Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Januszs Kreuzfahrt: ein Reiseroman
Januszs Kreuzfahrt: ein Reiseroman
Januszs Kreuzfahrt: ein Reiseroman
eBook372 Seiten5 Stunden

Januszs Kreuzfahrt: ein Reiseroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nach außen hin ist der zwanzigjährige Unternehmersohn Janusz Karajev ein blasser, klavierspielender Junge mit einem Diagnose-Cocktail auf Latein, der in einem gedanklichen Schneckenhaus lebt. Niemand ahnt, dass er sich selbst innerhalb dieser Gedankenwelt zu einem Geheimagenten ausbildet, der andere Menschen ausspioniert. Als sein Onkel ihn auf eine Kreuzfahrt aufs Mittelmeer mitnimmt, um ihm "das wahre Leben" zu zeigen, rasselt Janusz prompt von einem haarsträubenden Abenteuer ins nächste: So muss er Drogendealer abzocken, eine ausgebüxte Oma einfangen, Karaoke singen und ein Schwein schmuggeln! Als jedoch ausgerechnet seine große Schwester auf dem Kreuzfahrtschiff Verhandlungen mit einem Rüstungskonzern führt, muss Janusz sich plötzlich mit Fragen um Krieg, Frieden und mit seiner eigenen Herkunft auseinandersetzen…
Atemberaubende Landschaften, viel eisgekühlte Zitronenlimonade und die erste Liebe machen diesen Urlaub für Janusz zu einem Erlebnis, bei dem er ungeahnte Seiten an sich entdeckt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum31. März 2023
ISBN9783347912311
Januszs Kreuzfahrt: ein Reiseroman
Autor

Mart Rutkowski

Mart Rutkowski, Jahrgang 1979, wuchs am Bodensee auf und lebt heute mit seiner Familie im Raum Freiburg. Er studierte Soziale Arbeit und arbeitet in den Bereichen Demokratische Bildung und Teamentwicklung. Als Konstruktivist, Individualist und Skeptiker liebt er absurden Humor und misstraut absoluten Wahrheiten und Dogmen. Nach langer Schreibpause wagt er sich jetzt wieder an das geschriebene Wort heran.

Ähnlich wie Januszs Kreuzfahrt

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Januszs Kreuzfahrt

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Januszs Kreuzfahrt - Mart Rutkowski

    - Kapitel 1 -

    Auftakt in der Nordsee

    Janusz, ich bin dann an der Bar. Schachbar. Eins runter auf Deck 6. Hab’ da einen neuen Kollegen kennengelernt und bin mit ihm auf ein Schach", sagt mein Onkel.

    Die letzte Information war redundant: Ich bin in der Schachbar auf ein Schach. Kann auch Skat spielen, wen juckt’s? Außerdem heißt das Ding Schachcafé!

    „Ist gut", nicke ich.

    Ich bin ganz froh, nicht die ganze Zeit mit ihm zusammen sein zu müssen. Auf einer Kreuzfahrt hängt man notgedrungen immer etwas aufeinander. Da tut Entzerrung gut. Außerdem ist mein Onkel Psychologe und denkt dauernd, er müsse mich therapieren. Dabei kann ich nichts Seltsames daran finden, die Umwelt zu durchschauen und zu analysieren, so wie ich es tue. Hm, vielleicht muss ich mich jetzt doch einmal kurz vorstellen: Karajev, Janusz Karajev. Genau genommen: Janusz Sergejevič Karajev. Doch so heiße ich nur für die Verwandtschaft. Ich bevorzuge einfach „Karajev, Janusz Karajev".

    Zwanzig Jahre alt und ich arbeite NICHT in geheimer Mission für irgendeine Regierung. Besser gesagt: NOCH nicht. Aber ich bin quasi in einer Spezial-Ausbildung zum Agenten. Also, ich bilde mich selbst aus. Meine Eltern wissen nichts davon, eigentlich niemand. Ich wohne ganz unauffällig in einer Einrichtung für Menschen mit ‘besonderem Betreuungsbedarf’. Ein Irrtum sondergleichen, denn ich bin überhaupt nicht therapiebedürftig. Wenn ich mir die Welt so anschaue, glaube ich eher, der Großteil der Menschheit sollte sich mal eine Auszeit nehmen und dort ein paar Wochen verbringen. Ich bin überraschenderweise ganz gerne in der Einrichtung – nirgendwo lernt man so viel über Menschen. Und es ist eine gute Tarnung. Außer mir weiß niemand von meiner Geheimausbildung. Sie ist also quasi doppelt geheim. Nur die Besten sind in der Lage, meine Tarnung zu durchschauen – mein Psycho-Onkel gehört eindeutig nicht dazu. Nach außen hin spiele ich einen blassen, stillen, zwanzigjährigen Jungen, der gerne Klavier spielt, bevorzugt Chopin, Yachshenko und Vlastoyevsky, einen sibirischen Komponisten. Ich spiele gar nicht einmal schlecht: Mit sechszehn habe ich in Kyiv gespielt und mit achtzehn Jahren sogar einen Preis bei der Kulturwoche in Brixen abgesahnt. So viel Öffentlichkeit ist für eine erfolgreiche Agententätigkeit natürlich durchaus zwiespältig. Wenn man eine Tarnung – wir Profis sagen ‘Legende’ – hat, besteht die Kunst darin, diese nicht zu arg aufzublähen. So mag meine Tarnung zum Beispiel gerne Zitronenlimonade mit Eis – und ich mag das auch! Das ist praktisch: Wenn ich mal enttarnt werde, muss ich das nicht ablegen. Es sei denn, ich flüchte ins Ausland und muss meine Spuren verwischen. Derzeit operiere ich noch unter meinem Klarnamen: Karajev, Janusz Karajev. Ich kann mir das leisten, denn mich kennt keiner. Zum Beispiel hier auf Kreuzfahrt: Keiner weiß, wer oder was ich bin – ICH hingegen weiß schon einiges über die Passagiere hier.

    Nehmen wir den Typen, mit dem mein Onkel Schach spielt: Besitzer einer Billigladenkette. Kein beruflicher Kollege also. Mein Onkel sagt immer „Kollege, wenn er jemanden nett findet. Der „Kollege also: wohlhabend, aber niveaulos, übergewichtig mit Bluthochdruck, herablassend im Gehabe, männlich-chauvinistisch, trinkt türkischen Mokka, raucht hin und wieder, liebt Goldkettchen, Bräunungslampen und die Farbe Weiß, Tennisspieler, pseudo-lustig. Er ist der Typ Mensch, der sich bei einer Party ein Papierhütchen auf den Kopf setzt, sich in eine Polonaise einreiht und voller Enthusiasmus „Da steht ein Pferd auf’m Flur" singt. Mein Onkel dazu: Psychologe, zweiundfünfzig Jahre alt, trinkt gerne Bier, spielt Billard, puzzelt in seiner Freizeit, manchmal etwas zerstreut, politisch sehr im Mainstream. Ein Gutmensch, Optimist und Weichei – dauernd in gut gemeinter Sorge um mich. Glaubt, er höre das Gras wachsen. Im Grunde mag ich ihn gerne, sonst wäre ich ja nicht mitgekommen. Aber ich muss höllisch aufpassen, dass er mein Doppelleben nicht durchschaut. Genügt das erst einmal? Jetzt muss ich nämlich los. Ich schnappe mir mein Handy, überprüfe die Synchronisation mit meiner Smartwatch, checke, ob ich mein Überlebensset am Gürtel trage, mache das übliche Raum-Screening, stecke die Schlüsselkarte ein und verlasse die Kabine. Es ist der zweite Tag auf dem Schiff. Zeit für den nächsten Aufklärungsgang: Feldüberprüfung II, Vervollständigung des Umfeld-Clearings und der Umgebungs-Map, Analyse der Protagonisten, Identifikation möglicher Zielpersonen. Ich habe jetzt etwa zweieinhalb Stunden Zeit bis zum Mittagessen.

    Ob ich wohl ein paar Fakten zur Ausgangslage festhalten soll? In einem Agentenfilm käme jetzt ein Zoom auf die Location – in unserem Fall ein Schiff – und dazu spannungsgeladene Hintergrundmusik. Dann würde am Bildrand eine Art Laserschrift auftauchen:

    MS Culture

    position: 57.039644661105015, 6.681347501134086

    North Sea

    destination: Genoa, Italy

    Doch wir sind in keinem Agentenfilm – das Leben ist aufregender, die Grafik besser, alle Informationen sind sehr viel genauer und die Mission ist echt. Zur Kreuzfahrt: Stationen sind Kiel, Amsterdam, Plymouth, Porto, Malaga, die Balearen, Genua. Dauer: sechszehn Tage. Reiseform: Hybrid aus Fun-Cruising und Kultur-Tourismus. Schiff: MS Culture, Heimathafen Kiel, deutscher Kapitän, fährt jedoch unter maltesischer Flagge. 333,5 Meter Länge, 41 Meter Breite und etwa 9 Meter Tiefgang. Geschwindigkeit liegt im Schnitt bei etwa 20 Knoten. Maximale Anzahl der Reisenden: 2400; Anzahl des Personals: 1048 Personen. 17 Decks mit maximaler Bespaßung:

    Freibad (ein Freibad auf dem Meer – etwas lächerlich, wie ich finde…), Kino, Theater, Clubs, Sporträume, Minigolfanlage, Wellnessangebote, FKK-Deck, Fitness-studio und eine Kletterwand. Ferner eine Squash-Halle, eine Billard-Lounge, mehrere Friseur-Salons, unzählige Schicki-Micki-Läden, exotische Restaurants, coole Bars (mit eisgekühlten Limonaden im Angebot – wichtig!) und witzigerweise auch eine Kinder-Urlaubs-Krippe, damit die geplagten Eltern in Ruhe shoppen gehen können. Daneben gibt es für alles mögliche Schnupperkurse: Klettern und Selbstverteidigung (Pflichtprogramm für angehende Agenten wie mich), Töpfern (nützlich, um Gespräche zu belauschen), Ausdrucksmalen (nützlich, um attraktive, junge Informantinnen kennen zu lernen – hoffe ich zumindest…). Bester Rückzugsort: die Sinatra-Cocktail-Bar mit stilvoller Schiffsbibliothek.

    Zugegeben: Dieses Monstrum ist kein Schiff. Es ist eine Stadt.

    Mein Onkel hat mir einen kleinen Anhänger mit unserer Kabinennummer gegeben. 7250. Leicht zu merken. „Für alle Fälle", hat er gesagt und mich dabei besorgt angesehen. Von wegen Psychologe! Meine Legende ist einfach zu perfekt. Denkt er etwa, nur weil ich in einer Einrichtung für Menschen mit besonderem Betreuungsbedarf wohne, hätte ich einen Dachschaden? Offensichtlich durchschaut er nicht, dass all dies nur Teil meiner Tarnung ist. Als ob ich mir keine Zahlen merken könnte! Ob er weiß, dass ich die ersten dreißig Nach-Komma-Ziffern der Zahl PI auswendig kenne? Wohl kaum. Bitte sehr: 3,141592653589793238462643383279. Na? Was aufgefallen? Innerhalb der ersten dreißig Ziffern kommt keine 0 vor. So etwas wie PI ist einfach: Man lernt einfach Zweier- und Dreierkombinationen und merkt sich die Zahlen, welche nicht reinpassen. Ich habe bei der Folge 279 aufgehört, weil ich sie optisch einfach ansprechend finde. Und weil ich Neuner mag. Man soll ja aufhören, wenn es am schönsten ist. Als Kind habe ich Ziffernfolgen im Bett aufgesagt, wenn ich nicht schlafen konnte, meistens Telefonnummern. Das hält das Gehirn gesund. Das Schiff kenne ich zumindest in der Theorie in- und auswendig. Ich habe einfach die siebzehn Deckpläne auswendig gelernt. Es fehlen dann nur noch die Details. Wo war ich gerade? Ach ja, richtig: Feldüberprüfung II. Das Schiff will erkundet werden. Over and out.

    Leute, Leute, Leute. Wo man hinblickt: Leute. Überdurchschnittlich viele beleibte Herren über sechzig, mit Goldkettchen und Edel-Tennis-Shirts, manchmal mit Gattin, etwas seltener mit zwanzig Jahre jüngerer Geliebten. Mittvierziger-Frauen, braungebrannt, goldbeklunkert – ehemals schön, nun sich an ihrer welken Attraktivität festklammernd: mit Beauty-Kuren, Fitness und Pilateskursen; mit Partys, bei denen sie aber nicht angesprochen werden, außer von bereits erwähnten, beleibten Sechziger-Herren. Junge Paare in den Flitterwochen, mal turtelnd, mal bei irgendwelchen Sportangeboten. Dafür kaum Familien, und wenn, dann erstaunlich unauffällig. Viele junge Menschen aus Südostasien mit Crew-T-Shirt; stets unterwegs, immer in Bewegung, immer an der Arbeit. Sie lächeln höflich, zeigen sich hilfsbereit und sprechen ein gutes Englisch. Dennoch wittere ich Unstimmigkeiten. Schlechte Bezahlung vielleicht?

    –Karajev: merken! Ihre nächste Undercover-Mission!–

    Ansonsten wenig Uniformierte unterwegs. Die Technikfachkräfte, Bootsmänner (und vermutlich Bootsfrauen), alle Mitglieder der Brücke und der Kapitän machen sich rar. Ob das nur mir auffällt?

    Ich gleite durch mein Deck – Treppe runter, Deck 6, Amüsierzone: Bars, Restaurants, Shops – die wirklich interessanten Sachen sind ein paar Decks weiter oben. Da: zwei hübsche Ladies, so um die achtzehn.

    –Achtung, Karajev, nicht ablenken lassen, vielleicht eine Falle!–

    Beide schauen zu mir herüber, die eine kichert. Sie hat Ringellöckchen und Ringelsöckchen. Zurücklächeln? Mein Onkel sagt immer:

    „Charmant zu den Damen sein, mein Junge, das ist gute, alte Schule!"

    Ich lächele zurück, drehe den Kopf und laufe in eine Bananenpalme. Wo kommt die denn plötzlich her? Gehört wohl zu der Bar dahinter. Die beiden Schönheiten schütten sich aus vor Lachen.

    –Karajev, Karajev – schon mal was von dem Wort „unauffällig" gehört? Womit mühen wir uns eigentlich seit zwei Jahren ab, was glauben Sie?–

    Ich klopfe der Palme versöhnlich auf den Stamm und drehe mich noch einmal um. Die Süße mit den Löckchen lächelt mich richtig an, ich lächele zurück und gehe weiter. Ob ich sie mal irgendwann einem Verhör unterziehen kann?

    Ist übrigens alles Teil der Tarnung, Genosse Kommandant.

    Was ist das eigentlich für eine Bar? Ah, Fruchtsäfte, Smoothies und so.

    Mental-Map-Eintrag: Deck 6, Sektor B, Position 4: gesunde Smoothie-Bar mit Bananenpalme, nonverbaler Erstkontakt mit möglicher Informantin. Ich drehe mich nochmal um, leider ist sie schon weg. Nun ja. Die Reise geht ja gerade erst los. Da vorne ist das Schachcafé. Und da sind auch mein Onkel und der „Kollege"; das Schachbrett zwischen sich, die Partie allerdings noch nicht angefangen. Mokka-Tasse vor dem Billig-Laden-Typ, Russisch-Kaffee-Glas vor meinem Onkel. So so: Der Wodka tarnt sich als Kaffee, sehr unauffällig.

    „Janusz, Janusz. Wolltest du zu mir?"

    Er sagt immer zweimal „Janusz", wenn er sich Sorgen macht. Ich lächele und schüttele den Kopf.

    „Ich schaue mich nur um, mir war langweilig."

    Der Billig-Typ mustert mich interessiert mit jovialem Lächeln. „So, jetzt nochmal offiziell: Hallo Janusz, ich bin Hartmuth. Nice to meet you."

    Er schüttelt mir kräftig die Hand. Ich wette, er ist der Typ Mensch, der von sich glaubt, den Charakter eines anderen am Händedruck ablesen zu können. Das pseudo-weltmännische Englisch mit schlechtem, deutschem Akzent soll wohl lässig wirken. Ich entscheide mich für Händedruck Nummer 8, „standhaft-männlich". Er nickt befriedigt.

    „Wir sind noch nicht weit gekommen", spottet er leicht und weist auf das Schachbrett.

    „Möchtest du etwas trinken?", fragt mein Onkel immer noch besorgt. Es ist ihm unangenehm, dass ich aufgetaucht bin.

    Ich schüttele abermals den Kopf.

    „Ich mache mich nur mal mit der Lage vertraut", antworte ich lässig, was letztlich ja überhaupt nichts aussagt. Mein Onkel nickt. „In zwei Stunden Mittagessen im OceanView? Du weißt wo?"

    Warum zweifelt er?

    Im tiefsten Inneren glaubt er an mich, sonst wäre ich nicht hier!

    Ich schüttele den Kopf, was mein Onkel witzigerweise als „Ja" auffasst, und genau so ist es ja auch gemeint.

    „Hast du deine Tabletten genommen?"

    Jetzt nicke ich, meine DIESMAL damit jedoch „Nein; mein Onkel fasst es allerdings erneut als „Ja auf.

    Onkel, Onkel: Psycho, aber nicht logisch.

    „Na, dann ist ja alles gut", atmet er auf.

    Ich nicke wieder, meine diesmal „Ja", mache ein Victory-Zeichen.

    „Wir sehen uns dann. Viel Erfolg beim Schach!"

    War das jetzt gemein?

    „Hartmuth?", sage ich höflich, wie im Agentenfilm.

    Handshake Nummer 8, er klopft mir gönnerhaft auf die Schulter, grinst. Ich grinse zurück und mache mich vom Acker. Muss noch dies und das überprüfen.

    Agent für einen Geheimdienst zu werden, das klingt, ich gebe es zu, verrückt. Offiziell bin ich ja auch verrückt. Aber was ist das schon: verrückt? Ich meine, wenn ich Feuerwehrmann werden wollte, wäre das weniger verrückt? Eine Jugendfeuerwehr gibt es – einen Jugendnachrichtendienst nicht. Aber da ist die Stimme meines Kommandanten, die mir sagt, was ich machen soll. Also bereite ich mich selbst vor. Ich weiß, was eine Jarygina von einer Walther PPK unterscheidet, auch wenn ich weder die eine noch die andere Waffe je in die Hand bekommen habe. Ich kenne alle gängigen Funk-Codes. Übe mit meinem Spezialmaterial. Beobachte Menschen und höre Gespräche ab. Ich habe meinen Einrichtungsleiter beschattet und herausgefunden, dass er eine Affäre hat. Ich habe Geschäftsbriefe meines Vaters abgefangen, über einem selbstgebauten Dampfgerät geöffnet und nach der – leider vollkommen unspektakulären – Lektüre wieder verschlossen, ohne Spuren zu hinterlassen.

    Gestern, bei der obligatorischen Schiffs-Evakuierungs-Übung, habe ich es, dank meiner Kenntnis aller Schleichwege und Personaltreppen, in sieben Minuten aufs oberste Außendeck geschafft; anstatt in Schafsmentalität irgendeinen lächerlichen Sammelpunkt anzusteuern und darauf zu warten, dass unser Schiff Schlagseite kassiert. Eigentlich fehlt mir jetzt nur noch der Zugang zu einem Dienst, der mich gebrauchen kann. Einem Dienst, der weiß, dass meine Meise keine Störung, sondern eine Fähigkeit darstellt.

    Meine Familie hat, das sollte vielleicht noch erwähnt werden, Geld. Zum Teil hat das mit altem Adel mütterlicherseits zu tun, zum Teil mit Tätigkeit in der Wirtschaft. Mir war Geld nie besonders wichtig. Zugegebenermaßen sagt sich das leicht, wenn man keines braucht. Mein Vater Sergej predigt immer, er lege Wert auf „harte, ehrliche Arbeit", wobei ich ihm in seiner Stellung als Oberboss eines internationalen Logistik-Unternehmens („Karajev Logistics – WIR KENNEN DEINE ADRESSE!") das „hart durchaus abnehme, das „ehrlich nicht immer. Für ihn war es schmerzlich, einen verrückten Sohn wie mich zu bekommen. Ich werde dem „guten Namen der Familie nicht gerecht, darum nach der Hauptschule die Einrichtung – aus den Augen, aus dem Sinn. Meine Einrichtung hat eine eigene Schule, wo ich mich nun auf den mittleren Abschluss vorbereite. Ich weiß, dass ich ein Gymnasium hätte besuchen können – zumindest, was meinen IQ betrifft. Doch ich verzettele mich oft in komplexen Gedankenketten, weil ich die Kontrolle über mein Umfeld nicht verlieren will und darum alles dauernd beobachten muss. Aus diesem Grund fällt es mir auch schwer, mich auf „den Lerninhalt zu konzentrieren. Nein, es ist nicht so, dass ich dumm bin oder nicht klarkäme. Klassischer Schulstoff bleibt bei mir einfach nicht hängen. Ich beschäftige mich lieber mit meinen Themen. Das gilt als dumm.

    Aber es liegt nicht an der Schule, dass meine Alten mich mit Erreichen der Volljährigkeit aus dem Haus haben wollten. Mein Vater behauptet, es sei zu meiner „Verselbstständigung" und zu meinem Besten. Ich vermute, es ist lediglich zu seinem. Ob Sergej mich mag?

    Ich glaube, sein Weltbild ist mit meiner Existenz überfordert. Und Karyna, meine Mutter, will vielleicht wirklich mein Bestes, doch sie weiß leider nicht, was das ist. Weil sie generell wenig weiß oder zu wissen glaubt. Sie wirkt nicht gerade selbstbewusst, spricht kaum und hat eine scheue Art des Respekts vor meinem Vater. Ob das immer schon so war? Ich weiß es nicht. Manchmal erscheint sie mir undurchschaubarer als Sergej. Wie eine graue Maus in Nobelklamotten. Vielleicht aber, denke ich gerade, vielleicht hat Karyna auf ihre stille Weise großen Einfluss auf Sergej. Als ich zwölf war, ist Karyna alleine zur Revolution der Würde nach Kyiv gereist. Ich erinnere mich daran, wie sie Sergej ansah und mit leiser, aber bestimmter Stimme „Ich fahre" gesagt hat. Da hat er nur genickt und fast etwas eingeschüchtert ausgesehen. Gut möglich also, dass es etwas zwischen ihnen gibt, das ich nicht sehen kann. Immerhin hat irgendetwas Sergej dazu verleitet, ihr über Monate hinweg den Hof zu machen.

    Siebenhundertsiebenundsiebzig Rosen hat er ihr vor die Tür gelegt, in Odessa damals, Karynas Heimatstadt, vor ziemlich genau dreißig Jahren. Wenn er auch sonst nicht viel redet und lieber einen auf rustikal macht: Diese Episode erzählt Sergej immer gerne.

    Jetzt noch zu meiner Schwester Anna; sie ist blond, hübsch, drei Jahre älter als ich und sie mag mich. Anna ist bereits weg von zuhause und studiert Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftsrecht. Sie wird dereinst ganz untraditionell die Chefin im Laden sein. Mein Vater hält sich selbst zwar für konservativ, ist aber noch viel lieber Pragmatiker und akzeptiert darum auch ein weibliches Wesen als Führung seines Unternehmens. Wenn Anna mich sieht, strubbelt sie mir durchs Haar – das hat sie schon immer, immer gemacht, seit wir ganz klein waren. Letztes Weihnachten hat sie mich irgendwann beiseite genommen, mich verschwörerisch angeguckt und geflüstert:

    „Wir halten zusammen, Janusz. Die Alten haben die Meise, nicht du!" Da habe ich mich gefreut.

    Ja, die Meise. Angeblich habe ich eine solche, irgendeine obskure „Verzögerung", mitsamt einem Diagnose-Cocktail auf Latein. Das haben sie irgendwann vor Jahren ausgeknobelt. Weil ich außerdem schnell überreizt bin, muss ich Tabletten nehmen. Genauer gesagt: müsste ich. Ich habe das eine Weile lang gemacht und mir war sofort klar, dass das Ganze ein Trick ist, damit ich nicht mitkriege, was so läuft. Eine Verschwörung! Die Drogen haben mein Gehirn total schwammig gemacht. Als ob ich so nachrichtendienstliche Ermittlungen erfolgreich durchführen könnte! Doch ich habe eine geheime Verbündete. Just an Weihnachten hat mir Anna eine blaue Dose in die Tasche gesteckt.

    „Falls du mal ein Mädchen küssen willst, Januszka, hat sie gesagt, dabei gezwinkert und mir wieder durch die Haare gestrubbelt. Alle haben gelächelt, mein Vater spöttisch, meine Mutter wehleidig, Anna spitzbübisch und ich überlegen, als mir Annas Strategie aufging. Sie ist so intelligent! Die Pfefferminzpastillen in der blauen Dose haben nämlich „zufälligerweise genau das Aussehen und die Größe meiner „Medizin". Und ich bekomme in jedem Supermarkt Nachschub. Seitdem bin ich wieder klar im Kopf. Danke, Schwesterherz!

    Die Kreuzfahrt ist das Ergebnis eines Streits zwischen meinem Onkel und meinem Vater, ebenfalls an Weihnachten. Davon hätte ich nichts mitkriegen sollen. Habe ich aber doch. Denn ich habe das Billardzimmer verwanzt. Es ist heutzutage kein Problem mehr, an gute Überwachungselektronik zu kommen. Seit dem Versuch, mich mit Tabletten in Dauerdämmerung zu versetzen, will ich wissen, was gesprochen wird.

    „Du behandelst den Jungen, als sei er vollkommen krank, Sergej!"

    „Ach ja? Du bist der Psychologe hier – hältst du ihn etwa für gesund?"

    „Nein, ich gebe zu, er hat einen kleinen Klaps und ist in seiner Reifeentwicklung hintendran. Aber du entziehst ihm das Leben. Du denkst, er wäre total unfähig und unselbstständig. Dabei ist der Junge hoch-intelligent. Ja, er ist sozial entwicklungsverzögert und hat komische Vorstellungen von der Welt, mag sein. Bloß: Was tragt ihr denn zu seiner Entwicklung bei?"

    „So, ist das deine Meinung? Wir tun für ihn alles und erwarten nichts. Seit zwei Jahrzehnten. Jetzt ist er formal erwachsen – was soll er uns am Schürzchen hängen? Wir bieten ihm das Beste, was unter diesen Umständen geht. Soll er in der Einrichtung lernen, unter Menschen zu sein. Er hat alles, was er braucht. Wir kümmern uns darum, dass er lesen kann und Klavier spielen. Seinen Abschluss wird er auch machen und dann kann er Buchhalter werden oder Buchhändler oder Pianist. Er ist ein zurückgebliebener Träumer, Valentin, so sieht es aus. Und ich habe nie etwas gesagt. Was willst du also?"

    „Gesagt nicht, Sergej, gesagt nicht. Du sagst nie etwas. Aber du respektierst ihn nicht. Die Einzige, die ihn hier respektiert, ist Anna. Du hast dir nie Zeit genommen, ihn zu verstehen. Sergej, er ist dein Sohn. Er ist klug, glaub mir, selbst wenn er nicht dein Logistik-Unternehmen leiten wird. Er kommt in komplexen Situationen zurecht. Janusz muss sein Leben entdecken. Er kann es selbst gestalten. Ich werde es dir beweisen!"

    „Ach ja? Durak! Wie denn, Herzensbrüderchen?"

    Immer, wenn er sich aufregt, verfällt mein Vater ins Russische. Dabei ist er seit knapp dreißig Jahren kein Russe mehr. Manchmal agiert er sogar deutscher als die Deutschen selbst. In den Nachwendejahren verschlug es ihn zunächst für ein paar Jahre in die Ukraine, anschließend nach Deutschland, wo er sein Unternehmen gründete. Sergej ist, entgegen jedem gängigen Klischee, weder Sowjet-Nostalgiker, noch Nationalist – dafür fühlt er sich im westlichen Kapitalismus und im internationalen Handel einfach viel zu wohl. Emigrierter Russe zu sein, das ist – oder war zumindest bislang – für ihn eher eine Art Markenzeichen, ein Teil seiner imaginären Visitenkarte, mit wenig konkreter Bedeutung für sein Geschäft, welches für ihn stets an erster Stelle steht. Danach kommen, meiner Vermutung nach, Karyna, Anna, sein Polestar 1 und ich – in genau dieser Reihenfolge. Aber imaginäre Visitenkarte hin oder her: Als die russischen Streitkräfte dieses Jahr im Februar anfingen, die fruchtbaren Äcker von Karynas Heimat mit Blut zu tränken, wurde es Sergej eindeutig zu viel.

    „Was will dieser Spinner eigentlich? Was?!", hat er unseren riesigen Flachbildschirm mitsamt den Tagesnachrichten angebrüllt und seine Socken dagegen geworfen, während Karyna weinend meine Großeltern in Odessa anrief.

    Ich weiß, dass Sergej sich mit Karynas Heimat verbunden fühlt. Und natürlich ist er wütend darüber, wie ihm Väterchen Kremls Allmachtsphantasien das internationale Geschäft versalzen – sogar das mit der eigenen Heimat! Plötzlich wird der Name Karajev kritisch betrachtet. Langjährige Fahrer kündigen ihre Verträge. Die Spritpreise sind ein Fluch für die Branche. Entsprechend laut flucht jetzt Sergej über Moskau und bricht mit alten Kontakten. Er liest Metro 2033 von Glukhovsky, bekommt seine News vom Dekoder und hat vor lauter Frust sogar die Wodka-Marke gewechselt! Innerhalb von nur wenigen Wochen hat er alle Karajev-Logistik-Standorte in Mütterchen Heimat schließen lassen, was ihm nah gegangen ist, auch wenn er das nicht sagt. Sergej sagt nie etwas. Kurz vor Ostern habe ich jedoch bei einer Übung ein entsprechendes Geschäftstelefonat belauscht, diesmal ohne Wanze, dafür mit einer Endoskopkamera. Das Gespräch verlief im Originaltext auf Russisch und beinhaltete noch einige Flüche, die ich hier nicht wiedergeben will. Mit wem er telefonierte, weiß ich nicht. Es muss aber jemand ziemlich Wichtiges gewesen sein.

    „Soll er doch sehen, wo er bleibt!", hat Sergej ins Telefon gebrüllt. „Es gibt Grenzen, auch für ihn, auch für euch! Herzensbrüderchen, ich ziehe unsere Leute und Wagen ab und mache alles dicht! Was? Ach wirklich? Nennt mich doch, wie ihr wollt! Erzähl mir nicht, ihr hättet keine Verwandten drüben! Damit schneidet ihr euch ins eigene Fleisch, der Heimat, uns allen! Was? Die besten Leute werden gehen, verstehst du?! Wie? Pah! Wer verrät hier wen? Schimpfst du jetzt mit deinem Spiegel, weil dein Gesicht schief ist? Nein, ich sehe diese glorreiche Zukunft nicht! Ihr macht euch nur selbst kaputt und uns auch! Nein, wir ziehen uns raus, fertig. Sogar der Zar wird sterben irgendwann, begreift das mal! Do swidanja!"

    Dann hat er sein Smartphone auf den Tisch gepfeffert, geflucht und sich einen doppelten Nemiroff eingegossen. Runtergekippt. Eine Weile still herumgesessen. Spöttisch die ersten Takte von Wind of Change gepfiffen. Plötzlich gelacht.

    „I follow the Moskwa… Scheiße!"

    Erneut geflucht und das berüchtigte Schlangeninsel-Zitat drangehängt. Wieder jemanden angeklingelt. Anweisungen auf Russisch gegeben. Sich noch einen weiteren Nemiroff eingegossen. Mit Karynas Eltern telefoniert und sie ohne langes Fackeln nach Deutschland geholt. Sergej mag ein harter Hund sein, aber er hat so seine Prinzipien. Trotzdem – oder genau deswegen – gefällt er sich gut in der Rolle des Möchtegern-Oligarchen. Irgendwie mag er dieses leicht anrüchige Image als Patriarch und Macho; nach außen traditionalistisch, mit einem Hauch von russischer Mafia und manchmal etwas gebrochenem Deutsch. Doch letzten Endes ist das alles nur Show. Vielleicht, denke ich, vielleicht ein bisschen Sehnsucht nach einem Gefühl von früher. Etwas Macht-Kick. Und etwas Einsamkeit. Fest steht: Sergej flucht gerne auf Russisch. Ich hingegen habe ziemliche Hemmungen, unflätig zu sein, egal in welcher Sprache. Das macht der Erziehungsanteil meiner Mutter. Doch ich schweife schon wieder ab. Ist eine blöde Angewohnheit von mir. Habe manchmal Borschtsch in der Birne, da haben die Psychotypen wohl leider recht. Wo war ich eigentlich? Ach ja: beim Lauschangriff auf das Billardzimmer.

    „Also? Wie willst du mir das beweisen?"

    Mein Vater ist dann doch neugierig. Onkel Valentin lässt sich Zeit mit der Antwort. Eine Kugel klackert.

    „Rede mit der Einrichtung. Gib ihn mir mit, für zwei oder drei Wochen. Auf Urlaub. Damit er die Welt sieht; neue Erfahrungen macht. Mein Gott, er hat noch nicht mal eine Freundin!"

    „Pah! Kann ja ein Buch darüber lesen. Was soll das überhaupt für ein Urlaub sein?"

    „Ich gehe auf Kreuzfahrt nächstes Jahr."

    Spöttisches Pfeifen. Wieder Billard-Klackern. Schweigen. Eiswürfel. Eingießgeräusch, vermutlich jener sehr teure Wodka, der ebenso Teil der Show ist. Mein Onkel lehnt dankend ab. Ungeschickt, Onkel!

    „Großes Schiff, große Fahrt. Gib ihm eine Chance, Sergej."

    Wieder Schweigen. Dann mein Vater, aufbrausend:

    „Du denkst, ich bin erfolgreich im Beruf und privat ein Versager, so ist es doch, oder? Du willst bloß, dass Mamotschka recht hat. Gib es zu!"

    Mein Onkel schweigt. Das ist klug. Etwas fällt auf den Teppich, ich tippe auf Wodka-Glas.

    „Gavno!" Scheiße. Mein Vater ist beleidigt. Irgendetwas liegt in der Luft. Sergej schnaubt verächtlich wie ein Ochse.

    „Kreuzfahrt! Pah!"

    Gießt sich sein Glas wieder voll. Trinkt. Lacht auf einmal schallend. „Sind zwei Spinner auf einem Bootchen! Du bist ein Träumer, Valentin! Auf deine Verantwortung. Und auf deine Kosten!"

    Das Meer. In dieses Wort interpretiert man viel hinein: Weite, Sehnsucht, Kraft. Ich stehe auf dem Außenbereich von Deck 15 und schaue in die Weite. Wir haben Dänemark hinter uns gelassen und bewegen uns auf der offenen Nordsee in Richtung Süd-Süd-West. Es ist 12.00 Uhr vorbei. Das Meer ist stahlblau mit weißem Schaum, unruhig gewellt, der Horizont diesig, das Wetter grauwolkig und trocken. Der Wind weht mir salzig-scharf um die Ohren.

    Die Außendecks: nur dünn besucht. Weite, Sehnsucht, Kraft? Kaum jemand verbindet mit dem Meer als erstes das Naheliegendste: Langeweile. Ich muss zugeben, dass ich ein gewisses Maß an gediegener Langeweile durchaus schätze – mein Leben ist aufregend genug. Als nächste Mission habe ich die Verwanzung sensibler Bereiche auf dem Schiff vorgesehen. ‘Sensible Bereiche’ sind überall da, wo man sich interessante Informationen erhoffen darf. Das kann auf einem Schiff dieser Größe überall sein und ich habe nur sechs Wanzen. Reichlich wenig. Ich muss gut überlegen, was ich mir davon verspreche, außer der Übung. Das Meer bringt mich in nachdenkliche Stimmung. Was verspreche ich mir überhaupt von irgendwas? Ich weiß tief in mir, dass es gar nicht so einfach ist, WIRKLICH für einen Nachrichtendienst zu arbeiten. Bin ich nicht vielleicht doch nur ein blasser, Klavier spielender Spinner mit Entwicklungsproblem? Manchmal macht es mir Angst, so klar

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1