm zur Hand, als er sich ankleidete. Er fand sie lästig, aber weil er zu müde war, um es selbst zu schaffen, schickte er sie nicht weg.

    Inzwischen übermannte ihn die Erschöpfung endgültig. Essen und dann ins Bett erschien ihm reizvoll. Genervt ließ er die beiden Häher im Bad zurück, wo sie aufzuräumen hatten.

    Ansgar erwartete ihn am gedeckten Tisch im angrenzenden Speisesaal, wo ein ihm unbekannter Ungeschworener Eintopf auftrug. Für den Fall, dass wirklich nur vier Krähenvögel im Turm waren, hielten sich außer der Saatkrähe nur drei weitere eingeschworene Brüder in der Festung auf. Das war für diese Jahreszeit sehr überschaubar.

    Neben dem Archivar von Korbo war der Älteste Anselm ständig anwesend. Die Meister wechselten für gewöhnlich recht regelmäßig mit ihren Gesellen. Dennoch waren sonst mehr in der Bibliothek. Wahrscheinlich studierte gerade wieder ein Scholar mit seinem festen Lehrling einige der Schriften hier. Ungeschworene hatten keine eigenen Krähen, weshalb er nur schätzen konnte, aber es gab schon immer eher wenige in Korbo. Es war üblich, sie zur Vertiefung der Ausbildung nach Saker oder Korax zu schicken.

    Der Archivar schob ihm eine gefüllte Schale hin, kaum dass er sich auf die Sitzbank hatte fallen lassen. »Ich hoffe, die beiden haben ihre Arbeit anständig gemacht.«

    Vidar zog die Mahlzeit an sich heran. Seine blauen Augen sahen vielsagend in dessen Graue und dann fing er auch schon an langsam zu essen. »Sie starren«, durchbrach er nach einer Weile brummig die Stille. »Glotzen regelrecht.«

    Selbst Ekel sah im makellosen Gesicht seines Freundes noch erhaben aus. »Nun ja, zu ihrer Verteidigung ist zu sagen, dass es bei dir viel zu sehen gibt, was sie nie zuvor gesehen haben können«, erwiderte er und lächelte einnehmend. »Gerald ist der Sohn eines Schäfers. Vilhelm ist aus einem Dorf östlich von hier. Sein Vater hat ihn hier abgeladen. Mäßiges Talent, keine Aussicht auf ein Erbe. Anselm wollte ihm wenigstens die Möglichkeit geben, sich zu beweisen.«

    Vidar stockte in der Bewegung und starrte auf seine Hand, die den Löffel hielt. »Klingt seltsam vertraut, nur dass Anselm, damals noch Saatkrähe, mich unbedingt gleich wieder loswerden wollte.«

    Besagter war zur Rabenkrähe aufgestiegen, nachdem sie Elstern geworden waren.

    Geräusche in seinem Rücken verrieten ihm, dass die Häher im Bad fertig waren und den Speisesaal betreten hatten.

    »Auch er lernt stetig dazu. Wie wir alle. Jeden einzelnen Tag unseres Lebens«, sprach Ansgar nur wenig lauter. »Möchtest du noch einen Tee, mein Freund? Met? Oder Bier?«

    »Zu Met würde ich nicht nein sagen«, antwortete er heiser.

    »Vilhelm, beschaffe uns einen Krug warmen Met und dann setz dich zu uns. Gerald kann die Wäsche alleine wegbringen«, kam der Befehl und sie eilten sofort los. »Was sie an Haltung noch vermissen lassen, machen sie durch Fleiß wett. Nicht die schlechteste Eigenschaft.«

    Vidar brummte nur und aß weiter. Bis der Bursche mit dem Met zu ihnen kam, schwiegen sie, und seine Schale war im Nu leer.

    »Willst du noch etwas?«

    Vidar verneinte kopfschüttelnd. Die Mahlzeit lag nach Tagen des unfreiwilligen Fastens schwer im Magen. Er hatte Sorge, dass ihm übel wurde. Außerdem fielen ihm nun schon beinahe die Augen zu.

    Der Neuling goss den Eingeschworenen ein und setzte sich, wie ihm geheißen, zu ihnen an den Tisch.

    »Es tut mir leid, dass ich dich noch nicht in dein wohlverdientes Bett entlassen kann, Wanderkrähe, aber die Nebelkrähe verlangt deine Dienste und seine unmissverständliche Anweisung war, dass ich es dir mitteilen soll, nachdem du dich gewaschen und gestärkt hast.«

    Vidar sah seinen Studienfreund argwöhnisch an. Was auch immer anstand: Es bedeutete nichts Gutes. Das verhießen schon die Art und Weise der zahlreichen Worte des anderen zur Einleitung.

    »So sprich endlich weiter!«, forderte er ihn gereizt auf.

    »Der Älteste möchte, dass du morgen gemeinsam mit der Samtpfote, die wir aktuell beherbergen, in die Hauptstadt reist. Es gibt Wissen zu transportieren und er will sie damit nicht alleine ziehen lassen. Er versprach ihr, dass die erste Wanderkrähe, die hier eintrifft, sie begleiten wird«, erklärte ihm der Aufgestiegene. »Das bist nun einmal du. Du bekommst einen Platz auf dem Wagen eines Tuchhändlers. Außerdem sollst du Vilhelm mitnehmen. Auch haben wir noch einen Brief für Harald und einige Bestellungen zu übermitteln. Die Vergangene wurde immer noch nicht geliefert.«

    Er seufzte und schloss die Augen. War das wieder einmal die Konsequenz seiner unpopulären Entscheidungen, die er da trug? Oder hasste Anselm ihn aus Prinzip?

    Vidar stammte ursprünglich aus dem Umland von Korbo und sah die Festung als seine Heimat an. Jedes Mal, wenn er hoffte, etwas länger bleiben zu dürfen, schickte Anselm ihn aufs Neue los. Dabei sprach er jedoch nie persönlich mit ihm, sondern delegierte es an andere. Heute war es sein längster Freund, der ihm den Willen des Ältesten von Korbo mitteilte. »Und das ist alles?«

    »Er sagte, du sollst zu ihm in die Bibliothek kommen. Er verlangt, persönlich mit dir zu sprechen.«

    Erstaunt sah er Ansgar an. »Wann?«

    Der Archivar goss ihm Met nach und schwieg. Vidar trank einen Schluck. »Sobald du dich etwas gestärkt hast, hat er gesagt.«

    Der sonst so humorvolle Gleichaltrige wurde auffällig ernst.

    »Es geschehen viele seltsame Dinge in letzter Zeit. Du hast davon nichts mitbekommen, das ist mir klar, aber uns beunruhigt das sehr. Mehr kann und darf ich dir leider nicht sagen. Vilhelm wird das Reisegepäck vorbereiten, damit das erledigt ist.«

    Er wandte sich direkt an den Häher. »Hüte dich davor, ihm ein Klotz am Bein zu sein. Er mag wahrlich nicht danach aussehen, aber wenn einer von uns weiß, wie die Welt da draußen ist, dann er. Er ist ein echter Wanderer.«

    Der Junge zuckte zusammen, als Vidar aufsprang. Das bereute er selbst sofort, weil seine Muskeln brannten. Seine Impulsivität ließ ihn öfter einmal die Vernunft vergessen.

    »Nicht freiwillig«, knurrte er. »Das weißt du!«

    Damit wandte er sich zum Gehen. Den Ältesten lange warten zu lassen, erschien ihm keine gute Idee zu sein. »Und du lässt mich Met trinken, bevor ich zu ihm gehe. Den Streich hättest du dir sparen können, Saatkrähe!«

    »Fünfter Stock, Wanderkrähe«, rief sein Freund ihm nach.

    Auch das noch! All diese Stufen!

    Als die Tür zum Speisesaal hinter ihm zufiel, atmete er erst einmal tief durch. Wieder sollte er ziehen. Das letzte Mal hatte er wenigstens zwei Wochen bleiben dürfen, bevor man ihn erneut aufscheuchte. Da hatte man ihn mit reichlich Post für Ragnar in die Berge geschickt.

    Der Älteste dort hatte ihm angeboten, den Winter bei ihnen zu verbringen und zumindest einmal für einige Monate Ruhe zu finden. Anfangs hatte es ihm gutgetan, doch dann hatte die Schwermut ihn in den verschneiten Bergen ereilt. Hinter sich gelassen hatte er die düsteren Wolken noch immer nicht. Eine gewisse Melancholie hatte ihn ja schon häufiger heimgesucht.

    Seine Schritte hallten an den Wänden wider. Die Bibliothek von Korbo war dieser Tage mit wenig Leben gefüllt und viel zu still.

    Konfrontation

    Mit bleiernen Beinen und noch schwererem Kopf schleppte er sich über den Hof zur Bibliothek und dort die scheinbar zahllosen Stufen nach oben. Den fünften Stock kannte er nicht. Er war sich tatsächlich sehr sicher, dass ein gewöhnlicher Eingeschworener wie er auf dieser Etage nichts zu suchen hatte.

    Endlich kam er oben an. Sein Körper war träge und kraftlos. Seine Waden brannten wie Feuer. Der Älteste stand gebeugt über einem Tisch und war in eine antike Schriftrolle voller sonderbarer Zeichen vertieft. Vidar räusperte sich, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Anselm richtete sich auf, legte seine Lupe beiseite und sah ihn an. Der Älteste von Korbo war ergraut, seit sie sich das letzte Mal persönlich gesehen hatten. Sein kurzgeschnittenes Haar und der Bart waren einst dunkelblond. Zusätzlich war er wohl ebenfalls etwas warmherziger geworden, denn der größere Mann lächelte, als er Vidar erkannte. »Sei mir gegrüßt, Krähenbruder, der du auch bist der meine Bruder. Deine Schwingen trugen dich zu mir und du sollst mir willkommen sein.«

    Er zwang seinen erschöpften Körper zu einer Verbeugung. Elegant sah sie sicher nicht mehr aus. »Nebelkrähe«, erwiderte er knapp.

    Anselm trat näher und schloss ihn in die Arme und Vidar versteifte sich. »Wanderkrähe, ich bin sehr froh zu sehen, dass du an einem Stück den Pass überquert hast. Tompa war in den vergangenen Wochen voller Zorn und Ari vermochte es nicht, ihr Temperament zu zügeln.«

    Was bei allen Göttern war hier los? Wurde der Älteste senil oder war ihm irgendetwas entgangen?

    Der Ergraute fasste Vidar an den Schultern und schob ihn von sich. Lauernd sah er den Rangniederen an. Eisblaue Augen musterten ihn und seine Nackenhaare stellten sich auf. Es entging ihm nicht, dass der Älteste tief in seinen Kopf hineinsah, aber das abzuwehren, käme einer Revolte gleich. Für eine Gegenwehr war er ohnehin zu erschöpft. Der Met von eben tat sein Übriges.

    Dieser Magier war nur einen Rang unter dem des Großmeisters der Bruderschaft der Krähen. Wenn jener einmal starb, war Anselm einer der möglichen Kandidaten für die Nachfolge von Vater Krähe.

    »Ich verstehe deine Verwirrung, Vidar, aber es gibt Dinge, die du nicht weißt und nicht wissen darfst und wahrscheinlich auch gar nicht wissen willst«, eröffnete Anselm ihm. »Deine Herkunft mag nicht so besonders sein wie die deines engen Freundes, der dich inzwischen überflügelt hat, aber auch du hast einen Platz in unserer Bruderschaft und Talente, die gebraucht werden. Diese Samtpfote wurde geschickt, weil es ein Problem gibt, das nicht spurlos an uns vorübergeht. Ich habe zwar die Informationen gefunden, die angefordert wurden, aber ich kann ihr diese wertvollen Schriften nicht aushändigen und du bist der einzige Wanderer, der seit ihrer Ankunft hier vorbeikam. Deshalb muss ich dich leider sofort wieder weiterschicken, obwohl ich dir nach deiner beschwerlichen Reise gerne etwas Ruhe zugestanden hätte.«

    Das klang zwar aufrichtig, aber dennoch regte sich in Vidar Widerstand. Es wäre nicht gut, spräche er aus, was er dachte. Auch, wenn seine Gedanken dem Ältesten im Moment nicht verborgen waren, war es etwas anderes, sie tatsächlich auszusprechen.

    Anselm hielt ihn seiner Meinung nach absichtlich klein. Dadurch war der Älteste dazu in der Lage, jederzeit auf seine Botendienste zurückzugreifen. All das nur, weil sich herausgestellt hatte, dass er eher für den Pfad des Kriegers taugte und ein Talent für das Zustellen von Briefen trotz widriger Bedingungen bewiesen hatte. Mochte ja sein, dass es nur wenige in ihren Reihen gab, die für längere Zeit gute Kuriere abgaben, aber den ewigen Laufburschen beabsichtigte er dennoch nicht zu spielen. Nicht aufzusteigen bedeutete auch, dass er irgendwann keine neuen Zauber mehr lernte. Der Zugang zu höherem Wissen war innerhalb aller Orden durch die Ränge limitiert. Jüngere würden eines Tages an Vidar vorbeiziehen und ihm Befehle erteilen, wenn er länger nur Eingeschworener blieb. Bei Älteren war es vergleichsweise leicht, weil sie schon immer in der Hierarchie über ihm standen, aber bereits bei Ansgar, der vor zwei Jahren aufgestiegen war, fiel es Vidar wiederholt schwer, ihm den nötigen Respekt zu zollen. Sein Freund war jetzt Saatkrähe und er immer noch einfacher Eingeschworener. Außerdem war er seit seinem Aufstieg Archivar von Korbo und hatte damit ein äußerst angesehenes Amt innerhalb des Ordens inne.

    Es war ungerecht. War es denn seine Schuld, dass er keinen festen Lehrer fand? Anselm verlangte nun auch noch von ihm, diesen unbedeutenden Häher mitzunehmen, der ihn derart ungeniert angestarrt hatte. Warum und zu welchem Zweck? Der Bursche würde ihn nur behindern, wenn es brenzlich wurde. Er beherrschte überhaupt nichts. Nicht mal kämpfen.

    »Ah, nun kommen wir zum Kern«, brach Anselm das Schweigen, denn der Älteste hatte, wie von ihm bereits angenommen, all seine Gedanken verfolgt. »Ich möchte, dass du den Jungen in die Hauptstadt bringst, damit er einmal etwas anderes sieht. Er ist sicherer mit dir unterwegs, als ohne dich. Ich bin überzeugt, du erinnerst dich noch an den Tag, an dem du das erste Mal dorthin kamst.«

    Die eisblauen Augen sahen ihn geradewegs an. »Oder etwa nicht?«

    Verärgert hielt er dem Blick stand. Seine Stimme nun auch noch in seinem Kopf zu hören, war ihm zuwider. Der Zorn nahm zu. Vidar hatte keine Lust mehr darauf, der Spielball der anderen zu sein. Quer durchs Land geschickt werden, ohne lange an einem Ort zu verweilen, war für ihn schrecklich. Auch er wollte einmal vorankommen und wachsen dürfen.

    »Ich brauche für diese Aufgabe einen echten Wanderer, Vidar«, wies der andere ihn zurecht. »Du hast dich für den Pfad des Kriegers entschieden und Ansgar für den des Scholars. Es war damals schon klar, dass eure Wege sich trennen würden. Du hast dich außerdem dazu entschieden, Rabenkrähe Meginfrid die Gefolgschaft zu verweigern und ihn auch noch angegriffen. Mehrmals.«

    An diesem Punkt verlor er die Fassung. »Ihr wisst genau warum! Sein Preis war mir zu hoch!«

    Anselm hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Und der Preis, den du stattdessen bezahlt hast, war weniger hoch?«

    Vidar fasste sich an den Stirn und schloss die Augen. Ihm wurde schwindlig bei dem Versuch, Anselm aus seinem Kopf zu drängen. »Du bekommst mich jetzt nicht hinaus! Du hast mich zu lange hinsehen lassen, Wanderkrähe.«

    Er versuchte es dennoch. Dazu in der Lage, auch nur einen Gedanken klar genug zu fassen, um sich gegen den mächtigeren Zaubernden abzugrenzen, war er trotzdem nicht. »Deine Müdigkeit und der Met, den du mit Ansgar getrunken hast, wirken sich nicht positiv auf deine Widerstandskraft aus.«

    Das fiel Vidar auch alleine auf. Er knurrte verärgert. »Bis sich jemand findet, der sich deiner annimmt, wirst du ein einfacher Eingeschworener bleiben. Du musst erst der Geselle eines Meisters gewesen sein. So sind nun einmal die Regeln.«

    Jedes Wort empfand er wie einen Schlag. Die Kehle schnürte sich ihm zu. »Mag sein, dass du deine Konflikte mit Meginfrid hattest, aber du weißt genau, wie rar Meister im Pfad des Kriegers sind. Jene ohne Gesellen kannst du an einer Hand abzählen.«

    Konnte er. Wusste er. Es war zum aus der Haut fahren.

    »Vidar, solange du keinen Lehrmeister vorweisen kannst, geht es für dich nicht voran. Du hättest dich mit Meginfrid arrangieren können, hättest du nur gewollt. So sehr Beharrlichkeit deine Tugend ist, ist deine Sturheit auch deine größte Schwäche. Du lässt dich von deinen Entscheidungen nicht mehr abbringen.«

    Wenn Anselm ihn geprügelt hätte, wäre es für Vidar sicher weniger schmerzhaft gewesen. Jedes einzelne Wort war wie ein Peitschenschlag. »Ich verlange von dir, dass du dich auf deinen künftigen Reisen besinnst, was du in deinem Leben noch erreichen möchtest. Willst du ewig nur Eingeschworener sein oder weiterkommen? Kannst du dich auch einfach einmal fügen oder willst du ewig Entscheidungen treffen, deren Konsequenzen dir den Weg versperren?«

    Was sollte denn jetzt die Frage? Er funkelte den Ältesten zornig an. »Vidar, ich wünsche dir etwas mehr Vernunft und weniger Impulsivität. Du näherst dich der Dreißig und ab da wird der Aufstieg nicht leichter. Du hast durchaus sehr viel Potential, aber du nutzt es nicht, wie es dir dienlich wäre. Ich bin mir sicher, dass Nebelkrähe Harald etwas für dich zu tun hat. Sollte dem nicht so sein, kommst du hierher zurück!«

    Vidar öffnete den Mund und wollte ihn fragen, ob er dann wenigstens länger bleiben durfte, aber Anselm war noch nicht mit ihm fertig. »Im Übrigen weiß ich, dass Meginfrid immer noch keinen Lehrling hat. Vielleicht solltest du nochmal in dich gehen, ob ihr nicht doch einen gemeinsamen Weg finden könntet. Nicht, dass er zum Ältesten aufsteigt und die Gelegenheit dann für dich verstrichen ist. Verpasste Gelegenheiten sich zu beweisen sind ein ernstes Problem.«

    Ihm wurde übel. Er wandte sich ab. Tränen der Verzweiflung brannten in seinen Augenwinkeln. Seine Erschöpfung ließ keine Haltung mehr zu. »Wie hätte ich mich denn mit ihm arrangieren sollen?«, fragte er den Ältesten leise. »Wisst Ihr denn nicht, was er von mir verlangt hat, Nebelkrähe?«

    Anselm packte Vidar an der Schulter und drehte ihn zu sich um. Grob griff er sein Kinn und erzwang dadurch Blickkontakt. »Ich kenne Meginfrid schon sehr lange, Wanderkrähe. Ich weiß, wie er ist. Schon als Elster fiel er mit seiner Art auf. Dennoch konnte er sich im Gegensatz zu dir deutlich besser in unsere Hierarchie einfügen. Nur fürchte ich, wenn du keinen anderen Lehrer für dich findest und du nicht ewig der Wanderer sein willst, werden dir irgendwann die Alternativen ausgehen«, knurrte der Älteste. »Es ist keine Kunst für einen Gesellen mit deiner Erfahrung einen Ungeschworenen zu unterweisen, aber was tust du, wenn die Elster dich eines Tages überflügelt und auf dich herab sieht? Hält dein Stolz das aus? Glaubst du, dass du dich einem Lehrer unterordnen könntest, der jünger ist als du? Und er dich dann überhaupt als Lehrling akzeptiert?«

    Vidar erschauderte. Hatte Anselm die Absicht, ihn bei seiner Ehre zu packen, oder einen Zusammenbruch zu verursachen?

    »Ich weiß, dass du müde bist, Vidar, aber ich will dich nicht fallen sehen.«

    Warum hörte er nicht endlich auf, seine Gedanken zu lesen? Der Älteste lachte leise. »Morgen bei Sonnenaufgang zieht die nächste Karawane in den Norden. Die Samtpfote wird am Tor zu dir stoßen. Ansgar wird dir alles übergeben, was nach Saker gebracht werden soll. Denk auf deiner Reise über meine Worte nach.«

    Derer waren reichlich gefallen. Viele hatten ihn verletzt. Früher hatte er sich gewünscht, dass Anselm direkt mit ihm sprach und niemanden mehr vorschickte. Jetzt wünschte er sich, dass der Älteste nicht allzu bald erneut mit ihm zu reden verlangte.

    »Mögen deine Schwingen dich sicher hinforttragen, Krähenbruder, und ebenso sicher auch wieder zurück zu uns«, verabschiedete die Nebelkrähe von Korbo ihn.

    Die Unterredung war hiermit offiziell beendet. Vidar verbeugte sich tief vor dem Ältesten. Wortlos verließ er die Etage, ohne sich auch nur nochmal umzudrehen. Innerlich aufgewühlt schwankte er die Stufen nach unten. Mehrmals musste er innehalten, weil die Erschöpfung ihn zu übermannen drohte.

    Natürlich war er sich seiner Verfehlungen bewusst, doch dass er sich für den Pfad des Kriegers entschieden hatte, war keine. Was das anging, hatte er oft genug mit Ragnar in der Bergfestung gesprochen. Der war wie er selbst ein Magierkrieger.

    Vidar war nichts weiter als seiner Neigung gefolgt und hatte deshalb diese Entscheidung gefällt. Allerdings hatte er dadurch einen anderen Weg eingeschlagen als sein bester Freund, der inzwischen höher im Rang war als er selbst. Letzteres hatte aber nicht wirklich etwas mit dem Pfad allein zu tun. Vielmehr damit, dass Ansgar in Anselm einen Lehrmeister gefunden hatte und deutlich genügsamer war als er, wenn er Anweisungen bekam. Meginfrid zurückzuweisen war für ihn kein Fehler, sondern konsequent gewesen. Er wäre daran zerbrochen, falls er sich seinen Forderungen gefügt hätte, wie von ihm verlangt worden war.

    Ja, sie hatten nicht viele Meister innerhalb der Bruderschaft der Krähen, die dem Pfad des Kriegers folgten. Zu allem Überfluss auch kaum welche, die noch Platz für einen Gesellen hatten. Dennoch akzeptierte Vidar keinen Lehrmeister, der eher die Absicht hatte, das Bett mit ihm zu teilen, denn sein Wissen.

    Bei allen Orden war es verpönt, wenn ein Geselle einen Meister ablehnte. Seinem Ruf hatte es empfindlich geschadet, obwohl fast jeder wusste, wie es dazu gekommen war. Besagte Rabenkrähe hatte eben auch einen gewissen Ruf. Und ja, er hatte das ein oder andere Mal ein loses Mundwerk bewiesen, mit einem Wolfsbruder die Klingen gekreuzt und nicht zu vergessen mit einer Eulenschwester ein Kind gezeugt. Was davon seinem Ansehen mehr geschadet hatte, wusste er nicht zu beurteilen. Streng genommen konnte er nichts dazu. Weder dafür, dass der Wolf damals so angriffslustig gewesen war, noch dass er die Eule nicht als solche erkannt hatte.

    In dem Moment, in dem sich die Tür der Bibliothek hinter ihm schloss, hatte er endlich das Gefühl, den Ältesten nicht mehr in seinem Kopf zu haben. Dafür war er jetzt so müde, dass er kaum den Weg zum Wohnturm schaffte. Die Stufen zu seiner Kammer hinauf kroch er.

    An Meginfrid hatte er lange nicht mehr gedacht. Die Annäherungsversuche hatte er allesamt verdrängt.

    Besinnung

    In der Kammer angekommen, ließ er sich bekleidet aufs Bett fallen.

    Ihm kam in den Sinn, dass jener in der Hauptstadt lebte.

    Hatte Anselm ihn deswegen derart unsanft mit der Nase auf diese Erinnerungen gestoßen? Damit er eben nicht völlig unvorbereitet auf ihn traf? Er traute dem Ältesten diese Berechnung zu.

    Rabenkrähe Meginfrid war ein fähiger Krieger und sich dessen bewusst. In Vidars Augen war er sehr von sich eingenommen, launenhaft und mitunter unfähig ein Nein zu akzeptieren. Mehrfach hatte der Ältere sich ihm angenähert und nur schwer zurückweisen lassen. Einmal war er so überstürzt geflohen, dass er ohne Umhang in ein Straßenfest gestolpert war. Dort hatte er die Eulenschwester getroffen, die er nicht als solche erkannt hatte. Es war nicht die einzige Frau in Saker, bei der er gelegen hatte.

    Diese Eskapade, wie es damals genannt wurde, war bei Meginfrid leider nicht so angekommen wie von ihm erhofft. Der nannte ihn unehrlich sich selbst gegenüber und noch vieles mehr. Dabei hatte Vidar nur kein Interesse an der von ihm vorgeschlagenen Übereinkunft.

    Rückblickend hätte er während einem ihrer zahlreichen Wortgefechte wohl besser nicht erwähnt, dass er als Elster nicht nur dem Wein, sondern mangels Alternativen Ansgar zugesprochen hatte. Der dadurch ermutigte hatte den Raum mit einem blauen Auge verlassen.

    Dieser Zwischenfall hatte ihn die meisten Sympathien gekostet. Er hätte sich wahrscheinlich besser um einen Schlichter bemüht. Dass sich später die Eulen meldeten, hatte seine Lage nicht unbedingt verbessert.

    Es folgte eine weitere Auseinandersetzung mit Meginfrid. Harald hatte ihn im Anschluss regelrecht aus der Stadt gejagt. Seitdem hatte er Saker gemieden. Nicht zuletzt, weil er danach wegen eines anderen Zwischenfalls auf seinem Weg fast persönlich vor Esbra getreten war.

    Seine Lider fielen ihm zu und die Erschöpfung ließ ihn in einen tiefen Schlaf fallen, noch ehe die Sonne unterging.

    Ein Geräusch weckte ihn mitten in der Nacht auf. Etwas, oder eher jemand, bewegte sich in seiner Kammer und näherte sich dem Bett. Er nahm die Schritte von nackten Füßen wahr. Es handelte sich um einen schlanken Mann, der versuchte leise zu sein.

    »Skumring«, murmelte Vidar und die kleinen Kristallleuchten in den Ecken des Zimmers erhellten den Raum leicht dämmrig. Hell genug, um zu erkennen, wer augenblicklich wie erstarrt stehen geblieben war.

    »Ich bin es nur«, sagte Ansgar leise. »Ich wollte nur nach dir sehen!«

    »Mitten in der Nacht?«

    Der Blonde zog ihm die Stiefel aus und schob ihn zur Seite, damit er neben Vidar auf dem Bett Platz hatte. »Ich will nur etwas Zeit mit dir verbringen und wenn wir sie beide nur gemeinsam verschlafen«, gab der andere leise zu. »Erfahren darf es nur keiner. Noch mehr Tratsch verträgt dein Ruf wirklich nicht.«

    Er seufzte schwer und schloss die Lider. »Weißt du, dass du seltsam bist?«

    »Bisweilen«, war die schlichte Antwort seines besten Freundes, der sich an ihn lehnte.

    Launen

    Vidar erwachte bei Morgengrauen. Er kletterte über Ansgar hinweg und sah ihn nachdenklich an. Der gesellige Blonde war bestimmt einsam, bei nur so wenigen Anwesenden in der großen Festung. Er hatte sich ehrlich gefreut, ihn nach all den Monaten wieder zu sehen, aber der Älteste hatte andere Pläne mit ihm. Niedergeschlagen stieg er in seine Stiefel und strich seine knittrige Kleidung glatt.

    Einmal mehr schickte man ihn weg. Einen neuen Reiseumhang aus Walk fand er im Schrank. Sicher hatte ein Häher ihn gebracht, während er bei Anselm gewesen war. Er holte ihn heraus und schloss die Schnallen seiner Stiefel.

    Zaghaft weckte er den Gelehrten. Ansgar blinzelte ihn verwirrt an. Mit seinen zerzausten Haaren sah er fast wieder so jungenhaft aus wie früher. »Der Morgen bricht an«, erklärte Vidar ihm.

    Sein bester Freund sprang wie von einer Wespe gestochen auf und eilte ohne ein weiteres Wort davon. Er sah ihm verblüfft nach.

    Wenig später machte er sich mit gepackter Tasche auf den Weg in den Speisesaal, wo er schweigend mit dem verschlafen wirkenden Häher ein kurzes Frühstück einnahm. Im Anschluss begaben sie sich gemeinsam zum Portal der Festung.

    In vollem Ornat gekleidet erwartete ihn Ansgar dort. Er hielt einen versiegelten Schriftrollenbehälter in den Händen. Den übergab er an Vidar. Neben dem Archivar stand die Samtpfote. Sie trug den typischen dunkelgrauen Umhang ihres Ordens. Verschlossen war der mit Schnüren und Knebelknöpfen in der Form von Katzenköpfen. Darunter war sie, soweit er erkannte, Hosen und geschnürte Lederstiefel gekleidet. Ihr langes Haar hatte sie mit einer hölzernen Forke zu einem schlichten Knoten hochgesteckt. Ihre dunklen Augen waren wachsam, aber müde. Ihr dünner, heller Eschenstab, den sie im Schulterriemen auf dem Rücken trug, war ähnlich schmucklos wie der Rest von

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