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Prantner oder Die Erfindung der Vergangenheit
Prantner oder Die Erfindung der Vergangenheit
Prantner oder Die Erfindung der Vergangenheit
eBook302 Seiten4 Stunden

Prantner oder Die Erfindung der Vergangenheit

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Über dieses E-Book

"Denn wessen Leben habe sich schon so zugetragen, wie von einem selbst erzählt?"

Der Regenschirmfallschirm, die Blütenstaubsammelmaschine, das seien allesamt Erfindungen vom Prantner Kaspar, dem ehemaligen Knecht auf dem Kalberhof. So jedenfalls habe es Cäcilia dem Geschichtensammler F. erzählt. Im Stimmengewirr der Dorfbewohner wird die wundersame Geschichte des sanftmütigen Mannes erinnert: wie er durch eine List den Kriegen entkam, wie er gemeinsam mit seinem Freund Vitus Sültzrather die Herunterholung der Kirchturmuhr verursachte, wie er am Ende in den Bergen verschwand. Akkurat und amüsant erzählt Josef Oberhollenzer in Möglichkeiten und ist damit vermutlich näher an der Südtiroler Vergangenheit, als uns lieb ist: "Wirkliche Menschen? Oder erschriebene? Da gibt's in der Erinnerung keinen Unterschied; sind alle gleich wirklich, gleich erfunden."

• Neue Einblicke in das Leben des berühmten
Schriftstellers Vitus Sültzrather
• Wo ist das Joch verblieben?
• Und vor allem: Wo zum Teufel ist der Prantner
Kaspar?
SpracheDeutsch
HerausgeberFolio Verlag
Erscheinungsdatum21. März 2023
ISBN9783990371404
Prantner oder Die Erfindung der Vergangenheit
Autor

Josef Oberhollenzer

Josef Oberhollenzer, Liebhaber des Konjunktivs und der radikalen Kleinschreibung, wurde 1955 im Sudtiroler Ahrntal geboren. Im fiktiven Aibeln ist er ebenso zu Hause. Er schreibt Lyrik, Prosa und Theaterstucke, einige seiner Texte wurden von Rockbands vertont. Mehrere Preise und Stipendien. Mit seinem Roman Sültzrather stand er auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

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    Buchvorschau

    Prantner oder Die Erfindung der Vergangenheit - Josef Oberhollenzer

    Praeludium, non in extenso

    (oder: Wie einer anfängt, hört er nicht auf.)

    „Und die stillgelegten Wege tauchen auf / in den Träumen"

    (Sepp Mall, Abschiede I)

    ⁶Sepp Mall, Abschiede I, in: Läufer im Park. Gedichte, Innsbruck 1992, S. 11

    1

    Wer seine welt umrunde, komme immer wieder an seinem anfang an; wer wieder an seinem anfang ankomme, erfahre seinen anfang immer wieder von neuem neu: Immer wieder sei sein anfang so ein anderer – „weil an seinem ende ja immer wieder ein neuer anfang ist. So habe der Prantner Kaspar, der kalberknecht, den Kalber Vitus, als der, noch siebenundzwanzigjährig, im zimmer 11 des alten, mehr als baufälligen brixner krankenhauses gelegen sei nach seinem sturz vom baugerüst, immer wieder aus den schmerzen hinaus- und in den schmerzlosen schlaf hineingeredet: „Wer meine welt umrundet, immer wieder kommt er an meinem anfang an, habe er gesagt. – So jedenfalls, sagt F., habe es ihm eine gewisse Berta Maria Brenninger, tochter einer seinerzeit auf jener brixner abteilung im ersten stock, wo Vitus Sültzrather mit anderen schweren fällen „sozusagen eingelagert" gewesen sei, ihren dienst tuenden krankenschwester, welche ihm zwar ihren namen, nicht aber ihren beruf und ihre adresse habe verraten wollen, und mit der er im klausener Dürersaal, ohne noch zu wissen, wer sie sei, nach einer lesung des österreichisch-italienischen schriftstellers Joseph Zoderer aus seinem roman Der Irrtum des Glücks, zu reden gekommen sei, gesagt. Nämlich ihre mutter, und darum wisse sie davon, habe sie gesagt, habe all das ihr auf die eine oder andere weise interessant oder seltsam oder sonst irgendwie auffällig erscheinende gerede „in einer unzahl der damals üblichen tintenblauen und immer mit einem löschblatt versehenen schreib- und rechenhefte aufgeschrieben, welche sie ihm („so sehr Sie sich auch danach sehnen mögen, habe sie gesagt) aus gründen, die auch nur anzudeuten schon zu sehr ins innere der gründe und also in die wahrheit ihres verschweigens eindringen würde, „weder überlassen noch auch nur zeigen wolle. Und darin, so habe diese Berta Maria Brenninger, eine – „für ihr alter, sagt F. – immer noch schöne, mit großen grünbraunen augen, beinah schulterlangem schwarzem haar und einem seltsam verführerischen lächeln „ausgestattete, etwa sechzigjährige, vielleicht aber auch schon in der nähe der siebzig angekommene frau noch gesagt, als sie zwischen einem glas weißwein und dem nächsten – „Kerner, immer Kerner!, sagt F. – warum auch immer auf Johann Baptist Hundsmayr zu reden gekommen seien, habe sie ein sonett dieses dichters gefunden, dessen zwei letzte strophen sie ihm „abfotografieren und über WhatsApp zuschicken wolle; was sie dann, sagt F., mit den zeilen „Hatte, wie ich Ihnen, glaub ich, schon gesagt habe, bis zu diesem Mutter-Eintrag noch nie etwas von Johann Baptist Hundsmayr gehört oder gelesen. Erzählen Sie mir ein andermal mehr von ihm? einige tage danach auch getan habe:

    Im Schlaaf dehnet sich das Leben

    Weit auß, so wie ein Traum;

    Im Traum dehnet sich’s zusamm’

    Zur Knospe, eng, so sprossen=klein:

    So möchte, o, so möcht’ er,

    Möcht’ er wider, wider seyn.

    Ja, er, so F., habe dieses sonett schon gekannt.

    ⁷Johann Baptist Hundsmayr, Traum=Sonnet, in: Ein ergötzlich vnd vil lehrreich Sonnetten=Krantz, Ingolstadt 1688, S. 11

    ⁸Da er dann monatelang nichts mehr gehört habe von dieser Berta Maria Brenninger, habe er ihr, sagt F., um vielleicht doch noch in ein „intensiveres gespräch und so an die schreib- und rechenhefte ihrer mutter zu kommen –, „als eine kleine weihnachtsgabe, wie er dazugeschrieben habe, habe er ihr eines der weihnachtssonette von Johann Baptist Hundsmayr geschickt: „Zweytes Weynachts=Sonnet // Es leucht’t so hell der Himmels=Stern / Am Firmament in dunckler Nacht: / All’ Schaf’ sind vmb den Schlaaf gebracht / Vnd steh’n gantz eng vnd bäh’n vnd plärr’n. // Vom Himmel hoch ein Engel fällt. – / Vnd schwebet nun vnd ruefft’s hinauß / Nach Betlehem in jedes Hauß: / ‚Der GOttes=Sohn kömmt in die Welt!‘ // Vnd drinn im Stroh, im Hirtenstall / Greint GOttes=Sohn itzt: glockenklaar / Mit Hall vnd Schall vnd Widerhall. – // Die frohe Kund’: versteht’s Gethier; / ’S frohlocket all, in gantzer Schaar. – / Waß hört der Mensch, waß rueffen wir?" (Johann Baptist Hundsmayr, Zweytes Weynachts=Sonnet, in: Ein ergötzlich vnd vil lehrreich Sonnetten=Krantz, Ingolstadt 1688, S. 39)

    2

    „Hundsmayr, Johann Baptist, Publicist u. Schriftsteller, geb. Dez. 1648 zu Schrobenhausen; etw. zweijährig von d. umnachteten Mutter im sog. Schrobenhausener Waldgürtel ausgesetzt, früh Waise; des Anfangs b. einem Bauern in Kaltenherberg, hernach in die Familie d. fürsterzbischöfl. Hofkanzlers Johann Christoph Mezger aufgenommen; eine Zeit lang verdiente er sein Brot als Schneider, dann als Hauslehrer; 1679 heiratete er d. vermögende Kaufmannswitwe Ambrosia Theodora Paumfelder verwitw. Schölnhammer und ward so aller Sorgen ledig; 1683 – 1685 bereiste er Holland, Frankreich u. England, Begegnungen mit Jean de la Fontaine u. John Dryden; studirte die Rechte (u. a. bei Georg von Widmont auf Offendorf), kein beurkundeter Abschluß. 1698 Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft unter dem Namen der Glückseelige u. st. 17. März 1707 auf Schloß Wolnzach. Er schr.: Ein ergötzlich vnd vil lehrreich Sonnetten-Krantz, Ingolstadt 1688; Die vortreffliche, gantz wundersame Erzaelung von dem vil umhergereißten Vogelsteller Adalbert Isidor Zöpfel, Landshut 1697; Ein newer ergötzlich vnd vil lehrreich Sonnetten-Krantz, Ingolstadt 1703; Wer bey der Nacht schlaafet, hat Tags imer gut lachen. Waß eine Arzenei vnd Historie ist in einem gleichen Maaße, Augsburg 1706."

    Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Vierte, umgearbeitete und stark vermehrte Auflage. Achter Band. Hannover – Johannek, Altenburg 1859, S. 621

    3

    – und während vorm fenster noch der flieder blühte, „von weiß und violett bis magenta und purpurrot, sagt F., aber die meisten obstbäume schon nur noch grün gewesen seien und blütenlos, habe in Aibeln oben, 1054 m hoch, „da hat vorm Kalberhof der apfelbaumgarten, der hat wie wild geblüht.

    AUSKUNFT 1

    ¹⁰

    „– und wenn die leute nur geglaubt hätten daran:"

    oder: Die erfindungen des Prantner Kaspar

    „Freilich merke ich es deutlich, daß dieses oft nur Erinnerungen von Erinnerungen sind."

    (Karl Philipp Moritz, Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit)¹¹

    „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt •"

    (Péter Esterházy, Harmonia Caelestis)¹²

    „Sie sagt: im übrigen ändern sich doch die Geschichten sowieso immer mit den Wörtern, in die man sie kleidet."

    (Helmut Heißenbüttel, Allmähliche Verfertigung des Charakters des Kollegen Hundekacke)¹³

    ¹⁰23., 24., 25. juni 2019: friedhof Feldthurns

    ¹¹Karl Philipp Moritz, Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit, in: Gnothi Seauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Carl Philipp Moritz. Ersten Bandes erstes Stück, Berlin 1783, S. 65

    ¹²Péter Esterházy, Harmonia Caelestis, Berlin 2001, S. 7

    ¹³Helmut Heißenbüttel, Allmähliche Verfertigung des Charakters des Kollegen Hundekacke, in: Eichendorffs Untergang und andere Märchen, Stuttgart 1978, S. 129 f.

    1

    Zu erzählen aber sei noch, wovon trotz aller berichte noch niemand erzählt habe, obwohl es ja „mit der allergrößten wahrscheinlichkeit, sagt F., der anfang und die quelle allen sültzratherschen schreibens gewesen sei, nämlich „von dem verhältnisse¹⁴, das zwischen dem Vitus Sültzrather und dem Prantner Kaspar gewesen sei bis zu dessen verschwinden irgendwo zwischen Hundskopf und Königsanger oder zwischen Königsanger und Muntschegge – oder doch zwischen Morgennock und Mittagsnock oder zwischen Samberg und Hoadrichsberg¹⁵, also nördlich oder südlich des Thinne Bachs, dem er sonntags, wenn einer in jeglicher arbeit innezuhalten habe, „in allem irdischen bemühn, wie der pfarrer, so Vitus Sültzrather in einer seiner letzten „vermischten erinnerungsnotizen¹⁶, es gepredigt habe, oft stundenlang beim fließen zugeschaut habe. „Diese vermeintliche bloße Versenkung ins Fließen des Thinne Bachs ist jedoch in Wirklichkeit nichts anderes gewesen als ein durch die scheinbare Gleichförmigkeit und aber in Wirklichkeit unablässige Andersförmigkeit des Fließens ins äußerste konzentriertes oder gesteigertes Denken.¹⁷ Alle erfindungen, habe der Prantner Kaspar einmal gesagt, so habe es ihm die Kalber Cäcilia, Vitus Sültzrathers älteste schwester, im vorigen sommer, der einer der heißesten wohl der gesamten menschheitsgeschichte gewesen sei, sagt F., auf einer der zwei schon in ihrer kindheit von ihr „so gern besessenen friedhofsbänke gesagt, da habe sie sich von ihrem fünfundneunzigsten ausruhen wollen, denn was für eine anstrengung so ein geburtstag mit zunehmendem alter doch geworden sei, habe sie gesagt, alles andere in der welt verliere ja mit der häufigkeit an wert, nur bei den geburtstagen tue man irgendwann so, als ob sie, je mehr man erlebt, je mehr man „angehäuft habe davon, umso seltener und also umso kostbarer wärn¹⁸ –: „Alle meine erfindungen sind dem Thinne Bach entsprungen, hat der Prantner Kaspar gesagt, seien aus diesem heraus in ihn und in seinen hinterkopf – „und so aus mir wieder heraus, habe er gesagt, „und in die weite welt hinein –: „Wenn die leute nur geglaubt hätten daran, habe er manches mal halblaut und wie für sich hinzugefügt, habe die Kalber Cäcilia, die an allen drei tagen, an denen er sich von ihr habe erzählen lassen, nämlich einem sonntag-, einem montag- und einem dienstagnachmittag (genauer: am 23.¹⁹, 24.²⁰ und 25.²¹ juni 2019)²², wie auch schon an jenem sommersonntag im siebzehnerjahr – das genaue datum müßte er erst „nachrecherchieren, sagt F. –, an dem er sich ein erstes mal mit ihr getroffen habe, aber nicht, wie im neunzehnerjahr, abwechselnd auf einer der beiden von der pfarrkirche bzw. von einer großen zypresse und der friedhofsmauer beschatteten friedhofsbänke, sondern auf einer verschönerungsvereinsbank hinterm Pfarrwirt, am rande jenes angers, auf welchem am 29. april 1929, also „an diesem dreimal verfluchten montag, der für uns kalbersche ein schicksals- und lostag gewesen ist wie keiner davor und keiner danach, so habe die Kalber Veronika gesagt, mit der er auch gern länger geredet hätte, es sei sogar zu mehreren treffen in Guln im hause ihrer ältesten tochter Agnes gekommen, aber jedesmal sei sie, die immer auf der ofenbank gesessen sei, schon bald eingenickt –, am rande jenes angers also habe er sich ein erstes mal mit der Kalber Cäcilia getroffen, sagt F., auf dem alle aibelner, mit ausnahme der kinder, damals zusammengetrieben worden seien und auf dem sie den ganzen tag stehend, ohne essen, ohne trinken zu dürfen und, „dies vor allem, heiße es, wenn doch noch einer laut sich erinnere daran, sagt F., ohne irgendwo abseits, im stillen, die notdurft verrichten zu dürfen, hätten ausharren müssen in den bis zu den knien reichenden hemden der männer, in den knöchellangen nachtgewändern der frauen – „und getreten .. und fast erschlagen .. und aufs ärgste schikaniert .. und gedemütigt aufs gröbste .. und nichts als lächerlich gemacht, so habe die Kalber Veronika einmal gesagt: langsam, wort für wort, als schmerzte sie die erinnerung daran, obwohl sie damals ja noch nicht einmal zwei jahre alt gewesen und eine eigene erinnerung „wohl kaum zustande gekommen sei –: An all den drei junierzählnachmittagen im feldthurnser friedhof habe die Kalber Cäcilia ein anderes, ein verschiedenes, ein neues kopftuch aufgehabt, sagt F.; nämlich das liebste geburtstagsgeschenk, habe sie gleich zu beginn des ersten gesprächs am sonntagnachmittag gesagt, sei ihr immer schon ein kopftuch gewesen, von klein auf, und „mit einem kopftuch auf dem kopf wolle sie begraben sein; der Franziska, „meiner ältesten, habe sie das schon gesagt und „ans herz gelegt; aber die sei halt auch schon siebzig und „nicht besser beinander als sie: „Gott erbarme sich meiner, hoffentlich überleb ich sie nicht!"

    ¹⁴„Nichts ist in den Verhältnissen der Dinge so durchgängig allgemein, als Verschiedenheit und Veränderung." (Michel de Montaigne, Von der Erfahrung, in: Michael Montaigne’s Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände. Ins Deutsche übersetzt [von Johann Joachim Christoph Bode]. Sechster Band. Drittes Buch. Dreyzehntes Kapitel, Berlin 1795, S. 225) – Und dann, sagt F., falle ihm hierzu noch ein satz des gießener mathematikers Hermann Umpfenbach zu den krummen linien ein, den er seltsamerweise immer noch „auswendig hersagen" könne – und der gehe so: „Wenn nun der Punkt C unendlich nahe bei B liegt, so ist c kleiner als eine jede gegebene Größe, Pc kann also dann ohne Irrthum neben dy/dx vernachlässigt werden; das Verhältniß von BI : BC ist also dann unendlich wenig von dem Verhältnisse 1 : 1, d. h., von dem Verhältnisse der Gleichheit verschieden." (Hermann Umpfenbach, Lehrbuch der Differential= und Integral=Rechnung, Berlin 1828, S. 93)

    ¹⁵Die leiche des Prantner Kaspar sei nie gefunden worden, sagt F.; und man habe, so werde erzählt, auch „nicht ewig lang danach gesucht; aber dies sei die gegend, in der er zeitlebens vorwiegend unterwegs gewesen sei in seiner raren freien zeit. Und mehrfach habe er sich, wie ihm die altenpflegerin G. „im vertrauen erzählt habe, aus dem feldthurnser altenheim Mittermesserhaus, wo er seit dem spätherbst 1969 untergebracht gewesen sei, in aller früh und meist sogar noch vor tagesanbruch und immer unerlaubterweise „davongestohlen und sei dann auch immer irgendwo in diesem gebiet „aufgefunden und dann „gegen seinen willen zurückgebracht und im Mittermesserhaus vor all den anderen altenheiminsassen „heftig ausgeschimpft worden – noch am selben tag zumeist und auf jeden fall „noch vor anbruch der dunkelheit, wie die G. ihm erzählt habe. Ein einziges mal, habe die G. gesagt, sei es ihm gelungen, die nacht unentdeckt außer haus zu sein – „und am nächsten tag dann, einem montag, da saß er beim mittagessen zu aller überraschung wieder an seinem angestammten platz; so als ob nichts gewesen wäre, habe die G. gesagt, als hätte er „nichts angestellt".

    ¹⁶Tagebucheintrag Vitus Sültzrathers aus dem jahr 1998, datiert mit „Sonntag, 17. Mai: „Vermischte Erinnerungen (20) – [..] und predigte uns, predigte mir, einem von jeglichem Zweifel Unbefleckten, einem von der Möglichkeit des Zweifels nicht einmal einen Hemdzipfel Ahnenden, die Sünde und alles Verderben in den Kopf und in die Seele hinein, die, wie ich damals so sicher wußte, wie es nur Kinder gewußt haben einmal, in der Magengegend angesiedelt war und sich zu meiner verzweifelten Bitternis doch immer wieder schwarz färbte, sündschwarz, weil ich doch immer wieder ins Verbotene hinein und in die Sünde geriet; daß ich um den Kasper, meinen Kasper fürchtete, wenn er sonntags oder feiertags – wenn nicht einmal der Vater ohne Erlaubnis des Pfarrers Holz hackte im Winter, im Herbst, oder gar Eschenlaub für meine Hasen heruntersichelte! –, wenn er an den gebotenen Feiertagen an einer seiner Erfindungen werkte und so das Gebot nicht befolgte, ‚in allem irdischen Bemühn sollest du herrtags ruhn und nicht Satanas frönen und in seinem Fahrwasser untergehn‘, wie der Pfarrer, die Sprache wie ein uns unerreichbares, uns erstickendes Himmelstuch ausbreitend übers Kirchenvolk und seine sprachliche Nichtigkeit und Niedrigkeit, von der Kanzel, die die Pfarrer damals ja noch bestiegen haben, auf uns niederpredigte; denn so stehe es geschrieben –: ‚So steht es geschrieben!‘, hat er sein Gegeifer beglaubigt mit der Heiligen Schrift, ein ums andere Mal damit einschlagend auf den Kanzelkorb, daß es widerhallte im Kirchenschiff und wir die Köpfe einzogen. (Isidor Sültzrather (Hg.), Vitus Sültzrather, Tagebücher 4, Klausen 2018, S. 8 f.)

    ¹⁷Sültzrather-Kladde, S. 7. – Diese olivgrüne, mit beigen spritzern gescheckte mappe (fester buchdeckel, 100 handschriftlich durchnumerierte seiten, davon 37 beschrieben: eng, auf dem vorsatzblatt PRANTNER KASPER betitelt, 40 × 30 cm, liniert; wetterspuren), von den wenigen um deren existenz wissenden bald schon als Sültzrather-Kladde bezeichnet, obwohl das wort „kladde, sagt F., im tirolischen ja nicht existiere, hätten die beiden ahrntaler künstler Paul S. Feichter und Lois Steger im sommer 2014 während eines sogenannten kunst-events in der arche gefunden, die sich Vitus Sültzrather im jahr 2000 von zweien seiner schwäger, nämlich von Sebastian Pfeissinger und von Konrad Schrott, pensionierter staplerfahrer der eine und obstbauer der andere, habe bauen lassen und in der er dann viele monate seines letzten lebensjahrs „spinnat zubrachte, wie man in Aibeln unterderhand noch hören könne, sagt F., und die dessen erben, offensichtlich erleichtert und froh, dieses „in den bergen ja vollkommen unnütze schiffsungetüm (so die Kalber Veronika zur alten Mühleggerin) endlich loszuwerden, obwohl – oder vielleicht gerade, weil – die aibelner kinder so gern sich aufgehalten und gespielt hätten darin, zu diesem „Arche. Eine Festung für Tiere betitelten kunstevent in die Franzensfeste hätten hin- oder besser: abtransportieren lassen, und wo der letzte lebensmittelpunkt Vitus Sültzrathers dann naturgemäß eventmittelpunkt gewesen sei. In dieser sültzratherschen arche nun hätten Paul S. Feichter und Lois Steger während der herstellung ihrer eventarbeit „Kakteen Kabale Kakteen" die Sültzrather-Kladde entdeckt – „in bodennähe! – und, sich der „überragenden bedeutung dieses letzten sültzratherschen werks schon bald bewußt, dem damals noch an der universität Verona lehrenden, mittlerweile emeritierten germanistikprofessor Elmar Locher übergeben, der sie, so habe er ihm – „im vertrauen!, unter uns! – gesagt, sagt F., der literarischen öffentlichkeit auf der nächsten sültzrathertagung, die anläßlich des 65. jahrestages des sturzes Vitus Sültzrathers vom baugerüst im mai 2024 an der Universität Heidelberg geplant sei, präsentieren und mit einem großen aufsatz vorstellen wolle. Über die möglichkeit einer veröffentlichung dieser „letzten aufzeichnungen Vitus Sültzrathers sei er, so professor Locher, mit den erben sowohl Vitus Sültzrathers als auch jenen des Prantner Kaspar im gespräch; aber da komme er leider, habe er ihm erst vor kurzem in einer e-mail mitgeteilt, sagt F., „aufgrund einer trotz aller meiner Vorurteile gegenüber Dichtererben doch nicht für möglich gehaltenen geballten Ignoranz" kaum voran.

    ¹⁸Die Kalber Cäcilia, sagt F., sei inzwischen, „trotz ihres hohen alters eigentlich unerwartet, gestorben, am 2. märz; „war wahrscheinlich corona, so habe man ihm gesagt. „Gerade noch rechtzeitig habe er also geredet mit ihr. – Als er ihr grab besucht habe, habe er überrascht festgestellt, daß sie am 2. februar, also zu Lichtmeß, geboren sei, und nicht am 22. juni, wie ihn ihre bemerkung, daß sie sich „da, also auf der friedhofsbank, „auf der wir da grad nebeneinander saßen", sagt F., vom fünfundneunzigsten habe ausruhen wollen, bis zu eben diesem grabbesuch habe glauben machen. Entweder sei sie schon etwas verwirrt gewesen, als sie das gesagt habe, habe er zuerst gedacht, oder der kalbersche schalk, der ja in allen büchern Vitus Sültzrathers eine konstante sei, sei mit ihr durchgegangen – oder aber, und das erscheine ihm jetzt am wahrscheinlichsten, er habe ihre bemerkung einfach mißverstanden, indem er sie auf den tag davor, auf den vorangegangenen samstag also, und nicht auf den tag nach ihrem fünfundneunzigsten, also auf den 3. februar, bezogen habe. Eigentlich, sagt F., sei im nachhinein alles klar; aber wenn eine bemerkung einmal mißverstanden sei, dann –, dann hülfe auch der schönste verstand zumeist nicht.

    ¹⁹„Der Luftdruck beginnt zu steigen und die Luftmassen werden stabiler. Am Nachmittag scheint verbreitet die Sonne. Die Quellwolken bleiben meist harmlos. Die Temperaturen erreichen Höchstwerte von 22° bis 32°." (https://www.wetterprognose.it/index.php#wetterarchiv)

    ²⁰„Hoher Luftdruck und trockene Luftmassen bestimmen das Wetter in Südtirol. Es scheint im ganzen Land die Sonne. Am Nachmittag entstehen ein paar harmlose Quellwolken. Die Temperaturen steigen auf Höchstwerte von 27° bis 34°." (https://www.wetterprognose.it/index.php#wetterarchiv)

    ²¹„Das Hoch und die nördliche Anströmung sorgen für hochsommerliche und stabile Verhältnisse. Der Nachmittag verläuft überall sehr sonnig, die Quellwolken bleiben harmlos. Die Temperaturen erreichen Höchstwerte von 29° im Hochpustertal bis 35° im Unterland." (https://www.wetterprognose.it/index.php#wetterarchiv)

    ²²Aber wer, sagt F., erinnere sich noch an die drei „journées mondiales an denselben drei junitagen in Cahors, neunundsechzig jahre davor? Und wo bestehe da schon ein zusammenhang? – „Meine Anzüge sind Zusammenhänge aus Schnitteilen von Stoff; die Zusammenhänge meines Schneiders passen wie angegossen, sie reißen im Schritt und im Schulterbereich. Die Zusammenhänge meines Schusters gehen nie aus dem Leim. (Vitus Sültzrather, Notizbuch Nº 20, Aibeln 1997, S. 16)

    2

    Der Prantner Kaspar sei ein recht großer, „schlaksiger", ein kräftiger mann sei das gewesen, habe die Kalber Cäcilia gesagt²³; ja, der Kaspar habe fest zupacken können. Als sie ihm einmal, das sei während der kriegsjahre gewesen und die deutschen schon da, sie sei damals .. ja, sie sei schon auf die zwanzig zugegangen, da habe ihr ein soldat, von der sprache her sei der wohl aus dem vorarlbergischen gekommen, schöne augen gemacht – sie habe da noch daheim gewohnt, ja .. und nein, mit dem Konrad, „gott hab ihn selig, sei sie noch nicht zusammen gewesen –, als sie also dem Kaspar damals bei der arbeit auf dem feld zur hand hätte gehen sollen, „da hab ich halt dem soldaten die schönen augen zurückgeworfen und bin nicht vom fleck, und da habe sie der Kaspar am rechten arm .. ja, am rechten unterarm habe er sie „in seine richtung gezogen, damit sie endlich mitkäme mit ihm, hinaus aufs feld. Er habe sie „ja nur leicht hergezogen zu sich, habe er sich verteidigt, als sie ihm beim heimgehen vom feld „diesen blauen –, als sie „gegen alle sitte, weil so viel nackte haut habe man damals zumeist ja nicht einmal dem eigenen mann gezeigt²⁴, den ärmel hochgekrempelt und ihm den bluterguß gezeigt habe; seine hand sei –, „wie hinauffotografiert seien seine finger gewesen, habe sie gesagt. Und ja, sie glaube, da habe er die wahrheit gesagt, „ja, doch .. denn er sei ja so stark gewesen, in Aibeln der stärkste vielleicht, und er habe seine kraft nicht immer „einderschätzt .. und fesch sei der Kaspar gewesen, „ja, ein fescher bursch, habe die Kalber Cäcilia gesagt, bis ins hohe alter hinauf .. „bis zuletzt eigentlich, ja. Aber als er sie gefragt habe, sagt F., was sie denn meine mit diesem „eigentlich, ob sie damit seine feschheit „im hohen alter vielleicht einschränken und relativieren – nein, das wort „relativieren habe er wahrscheinlich nicht gebraucht; er bemühe sich ja doch, die leute mit ihnen vielleicht fremden und zu weit weg angesiedelten wörtern nicht vor den kopf zu stoßen – oder ob sie diese altersfeschheit sogar anzweifeln wolle, da habe sie ihn nur mit so einem verschmitzten lächeln angelächelt: Ja, da sei wieder der schöne kalbersche schalk in ihrem gesicht zu sehen gewesen, sagt F. – Gehumpelt, ja gehinkt habe der Kaspar halt, „immer schon, habe sie gesagt; immer schon habe er sein linkes bein nachgezogen, und manche hätten ihn auch einen krüppel geschimpft; aber das habe er, „eigentlich habe er das immer einfach so hingenommen, nach außen hin jedenfalls, habe sie gesagt. Er hätte ja jeden niederschlagen, jeden zum krüppel schlagen können mit seiner kraft; aber da sei er wohl zu schüchtern gewesen dazu.

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