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Ardénia: Die Wiederkunft
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eBook659 Seiten9 Stunden

Ardénia: Die Wiederkunft

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Über dieses E-Book

Nach einem Jahrhundert des Wiederaufbaus bahnt sich erneut Krieg zwischen den Königshäusern Ardénias an. Thalia, die Prinzessin des Wasserstammes, sucht verzweifelt nach einem Weg, ihr Volk vor dem drohenden Unheil zu bewahren.
Zusammen mit ihrem Bruder bereist sie schließlich die gefährlichsten Gebiete des Landes, um die verschollenen Götter Ardénias zu erwecken und damit den nahenden Krieg zu verhindern. Doch nicht nur ihr Gegner, der abenteuerlustige Feuerprinz Skiron, sondern auch die magischen Barrieren der Königreiche stehen ihrem Vorhaben im Weg.
Im Laufe dieser Mission beginnt sie an sich selbst und schließlich auch an ihren Freunden und Feinden zu zweifeln. Als das Schicksal die Vergangenheit ihrer Götter offenbart, scheint das Ende unausweichlich …

Ein packender Fantasyroman, der den Leser in eine Welt voller Magie, Intrigen und Abenteuer entführt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum9. März 2016
ISBN9783734511813
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    Buchvorschau

    Ardénia - Diana Ashton

    Überraschung

    Es war eine ruhige Nacht, nur das Schnaufen der Pferde und das Rascheln der Blätter war hin und wieder zu hören. Doch wenn es eine kleine Brise von der Küste bis hierher schaffte, ließ sie einen wie Frost im Spätherbst erschaudern. Ares warf einen Blick hinauf zu dem von Sternen geschmückten Himmelszelt, dessen tiefer Blauton sie alle wohlig zu umhüllen schien. Der große Mond wirkte mit seinem sanften Beigeton und den seltsamen schemenhaften Mustern wie ein Riese im Vergleich zu seinem Weggefährten. Ein leichtes Grau bedeckte die Oberfläche des kleineren Mondes, der im Hintergrund seines großen Bruders gerade von Wolken bedeckt wurde, nur um kurz darauf wieder schweigsam auf sie hinab zu blicken.

    Bald würden sich die Blätter wieder farbenfroh über das Land erstrecken und die Leichtigkeit der hellen Jahreszeit mit sich nehmen. Aber noch war es Sommer und zwar der bedeutendste Sommer seit vielen Jahren.

    Die teils ungewöhnlich schwüle Nacht erleichterte den Männern ihre Arbeit nicht. Sie lagen bereits seit Stunden hier auf der Lauer und obwohl die Sonne sich längst verabschiedet hatte, klebte sein Unterhemd unter der Rüstung noch immer leicht an der blassen Haut seines Oberkörpers. Dieser Spätsommer war der wärmste gewesen, den es seit Jahren gegeben hatte. Selbst das Atmen fiel einem schwer, ganz zu schweigen vom Marschieren oder Kämpfen. Das Licht der beiden Monde erhellte das Geschehen bei der Festung und ermöglichte den Männern einen ungestörten Blick durch die großen kreisrunden Fenster in den Speisesaal.

    Die Festung Mastérska war in einem bereits erloschenen Vulkan erbaut worden. Der dunkle Stein schien die Hitze der untergegangen Sonne gierig in sich aufgenommen zu haben und verströmte nun eine erdrückende Wärme, die einen dünnen Schweißfilm auf Ares‘ Stirn hinterließ.

    Vulkangestein gehörte zu den robustesten Materialien weit und breit. Eine so gut wie unzerstörbare Festung, die König Romolus als Residenz und militärische Basis diente. Die Burg besaß drei große Haupttürme, die durch eine hohe Mauer und verschiedene Brücken verbunden waren. Im unteren Bereich des Vulkans befand sich das Stadttor, das zu den bescheidenen, aber soliden Wohnhäusern und dem Marktplatz führte. Auf der linken Seite führte der Hauptpfad zu den wenigen Gärten der Stadt, den Häusern der Gelehrten und den königlichen Gemächern, die sich im mittleren Turm befanden. Die anderen beiden Türme dienten militärischen Zwecken und waren mit der halbmondförmigen Stadtmauer verbunden, die von Katapulten und Kanonen gesäumt war. Dunkle Speerspitzen waren entlang der Mauer zu sehen und schienen im Mondlicht bedrohlich zu blitzen.

    Der Feuerkönig war kein sonderlich organisierter Stratege, er bevorzugte die direkte Konfrontation. Seit Jahrzehnten hatte er keine Niederlage erlitten und einzig das Steinvolk konnte sich an seiner Truppenstärke und Ausrüstung messen. So mächtig Romolus war, so vorsichtig war er jedoch auch. Er würde den Krieg nicht beginnen. Zumindest nicht bevor er das Glück auf seiner Seite sah. Ares wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Er und seine Männer hatten sich so postiert, dass sie jederzeit den Saal stürmen konnten, aber durch die dichten Bergsträucher, die sich mit dem festen Stein der Burg verwachsen hatten, auch gut geschützt waren.

    Fast alle Männer waren mitgekommen, nur wenige blieben daheim um das Schloss zu bewachen. Nötig war diese Maßnahme eigentlich nicht, denn niemand würde Schloss Birjusá lebendig erreichen. Doch Ares wollte ganz auf Nummer sicher gehen. Schließlich ließen sowohl er als auch seine Männer Frau und Kind dort.

    Seit nun mehr einem halben Tag harrten sie hier aus. Mit der Dämmerung waren auch sie gekommen und Ares hatte viel Zeit gehabt um über ihr Vorhaben nachzudenken. So lange hatte er seine Tochter nun schon nicht mehr in die Arme schließen können. Doch falls ihr Plan aufgehen würde, wären sie ihrem Ziel einen gewaltigen Schritt näher. Es ging hier schließlich nicht nur um sie, sondern um ein ganzes Volk. Um sein Volk. Wie könnte er von seinen Männern Loyalität und Opferbereitschaft fordern, wenn er nicht bereit war das Selbige zu geben?

    Ganz in der Nähe hörte man Wölfe aufheulen, doch nichts konnte die Konzentration der Männer in diesem Augenblick stören. Heute konnten sie sich keinen Fehler leisten, alles hing von dieser Nacht ab. Wenn es nicht gelingen würde, würden sie nicht nur ihr Verhältnis zu Steinkönig Kronos aufs Spiel setzten, sondern auch noch eine offene Schlacht mit dem Waldvolk riskieren. Ares’ Mund wurde trocken, er schluckte, um den bitteren Geschmack loszuwerden. Die staubige Luft der trockenen Erde bedeckte mit einer feinen Schicht sein Gesicht und er schloss kurz die Augen. Wie kann man nur hier leben, dachte er sich. Das wenige Grün in dieser Gegend wurde vom gewaltigen Anblick des Vulkans beinahe erschlagen. Das Feuervolk lebte teils von der Viehzucht, teils vom Ackerbau. Der leblos wirkende Boden war relativ fruchtbar und schenkte Romolus’ Volk alles, was es benötigte; vor allem diverse Feldfrüchte, denen eine lange Lagerung nichts ausmachte. Zudem dienten die beiden Flüsse des Landes als Frischwasserquelle und wichtigstes Gut der Landwirtschaft. Die Gewinnung von Bodenschätzen und das erfahrene Handwerk machte Mastérska zu einer reichen Stadt; hier fand man die tüchtigsten Schmiede im ganzen Land.

    „Seid wachsam, Männer. Wenn Thalia einen Fehler macht, müssen wir bereit zum Angriff sein. Das Fest ist die einzige Chance für sie, endlich voranzukommen", flüsterte Ares. Im Schein des Mondes nickten die anderen ihm zu, wandten sich danach jedoch sofort wieder mit ausdruckslosen Gesichtern dem fröhlichen Treiben im Festsaal zu. Tapfere Männer, dachte er kurz und voller Stolz. Zu jeder Zeit bereit, ihr eigenes Leben für ihren König und ihr Volk zu opfern. Er blickte auf den schweren Ring an seiner linken Hand. Ein schwungvolles goldenes ‘D’ prangte inmitten der nachtblauen Fassung. Das Symbol des Herrschers, weitergegeben von König zu König. Es war ein Zeichen der Verehrung ihrer Göttin Dysis, der Göttin des Wassers. Ob es nun an der Erziehung oder an der Mentalität des Wasservolkes lag, Loyalität stand immer an erster Stelle. Genau deshalb bestand das Wasservolk noch heute. Deshalb standen sie hier, mit Tapferkeit im Herzen und Mut in der Schwerthand. Deshalb war seine geliebte Tochter Thalia in eben dieser Festung. Und genau aus diesem Grund werden wir diesen Krieg gewinnen, dachte er kurz und spürte dabei wie die Zweifel als unsichtbare Last von seinem Rücken wichen.

    Ares beobachtete seinen Schützling wachsam. Sie machte ihre Arbeit gut. Er hatte auch nichts anderes von seiner besten Kriegerin erwartet. Er hoffte inständig, dass sie nicht gezwungen waren, anzugreifen. Die Gelegenheit war einfach zu verlockend.

    Es war der einundzwanzigste Geburtstag des Feuerprinzen Skiron. Sein Vater Romolus hatte keine Mühen gescheut und ein prächtiges Fest organisiert.

    Typisch für das Feuervolk, große Feste und Alkohol gehörten einfach dazu. Der ganze Raum war hell erleuchtet, schwere silberne Kronleuchter prangten inmitten von Stuck und Deckenmalereien, von den Ecken des Saals blickten steinerne Tierfiguren auf die Menschen herab. Die Wände waren behangen mit riesigen Gemälden, die von berüchtigten Siegen und Schlachten des Feuervolkes erzählten und den Festsaal noch prunkvoller und königlicher erschienen ließen. Die Gäste sangen, tranken und tanzten. Der Duft von Spanferkel ließ Ares das Wasser im Mund zusammen laufen. Er versuchte seinen knurrenden Magen zu ignorieren und sich weiter auf das Geschehen im Inneren der Festung zu konzentrieren.

    König Romolus, der heute ein feines Gewand aus rotem Stoff und goldenen Ornamenten trug, unterhielt sich mit einigen seiner Wachen und deutete dabei auf zwei Männer, die mit einem Krug in der Hand auf dem Tisch eingeschlafen waren. Es schien ein gutes Fest zu sein.

    Am Rande des Saales saß der Feuerprinz zusammen mit einer jungen Frau. Er führte ein angeregtes Gespräch mit ihr, machte hin und wieder Handbewegungen und strich seine roten Haare zurück, dessen Strähnen ihm inzwischen unordentlich ins Gesicht fielen. Die Frau saß ihm gegenüber und hörte ihm lächelnd zu. Ihre blauen Augen strahlten, als der Prinz ein schiefes Lächeln aufsetzte und verstohlen weg sah. Die schwarzen Haare waren zu einer prunkvollen Hochsteckfrisur gebunden worden und sie trug ein langes dunkelblaues Kleid, welches der Prinz für sie ausgesucht hatte, weil sie ihm so gut darin gefiel.

    Auf Ares’ Stirn bildete sich eine tiefe Falte, als er die beiden beobachtete. Er fühlte sich schuldig dafür, dass er seine einzige Tochter in solch eine Lage gebracht hatte. Sie ist in diesem Moment nicht deine Tochter, sondern eine Kriegerin des Wasservolkes, rief er sich in Erinnerung; seine Finger klopften dennoch in stetigem Rhythmus an den Griff seines Schwertes.

    Der Prinz hatte zu Ende erzählt und rang kurz nach Luft. Er sah ihr in die Augen und niemand sagte etwas. Hin und wieder trafen ihre scheuen Blicke aufeinander und sanfte Röte stieg in den Wangen der Frau auf. Er hatte ihr erzählt, dass er heute Abend eine Überraschung für sie habe, doch es war noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

    Sie sah ihm in die Augen, wunderte sich jedoch kurz darüber, warum er einen so langen Umhang trug, obwohl es mehr als heiß im Festsaal war. Sie fächerte sich mit der Hand Luft zu; die laute Musik und das Gelächter der tanzenden Meute weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie hatte sehr oft getanzt in diesem letzten Monat und Skiron war stets an ihrer Seite gewesen.

    Als der Prinz gerade einen neuen Krug Bier orderte, warf sie einen kurzen Blick zum Fenster. In den Büschen bewegte sich nichts. Das war gut, alles war bereit. Der Prinz ahnte nichts. Sie warf ihm ein charmantes Lächeln zu, während das elektrisierende Gefühl des Triumphs langsam in ihr zu kochen begann. Thalia lebte nun seit über einem Monat bei ihm und auch sein Vater, König Romolus, hatte sie herzlichst aufgenommen. Das hätte er nicht tun sollen.

    Sie hatte ihr Ziel fast erreicht, der Prinz war dabei sich in sie zu verlieben und bald würde er ihr vollends vertrauen. Sie würde ihren Vater nicht enttäuschen, sie würde ihr Volk nicht enttäuschen. Thalia hatte plötzlich einen Kloß im Hals, als ihr erneut in den Sinn kam, worum es bei dieser Mission alles ging. Schnell trank sie einen Schluck aus ihrem Becher und wandte sich wieder dem Prinzen zu.

    „Ich bin wirklich froh, dass du zu uns gekommen bist", sagte er. Sie erwiderte sein Lächeln und sah wieder kurz zum Fenster.

    „Das bin ich auch. Ich kann mir ein Leben ohne das alles hier gar nicht mehr vorstellen. Ein Leben ohne dich." Sein Lächeln wurde breiter und die grünen Augen strahlten heller als die Sterne. Sie dachte, kurz etwas in seinen Augen blitzen zu sehen. Er nahm ihre Hand und entblößte seine strahlend weißen Zähne. Sie tat es ihm gleich.

    „Mein Vater mag dich wirklich sehr. Er ist sonst immer sehr misstrauisch Fremden gegenüber, doch du gehörst ja inzwischen schon fast zur Familie", sagte er. Wieder warf sie einen flüchtigen Blick zum Fenster. Sie wusste, dass ihr Vater sie sehen konnte. Er hatte sie immer im Blick und wenn sie ihm ein Zeichen geben würde, würden seine Männer sofort angreifen. Doch die hatte alles unter Kontrolle.

    „Ich fühle mich auch, als würde ich schon zu eurer Familie gehören. Noch nie in meinem Leben war jemand so nett zu mir wie du und dein Volk. Und euer Land ist so wunderschön, ich würde so gerne hier leben."

    „Das kannst du", sagte er schnell. Er nahm ihre Hand und sein Gesicht strahlte Hitze und Vorfreude aus, woran der Alkohol sicher nicht unschuldig war. Es schien, als würde das Gespräch in die richtige Richtung gehen. Es wurde auch Zeit, dachte sie sich.

    „Ich meine, ich bin der Prinz. Ich kann dafür sorgen, dass du für immer hier bleiben kannst. Du brauchst nur einen Ehemann", sagte er und lächelte jetzt noch breiter. Sie kicherte so mädchenhaft wie es nur ging.

    „Womit wir bei deiner Überraschung wären." Endlich ist es soweit, dachte sie sich. Er wird mir einen Heiratsantrag machen. Bald würde sie alle seine Geheimnisse kennen. Und besonders dieses eine Geheimnis, welches ihr Volk vor dem drohenden Krieg retten würde.

    Er lehnte sich zu ihr hinüber und nahm nun auch ihre andere Hand. Seine Hände waren so warm wie Glut und besaßen die wohlige Rauheit der Steinwände, die sie umgaben. Die kleinen Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, als er mit dem Daumen über ihre Handinnenfläche strich. Ihre Gesichter kamen sich näher bis sie nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. Hitze stieg in ihr auf und sie ertappte sich dabei, wie sie den Atem anhielt. Er strich ihr seelenruhig eine schwarze Haarsträhne zurück, die sich im Laufe des Abends aus der Hochsteckfrisur befreit hatte.

    „Ich möchte, dass du für immer hier bleibst", flüsterte er ihr ins Ohr. Seine Worte waren voller Zärtlichkeit und doch dachte sie, einen eisigen Windhauch im Nacken zu spüren.

    „Und ich habe auch einen Weg gefunden. Denn du wirst für immer hier im Kerker schmoren. Ich weiß wer du bist, Prinzessin."

    Sie riss ihre Augen vor Schreck auf. Der Schrei auf ihren Lippen wollte einfach nicht erklingen, während sie sich von Kopf bis Fuß wie in Eis gefangen fühlte. Ihre Hände verkrampften sich und sie merkte, wie Skiron sie festhielt. Ihr Blick blieb am Fenster hängen, unfähig ein Zeichen zu geben. In ihrem Kopf herrschte Chaos. So sollte es nicht ausgehen. Es war doch alles so perfekt gewesen. Doch es war schon zu spät. Die Mission war misslungen.

    Sie hörte wie Skiron durch den Saal brüllte. „Angriff!" Und schon stürmten sie alle herbei. Nicht nur die Wachen, sondern auch der König und die anderen Gäste. Sie bemerkte, dass Skiron plötzlich auch ein Schwert bei sich trug. Zorn flammte in ihr auf.

    Binnen einer Sekunde standen plötzlich drei Dutzend bewaffnete Krieger vom Feuervolk im Saal und alle blickten sie an. Während sich die Schranke in ihrem Kopf langsam zu öffnen begann, hörte sie einen ohrenbetäubenden Lärm hinter sich.

    Auch ihre Männer und ihr V ater stürmten nun durchs Fenster hinein. Der Klang der Glassplitter, die klirrend auf den harten Steinboden fielen, weckte sie schließlich aus ihrer Starre. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Skiron sich ihr zuwandte und sein Schwert erhoben hatte. Blitzschnell wich sie seinem Hieb aus und landete direkt hinter seinem Rücken. Mist, dachte sie als sich das Kleid um ihre Beine wickelte. Ganz schlechter Zeitpunkt für ein bodenlanges Kleid. Der Prinz fuhr herum und sah, dass auch Thalia ein Messer bei sich trug. Ihr Gesicht war nicht mehr sanft, sondern von Wut und Kampfeslust erfüllt. Er konnte ihrem Hieb nur knapp ausweichen, da spürte er schon, wie sich ein Messer in seinen rechten Arm bohrte. Ein kurzes Stöhnen entglitt ihm. Ein zusätzlicher Dolch? Wo an diesem Kleid hatte sie den bitteschön versteckt! Er drehte sich hastig um, darauf bedacht, Thalia nicht aus den Augen zu lassen. Er wusste, dass das Wasservolk ein Kriegervolk war, doch er wusste nicht, dass sie so gut kämpfen konnte, auch wenn er damit hätte rechnen müssen. Schließlich war sie Ares’ Tochter.

    Und genau dieser stand nun vor ihm, ein blutiges Langschwert in der Hand. Ares attackierte ihn blitzschnell, doch Skiron wich ihm aus und nutzte den Schwung für einen Konter. Er holte aus und traf Ares an der Schulter. Es folgte ein Schrei – er kam jedoch von Thalia, die zu ihrem Vater rannte, Skiron jedoch nochmal am verletzten Arm traf. Er zuckte vor Schmerz zusammen, doch jetzt konnte er sich keine Schwäche leisten. Wenn er beide heute umbringen würde, wäre die Sache endgültig geklärt. Mit Kronos würde er mit Megeiras Hilfe fertig werden.

    Das Adrenalin erfüllte seinen Körper mit einem bebenden Gefühl und der Lärm der kämpfenden Soldaten um ihn herum ließ ein Hochgefühl in seiner Brust aufflammen. Er schnappte kurz den kupfernen Geruch von Blut auf, der sich mit einer rauchigen Note zu vermischen schien. Thalia und Ares standen nun Rücken an Rücken; sie war Skiron zugeneigt und funkelte ihn mit einer Wut an, als würde ihr bloßer Blick ihm die Haut von den Knochen brennen können.

    Er stürmte auf die beiden zu, bereit es zu Ende zu bringen. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Es waren Männer vom Wasservolk. Er drehte sich um. Chaos breitete sich im Kampfgetümmel aus. Wo war nur sein Vater? Ich muss mich um Thalia und Ares kümmern, sie dürfen nicht entwischen, dachte er mit zusammengebissenen Zähnen, während er die Hiebe zweier Wasserkrieger abblockte. Noch während er mit den beiden Fremden kämpfte hörte er, wie Ares „Rückzug!" brüllte und gleich darauf sah er, wie Thalia sich in einen hellblauen Falken und Ares sich in einen dunkelblauen Wolf verwandelte. Skirons Fluch ging im Lärm des Trubels unter. Unverzüglich eilten die Wasserkrieger aus der Festung.

    „Nein! Haltet sie auf", brüllte er. Verdammt! Die Wut über das vorzeitige Aus des Kampfes stieg in ihm hoch. Er wollte ihnen nach, wollte sich ebenfalls verwandeln, doch da spürte er eine Hand auf seiner gesunden Schulter. Er blickte sich um, es war sein Vater Romolus. Skiron suchte ihn kurz mit den Augen nach möglichen Verletzungen ab, doch anscheinend fehlte ihm nichts. Der König des Feuervolkes war ein paar Zentimeter kleiner als sein Sohn, die kräftigen Arme und das breite Kreuz verrieten jedoch, dass er diesem im Kampfe um nichts nachstand. Das dunkelbraune Haar, das sonst schulterlang war, hatte er mit einem Lederband zusammen gebunden und nach dem Kampf hingen ihm nun mehrere Strähnen ins braungebrannte Gesicht. Starke braune Augen blickten Skiron an und trugen das Gefühl von Stolz und Weisheit in sich.

    „Vater, sie sind noch nicht ganz weg! Ares würde nie ohne seine Männer fliehen, er wartet draußen auf sie! Wenn wir jetzt raus gehen, dann …"

    „Nein, mein Sohn. Diese Schlacht ist vorbei, Ares hat seine Truppen zurückgezogen", unterbrach ihn Romolus. Während es langsam stiller um sie wurde und das Adrenalin des Kampfes der Erschöpfung wich, blickte er zum Fenster, durch das die Männer vom Wasservolk nun wieder hinaus in die Dunkelheit flohen. Es gab Verluste auf beiden Seiten. Sie würden in den nächsten Tagen keinen erneuten Versuch starten. Töricht, zu denken, sie hätten die Überraschung auf ihrer Seite. Thalia hatte gedacht, sie könnte alle täuschen. Ihr Plan war mehr als fehlgeschlagen.

    Der wutentbrannte Blick der Wasserprinzessin kam ihm wieder in den Sinn. Wie sie vor ihm stand, das blaue Kleid unten zerrissen, die wilden Haarsträhnen, die ihr blasses Gesicht umrahmten. So wunderschön und tödlich zugleich.

    Ein bitterer Geschmack lag auf Skirons Zunge und er war versucht, auf den Boden zu spucken. Er widerstand dem Drang und wandte sich stattdessen vom Fenster ab. Romolus blickte wieder zu seinem Sohn. Er sah in dessen Gesicht, dass er vor hatte, ihm erneut zu widersprechen und kam ihm zuvor.

    „Skiron, es ist genug. Ich hatte nie damit gerechnet, dass wir sie heute Abend töten würden. Genauso wenig hatte ich mit so vielen Wasserkriegern gerechnet." Er sah sich in seinem Speisesaal um, der nach diesem Gefecht nicht mehr ganz so punktvoll wirkte. Die Fenster waren zerstört, die Tische und Stühle zerschlagen worden. Der teure Wodka sammelte sich in Form einer Pfütze auf dem dunklen Steinboden an. Überall leuchtete frisches Blut in zwei unterschiedlichen Farben. Rotes Blut von seinen eigenen Männern und blaues Blut, das Blut des Wasservolkes. Wenn sich das Blut vermischte, leuchtete es in einer weißen Farbe, die für manche gespenstisch wirkte. Skiron hatte das immer schon faszinierend gefunden, doch ihm spukten noch die Kampfszenen im Kopf umher. Bei Astat, ich hätte nie gedacht, dass sie so gut kämpfen kann, dachte er und erinnerte sich daran wie behände sie seinen Schlägen ausgewichen war und ihn präzise an der Schulter erwischt hatte.

    „Wir haben durch diesen Abend rein gar nichts gewonnen", sagte Skiron mit enttäuschter Miene und feuerte sein Schwert frustriert in einen der Holztische. Die Aufregung war verschwunden, sein Körper war müde, jeder seiner Muskeln schmerzte. Er sah auf den Boden, in Gedanken versunken. Romolus strich sich mit der Hand durch seinen dunklen Bart und steckte sein Schwert zurück in die Scheide.

    „Das ist nicht wahr, mein Sohn. Sie wissen nun, dass der Krieg unvermeidlich ist. Sie wissen auch, dass wir es ernst meinen."

    Eine der seltenen kühlen Brisen wehte vom zerbrochenen Fenster herein und streifte Skirons Rücken wie die schlanken Finger einer schönen Frau, von der man nicht wusste, ob sie Realität oder Traum war. „Und das Wichtigste ist, dass sie nicht wissen wo wir es versteckt haben." Skiron schaute seinen Vater ernst an, dann nickte er. Unseren Teil des Menaléms.

    Seine Muskeln entspannten sich allmählich. Er spürte, wie ihm noch immer warmes Blut aus dem Arm quoll, doch es störte ihn nicht mehr. Die Brise wirkte wie ein Wundermittel, der Schmerz ließ auf der Stelle nach. Er schloss die Augen und spürte, wie jeder seiner Muskeln sich langsam lockerte und ein wohliges Gefühl im Körper verströmte. Er konnte sich jetzt nicht darüber Gedanken machen, es gab wichtigere Dinge.

    Skiron zog mit einem Ruck sein Schwert aus dem Holztisch und steckte es zurück in die Scheide, die er unter seinem Umhang verbarg. Er verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zu den königlichen Gemächern. Nächstes Mal bin ich besser vorbereitet, Prinzessin, dachte er, während er sich mit der blutbefleckten Hand durch das Haar strich. In seiner Schwerthand begann ein Muskel zu zucken. Auch wenn dieser bedeutsame Tag vergangen war, so schien alles gerade erst anzufangen.

    Demut

    Der kühle Windhauch tat ihr gut. Sie wollte nur noch hinaus in die Dunkelheit und den heutigen Abend vergessen. Mit jedem Flügelschlag wurde sie ruhiger und besann sich, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Reiß dich zusammen , sagte sie zu sich selbst und versuchte, ihre Schuldgefühle nur für kurze Zeit zu vergessen.

    Thalias Blick wanderte zu ihrem Vater am Boden. Der blaue Wolf rannte nicht so schnell wie seine wendige Gestalt es sonst ermöglichte. Zum einen nicht, weil ein Anführer mit seinen Männern Schritt hielt und zum anderen, weil seine Verletzungen ihm nicht erlaubten, zu rennen. Auch die anderen Krieger sahen erschöpft aus. Doch der Gedanke an die Ruhe und Wärme des Kaminfeuers, welches im Schloss auf sie wartete, trieb sie voran. Die Müdigkeit hielt sich wie unter einem schweren Mantel verborgen und schien geduldig auf ihre Rückkehr zum Schloss zu warten.

    Thalia flog als blauer Falke über dem Trupp hinweg und behielt das Geschehen im Blick. Es waren mehrere Tagesmärsche von Mastérska zur großen Quelle und Thalia hoffte inständig, dass der Weg dorthin ihnen nicht noch mehr Männer nehmen würde. Während die rotbraune Erde, die das Land von Romolus bedeckte, mehr und mehr dem leichten Grün der Küste wich, drängten sich zu viele Gedanken in ihren Kopf. Dabei wollte sie doch einfach nur vergessen, dass dieser Abend je stattgefunden hatte.

    Er hat es die ganze Zeit über gewusst, dachte sie und Wut und Scham kochten erneut in ihr hoch. Dieser Mistkerl von einem Prinz hatte gewusst wer ich bin. Einen ganzen Monat lang hatte sie sich verstellt und wofür? Frustration übermannte ihren Körper und sie schwebte für einen Augenblick tiefer als sonst. Verbissen suchte sie nach dem Fehler, der sie vielleicht verraten hatte und stolperte unweigerlich über Situationen, in denen sie versuchte, dem Prinzen zu gefallen und seine Gefühle für sie zu wecken. Sein charmantes Auftreten hatte sie keinerlei Verdacht schöpfen lassen.

    Das Gefühl, ihren Vater enttäuscht und versagt zu haben, prangte in ihrem Kopf wie die Vulkanfestung Mastérska, die sie fluchtartig verlassen hatten. Dieses Gefühl schikanierte jeden anderen Gedanken, der sich einschlich.

    Sie ließen das bergige Feuerland hinter sich und passierten die mit Moos bewachsene Steinbrücke, die über die Enge von Yroh führte. Endlich wieder Wasser, endlich wieder Leben, dachte sie sich und das Heimweh, welches sie die ganzen Wochen über verdrängt hatte, schien sich nun aus ihrem Herzen zu ergießen. Sie blickte nach rechts und sah das endlose Meer vor sich, das in kraftvollen und stetigen Wellen gegen die Steilküste schlug und Gischt aufschäumen ließ. Der salzige Geruch und der Wind, der sie liebevoll wie ein Familienmitglied zu umarmen schien, hießen sie willkommen. Hinter der Enge begann das seenreiche und grüne Land des Wasservolkes.

    Sie kamen mit der Abenddämmerung an der großen Quelle an. Die Wassermenschen verehrten diese scheinbar niemals endende Quelle von Frischwasser und Fisch. Ein riesiges Waldgebiet umschloss das Gelände und zog sich bis zu den kleineren Seen im Süden des Landes. Die Seen waren über Flüsse verbunden und meistens auch der Sitz kleinerer Städte und Dörfer. Neben der Hauptstadt Birjusá befand sich noch die Gelehrtenstadt Lubos am Ufer des Kwin und die große Hafen- und Handelsstadt Menáos an der südlichen Meerenge auf dem Land des Wasservolkes. Ein durchaus spannender Ort mit vielerlei seltsamen Menschen, so erzählte man sich. Dort gewesen war Thalia nie; solche Dinge vertagte sie stets auf später. Auf die Zeit nach dem Krieg.

    Sie flog auf den Boden, wartete auf ihre Männer und auf Ares, die nur wenige Minuten länger brauchten. Thalia versuchte, einen Blick auf das Gesicht ihres Vaters werfen zu können, um zu sehen, wie er sich fühlte, doch er wandte sich ab. Ihre Brust fühlte sich an als würde eine Hand aus Stein ihr Herz umklammern. Er ist enttäuscht. Wie sollte es auch anders sein. Sie hasste sich ja selbst dafür, dass sie es nicht geschafft hatte, dem Prinzen das Geheimnis über sein Menalémteil zu entlocken.

    Ares trat vor die Quelle und ging voran. Sie folgte ihm und die Männer taten es ihr gleich; sie alle schwebten wenige Zentimeter über dem Wasser. Dies war keine gewöhnliche Quelle. Sie war so alt wie ihre Welt selbst und diente dem Wasservolk seit jeher als Unterschlupf. Unter diesem See befand sich das Schloss des Wasservolkes, Birjusá. Mein Zuhause.

    Niemand sagte etwas, während sie sich auf die Mitte der Quelle zu bewegten. Thalia sah hinunter in den See und ein flüchtiges Lächeln entglitt ihren Zügen, als sie die Wesen sah, die sie schon seit ihrer Kindheit faszinierten.

    Meermenschen, sowohl Mensch als auch Fisch. Der schuppige, blaugrün schimmernde Körper schlängelte sich lautlos und grazil durchs Wasser, während die Flossen, die sich an ihren Armen befanden, sie leiteten. Sie besaßen runde Augen, in denen sich die Besonnenheit der Wellen widerspiegelte und ihr Kopf verlief spitz nach oben und endete mit einem kronengleichen Muster. Sie schwammen wie wunderschöne Engel durchs Wasser, den Blick auf die Männer gerichtet. Als Kind hatte sich Thalia immer vorgestellt, dass Dysis die Meermenschen geschickt hatte, um auf sie und auf ihr Volk achtzugeben. Es schien, als würden sie singen, doch Thalia konnte nie etwas hören. Sie hatte die Meermenschen nie berühren können. Ihre Mutter hatte ihr früher oft Geschichten über diese Wesen erzählt. Warum sie jedoch in dieser Quelle schwammen, hatte sie nie gesagt.

    Sie entzog sich ihrer Traumwelt wieder und blickte nach vorne, wo Ares nur noch wenige Meter vom Eingang Birjusás entfernt war. Ein Strudel war etwas sehr ungewöhnliches für eine Quelle. Nichtsdestotrotz wirbelte genau in der Mitte des Sees ein solcher Sog aus unbändigen Wassermassen. Niemand, der am Leben hing, würde sich ihm nähern.

    Ares trat ruhig voran, den Blick auf das sprudelnde Wasser gerichtet, welches jeden noch so unflätigen Seemann zu einem Gebet veranlassen würde. Als er schließlich dort war, wurde er augenblicklich verschluckt. Thalia tat es ihm gleich, sie wollte nur noch in ihr Bett. Sie trat in den Strudel und spürte, wie ihr Körper verschwand und ins Wasser gezogen wurde. Die Wellen schmiegten sich wie eine zweite Haut an ihren Körper und hüllten sie in einen Kokon aus Wohlbefinden ein. Sie schloss die Augen und genoss die Sekunde Glückseligkeit, in der sie all ihre Sorgen von sich schieben konnte.

    Der Moment ging viel zu schnell vorüber und ehe sie dieses Gefühl gespürt hatte, war sie auch schon wieder auf festem Boden aufgekommen.

    Sie öffnete langsam die Augen und trat ein paar Schritte zur Seite, um den übrigen Männern Platz zu lassen. Einer nach dem anderen trat ein und folgte ihrem Anführer Ares, der nun bereits dem gepflasterten Pfad betrat, der zu den Toren des Schlosses führte.

    Das große Tor war nur wenige hundert Meter vom Eingang entfernt. Das Schloss Birjusá, welches aus weißem Stein gefertigt wurde, leuchtete regelrecht gegen die Dunkelheit der Höhle an. Doch mit den Millionen von Edelsteinen, die die sonst schwarzen Höhlenwände rund um das Schloss bedeckten, konnte es nicht konkurrieren. Die riesige Höhle, die das Schloss versteckte, lag genau unter der großen Quelle und war schon zur Anfangszeit der Isbrana errichtet worden. Kein Fremder hatte es jemals bis hierher geschafft.

    Ihr Blick folgte dem gigantischen Fluss, der sich rings um das Schloss erstreckte und in dem sie jede Nacht schwamm, um vom Wasser aus die wunderschönen Diamanten zu bestaunen.

    Thalia zwang sich wieder in die bittere Realität zurück. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass sie ihren Vater heute noch um Vergebung bitten musste und sie setzte ihren Weg mit trockenem Mund fort.

    Rings um den Fluss befanden sich die übrigen Wohnhäuser, ebenfalls bestehend aus weißem Stein und geformt wie kleine Türme. Das Schloss an sich hatte viele verwinkelte Gänge und Räume, die sich teilweise über mehrere Etagen zogen. Es war sehr prunkvoll; ein großer Balkon, der sich um den ganzen Hauptturm schlängelte, wurde von eingravierten Verzierungen geschmückt. Von den Turmspitzen und Treppengeländern blickten weiße Statuen zur funkelnden Decke oder auf den reflektierenden Fluss. Edle Ritter auf ihren Rössern, trauernde Jungfrauen oder beflügelte Engel, die frohe Botschaften überbrachten. Von den unterschiedlichen Etagen strömte wildes Wasser aus mit Gold verzierten Wasserspeiern, um gleich darauf wieder vom Fluss aufgefangen zu werden. Sie passierte den kleinen Platz vor dem Schloss, der einen großen Springbrunnen beherbergte. Goldene Meermenschen umrankten eine Statur ihrer Göttin Dysis, die mit weisen Augen auf sie herab blickte. An ihrem langen Gewand floss Wasser herab; es schien als würde sie sogar aus Wasser bestehen. Thalia blickte ihr in die steinernen Augen und hatte das Gefühl, auch sie enttäuscht zu haben. Sie wandte ihren Blick ab und ging weiter.

    Im Schloss angekommen, entledigte sie sich ihrer Waffen und machte sich auf die Suche nach ihrem Vater. Sie vermutete ihn und die Männer im Krankensaal und machte sich auf den Weg. Vorbei an den Gemälden der alten Könige schritt sie durch die hohen Flure und trat schließlich ein.

    Sie waren alle dort, die Männer lagen in Decken eingehüllt in den Pritschen und hier und da wurde ein Gespräch geführt, während andere bereits eingenickt waren. Ihre Mutter Anathole war sicher irgendwo hier, verpflegte die Verletzten und gab den anderen Heilerinnen Anweisungen.

    Ares saß auf einem Stuhl vor dem Kamin, eine tiefe Falte zog sich über seine Stirn, die grauen Strähnen in seinem dunklen Haar glitzerten im Schein des Feuers.

    Thalia spürte Angst. Keine Angst vor ihrem Vater, sondern Angst, seine Gefühle offen zu hören. Sie atmete noch einmal ruhig und ging auf ihn zu.

    „Es tut mir leid. Ich habe versagt", flüsterte Thalia. Sie saß neben ihrem Vater und betupfte dessen Wunden mit einer speziellen Salbe. Es war zum Glück nur eine leichte Verletzung, doch auch das konnte gefährlich sein. Der König war schließlich keine Zwanzig mehr und jede Verletzung bedeutete ein Risiko. Doch sie war sich ganz sicher, dass er in den Händen ihrer Mutter schnell wieder vollkommen geheilt sein würde.

    Er schwieg. Sie warf einen scheuen Blick auf ihren Vater, er hatte wirklich schon besser ausgesehen. Seine grauen Augen wirkten müde und blasser als sonst. Die Falten um seine Augen traten deutlich hervor und graue Stellen schimmerten in seinem sonst so dunklen Bart. Das Kaminfeuer umhüllte sie mit seiner Hitze, Thalias Muskeln lockerten sich, ihr Geist wurde müde.

    Warum habe ich versagt? Meine Fehltritte wirken sich auf unser ganzes Volk aus. Sie hatte Tränen in den Augen, verbarg diese jedoch hinter ihren Haaren. Ihr Vater spürte, wie ihre Hände zitterten, doch er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, also ignorierte er es. Er wollte ihr irgendwie helfen, wusste jedoch nicht wie. Wenige Meter entfernt lagen seine Männer, manche leicht, andere weniger leicht verletzt. Anathole machte ihre Sache wie jedes Mal wieder hervorragend.

    Ares’ Blick wanderte zu seiner geliebten Königin, die gerade einer anderen Heilerin das richtige Auswaschen einer Wunde erklärte. Er lächelte. Thalia ähnelte ihrer Mutter so sehr. Die Äußerlichkeiten waren leicht auszumachen. Beide hatten dasselbe schwarze, lange Haar und die stechend blauen Augen, die ihn seit jeher in ihren Bann gezogen hatten. Sie hatten dieselben hohen Wangenknochen und dichten Wimpern. Auch die Güte und Hingabe hatte Anathole ihrer Tochter bereits in die Wiege gelegt.

    Dann musste er wieder lächeln und seine Augen strahlten kurz heller als die Flammen im Kamin. Wenigstens gab ich ihr Loyalität und die Talente im Kampf, dachte er stolz.

    Er wandte seinen Blick von Anathole ab und sah seiner Tochter in die Augen. Selbst hinter dem Vorhang von schwarzem Haar konnte er etwas Blaues leuchten sehen. Es gab so viele Dinge, die früher unwichtig oder widersprüchlich erschienen und die man erst richtig verstand, als man selbst Vater wurde. Er legte eine Hand auf die Schulter seiner Tochter. Kinder, egal wie alt sie sind, werden nie in der Lage dazu sein, sich durch die Augen ihrer Eltern zu sehen. „Du hast deine Sache gut gemacht. Wir haben es jederzeit in Betracht gezogen, dass sie dahinter kommen. Er strich Thalias Haare zurück und begegnete ihrem Blick. In ihren Augen las er Scham, Trauer und Demut. „Nein Vater, ich hätte überzeugender sein müssen. Ich habe meine Rolle nicht gut genug gespielt und unsere wahrscheinlich beste Chance vertan, an das Menalémteil zu gelangen. Das ist unverzeihlich. Wieder schlichen sich Tränen in ihre Augen. Ares tat es im Herzen weh, sie so leiden zu sehen und er strich ihr kurz über die Wange. Ja, sie ist Soldat in meiner Armee, dachte er sich, aber in erster Linie ist sie meine Tochter. „Kronos wird uns jederzeit beistehen", sagte er dann und streichelte ihr über den Kopf, auch wenn ihm beim Gedanken an Kronos Abscheu durch den Körper fuhr. Mit der anderen Hand wischte er ihre Tränen weg und schenkte seiner einzigen Tochter ein liebevolles Lächeln.

    Ja, er wird uns beistehen, dachte sich Thalia. Natürlich würde er das. Er bekam schließlich etwas dafür. Ihre Gedanken verfinsterten sich noch mehr und sie befürchtete, würgen zu müssen.

    Der Krieg würde kommen, doch konnten sie wirklich gewinnen? Oder kämpften sie auf verlorenem Posten? Sie versuchte, diese Gedanken zu verdrängen und beobachtete ihre Mutter. Königin Anathole machte gerade einen Kräuterumschlag für einen der Männer. Sie verstreute die Kräutermixtur mit solch einer Ruhe und Anmut, dass man regelrecht in den Schlaf gewogen wurde. Anathole bemerkte ihre Blicke und lächelte Thalia an. In ihrem Lächeln spiegelte sich die ganze Güte und Herzlichkeit ihres Charakters wider und Thalia fragte sich, ob sie wohl jemals so eine innere Stärke wie ihre Eltern haben würde.

    Ein dunkelhäutiger Mann mit schwarzem Haar und dunklem Bart betrat den Raum. Sein blickte schweifte umher, bis er schließlich bei Ares hängen blieb. Der Wasserkönig wurde wachsam und seine Muskeln spannten sich kurz an.

    „Thalia, ich glaube es ist besser wenn du dich jetzt etwas hinlegst. Es war ein anstrengender Tag und du siehst ziemlich müde aus", sagte Ares und riss sie damit aus ihren Gedanken. Sie nickte wortlos, stand auf und ging aus dem Raum; vorbei an dem fremden Mann, der sie still musterte.

    Nur ein paar Türen weiter war ihr Zimmer. Thalia fühlte sich seltsam leer. War es nur das Gefühl versagt zu haben? Oder war es die Müdigkeit? Wann hatte sie überhaupt das letzte Mal etwas gegessen?

    Sie stellte sich vor ihren Spiegel und versuchte mühsam, die ganzen Haarklammern zu entfernen ohne sich gleich ganze Haarbüschel dabei herauszureißen. Sie fühlte sich einfach nicht wohl, wenn ihre Haare zusammen gebunden waren. Auch das dunkelblaue Kleid engte sie ein. Und es hat eindeutig schon bessere Zeiten erlebt, dachte sie, während sie die letzten Fetzen des teuren Stoffes in die Ecke war und sich das getrocknete Blut von der Haut wusch. Das Wasservolk war für seine blasse Haut bekannt. Einzig in der Hafenstadt Menáos gab es viele dunkelhäutige Menschen. Die meisten Leute hier hatten ebenfalls dunkles Haar und helle Augen. Sie war dadurch auf Mastérska ziemlich aufgefallen. Das Feuervolk besaß gebräunte Haut, bräunliches Haar und meistens auch dunklere Augen. Grüne Augen, wie die von Prinz Skiron, waren dort eine Seltenheit. Ihre Züge waren auch nicht so fein wie die des Wasservolkes.

    Beim Anblick des zerrissenen Kleides, welches wie unerwünschter Ballast in der hintersten Ecke ihres Zimmers gelandet war, dachte sie kurz an ihre Zeit auf Mastérska zurück.

    Es war schrecklich gewesen dort zu leben, auch wenn es nur einen Monat gedauert hat. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie die Menschen dort in Betten schlafen konnten. Sie hatte schon oft davon gehört, doch verstehen konnte sie es immer noch nicht. Sie sah herüber zu ihrem Schlafplatz – ein Becken, gefüllt mit Wasser. Vorher hatte sie die Festung noch nie von innen gesehen. Geschweige denn, dass sie dem König und dem Prinzen jemals so nahe gewesen war. Sie war so in ihrer Rolle gewesen, dass sie nach einer Weile fast nicht mehr unterscheiden konnte, welche Gefühle echt und welche gespielt waren. Wie lange hatten sie es schon gewusst? Wie konnte Skiron sie so täuschen? Sie war immer der Meinung gewesen, dass er kein besonders guter Lügner war.

    Es klopfte an der Tür. Thalia schreckte auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Ja", sagte sie laut und deutlich, nachdem sie sich schnell einen Morgenmantel umgelegt und kurz durchgeatmet hatte. Zaghaft wurde die Tür geöffnet. Es war ihr Bruder Germain.

    „Störe ich dich", fragte er und strich zaghaft durch sein dunkles Haar. Thalia überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf und Germain trat ein. Sie hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt. Er war ein paar Jahre älter als sie und als einziger Sohn von Ares der Thronfolger des Wasservolkes. Er lehnte sich ihr gegenüber an die Wand und musterte sie mit einem stillen Grinsen, welches sicherlich dem zerrissenen Kleid zu seiner Linken zu verdanken war. Germain hatte die grauen Augen ihres Vaters geerbt und ebenso das markante Gesicht. Der stoppelige Dreitagebart hatte denselben dunklen Braunton wie sein Haar. Thalia sah ihm in die Augen, wurde aus ihm jedoch nicht schlau. Hatte Ares ihn geschickt?

    „Es war nicht deine Schuld, sagte er schließlich in ruhigem Ton. Sie bemerkte, dass er eine Binde an der Hand trug; auch er war bei der heutigen Schlacht dabei gewesen. Er folgte ihrem Blick und ließ die Hand sofort unter sein Hemd gleiten. Thalia wandte sich ab, sie hatte keine wirkliche Lust jetzt einer seiner motivierenden Reden zu lauschen. „Ich kann das jetzt wirklich nicht gebrauchen, Germain, sagte sie und spürte Frustration in sich hoch steigen.

    „Ich habe nicht vor, dein Händchen zu halten oder dir eine Schulter zum Ausweinen anzubieten, Schwester." Thalia stockte kurz und blickte ihn dann verwirrt an. Das Grau seiner Augen war so tief und schwer, dass ihr Herz ruhiger schlug, wenn sie ihn ansah.

    „Du hast dich verletzt." Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

    „Ja, sagte er ruhig und ein wenig gelangweilt. „Es ist nur eine kleine Schnittwunde, Alysiá hat das schnell wieder hin bekommen. Alysiá war Germains Frau und Thalias Schwägerin. Sie erwartete ein Kind von ihm. Thalia mochte sie,

    inzwischen hatten sie ein schwesterliches Verhältnis zueinander. Andere Geschwister als Germain hatte Thalia nicht und so war es schön, eine Schwester dazu gewonnen zu haben.

    Was für Sorgen musste sie sich heute gemacht haben? Schwanger zu Hause, der Mann kämpft auf feindlichem Gebiet um sein Leben und wird vielleicht nicht wiederkehren? Daran wollte sie nicht denken. Ihre Schuldgefühle und der Selbsthass wuchsen sowieso schon mit jeder Minute.

    „Ich bin nur hier, damit du dich wieder fängst. Wenn du mit dir nicht zufrieden bist, dann fängt auch dein Volk an, unruhig zu werden." Er machte eine kurze Pause und wartete auf ihre Reaktion. Es schien, als wäre in ihren Augen wieder mehr Leben zu sehen.

    „Solche Dinge passieren nun einmal. Daran ist niemand schuld und wir sollten es vergessen. Es ist Vergangenheit. Du bist eine Kämpferin, Schwesterchen. Lass dich von einem Rückschlag nicht aus der Bahn werfen." Es folgte eine Pause, in der niemand von beiden sprach. Er wartete auf eine Antwort von ihr, sie dachte über seine Worte nach.

    „Du hast recht", sagte Thalia schließlich. Germain grinste sie an, sie erwiderte ein schwaches Lächeln. Sie konnte nicht anders als liebevoll zu ihrem Bruder hinauf zu blicken. Er findet immer die richtigen Worte.

    „Du bist viel stärker, als du es dir zutraust, Schwesterchen. Schlaf gut, du kannst gerne zu mir kommen, falls du reden willst", sagte er und ging mit einem sanften Lächeln auf den Lippen aus dem Zimmer und schloss die Tür.

    Thalia schloss mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen die Augen und dankte ihrem Bruder innerlich dafür, dass er es immer wieder schaffte, dass ihre Probleme nicht mehr so groß aussahen, wie sie in Wirklichkeit waren. Sie legte sich in ihr Becken. Ein entspanntes Stöhnen entfuhr ihr als sie das Wasser berührte. Wie schön es war, wieder normal schlafen zu können. In Mastérska musste sie erst abwarten, bis alle eingeschlafen waren, um sich aus dem Zimmer zu stehlen und ins Bad zu schleichen. Das normale Wasser war zwar nicht so angenehm wie das hier, doch es war besser als diese Betten. Hier benutzte man zum Schlafen Kristallwasser, welches sich tief unter dem Schloss befand. Im Gegensatz zum normalen Wasser wurde man dabei nicht nass. Man lag zwar im Becken und spürte die leichten Wellen und die zarte Berührung des Wassers, doch wenn man aufstand, war man ganz und gar trocken.

    Doch sie konnte nicht einschlafen. Zu viele Gedanken quälten sie. Thalia beschloss, noch einmal zu ihrem Vater zu gehen und mit ihm zu reden. Sie stand auf, zog sich erneut den Mantel über und machte sich auf den Weg durch die dunklen Gänge des Schlosses. Zu dieser Uhrzeit waren die Flure verlassen und luden mit ihrer friedvollen Stille fast schon zum Träumen ein. Ares würde wahrscheinlich noch zusammen mit Anathole im Krankensaal sein. Manche Männer sollten über Nacht dort bleiben und Ares würde sie nicht alleine lassen. Mit einer Kerze in der Hand huschte Thalia den alten Korridor entlang, beobachtet von ihren Vorfahren, den großen Königen der alten Zeit.

    Im Krankensaal brannte noch Licht, die Tür stand einen Spalt breit offen. Der Geruch von ihr unbekannten Kräutern drang bis in den Flur vor. Sie näherte sich dem Eingang und lauschte den Stimmen, die gedämpft durch die dicken Wände zu hören waren. Eine Stimme gehörte ganz klar ihrem Vater und sie wollte eintreten. Doch sie stockte, als sie eine fremde Männerstimme hörte.

    „… und Thalia darf von all dem nichts erfahren."

    Sie zog ihre Hand vom Türgriff und wich zurück. Kurz schaute sie sich um, es war niemand in der Nähe. Sie atmete ruhig und gleichmäßig, um keine Geräusche von sich zu geben und presste ihre Hände flach an die kühle Steinmauer neben sich. Die Stimme des Unbekannten war sehr tief und voll, sie kam ihr nicht bekannt vor. Wer war dieser Mann? Was durfte sie nicht wissen?

    „Natürlich, nuschelte ihr Vater. Er klang ziemlich erschöpft. „Aber mir ist nicht ganz wohl bei der Idee, sie anzulügen. Sie ist meine einzige Tochter. Das Geräusch von Schritten ließ Thalia zusammen zucken, doch wer auch immer es gewesen war, bog nicht in diesen Korridor ein. Vorsichtig drückte sie ihr Ohr an die Tür, um besser hören zu können. Wo war überhaupt Anathole? Ares schien allein mit dem Mann zu sein.

    „Das verstehe ich natürlich. Aber ich denke, es wäre das Beste, wenn die Prinzessin davon nichts weiß. Und dieser Ansicht ist auch Romolus." Romolus? Er ist der König des Feuervolkes, er hat mit den Angelegenheiten unseres Königreichs nichts zu tun, dachte Thalia sich. Sie runzelte die Stirn und versuchte, einen Blick durch den kleinen Spalt zu werfen. War dieser Mann etwa vom Feuervolk? Unmöglich, er hätte das Schloss niemals betreten können.

    Sie blickte durch den Spalt und blinzelte im Angesicht des hellen Kaminfeuers kurz. Der Fremde war schwarz und ziemlich groß, er musste über zwei Meter messen. Seine Schultern waren gigantisch. So wie er da auf diesem kleinen Stuhl hockte wirkte er geradezu wie ein Hüne. Thalia konnte nur die Hälfte seines Gesichtes erkennen, die andere hatte er ihrem Vater zugewandt. Er hatte braune Augen, eine Glatze und einen dunklen Bart. Vom ersten Eindruck her würde sie ihn auf Mitte, vielleicht auch Ende Dreißig schätzen. Sie kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Lippe. Irgendwie kam er ihr bekannt vor … Doch wo hatte sie ihn schon einmal gesehen? Sie kam einfach nicht drauf.

    Thalia stockte der Atem. Für einen kurzen Augenblick dachte sie, ihr Vater hätte sie an der Tür gesehen. Sie trat ein wenig zurück und versuchte, ihren Atem zu kontrollieren. Dann lauschte sie wieder den Stimmen. Wenn Ares sie gesehen hatte, hätte er doch sicherlich irgendetwas gesagt, oder?

    „Sie wollen also nicht, dass ich Thalia erzähle, dass wir das Menalémteil zu Saphínya gebracht haben", fragte Ares, den Blick auf die Tür geheftet.

    „Nein", antwortete der Fremde bestimmt. Ares musterte ihn und nickte schließlich.

    „Wenn sie es in irgendeiner Weise doch erfahren sollte, wissen sie ja, worauf das hinaus läuft." Der Fremde grinste wissend. Ares’ Gesicht wurde eine Maske aus Trauer und Fassungslosigkeit. Thalia zuckte augenblicklich zusammen. So hatte sie ihren Vater noch nie gesehen. Sie konnte ihn nicht so leiden sehen. Was ging hier nur vor sich? Sie verspürte den Drang, einfach ins Zimmer zu stürmen und Antworten zu verlangen. Ares blickte nun wieder den Fremden an und strich sich über seine verletzte Schulter. Das Licht des Kamins ließ ihn älter aussehen als er war; seine Augen lagen tief in den Höhlen.

    „Ich werde meinem Herrn die Nachricht übermitteln", sagte der Fremde und stand unter dem Knirschen des Holzhockers auf. Thalia sah ihren Vater gerade noch zur Tür schauen bevor sie sich umdrehte und mit einem schlechten Gefühl in der Brust leise in Richtung ihres Zimmers verschwand.

    Der Überfall

    Es war ein sonniger und heißer Tag in Ardénia. Vielleicht der letzte schöne Tag, bevor der Herbst das Land für sich beanspruchen würde. Germain verfolgte den Segelflug einer gelben Blüte, die sich ihren Weg aus der Baumkrone bis zum nahegelegenen Fluss bahnte und dort schließlich aus seinem Blickfeld getrieben wurde. Das Ende des Sommers ließ den nahe gelegenen Wald in voller Pracht erblühen. Der Waldboden wurde zu einem Gemälde der Natur, umrahmt von Kirschblüten und den ersten bunten Blättern, die die neue Jahreszeit bereits willkommen heißen wollten. Für Germain roch der Sommer immer ein wenig zu süßlich, fast wie Honig. Nun, wo er sich in seiner Tiergestalt befand, was es schon fast unangenehm.

    Die Wälder, die sich unweit der Großen Quelle erstreckten, boten dem Wasservolk ausreichend Wild und Früchte um sich gut zu versorgen. Die Küste war weit weg und somit waren auch die fischreichen Flüsse und Seen eine wichtige Nahrungsquelle. Der Handelsmittelpunkt des Wasservolkes war jedoch die Hafenstadt Menáos, von wo aus die vielen Schiffe in See stachen und exotische Gewürze und Güter von den nördlichen Windinseln und anderen Orten mit sich brachten. Ihr Vater hatte die größte Flotte Ardénias und das Wasservolk baute nicht nur die besten Schiffe, sondern stellte auch die robustesten Netze und Seile her.

    Sanft wogen sich die Blumen vor Germains Augen im Wind des aufkommenden Herbstes. Das Rascheln der Blätter und der Gesang der heimischen Vögel verschmolzen zu einer harmonischen Melodie, die vom Plätschern des Flusses unterlegt wurde. Doch er konnte seinen Gedanken nicht freien Lauf lassen, denn gleich würde etwas Schreckliches geschehen.

    Der blaue Panther versuchte, den Klang ferner Schritte auszumachen um sicherzugehen, dass sie bereits weit genug von der Quelle entfernt waren. Er erstarrte und lauschte seiner Umgebung, bis er von einer hohen Stimme aus dem Konzept gebracht wurde.

    „Germain, was soll das? Ich dachte wir wollten jagen und nicht sinnlos herumstehen?" Thalia machte ein genervtes Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. Germain warf ihr einen besorgten Blick zu, dann versuchte er, sich noch einmal zu konzentrieren, doch keine Schritte weit und breit.

    Lass dir nichts anmerken, du hast es Vater versprochen, dachte er mit zugeschnürter Kehle. Thalia sah zu, wie sich ihr Bruder zurückverwandelte und machte kehrt, um wieder nach Wild Ausschau zu halten. Warum ist er nur so nervös, fragte sie sich und warf immer wieder kurze Blicke zu ihm zurück. Das ist gar nicht seine Art.

    „Germain?" Ihr Bruder zuckte unweigerlich zusammen, er schien mit den Gedanken woanders zu sein. Er versuchte, seine Gesichtszüge zu entspannen und sah seiner Schwester in die Augen.

    „Stimmt irgendetwas nicht", fragte sie zögerlich, obwohl sie genau wusste, dass er ihr etwas vorenthielt. Germain war die Ruhe selbst. Normalerweise zumindest. Ihr Bruder sah auf den Boden, nach Worten ringend und ließ seine verschwitzten Hände in die Hosentaschen gleiten. Thalia hatte ein mulmiges Gefühl in der Bauchgegend.

    „Nein, natürlich nicht. Es ist alles in Ordnung", sagte er, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. Für ihren normalerweise fröhlichen Bruder wirkte dieses Lächeln viel zu gequält. Thalia warf ihm einen misstrauischen Blick zu, den er eisern erwiderte und schließlich an ihr vorbei Richtung Wald verschwinden wollte.

    „Bei Dysis, Germain, ich merke doch, dass mit dir etwas nicht stimmt! Ihre Stimme wurde zornig. Er stoppte, seine grauen Augen wirkten besorgt und traurig, wie sie in die Ferne blickten. „Sag mir doch, was los ist! Ist es etwas wegen Alysiá? Thalia überlegte gründlich, ob sie diese Frage stellen sollte, denn die Beziehung ihres Bruders sollte sie eigentlich nichts angehen und sie wollte nicht aufdringlich wirken. Er schüttelte wortlos den Kopf. Die Sache wurde Thalia unheimlich. Die Vögel, die eben noch aus voller Kehle sangen, saßen nun stumm auf den Bäumen.

    „Hat es dann irgendwas mit mir zu tun? Bist du wütend auf mich? Oder auf Vater?" Die sonst so beruhigenden grauen Augen huschten unruhig auf dem Boden umher, bis sie schließlich Thalias Blick begegneten. Germains Augen strahlten sonst stets Ruhe und Besonnenheit aus, sie spiegelten seine Seele wider. Der junge Anführer, der eben noch ein Knabe und nun schon ein Mann mit Verantwortung über ein ganzes Volk war. Trotz seiner jungen Jahre hatte er die Erfahrung eines alten Mannes und das Herz eines Königs. Sie hatte sich schon früher gefragt, ob es schwer für ihn gewesen war, so schnell erwachsen zu werden. Immer ein Vorbild sein zu müssen, den Gedanken im Hinterkopf, dass er mehr Verantwortung trug, als es für einen jungen Mann angemessen ist. Doch nun war keine Ruhe in seinen Augen zu sehen. Sie sah nur Scham und Angst.

    Thalias Stimme versagte und so konnte sie ihre nächste Frage nicht mehr stellen. Die Vögel flogen davon. Der Wald schien viel zu ruhig. Sie waren alleine. Thalia

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