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Byrons Fluch
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eBook539 Seiten7 Stunden

Byrons Fluch

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Über dieses E-Book

Ellen und John sind Geschwister.
Nur wissen beide nichts voneinander. Das ändert sich als ihr gemeinsamer Vater stirbt und Ellen im Testament bedenkt. Sie fällt zunächst aus allen Wolken, doch nach anfänglichen Zweifeln beschließt sie der Sache auf den Grund zu gehen. Die Umstände zwingen Ellen ihre Zelte in Hamburg abzubrechen und bei John Unterschlupf zu suchen. Aus der spontanen Sympathie wird schnell tiefe Verbundenheit und Ellen muss sich eines Tages eingestehen, das sie mehr für ihren Bruder empfindet als geschwisterliche Zuneigung. Auch die vermeintlich in Hamburg zurück gelassenen Probleme holen sie wieder ein und sorgen dafür, das Ellen immer wieder in haarsträubende und teils brandgefährliche Situationen stolpert.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum10. Mai 2023
ISBN9783989110939
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    Buchvorschau

    Byrons Fluch - Eva Brotmann

    IMPRESSUM

    Byrons Fluch

    von Eva Brotmann

    Copyright:

    2023 Hober Verlag

    Hober Verlag

    Hamburger Straße 6

    32760 Detmold

    www.hober-verlag.de

    hober-verlag@gmx.de

    Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.

    ISBN: 9783989110939

    Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG, Berlin

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    logo_xinxii

    „Sie haben Post!" schnarrte ihr Laptop.

    Ellen klickte das Bildbearbeitungsprogramm in die Taskleiste und wechselte in ihr Facebookprofil.

    Wer ist das denn? John Grey? Kenn ich nicht." Sie öffnete die Nachricht und las.

    Hallo Ellen,

    ich möchte mich erstmal vorstellen. Ich heiße

    John Grey und es kann sein, dass wir miteinander

    verwandt sind.

    Um das herauszufinden schreibe ich Dich einfach

    mal an.

    Heißt Deine Mutter zufällig Claudia Lauderbach?

    Hat sie vor ungefähr 30 Jahren mal in England

    gewohnt?

    Ich würde mich über eine Antwort freuen.

    Wenn ich nichts von Dir höre, nehme ich an,

    du bist nicht mit ihnen verwandt oder möchtest

    keinen Kontakt mit mir. Das wäre zwar schade,

    aber nicht zu ändern.

    Ich würde mich dann nicht mehr melden.

    Gruß

    John

    Na so was. Der Typ war mit Ihr verwandt. Sie musste schmunzeln. "Bestimmt irgend ein verschollener Onkel. "

    Sie ging auf Antworten und schrieb.

    Hallo John,

    Ja, ich bin die Tochter von Arthur Grey und Claudia Lauderbach und meine Eltern haben vor meiner Geburt in England gelebt. Inwieweit sind wir denn verwandt? Habe noch nie von Dir gehört.

    Gruß zurück

    Ellen

    Nach einigen Sekunden des Zögerns ging sie auf Senden. „Wo diese Nachricht jetzt wohl hingeht?

    Vielleicht ans andere Ende der Welt? Da bin ich mal gespannt".

    Sie begann, wieder die Fotos zu bearbeiten, die sie gemacht hatte. Als sie gerade fertig war, meldete sich wieder diese blecherne Stimme. „Sie haben Post!"

    Ellen hatte ein leichtes Kribbeln im Bauch vor Aufregung, als sie die Nachricht aufrief.

    Hallo Ellen,

    so schnell habe ich nicht mit einer Antwort

    gerechnet.

    Dann sitzt Du also gerade auch vor Deinem

    Computer. Wenn Du nicht sitzt:

    Setz Dich bitte!

    Hä???Was soll das denn???

    Sie las weiter und ihr Kribbeln breitete sich schlagartig im ganzen Körper aus.

    Hat Claudia nie etwas von mir erzählt?

    Ich bin Dein Bruder.

    Lebt Claudia noch?

    Arthur ist vor Kurzem gestorben und über den

    Notar habe ich von Dir erfahren und mich

    auf die Suche nach Dir gemacht.

    Ich würde Dich gerne kennen lernen.

    Gruß John

    Sie starrte gebannt auf die Zeilen, las die Nachricht ein zweites Mal.

    „Ich glaub das nicht."

    Sie war sprachlos, wie vor den Kopf gestoßen. Was war das für `ne Nummer? So was gibt es doch nicht wirklich?"

    Ellen lehnte sich auf ihrem Stuhl weit zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den Bildschirm skeptisch. „Verarsche? Irgend so ein Internetbetrug, wo nach persönlichen Daten gefragt wird? Werbegag?"

    Beweisen Sie es!!!!

    Sie klickte auf senden.

    So, jetzt bin ich mal gespannt. So einfach lasse ich mich nicht verarschen."

    Sie wartete eine ganze Zeit. Als sie gerade den Laptop zuklappen wollte, kam die Antwort.

    Beweise.

    Mehr nicht.

    Nur ein Anhang. 

    Sie öffnete ihn.

    Eine eingescannte Geburtsurkunde aus England erschien auf dem Bildschirm.

    Name, Geburtsdatum, Name der Eltern. Sie überflog das Dokument. Las die Namen ihrer Eltern wieder und wieder.

    „Das gibt es doch nicht." Sie starrte entgeistert auf den Bildschirm.

    „Deniz?" rief sie laut und horchte auf Antwort durch die nur angelehnte Zimmertür.

    „Wohnzimmer", kam leise zurück.

    „Komm mal schnell."

    Die alten Dielen des WG- Fußbodens verrieten, dass ihr Mitbewohner durch den Flur ging. „Was gibts denn?"

    Sie drehte sich zu ihm um, winkte ihn näher.

    „Schau mal", und zeigte nur Richtung Bildschirm.

    Er beugte sich über ihre Schulter und las.

    „Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast."

    „Ich auch nicht."

    „Hä?... Aber da steht es doch. Das sind doch deine Eltern, oder?"

    „Kann das gefälscht sein?"

    „Warum sollte man das fälschen?"

    So war Deniz. Er war immer so schön logisch und direkt. Ohne kompliziert zu sein. Er sagte, was er dachte und zog immer klare, logische Schlüsse.

    Er war genau so alt wie sie, achtundzwanzig, und studierte Architektur. Deniz war nicht wirklich als groß gewachsen zu bezeichnen, hatte schwarze kurze Haare und wieder seinen immer mal auftauchenden Drei-Tage-Bart. Wobei Ellen und Steffi davon ausgingen, dass es etwas mit Faulheit zu tun hatte.

    „Ich habe das von `nem Typen bekommen, der behauptet, mein Bruder zu sein." Sie ließ ihn die Nachrichten lesen.

    „Ich habe noch nie von dem gehört. Das ist doch Verarsche."

    „Was sollte der damit bezwecken? Sieht doch echt aus."

    „Hallo? Mein Vater ist kurz nach meiner Geburt gestorben. Da steht, dass er erst vor Kurzem gestorben ist."

    Deniz sah sie nachdenklich an.

    „Entweder er lügt tatsächlich, oder deine Mutter hat dir da was verheimlicht."

    Sie warf ihm einen entsetzten Blick über die Schulter zu.

    „Scheiße, das würde ich ihr sogar zutrauen."

    „Ruf sie an."

    Er richtete sich auf und lehnte sich neben den Schreibtisch an die Wand.

    „Sie kann dir doch genau sagen, ob und wann sie noch einen Sohn in die Welt gesetzt hat. - Wenn sie dir die Wahrheit sagt."

    „Sie hat mir noch nie was von ihrem alten Leben erzählt und seit sie auf diesem Guru-Trip ist, kann man nicht wirklich vernünftig mit ihr sprechen."

    Ellen verdrehte die Augen.

    Deniz zog ein mitleidiges Gesicht. „ Ach ja, da war ja was. Wann hast Du denn das letzte Mal was von ihr gehört?"

    „Sie hat mich `ne Woche nach meinem Geburtstag angerufen um mich zu fragen wann ich denn Geburtstag habe. Sie grinste schief. „Letztes Jahr, wohlgemerkt.

    Ellen drehte sich mit dem Bürostuhl ganz zu ihm um und streckte die Beine lang aus, die Arme vor der Brust verschränkt.

    „Meinst du, dann kann sie sich dran erinnern, ob sie vor über 30 Jahren einen Sohn bekommen hat? Ich glaube nicht!"

    „Sorry."

    Sie zuckte die Schultern und machte eine wegwerfende Handbewegung.

    „Man gewöhnt sich an alles. Ich kenne es nicht anders."

    „Ich kann mir das schlecht vorstellen. Bei uns ist die Familie total wichtig. Naja, da habe ich ja auch nicht grade wenig von. Manchmal ist das auch etwas nervig, aber...."

    Deniz zuckte mit den Schultern.

    Sie strich sich eine Strähne ihres roten Haares hinters Ohr, welche sich aus ihrem Haargummi gestohlen hatte. Über die Schulter schaute sie nachdenklich zum Bildschirm.

    „ Ich bin total..... Ach ich weiß nicht. So was Beklopptes."

    Ellen sprang von ihrem Stuhl auf.

    „Ich koche Tee. Möchtest Du auch? Ist schon Iftar?"

    Deniz nickte grinsend. „Ja, ist schon gerne", und folgte ihr in die Küche.

    Sie setzte gerade in der Gemeinschaftsküche Tee auf, als ein „Hallo im Flur ihre Mitbewohnerin Steffi ankündigte. Die Wohnungstür fiel ins Schloss und ein Kopf schob sich durch den Türspalt. „ Ach, hier seid ihr.

    Ellen klapperte unüblich laut und hektisch mit dem Geschirr.

    „Ey, was ist denn mit Dir los? Was hibbelst Du hier so rum?"

    Die große, schlanke Frau mit den kurzen blonden Haaren stellte ihre Handtasche auf den Tisch und kramte darin herum. Dabei wanderte ihr Blick immer wieder zu Ellen hinüber.

    „Ellen, was ist?"

    „Sorry, ich bin grad ein bisschen.... ach ich weiß auch nicht..." Sie drehte sich mit Schwung zu ihr um, wobei der Tee fast der Fliehkraft folgend aus der Kanne fließen wollte.

    „Ellen hat eine komische Nachricht über Facebook bekommen." Deniz lehnte an dem alten verkratzten WG-Tisch und nickte mit dem Kopf in Ellens Richtung.

    „Spam, oder was? Ob du Viagra kaufen möchtest?", fragte Steffi mit einem Stirnrunzeln.

    „Los Ellen, erzähl. Ich kümmere mich um den Tee."

    Deniz nahm ihr die Sachen aus der Hand und schob sie Richtung Tisch. Steffi holte Tassen aus dem Schrank und nötigte Ellen durch eine Geste, sich zu setzen.

    „Ich habe diese total bekloppte Nachricht bekommen, du kannst sie gleich mal lesen und mir deine Meinung sagen." Schnell sprang sie wieder auf und holte ihren Laptop.

    Steffi warf derweil Deniz einen skeptischen Blick zu.

    Der meinte nur: „Lies es selbst."

    Ellen quetschte sich samt Laptop neben Steffi auf die Bank und drehte ihn in ihre Richtung.

    Deniz setzte sich ihnen gegenüber, nahm die Kanne und schenkte beiden ein.

    Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und blies in

    seinen Tee, dass seine Brillengläser beschlugen.

    Ellen umfasste ihre Tasse mit beiden Händen, als ob ihr kalt wäre. Ihre Blicke trafen sich über dem Tisch. Er zwinkerte ihr aufmunternd zu.

    „Das gibt es doch nicht. Was soll das denn?" Steffi las mit zusammen gekniffenen Augen.

    Ellen griff rüber und vergrößerte das Bild mit der Urkunde.

    „Was hältst du davon?"

    Sie nahm einen kleinen Schluck und blickte wieder über ihre Tasse zu ihrem Mitbewohner herüber. Deniz saß ihr entspannt  gegenüber und wartete einfach.

    „Das ist irgend so ein Internetbetrug. So was gibt es nicht."

    „Wieso nicht?", warf Deniz ein.

    „Der Vater eines Freundes von mir hat auch vor ein paar Jahren erfahren, dass sein Vater im Krieg in Russland ne Frau geschwängert hatte, von der hier keiner etwas wusste. Bis sich der Stiefbruder bei ihm gemeldet hat. Die Familie hat jetzt auch Kontakt zu ihren Verwandten in Polen."

    Beide Frauen sahen ihn skeptisch an.

    „Echt wahr, Mann."

    „Krass."

    „So was beklopptes gibt´s doch nur im Fernsehen. Oder?"

    „Deniz, was sagst du denn dazu?" Steffi nickte in Richtung des Bildschirmes.

    Deniz nahm einen Schluck aus seiner Tasse und verzog das Gesicht. „Fehlt Zucker!"

    Wortlos schob Ellen ihm die Zuckerdose hin, Steffi streckte gleichzeitig den Arm zur Seite aus, zog die Schublade an der Arbeitsfläche auf und reichte einen Teelöffel rüber. Beide Frauen ließen ihn dabei nicht aus den Augen.

    „Danke."

    Er grinste sie an.

    „Ne, jetzt im Ernst. Wieso soll das nicht gehen? Wer weiß, was deine Eltern vor deiner Geburt gemacht haben?"

    „Schreibst du ihm zurück?", fragte Steffi vorsichtig.

    „Klar. Ich will ja wissen, ob das stimmt."

    Sie lehnte sich zu ihr rüber und legte ihr eine Hand auf den Arm.

    „Sei  bloß vorsichtig. Nicht dass du dich mit ihm triffst und er ist irgend so ein Perverser. Wie hat er Dich überhaupt gefunden?" Steffi wirkte ängstlich.

    „Über Facebook kam das. Ellen tippte auf den Bildschirm. „Ich bin da doch mit  Realnamen drin.

    „Mädels, ich muss los."

    Deniz nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse und stand auf.

    „Wir essen heute alle bei meinen Eltern zu Abend. Möchte jemand vielleicht mitkommen? Meine Mutter macht immer viel zu viel, kennt ihr ja."

    Ellen schüttelte den Kopf. „Ne lass mal, danke. Kann jetzt nicht auf türkische Großfamilie. Aber grüß alle ganz lieb. Beim nächsten Mal wieder, ok?"

    Steffi nickte heftig. „Ich komme mit. Das ist immer saulecker. Äh.... Lamm lecker." Er lachte und stellte die Tassen in die Spülmaschine.

    Ok. Dann lass uns los. Ellen, halt uns auf dem Laufenden. Vielleicht stimmt das ja. Wäre doch lustig.

    Er winkte nochmal grinsend in der Tür. Steffi warf ihr im hinaus gehen einen etwas skeptischen Blick zu.

    Dann waren beide weg.

    „Lustig?"

    Sie saß noch eine Weile am Tisch und dachte über diese Nachricht nach.

    Das musste eine Verarsche sein. Sie hätte doch gewusst, wenn ihre Mutter noch ein Kind bekommen hätte. Ihre Großeltern hätten was erzählt. Es gäbe Fotos. Ein Sohn hätte Spuren hinterlassen.

    „Tue es ab. So was gibt es nicht", sagte sie sich.

    „Oder doch von einer anderen Frau? Das würde erklären warum Oma und Opa nix wussten. Und die Geburtsurkunde?"

    „Gefälscht! Aber warum?

    Woher hatte der Typ dann die Geburtsdaten meiner Eltern?"

    Sie drehte den Rechner zu sich und beseitigte den Bildschirmschoner.

    „Erklär es mir", schrieb sie.

    Es kam keine Antwort. Hatte ihm wohl zu lange gedauert. 

    Sie fuhr brastig ihren Computer runter.

    Später am Abend guckte sie nochmals über ihr Smartphone. Es ließ ihr keine Ruhe.

    Eine Nachricht war eingegangen.

    Mein Vater Arthur Grey und meine Mutter

    Claudia trennten sich als ich 3 Jahre alt war,

    und wie ich jetzt herausgefunden habe,

    war sie mit Dir schwanger. Ob wir den

    selben Vater haben oder nicht, weiß ich nicht.

    Aber wir haben dieselbe Mutter.

    Ich besitze Fotos von ihnen.

    Falls es Dich interessiert, melde dich einfach.

    Darunter stand eine Adresse und Telefonnummer.

    Skeptisch klappte sie den Laptop zu.

    Das klang alles so glaubwürdig.

    Irgendwie machte es sie etwas sauer auf ihre Mutter. Wieso war alles bei ihr immer extra kompliziert?

    Was, wenn es doch stimmte. Hatte sie ihr achtundzwanzig Jahre lang einen Bruder verheimlicht?

    Sie sprang auf und lief in ihr Zimmer.

    „Verdammte Scheiße."

    Wütend kramte sie nach ihrem Handy.

    *

    „Ruf ihn an!"

    Deniz ließ sich neben Steffi aufs Sofa fallen und streckte die Beine von sich.

    „Ob das so gut wäre? Wer weiß, was das für einer ist. Nachher ist das irgend so ein perverser Spinner," warf Steffi ein.

    Ellen saß den beiden gegenüber. Mit unterschlagenen Beinen lümmelte sie in dem alten, abgewetzten Sessel. Sie trafen sich fast jeden Abend im Wohnzimmer und erzählten sich etwas oder guckten zusammen fern.

    „Was sagt deine Mutter dazu?"

    „Nix, ich habe sie noch nicht erreicht. Das ist aber nicht ungewöhnlich. Die Verbindung ist nicht immer die beste. Und wenn, muss sie ansprechbar sein."

    „Wie schrecklich", flüsterte Steffi. Sie hatte einen Rotwein aufgemacht und beide Frauen hatten sich mit Gläsern versorgt.

    „Geht so. Ich kenne es nicht anders." Ellen zuckte gleichgültig mit den Schultern. Deniz lümmelte sich ins Sofa und legte die Füße auf die Tischkante. Mit halb gesenkten Augenlidern blickte er zu Ellen hinüber.

    „Wann hast du das letzte Mal was von ihm gehört, also gelesen meine ich?"

    „Nur gestern. Das was ich euch gezeigt habe. Ich bin jetzt dran."

    „Der will dich doch nur mit den Fotos locken. Treff dich bloß nicht mit ihm alleine."

    Deniz warf Steffi einen genervten Blick zu.

    „Hallo? Ellen ist nicht blöd. Was machen wir denn jetzt? Rufst du ihn an und stellst mal ein paar Fragen?"

    Ellen zuckte nur mit den Schultern und nippte an ihrem Wein.

    „Es muss doch irgendwas in deiner Familie geben, was er als dein Bruder wissen muss. Was seine Glaubwürdigkeit am Telefon schon untermauert. Bis du deine Mutter erreicht hast, könnte man ja schon vorarbeiten. Er soll dir die Fotos schicken."

    Ellen musste lächeln. Typisch. Deniz war Pragmatiker.

    „Hast du mal gegoogelt? Findet man was über ihn?", warf Steffi ein.

    „Italienische Schuhe. Sonst nix. Kein Sportverein, Instagram und wie die alle heißen. Nichts. Auch fast nichts über Facebook. Nur der Name. Keine Fotos, keinen Wohnort. Das finde ich schon komisch."

    „Vielleicht ist das nicht sein richtiger Name? Grey, so heißt kein Mensch."

    Jetzt warf Steffi Deniz einen strengen Blick zu. Er grinste zu ihr rüber.

    „Mein Vater hieß so. Das weiß ich immerhin."

    „Die Adresse?"

    „Gibt es. Ist in NRW. Habe ich bei Googlemaps geguckt."

    „Ruf ihn an."

    *

    Abends lag sie auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie hatte wieder versucht, ihre Mutter zu erreichen. Die Verbindung war gut, nur war sie nicht da gewesen. Sagte man ihr jedenfalls.

    Ihr Handy lag neben ihr.

    Sollte sie einfach anrufen?

    Sie musste sich eingestehen dass sie totales Lampenfieber hatte. Wie früher vor einem Gig. Oder der Gesellenprüfung. Schrecklich.

    Sie griff blind neben sich nach dem Telefon und hielt es sich vor die Nase. Suchte die Nachricht heraus und kopierte die Telefonnummer in das passende Feld.

    Etwas zögerte sie noch, den Anruf rauszuschicken. „Wenn er ein Arschloch ist, lege ich wieder auf."

    Sie hatte vorsichtshalber die Rufnummer unterdrückt.

    Scheiße, war sie aufgeregt.

    Schnell drückte sie auf Wählen und lauschte angespannt.

    Es klingelte einmal, zweimal, dreimal...

    „Ok, er ist nicht da. Schnell auflegen...."

    „Grey?"

    Scheiße....!"

    „Ellen Lauderbach, hallo."

    Hoffentlich klang ihre Stimme nicht allzu nervös. Sie setzte sich auf und überkreuzte die Beine zum Schneidersitz.

    „Hallo. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet." Er klang überrascht.

    Kein Akzent oder Dialekt. Sie hatte sich irgendwie vorgestellt, er spräche mit englischen Akzent.

    „Das war eine Spontanentscheidung, gerade eben. Ich hoffe, man kann dich um diese Zeit noch stören."

    Sie schielte auf ihren Wecker. Halb elf. Schon etwas spät.

    „Du störst nicht," kam es entschieden.

    Seine Stimme klang ruhig und dunkel. Aber eher eine Tenorstimme als Bass.

    Sympathisch.

    „Wer bist Du?" rutschte ihr heraus.

    Sie sprach leise. War aber total aufgeregt.

    „Mein Name ist John Grey. Ich bin 32 Jahre alt und der Sohn von Arthur Grey und Claudia Lauderbach." Jetzt klang seine Stimme amüsiert. Aber nicht so, als ob er sich über sie lustig machte.

    „Warum sollte ich dir das glauben?"

    „Meine  Geburtsurkunde kennst du ja schon. Ich habe Fotos und meine Grandma kannte Claudia natürlich. Die hat mir von ihr erzählt."

    „Oh Gott, ich habe Verwandte."

    „Wieso erfahre ich erst jetzt von dir und deiner Familie? Oder besser ... meiner Familie?"

    „Das ist eine etwas komplizierte Geschichte. Lebt Claudia noch?"

    „Wahrscheinlich schon. Ich versuche, sie seit deiner Nachricht zu erreichen. Sie lebt in Indien."

    „Ach, deshalb konnte ich sie nicht finden. Das erklärt einiges."

    Es klang, als ob er das mehr zu sich selbst sagte.

    Diese Situation überforderte Ellen zusehends. Sie quatschte da mit einem wildfremden Mann über ihre Familie. Dieser Mann gehörte zu ihrer Familie!

    „Ich melde mich wieder bei Dir, wenn ich sie erreicht habe, okay? Ich muss das jetzt erst mal sacken lassen", sagte sie schnell.

    Sie fühlte sich total komisch.

    „Tu das. Bis bald."

    „Tschüss."

    Sie unterbrach die Verbindung und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Ließ das Telefon achtlos neben sich liegen und legte die Hände auf ihr Gesicht.

    „Ach.... du...... Scheiße."

    Ihr Herz raste. Jetzt erst merkte sie, wie angespannt sie wirklich war.

    In ihrem Bauch braute sich Wut zusammen. Was hatte ihre Mutter ihr alles verheimlicht?

    *

    Nach knapp einer Woche erreichte sie ihre Mutter endlich.

    Die Wut schwelte die ganze Zeit vor sich hin. Sie nervte ihre Mitbewohner mit ihrer schlechten Laune, das wusste sie. Bei John hatte sie sich nicht wieder gemeldet. Erst wollte sie Klarheit haben.

    „Hallo Schatz", kam es zuckersüß durch den Hörer. Dafür, dass sie tausende Kilometer von einander entfernt waren, war die Verbindung optimal.

    „Tag Ma."

    „Wie geht es dir, mein Schatz?" Ihr sträubten sich die Nackenhaare. „Wenn sie so spricht, ist sie stoned."

    „Ma? Befindest Du dich in der Nähe unserer Umlaufbahn?"

    „Was meinst Du, mein Liebling?"

    „Vergiss es. Wer ist John Grey?"

    Stille aus dem Hörer. „Ist die Verbindung abgerissen oder ist sie vor Schreck umgefallen?"

    „Oh. Ich wusste, dass das irgendwann kommt." Sie klang traurig.

    „WAS???", schrie Ellen in den Hörer.

    „Schrei nicht so. Hat Arthur dich gefunden? Ich wusste, dass er sein Versprechen nicht halten würde." Sie klang weinerlich, aber so viel hatte ihre Mutter schon lange nicht mehr gesprochen.

    „Welches Versprechen? Du hast mir gesagt, er wäre tot", zischte sie wütend.

    „Der soll uns in Ruhe lassen. Was will der nach so vielen Jahren? Ich will nichts mit ihm zu tun haben. Das ist vorbei. Alter Ballast. Das will ich nicht hören", jammerte sie.

    „Mama. Nicht auflegen. Was weißt du über John? Kannst du mir irgendwas zu ihm sagen?"

    Bitte sei einigermaßen klar genug im Kopf."

    „Der kleine John.... Er muss damals drei oder vier gewesen sein. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, hatte er sich  das Bein gebrochen. Er war vom Baum gefallen. Weißt du, im Garten von Arthurs Eltern stand so ein großer Kirschbaum. Da ist er drin herum geklettert und ein Ast ist gebrochen."

    Sie sprach in einem komischen Singsang. Als ob sie eine Geschichte erzählte.

    „Ich erinnere mich noch gut daran. Das war ein richtig böser Bruch. Da guckte der Knochen aus dem Bein und er hat wie am Spieß gebrüllt." Sie verstummte.

    „Ma?"

    Es raschelte am anderen Ende und sie hörte, wie jemand ihre Mutter ansprach.

    „Warte mal grade....." Ellen verstand nicht was da gesprochen wurde, aber sie hörte aus dem Tonfall ihrer Mutter diese Unterwürfigkeit, die sie so hasste.

    „Du Schatz, ich muss auflegen. Du bringst mich wieder total aus dem Gleichgewicht. Das ist nicht gut für mich. Das verstehst du doch, oder?"

    „Fuck. Wie ich das hasse!"

    „Ja Mama, machs gut", sagte Ellen resigniert. So endeten fast alle Gespräche. Irgendwer mischte sich ein und ihre Mutter kuschte.

    Ellen unterbrach die Verbindung.

    Sie hatte das Gefühl, gleich kotzen zu müssen, so eine Wut auf ihre dusselige, Hasch rauchende, nicht auf dieser Welt lebende Mutter überkam sie.

    So schlimm war es noch nie nach einem Gespräch mit ihr.

    Sie musste raus, sich bewegen.

    Schnell zog sie ihre Laufsachen an und rannte sich die Wut vom Leib.

    *

    „Hallo John."

    „Hallo Ellen."

    „Ich habe... mit Claudia gesprochen."

    Sie machte eine Pause. Sie fühlte sich immer noch schlecht nach dem Gespräch mit ihrer Mutter. Es war schon spät am Abend. Sie hatte etwas Zeit gebraucht, um die Informationen zu verarbeiten. Jetzt verspürte sie den Zwang, mit ihm zu reden.

    „Und?"

    Er fragte sachlich.

    „Ich weiß nicht, was zwischen den beiden war. Sie hat was von einem Versprechen und, er soll sie in Ruhe lassen, gefaselt. Ich weiß nicht, was ich denken soll."

    Sie war immer leiser geworden.

    „Was ist denn los mit ihr?"

    Jetzt klang er besorgt.

    „Sie lebt in Indien in einer Hippiekommune und ist ständig breit. Es ist immer etwas schwierig, sich mit ihr zu unterhalten, weil  man nicht weiß, ob sie auch wirklich anwesend ist. Wenn man sie überhaupt erreicht."

    „Oh."

    Stille am Ende der Leitung. Ellen lauschte in den Hörer. Grade wollte sie fragen, ob er noch dran war, da hörte sie, wie er einatmete und seufzte.

    „Ach herrje. Unsere Mutter ist ja ziemlich abgedreht. Damit habe ich nicht gerechnet. Dass sie etwas speziell war, hat mir Grandma schon erzählt. Aber so? Irgendwie hatte ich gehofft, sie auch kennenzulernen."

    Er schwieg wieder. Ellen wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie kannte ihre Mutter nicht anders und hatte sich schon seit Jahren damit abgefunden. Diese Frau hatte sie zwar geboren, aber mehr verband Ellen nicht mit ihr.

    „Klar. Er kennt seine Mutter nicht. Er hatte wahrscheinlich die Hoffnung, da eine Lücke schließen zu können. Wie ich mit meinem Vater."

    Sie musste sich wieder eingestehen, dass sie um ihren Vater trauerte. Sie hatte ihn zwar nie kennen gelernt, aber er lebte ja bis vor Kurzem noch. Die Chance war immer da gewesen. Wenn sie es gewusst hätte.

    Beide schwiegen. Beide dachten an ihre Eltern.

    John unterbrach die Stille, bevor sie unerträglich wurde.

    „Hat sie irgendwas von früher erzählt?"

    „Ja, hat sie."

    Ellen war dankbar für den Richtungswechsel.

    „Wie hast du dir damals das Bein gebrochen?"

    Sie hörte ihn leise lachen.

    „Ich bin vom Kirschbaum gefallen. Ich durfte da nicht hoch klettern aber ich wollte unbedingt an die Kirschen. Ein Ast wollte mich nicht halten und rums lag ich unten. Die Narbe sieht man immer noch. Erinnere mich dran. Dann zeige ich sie dir mal."

    „Hmhm...."

    „Test bestanden?", fragte er leise. Das hörte sich wieder ernster an.

    „Ich glaube schon. Sie war dabei. Daran konnte sie sich noch erinnern."

    „Echt? Komisch. Ich habe keine Erinnerung daran, dass sie dabei war. An Dad und wie ich dann im Krankenhaus lag....." Er stockte. Schien nachzudenken.

    „Grandma war auch da... Sie hat mir Kirschen ins Krankenhaus gebracht."

    „Wie alt warst du denn da?"

    „Hm... drei, oder so. Es war auf jeden Fall noch in England. Oder waren wir nur zu Besuch? Ne, wenn Claudia dabei gewesen sein soll  muss ich drei gewesen sein."

    „Sie hat gesagt, dass sie dich dort das letzte Mal gesehen hat."

    „Na gut. Nehmen wir das mal so hin. Vielleicht fällt mir dazu noch was ein. Ich krame mal in meinem Gedächtnis."

    Dann schwieg er wieder. Grade wollte sie nachfragen, wie es mit einem Treffen aussehen würde, da nahm er ihr die Worte aus dem Mund.

    „Wenn du möchtest, können wir uns treffen. Ich komme dann mal nach Hamburg. Oder du kommst zu mir."

    „Oder wir treffen uns in der Mitte", sagte sie schnell. Sie dachte an Steffi.

    „Die Mitte wäre..... warte mal.... Fallingbostel? Ok. Treffen wir uns da. Soll ja auch sehr schön dort sein.... glaube ich. Sag mir wann und ich besorge eine Nelke fürs Knopfloch."

    Sie musste lachen. Humor hatte er.

    „Ich weiß nicht. Nächstes Wochenende? Dieses muss ich arbeiten."

    „Was machst du beruflich?"

    „Ich jobbe im Moment in einer Kneipe.

    Ich bin seit drei Monaten arbeitslos."

    Das war ihr etwas peinlich, aber sie konnte es schlecht verheimlichen. 

    „Ich bin Zweiradmechanikerin", sagte sie schnell.

    „Cool." Er hörte sich überrascht an.

    „Und damit findet man keinen Job in Hamburg?"

    „Mann vielleicht, Frau nicht so einfach. Ich hatte schon Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Du brauchst für eine weibliche Arbeitskraft eine eigene Umkleide und ein eigenes Klo. So was gibt es in den meisten Werkstätten nicht. Was glaubst Du, was ich mir schon anhören musste. „Wirst doch eh bald schwanger, oder, nen Weib bringt nur Stress inne Werkstatt." Das ist die totale Männerdomäne. Wir waren zwei Mädels in allen Ausbildungsjahrgängen.

    „Was fährst du für ´ne Maschine?" Ellen musste schmunzeln. John hatte nicht gefragt, ob sie Motorrad fährt, sondern welche. Pluspunkt für den Kerl.

    „Eine Triumph Bonneville T100, aber Baujahr 2007. Keine alte."

    „Wie witzig."

    „Warum?"

    „Ich habe eine Speed Triple, 1095."

    Jetzt musste sie grinsen. „Das ist wirklich witzig. Auch `ne Triumph. Liegt wohl in der Familie. Was machst du beruflich?"

    „Ich bin Polizist."

    Ups. Das liegt nicht in der Familie."

    „Das wird Steffi aber beruhigen", meinte sie schnell.

    „Warum das?" Er hörte sich erstaunt an.

    „Meine Mitbewohnerin Steffi meint, du könntest ja auch ein perverser Triebtäter sein, der es auf Internetbekanntschaften abgesehen hat."

    John lachte laut auf. Sein Lachen klang sehr sympathisch und ansteckend.

    „Herrlich. Dafür hat mich noch niemand gehalten."

    Er amüsierte sich köstlich.

    „Ich werde ihr sagen, dass du ein Hüter des Gesetzes bist. Dann darf ich mich bestimmt auch mit dir treffen."

    „Du wohnst in einer WG?"

    „Ja, seit ich meinen Job verloren habe. Ich hatte `ne kleine Wohnung über dem Betrieb und als die Bude dicht gemacht hatte, musste ich da natürlich raus. Ich bin dann in die WG gezogen. Da hatte ich Glück im Unglück, dass das Zimmer gerade frei geworden war. Was anderes konnte ich mir gar nicht leisten. Hamburg ist teuer und wer vermietet seine Wohnung an jemanden, der gerade arbeitslos geworden ist."

    „Klingt logisch. Also Steffi ist deine Mitbewohnerin. Bring sie doch mit, wenn sie dich nicht alleine loslassen will."

    „Dann würde ich eher Deniz mitbringen. Sie sprach den Namen wie Dennis aus. Das hatten sie sich so angewöhnt. Sein Kommentar dazu war: „Ist doch lustig. Der ist  lockerer und spontaner. Steffi ist immer übervorsichtig."

    „ Und wer ist das?"

    „Mein anderer Mitbewohner. Wir leben hier zu dritt."

    „Dann bring meinetwegen den mit. Wenn du dich dann sicherer fühlst."

    Sie überlegte.

    „Hm, ich würde auch alleine kommen. Ich habe da nicht so das Problem damit."

    „Wir können ja mal nächste Woche im Auge behalten. Lass uns einfach kurzfristig noch mal telefonieren. Ich muss jetzt zur Arbeit. Deshalb muss ich dich jetzt leider etwas abwürgen."

    „Ach ja, Schichtdienst?"

    „Genau. Ich arbeite nicht hier in der Stadt." Er nannte ihr die Stadt in der seine Dienststelle war.

    „Da fahre ich auch noch `ne gute dreiviertel Stunde hin. Also, bis bald. Wir telefonieren. Ach ja und ich schicke dir die Fotos, ok?"

    „ Ja, mach mal. Da bin ich sehr gespannt drauf."

    Sie beendeten das Gespräch und Ellen musste grinsen.  „War doch eigentlich sehr nett, der Bruder."

    Sie war angenehm überrascht, wie locker sie mit ihm plaudern konnte.

    Ellen ließ das Telefon auf dem Bett liegen und ging zu Steffi rüber ins Wohnzimmer.

    „Und?" Steffi setzte sich auf  und klappte ihr Buch zu.

    „Ich kann dich beruhigen. Er ist Polizist."

    Ellen lehnte sich an den Türrahmen und grinste zufrieden.

    „Sagt er. Woher willst du wissen, dass das stimmt?"

    Besorgt wiegte Steffi den Kopf hin und her.

    Ellen verdrehte die Augen. Dann erstattete sie aber trotz skeptischer Blicke einen kurzen Bericht über das Telefonat.

    „Wenn es nicht mein Bruder ist, woher soll er das alles wissen?", schloss sie.

    „Trotzdem, sei vorsichtig."

    „Er hat gesagt, er schickt mir Fotos. Lass uns dann mal sehen. Ok?"

    *

    „Steffi? Schau mal."

    Ellen war früh wach geworden und hatte als erstes ihre Nachrichten durchgeschaut.

    Sie hörte gerade, wie ihre Freundin aus dem Bad kam. Ellen hatte zwar nachts gearbeitet, aber die Neugierde auf die Fotos hatte sie geweckt.

    „Wasnnn...?" kam es aus dem Flur. Steffi schlurfte in ihr  Zimmer, wuschelte sich verschlafen durch die blonden kurzen Haare und gähnte ausgiebig.

    Sie trug einen verwaschenen hellblauen Schlafanzug. Ihre Füße steckten in rosa Pantoffeln. Ellen musste grinsen. Sie fand Steffi trotzdem hübsch. Sie war groß und schlank und machte wirklich in jedem Outfit eine gute Figur.

    „Die Fotos sind da."

    „Oh, zeig mal?" Das klang schon wacher.

    Ein Hochzeitsfoto in Schwarz/Weiß .

    Ihre Mutter stand lächelnd neben einem hochgewachsenen jungen Mann mit dunklen strubbeligen Haaren.

    So ein Foto hatte sie noch nie von ihrer Mutter gesehen. Sie war sehr jung und bildhübsch. Fast hätte Ellen sie nicht erkannt.

    Ihr faltenfreies Gesicht strahlte. Sie war schlank und wohl geformt. Nicht so rappeldünn und verlebt wie sie sie das letzte Mal gesehen hatte.

    Der junge Mann neben ihr strahlte glücklich in die Kamera. Er war groß und schlank, mit dunklen kurzen Haaren und einem markanten Gesicht, strahlenden Augen und einem verschmitzten Lächeln um den Mund. Er sah ziemlich gut aus.

    „ Das sind deine Eltern?"

    „Scheint so," meinte Ellen etwas traurig.

    „Ich habe sie noch nie so glücklich gesehen. Geschweige denn so jung. Es gibt keine Bilder von ihr. Sie hat nichts aufgehoben."

    „Hmhm, machte Steffi und betrachtete das Foto konzentriert. „Hattest du mal erwähnt. Sie sieht dir echt ähnlich.

    „Ja, meine Oma hat das auch immer gesagt. Aber ich kannte sie immer nur so... kaputt und verlebt. Jetzt weiß ich, was sie meinte."

    „Dein Vater sah aber auch gut aus. Wenn John ihm ähnelt, ist der was fürs Auge."

    Ellen zuckte mit den Schultern.

    „Ich habe keine Ahnung, wie er aussieht."

    Sie vergrößerte das nächste Foto. Es waren insgesamt drei.

    Ein kleiner Junge saß unter einem Baum und aß Kirschen. Sein Bein war eingegipst.

    „Ah ja. Das müsste dann John sein. Die Geschichte mit dem Kirschbaum."

    Sie öffnete das letzte und schnappte nach Luft. Das kannte sie.

    „Was hast du?", fragte Steffi besorgt.

    Ihre Mutter mit dem kleinen Jungen auf dem Arm auf einer Esszimmerbank sitzend.

    Sie starrte verdattert auf das Bild. „Woher kenne ich das?" Sie kramte in ihrem Gedächtnis.

    Jetzt fiel es ihr wieder ein.

    „Das Bild.... das kenne ich. Das hing immer bei meinen Großeltern in der Diele. Eines der Bilder, an denen man immer so achtlos vorbei geht. Die man schon von Klein auf kennt. Das hatte ich völlig vergessen.

    Ich bin mir aber sicher, dass Ma mir erzählt hatte, dass das ein Nachbarsjunge war."

    „Wieso hat deine Mutter dir das verheimlicht?"

    Tief traurig schaute sie ihre Freundin an.

    „Ich weiß es nicht!"

    *

    „Was machst du da?"

    Deniz war hinter sie getreten und schaute ihr über die Schulter. Ellen kniete im Keller vor einem geöffneten Karton und kramte darin herum.

    „Ich suche die Fotos von meinen Großeltern. Die müssten hier zwischen dem Krempel sein." Sie hob einen großen Stapel Papiere aus der Kiste und legte ihn vorsichtig neben sich auf den Boden.

    „Wie dieser alte Kram riecht. Ich fühle mich total in meine Kindheit versetzt. Die Kiste habe ich seit dem Tod meiner Großeltern nicht mehr aufgemacht."

    Deniz hockte sich neben sie.

    „Was suchst du genau?"

    „Das Foto, das John mir geschickt hat. Das kenne ich, da bin ich mir ziemlich sicher."

    „Na, dann wird Steffi ja hoffentlich Ruhe geben. Die mit ihrer Triebtätergeschichte."

    Er verdrehte die Augen und schob mit der Hand ein paar Papiere hin und her.

    „Hier!", rief Ellen und hielt einen Bilderrahmen hoch.

    „Ha, wusste ich es doch."

    Triumphierend hielt sie ihm das Bild vor die Nase.

    „Tatsächlich. Cool."

    Ellen sprang auf und lief aus dem Keller nach oben.

    Deniz folgte ihr.

    „Steffi, hier, schau mal."

    Auch ihr hielt sie das Bild vor die Nase.

    Steffi stand in der Küche und kochte für alle.

    „Tatsächlich. Das gleiche Bild. Das ist fast schon unheimlich."

    Jetzt war es an Ellen, die Augen zu verdrehen.

    „Ach Steffi. Hör doch auf. Willst du es immer noch nicht glauben?"

    Diese wiegte mal wieder ihren Kopf unschlüssig hin und her.

    „Ich bin halt vorsichtig. Wer sagt uns denn, dass alles stimmt, was er dir erzählt hat. Ist er wirklich Polizist?"

    „Soll ich da anrufen und nach ihm fragen? So machen die das in den Filmen auch immer."

    Steffi strahlte sie an und Ellen fiel leicht in sich zusammen.

    „Das war ein Scherz."

    „Ne, wieso denn? Das finde ich gut. Ruf da an und frag nach ihm. Dann weißt du wenigstens, dass er wirklich Polizist ist."

    „Och nö. Das ist jetzt nicht dein Ernst. Ich telefonierte doch nicht hinter ihm her.  Was denkt er dann von mir."

    Leider war Steffi von der Schnapsidee so begeistert, dass sie nicht mehr locker lies.

    „Doch. Mach das. Wie willst du sonst erfahren, dass er die Wahrheit sagt?"

    „Ich fahre hin und treffe mich mit ihm."

    Steffi riss entsetzt die Augen auf. „So ganz alleine. Ne, das machst du nicht. Nimm Deniz mit."

    „Steffi, spinn nicht rum. Was willst du noch für Beweise?

    Außerdem kann ich nicht erwarten, dass Deniz nächsten Samstag Zeit hat."

    „Dann ruf ihn auf der Dienststelle an. Fahr nicht einfach so runter."

    „Jaaa....."

    *

    „Lauderbach, guten Tag. Ich würde gerne John Grey

    sprechen."

    „Einen Moment bitte", erwiderte die Dame in der Zentrale etwas reserviert.

    Nach mehreren Minuten Warteschleifenmusik, einer detaillierten Nachfrage nach ihrem Vor-und Zunamen und mehreren „Einen Moment bitte" hatte sie ihr Ziel erreicht.

    „Grey?"

    „Hallo, ich bin´s, Ellen."

    „Das habe ich schon gehört. Warum rufst du mich auf der

    Arbeit an?"

    Er klang sachlich und sie vermutete, dass er nicht alleine war.

    „Sorry. Ich wollte nicht stören. Es ist wegen Steffi. Sie spinnt jetzt rum, dass du kein Polizist bist, sondern doch ein Triebtäter."

    „Ach, dann kannst du den Beweis ja jetzt liefern."

    Sie hörte das Schmunzeln in seiner Stimme.

    „Ja. Eins der Fotos kannte ich. Ich habe das auch in einem alten Rahmen aus dem Haus meiner Großeltern."

    „Echt? Da gibt es also doch noch Verbindungen.

    Schau einer an."

    In diesem Moment hörte Ellen ein Telefon im Hintergrund klingeln und Stimmen, die sprachen. Schnell sagte sie:

    „Du, ich will aber nicht weiter stören. Wir telefonieren, ok?"

    „ Ok. Bin dann."

    „Tschüss." Sie unterbrach die Verbindung und lies ihren Kopf auf die Schreibtischplatte sinken.

    „Ey, wie peinlich war das denn?"

    „Essen ist fertig, kam es vom Flur her und dann ein „Was ist  denn mit Dir los?

    „Mein Bruder hält mich jetzt bestimmt für total bekloppt. Ich habe ihn auf der Arbeit angerufen," klärte sie Steffi auf, ohne den Kopf zu heben.

    „Echt? Du hast wirklich dort angerufen?"

    „Jaha... damit du beruhigt bist."

    „Und? Stimmt, was er erzählt?"

    Ellen hob den Kopf ein wenig an und schielte zu Steffi rüber.

    „Ja, und er ist bei der Kripo. Reicht das?"

    *

    Müde zog sie die Tür hinter sich zu. Heute war es schon wieder sehr spät geworden.  Bis die letzten Gäste die Kneipe verlassen hatten, alle Gläser gespült und alles für den nächsten Tag vorbereitet war, verging immer eine Stunde. Dann die Lichter ausmachen und sich umziehen.

    Ellen fasste ihren Helm am Kinnriemen und blickte auf ihre Uhr am Handgelenk.

    Halb zwei, ab ins Bett. Grade zog sie sich ihre Handschuhe über und wollte zu ihrem Motorrad gehen, da öffnete sich die Tür hinter ihr wieder.

    „Mist, das kann ja nur Horst sein."

    „Hey Ellen, warte mal."

    „Was ist den noch?"

    Sie drehte sich zu dem Betreiber der Kneipe um.

    „Kann der nicht um diese Zeit einfach oben in seinem Bett liegen und schlafen wie jeder vernünftige Mensch? Dieses Ekelpaket."

    Mit ein paar schnellen Schritten war er bei Ihr. Kam ihr viel zu nah, so dass sie automatisch etwas zurückwich.

    „Möchtest du nicht nochmal mit rein kommen und etwas nettes mit mir trinken? Wir könnten es uns oben bei mir gemütlich machen!"

    Er grinste sie an und sprach in einer leisen, aufdringlichen Art zu ihr, die ihr Gänsehaut verursachte. Dabei rückte er ihr wieder auf die Pelle.

    „Mist, er ist betrunken, dann ist er noch penetranter."

    Sie versuchte wieder, ihm auszuweichen, merkte aber, dass sie schon fast mit dem Rücken an der Wand stand.

    „Sorry, aber ich bin total müde. Es war ein langer Tag und ich muss ins Bett."

    „Hm", machte er und zupfte am Reißverschluss ihrer

    Motorradjacke. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf.

    „An so was habe ich auch gedacht." Er roch nach Alkohol und Zigarette.

    Er war ein Stück größer als sie und verdammt kräftig gebaut. Sie stand mittlerweile in der dunklen Ecke zwischen Tür und Wand, wo das Licht der Beleuchtung nicht hin schien.

    „Na toll, wie komme ich hier nur wieder weg?"

    „Äh... „

    „Komm schon, ich merk doch, wenn jemand auf mich abfährt. Lass uns ein bisschen Spaß haben!"

    Da griff er plötzlich mit einer Hand um ihren Nacken.

    Sie stieß einen überraschten Schrei aus. Er drückte Ellen mit seinem ganzen Gewicht gegen die Wand und presste seinen Körper gegen ihren. „

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