Portal der Zeit
Von Ivan Petrov und Boyana Nikova
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Über dieses E-Book
Ivan Petrov
Der Schriftsteller Ivan Petrov ist in Bulgarien geboren. Er Lebt seit längerer Zeit in deutschsprachigem Raum. Seine Sammlungen von Kurzgeschichten und Romane sind in Deutschland und Österreich bekannt. Auch in Bulgarien. Zurzeit der Autor lebt in Wien.
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Buchvorschau
Portal der Zeit - Ivan Petrov
I
Das Taxi hielt vor dem Café Portal der Zeit. Ich stieg aus und ging langsam darauf zu. Da ich schon lange nicht mehr hier war, wusste ich nicht, was mich erwarten würde. Ich hoffte inständig, das Café wäre voller Gäste und Rosalie liefe wie immer hektisch um die Tische herum und nähme die zahlreichen Bestellungen entgegen. André würde Cocktails mixen, während er sich an der Bar mit jemandem unterhielt. Und das strahlende Lächeln in seinem Gesicht ihn keinen Augenblick verlassen…
Ich freute mich, es wiederzusehen – das Café Portal der Zeit. Es war über ein Jahr her, seit ich dort angefangen hatte zu arbeiten. Jetzt waren Tür und Fenster mit Holzbrettern vernagelt. Das ganze Gebäude war mit Unkraut umgeben. Die wenigen zerbrochenen Tische und Stühle im Garten des Caféhauses waren übereinander gestapelt und wirkten wie eine surreale Komposition. Ich erinnere mich sehr gut an alles, was ich jetzt beschreibe. Ich erinnere mich an Teile von belauschten Gesprächen zwischen den Gästen im Café, ich kann das meiste von dem, was passiert ist, rekonstruieren ... Aber das heißt natürlich nicht, dass ich die ganze Wahrheit kenne. Die Menschen erzählen alle möglichen Geschichten, vor allem, wenn sie betrunken oder in die Jahre gekommen sind ... Sie wollen zeigen, wie wichtig sie im Leben von jemandem waren oder wie wichtig andere Menschen in ihrem Leben waren. Schließlich hat sich das Leben eines jeden Men-schen immer wieder mit bekannten und unbekannten Menschen ge-kreuzt und verflochten, die vergessene oder bleibende Eindrücke in unserem Gedächtnis hinterlassen haben. So viel von der Vergangen-heit ist bei mir geblieben, dass ich sie nicht als etwas anders als die Gegenwart akzeptieren kann.
Ich könnte jedes einzelne Gesicht der Café-Besucher beschreiben, ebenso wie ihre üblichen Bestellungen, die Anordnung der Tische und Stühle wiederherstellen. Ich kann mich noch an die Melodien aus der Jukebox erinnern und sie mit dem Mund pfeifen ... So unglaublich es auch klingt, es gab eine Jukebox im Café Portal der Zeit. Ich habe André, den Besitzer des Cafés, nie gefragt, woher er diese Antiquität hatte.
Ich hoffte es inständig, dass die Jukebox noch drinnen sei, und obwohl sie wahrscheinlich mit Staub versunken war, immer noch die alten Lieder spielen konnte, die schon damals nur Nostalgie über längst vergangene Zeiten brachten ... Ich lief umher und hoffte, dass ich von irgendwoher hineingelangen konnte. Nein, das war nicht möglich. Das Zeitportal existierte nicht mehr. Zumindest nicht in dieser Stadt. Manchmal versteht man nach langer Zeit, was passiert ist, und dann ist es oft zu spät…
„Verzeihung! Was machen Sie hier? Warum sehen Sie sich im Gebäude um?", ich konnte vor Überraschung nicht gleich antworten. Ich hatte nicht bemerkt, dass der junge Mann auf mich zukam.
„Ich wollte mir die Gegend ansehen. Hallo! Sie sind Andrés Bruder, nicht wahr?, fragte ich. „Ich habe Sie an der Stimme erkannt. Und Sie sehen ein bisschen aus wie Ihr Bruder. Suchen Sie immer noch nach ihm?
„Das verstehe ich nicht! Woher kennen wir uns?"
Ich schwieg, wollte ihm etwas Zeit geben, um sich an mich zu erinnern.
„Ja, das ist richtig! Ich erinnere mich an Sie!, sagte der junge Mann etwas unsicher und studierte mein Gesicht mit seinen Augen. „Sie waren der Barmann, nicht wahr?
„Richtig! Sie kamen damals einmal vorbei, als ich im Café gearbeitet hatte. Ich habe jetzt längeres Haar und einen Bart. Vielleicht war es deshalb so schwer für Sie sich zu erinnern, wer ich war. Und Sie sind Daniel?"
„Ja, ich bin Daniel. Entschuldigen Sie bitte! Ich habe Ihren Namen vergessen."
„Jonas!"
„Ah ja! Wie konnte ich das vergessen?"
Es war einer der letzten Septembertage, aber die Sonne brannte stark, zumindest kam es mir so vor. Nach neun Monaten Gefängnis hatte ich längst vergessen, wie es ist, in der Sonne zu sein. Ich sagte Daniel, dass wir besser in den Wald gehen sollten, um Schatten zu finden. Er folgte mir. Wir setzten uns auf eine der Bänke der leiden-schaftlichen Waldwanderer.
„Stimmt es, dass die Polizisten damals hierherkamen und sie das Café schlossen?", fragte Daniel.
„Ja, das ist wahr. Es war lange her ... Neun Monate sind seitdem vergangen."
„Warum?"
„Wissen Sie das nicht? Aufgrund des spurlosen Verschwindens vie-ler Menschen. Einige von ihnen waren Stammgäste des Cafés. Die Polizei nahm das gesamte Café Personal fest. Mich auch ... Heute haben sie uns aus der Untersuchungshaft entlassen. Sie hatten keine Beweise und die Ermittlungen kamen nicht voran. Sie mussten uns freilassen."
„Oh! Die Polizei hat Sie sehr lange in Gewahrsam gehalten!"
„Ja, aber hier ist kein Platz für Ärger und Groll. Die Polizisten haben nur ihre Arbeit geleistet..."
„Ich verstehe … Ich war mehrmals bei der Polizei. Sie haben mir immer wieder das Gleiche gesagt, immer wieder, dass sie noch an dem Fall arbeiten würden. Aber ich habe keine Einzelheiten erfahren. Ich wusste nicht, dass sie das Café Personal verhaftet hatten. Ich dachte, nur mein Bruder wäre spurlos verschwunden."
„Ich, Georg und Rosalie waren ihre einzigen Anhaltspunkte. Vier Personen verschwanden ohne jede logische Erklärung ... Die Ermittlungen zogen sich hin ..."
„Es tut mir leid! Neun Monate sind keine kurze Zeit. Haben Sie keine persönliche Erklärung dafür, was mit meinem Bruder und den anderen Vermissten passiert ist?"
„Es tut mir auch leid, Daniel!, antwortete ich. „Aber ich kann Ihnen nicht helfen.
„Das haben Sie mir auch beim letzten Mal gesagt. Ich hatte gehofft, Sie wüssten etwas mehr über André. Ich fürchte, ich habe ihn für immer verloren..."
„Die Menschen bewegen sich ständig von einem Ort zum anderen ..., versuchte ich, das Gespräch abzulenken. „Sie treffen nachdenk-liche und oft spontane, überstürzte Entscheidungen.
„Ja, ich stimme Ihnen zu. Aber André muss einige Spuren hinter-lassen haben. Sie können verfolgt werden", gab Daniel nicht auf.
„Ja, so ist es! Wir können den Spuren folgen, aber zuerst müssen sie gefunden werden."
„Ich habe das Gefühl, dass Sie mehr wissen, als Sie sagen. Warum sind Sie so zurückhaltend? Ich habe ein Jahr lang nach ihm gesucht und niemanden gefunden, der etwas über meinen Bruder weiß. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, mit dieser Ungewissheit zu leben."
„Tja! Es ist bitter, seinen Bruder zu vermissen, wenn man von ihm getrennt wird, sagte ich. „Ich weiß es, wie schwer das für Sie ist. Mir es ist auch schwer. Ich verstehe Sie vollkommen. Aber ich kann Ihnen nicht alles so einfach erklären. Nein, nein! Schauen Sie mich nicht so traurig an! Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen. Wenn Sie zwei oder drei Tage freihaben, kann ich Ihnen alles sagen, was ich weiß. Daniel, wo übernachten Sie?
„In der Wohnung meines Bruders. Drei Querstraßen von hier."
„Ich wohne in diesem Haus, mit Garten und Balkon zur Straße. Ich lade Sie morgen früh zum Frühstück ein."
„Ich danke Ihnen! Ich würde gerne kommen!"
„Jetzt müssen wir uns trennen. Ich brauche etwas Zeit für mich. Sie wissen ja, wie das ist ..."
„Ja, natürlich! Erholen Sie sich!, sagte Daniel, stand von der Bank auf und fügte hinzu: „Also, wir sehen uns morgen!
„Ja. Morgen um zehn!"
Ich blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen, bis Daniel mich aus den Augen verlor. Dann stand ich auf und ging zu meinem Haus. Heute Morgen rief ich den Gärtner an, um den Pool vorzubereiten. Ich hatte erwartet, dass das Wasser frisch wäre. Ich hatte ein überwältigendes Verlangen, zu schwimmen.
Ich schloss das Gartentor auf und ging einen der Wege, die direkt zum Pool führen, hinunter. Damals hatte ich das Gefühl, in einem Traum zu sein und konnte vor Freude fliegen. Ich war wieder zu Hause! Der Garten war gut gepflegt und mit neuen Blumen bepflanzt. Der Buchbaumzaun, der mein Grundstück von dem meines Nachbarn Jacob Krems trennte, war sorgfältig getrimmt und zu einer langen grünen Mauer geformt worden, so wie es schon immer der Fall war. Ich ging langsam und genoss jede einzelne Blume im Garten, roch an einigen von ihnen und streichelte ihre grünen Blätter.
Das Wasser im Pool war sauber. Ohne lange zu warten, entledigte ich mich meiner Kleidung und sprang splitternackt hinein. Als ich auf-tauchte, begann ich zu lachen und vor Freude und Wonne zu schreien.
„Jonas! Ich bin froh, dich wiederzusehen! Willkommen zu Hause! Lange Haare stehen dir gut!", stand der Gärtner breit lächelnd etwas abseits des Pools.
„Pablo, ich hatte nicht erwartet, dass du so spät noch hier bist! Ich freue mich auch dich zu sehen! Bringst du mir bitte den Bademantel?"
„Sofort!", sagte Pablo und betrat das Haus. Er war um die fünfzig, aber trotz des Altersunterschieds kamen wir gut miteinander aus. Ich nutzte die wenigen Minuten, bis Pablo zurückkam, um zu schwimmen. Die Gartenbeleuchtung ging automatisch an. Es war bereits dunkel geworden.
„Ich habe die ganze Zeit, während du weg warst, den Garten und den Pool gepflegt, sagte Pablo und reichte mir den Bademantel. „Alles, was im Kühlschrank war, habe ich vor Monaten weggeworfen. Ich habe heute frische Lebensmittel gekauft. Es sind nicht viele, aber fürs erst werden sie reichen.
„Danke, Pablo! Das hast du gut gemacht! Wie geht’s deiner Familie?"
„Uns geht es gut, Jonas! Danke! Ah ja! Falls du dich fragst, wo dein Nachbar Jacob Krems ist, er wohnt nicht mehr hier. Er hat das Haus verkauft, aber ich kenne den neuen Besitzer nicht. Ich weiß nichts über ihn."
„Das ist schade! Jacob Krems war ein guter Nachbar! Er hat bestimmt das Richtige getan."
„Ich weiß nichts über den Grund seines Hausverkaufs."
„Wie auch immer! Das ist jetzt nicht so wichtig. Vielen Dank, Pablo! Gehe jetzt nach Hause zu deiner Familie! Es ist schon spät. Sie werden dich zum Abendessen erwarten."
„Ich habe nie an deiner Unschuld gezweifelt, Jonas!"
„Danke, Pablo! Bitte, entschuldige mich, aber jetzt möchte ich allein sein. Wir sehen uns am Dienstag wieder. Dann werden wir weiter reden."
„Ja, natürlich! Gute Nacht, Jonas! Ich bin froh, dass du wieder zu Hause bist und alles wird so sein wie vorher!", sagte Pablo, bevor er wegging.
„Gute Nacht, Pablo!"
Nein, nichts würde mehr so sein, wie es vorher war, dachte ich, zog meinen Bademantel aus und sprang wieder in den Pool. Ich schwamm langsam, das Wasser hüllte mich sanft ein. Ganz allein zu sein, fand ich gut. Ich konnte mit meinen Gedanken allein sein. Jacob Krems musste Angst gehabt haben. Hier wollte er nicht mehr wohnen. Er hatte Angst vor mir? Wahrscheinlich hatte er andere Ängste…
Kaum jemand wollte mehr als ich, dass alles wieder so wäre, wie es vorher war … Ich wusste, dass alles, was beginnt, eines Tages enden muss … Aber ich hatte mich selbst in die Irre geführt. Selbstvergessen in meinem Glück, bemerkte ich nicht, wie dieses mir von Tag zu Tag, Schritt für Schritt, leise entglitt…
André und Thea bleiben unauffindbar, aber warum auch die beiden Schwestern Hellmann? Gab es eine Verbindung zwischen den Vieren? Würde ich jemals die Antworten auf diese Fragen erfahren oder würden sie im Schatten der Zeit begraben bleiben? André war mein bester Freund. Ich kenne niemanden, der mir so wichtig war, wie er mir. André und ich konnten uns den ganzen Tag unterhalten, sogar bis spät in die Nacht, ohne dass es langweilig wurde. Die Zeit, die ich mit André verbrachte, war immer sinnvoll und die Gespräche interessant. Ich werde ihn nie wieder sehen. Aber