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Ein praktischer Ratgeber zur Eroberung der Welt
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eBook443 Seiten6 Stunden

Ein praktischer Ratgeber zur Eroberung der Welt

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Über dieses E-Book

Dies ist die wahre Geschichte des Aemilius Felix Boioannes dem Jüngeren. Der beabsichtigten und unbeabsichtigten Auswirkungen seines Lebens; der schlimmen Dinge, die er absichtlich getan hat, und der guten Dinge, die sich seinen Absichten zum Trotz ergeben haben. Es ist, mit anderen Worten, die Geschichte eines Krieges, der alle Kriege beenden sollte, und des Mannes, der dafür verantwortlich war. Ein praktischer Ratgeber zur Eroberung der Welt kann für sich allein gelesen werden, aber für diejenigen, die ein gutes Ende mögen, kann es auch als erfrischend pragmatischer Abschluss der mit dem World Fantasy Award ausgezeichneten Romanserie von K. J. Parker betrachtet werden, die mit Sechzehn Wege, eine befestigte Stadt zu verteidigen begann und mit Wie man ein Imperium regiert und damit durchkommt fortgesetzt wurde.
SpracheDeutsch
HerausgeberPanini
Erscheinungsdatum28. März 2023
ISBN9783736798113
Ein praktischer Ratgeber zur Eroberung der Welt

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    Buchvorschau

    Ein praktischer Ratgeber zur Eroberung der Welt - K. J. Parker

    Ins Deutsche übertragen

    von Michaela Link

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Copyright © 2023 by One Reluctant Lemming Company Ltd. All rights reserved.

    Cover design by Lauren Panepinto. Cover image by Shutterstock

    Cover © 2023 Hachette Book Group, Inc.

    Titel der Englischen Originalausgabe: »A Practical Guide to Conquering the World« by K. J. Parker, published in Great Britain in November 2021 by Orbit an imprint of Little, Brown Book Group, London, UK.

    Deutsche Ausgabe 2023 Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.

    Alle Rechte vorbehalten.

    Geschäftsführer: Hermann Paul

    Head of Editorial: Jo Löffler

    Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)

    Presse & PR: Steffen Volkmer

    Übersetzung: Michaela Link

    Lektorat: Peter Thannisch

    Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

    Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

    YDPARKE003E

    ISBN 978-3-7367-9811-3

    Gedruckte Ausgabe:

    1. Auflage, März 2023, ISBN 978-3-8332-4335-6

    Findet uns im Netz:

    www.paninicomics.de

    PaniniComicsDE

    Constantiae constanter

    1. Kapitel

    Ich heiße Felix. Das bedeutet vom Glück begünstigt. So viel zum Thema Ironie.

    Dies ist die wahre Geschichte der beabsichtigten und unbeabsichtigten Auswirkungen meines Lebens; der schlimmen Dinge, die ich absichtlich getan habe, und der guten Dinge, die sich meinen Absichten zum Trotz ergeben haben.

    Bedauerlicherweise bin ich die Hauptfigur dieser Geschichte. Ich kann verstehen, warum alle hören wollen, was ich Euch erzählen werde – das Erstaunlichste, was zu unseren Lebzeiten, möglicherweise überhaupt jemals passiert ist, die größte Geschichte, die je erzählt wurde –, aber meine Meinung dazu? Ich sehe es anders. Ich habe festgestellt, dass andere Menschen mich zuerst ganz gern haben und mich danach noch für eine kurze Zeit ertragen können. Aber, wie es in der Medizin heißt: Die Dosis macht das Gift. Leider gibt es diese Geschichte nicht ohne mich. Wenn Ihr das eine wollt, müsst Ihr das andere mit in Kauf nehmen. Tut mir leid.

    Ich träumte von … nun, gewissen Dingen, als mich jemand wachrüttelte.

    Gerade aus dem Schlaf gerissen, war ich nicht eben in Hochform. Ich erblickte drei Soldaten in Rüstung und Uniform. Oh Gott, dachte ich, sie sind gekommen, um mich zu verhaften wegen des Verbrechens, das ich verübt habe. Dann fiel mir ein, dass das schon lange her war und ich dieses Vergehen weit entfernt unter einer anderen Gerichtsbarkeit begangen hatte.

    »Seid Ihr der Übersetzer?«

    Der Feldwebel sprach ein primitives Robur, vermutlich für den Fall, dass er den falschen Mann erwischt hatte.

    »Ja, der bin ich«, antwortete ich auf Echmen.

    »Es tut mir leid, Euch zu stören, Herr«, log er, »aber Ihr werdet gebraucht.«

    Irgendjemand hatte die Lampe angezündet. Ich schaute über den Kopf des Feldwebels hinweg aus dem Fenster. »Es ist mitten in der Nacht«, wandte ich ein. »Kann das nicht warten?«

    »Nein, Herr.«

    Die Echmen haben die diplomatische Immunität erfunden, daher mutmaßte ich, dass sie mich nicht töten würden, wenn ich mich weigerte. Aber sie würden auch nicht weggehen. »Na schön«, sagte ich. »Gebt mir nur ein paar Minuten, um mich anzuziehen, ja?«

    »Tut mir leid, Herr. Unser Befehl lautet, Euch sofort mitzunehmen.«

    Mir sank das Herz. »Gut, in Ordnung, aber würdet Ihr bitte draußen warten?«

    »Tut mir leid, Herr.«

    Er war wohl besser damit vertraut, Leute zu verhaften, als Diplomaten irgendwohin zu eskortieren. Ich sagte mir, dass es keine Rolle spiele, also schlug ich die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Ich dachte, er hätte mir den Rücken gekehrt, als ich mich in meine Hose zwängte, aber ein Keuchen verriet mir, dass dem nicht so war. Ich zog mein Hemd an und drehte mich zu ihm um.

    »Was, zum Teufel, ist mit Euch passiert?«, fragte er.

    »Ich wäre dann bereit, wenn Ihr es auch seid«, sagte ich.

    Die Echmen sind ein bemerkenswertes Volk, und eines der Gebiete, auf denen sie Herausragendes leisten, ist die Baukunst. Alles, was sie bauen, wird so groß, so kompliziert und so kunstvoll, wie sie es nur hinbekommen können, und der kaiserliche Palast ist wahrlich der höchste Ausdruck echmenischer Ästhetik. Es heißt, sie würden bauen, um die Götter zu beeindrucken; von den Portalen des Sonnenaufgangs aus betrachtet, von hundert Meilen über unseren Köpfen her, ist der Palast daher eine überwältigende Kombination aus Geometrie und Kunst. Vom Erdboden aus gesehen ist er ein Kaninchenbau. Ich weiß mit Sicherheit, dass meine Dachkammer im unteren Westflügel von den Amtsräumen des diplomatischen Dienstes, wo ich den Großteil meiner Arbeit verrichtete, nur hundert Meter Luftlinie entfernt liegt, gemessen mit göttlichen Maßstäben, doch tatsächlich sind es gute eintausendeinhundertvierzig Schritt, die man zurücklegen muss; treppauf, durch Korridore, treppab, durch weitere Korridore, Galerien und Säulengänge, auf dem gesamten Weg ununterbrochen begleitet von einer nicht abreißenden Folge der verwirrendsten und liebreizendsten Beispiele nicht gegenständlicher Kunst. Von meinem Quartier zu den Zellen unter der Justizabteilung ist der Weg auf dem Papier recht kurz, aber zu Fuß ungefähr doppelt so lang. Was meinem neuen Freund, dem Feldwebel, jede Menge Zeit gab, sich mit mir zu unterhalten, auch wenn ich das eigentlich gar nicht wollte.

    »Seid Ihr ein …?«, fragte er. »Ihr wisst schon.«

    Ja, ich wusste es schon. Aber ich missverstand ihn absichtlich. »Ein Übersetzer«, sagte ich. »Ja. Zu wem werde ich gebracht?«

    »Tut mir leid, Herr, Geheimsache.«

    »Ich frage ja nur«, fuhr ich fort, »denn wenn es um eine Sprache geht, die ich nicht spreche, verschwenden wir alle unsere Zeit.«

    »Dejauzi, Herr.«

    Na schön, Dejauzi beherrsche ich. Soweit bekannt, besteht gut ein Drittel der Welt aus Dejauzi sprechenden Völkern, aber da sie friedlich sind, nichts besitzen, was irgendjemand haben will, und zu gerissen und zu bösartig, um sie als Arbeitskräfte zu nutzen, sind sie für die drei mächtigsten Staaten nur von geringem Interesse. Tatsächlich trifft keine dieser drei Behauptungen zu, aber das ist das, was alle glauben. Ich habe während meiner Rekonvaleszenz Dejauzi gelernt, denn es lag dort zufällig eine Grammatik dieser Sprache herum. Es ist eine der einfachsten Sprachen auf der Welt und kennt praktisch keine unregelmäßigen Verben.

    Nehmt bitte zur Kenntnis, dass ich das Wort Kerker nicht benutzt habe. Das wäre total irreführend. Die Zellen der Echmen, in denen ich noch nie zuvor gewesen war, entpuppten sich als typisch für sie: elegante, symmetrische, exquisit proportionierte Räume, die zufällig zur Aufbewahrung von Verbrechern genutzt werden. Den einzigen Unterschied zwischen der Zelle, in die man mich führte, und meinen eigenen Räumlichkeiten stellte wohl die Stahltür dar und die Tatsache, dass nur die Decke verziert war, und zwar mit einem verblüffend hübschen Mosaik.

    In der Zelle stand ein echmenischer Beamter mit einem Dokument in der Hand, und auf einer Art steinerner Bank saß eine Halbwüchsige in echmenischer Hoftracht, aber mit der unverkennbaren Frisur und Schminke der Dejauzida. Der Beamte musterte meinen Feldwebel mit einem Stirnrunzeln. »Ihr habt Euch Zeit gelassen«, bemerkte er.

    »Tut mir leid, Herr.« Er entschuldigte sich ziemlich oft, dieser Feldwebel, obwohl ich nicht glaube, dass es ihm ernst damit war.

    »Ist er das?«

    »Herr.«

    Der Beamte nickte, und der Feldwebel trat zurück und stellte sich vor die Tür.

    »Tut mir leid, dass ich Euch aus dem Bett habe holen lassen«, sagte der Beamte, »aber unser Mann ist krank. Ihr sprecht Dejauzi.«

    »Ja«, bestätigte ich.

    »Guter Mann. Also, lest Ihr diesen Text auf Dejauzi vor, dann könnt Ihr gehen.«

    Er reichte mir das Dokument. Es war in diesem grässlichen juristischen Echmen geschrieben, auf dem sie für offiziellen Kram bestehen, auch wenn die Schriftzeichen im alltäglichen Gebrauch veraltet sind; tatsächlich muss man zusätzliche achttausend Schriftzeichen kennen, um solchen Dokumenten einen Sinn abzuringen. Glücklicherweise kenne ich sie.

    Ich sah das Mädchen an, das mich seinerseits jedoch nicht anschaute. Dann las ich ihr das Dokument vor, bei dem es sich um ihr Todesurteil handelte. Als ich fertig war, schaute sie auf und musterte mich finster.

    »Fragt sie, ob sie Euch verstanden hat«, verlangte der Beamte.

    »Habt Ihr das verstanden?«, fragte ich sie.

    »Verpisst Euch.«

    »Sie hat es verstanden.«

    Der Beamte nickte. »Fragt sie, ob sie von ihrem Recht Gebrauch machen will, Einspruch einzulegen.«

    Also tat ich das.

    »Ihr könnt mich mal kreuzweise«, antwortete sie.

    »Im Moment nicht«, übersetzte ich.

    »Und sagt ihm, er kann mich ebenfalls mal«, fügte sie hinzu.

    »Aber sie behält sich das Recht vor, zu einem späteren Zeitpunkt Einspruch einzulegen.«

    Der Beamte grunzte. »Dann sollte sie sich besser beeilen. Im Morgengrauen rollt ihr Kopf.«

    Ich drehte mich wieder zu ihr um. »Das Arschloch sagt, Ihr würdet …«

    »Ja, ich weiß. Ich habe ihn gehört.«

    »Ihr sprecht Echmen?«

    »Besser als Ihr, Blauhaut.«

    »Soll ich Euch einen Rechtsbeistand besorgen?«

    »Besorgt’s Euch selbst.«

    »Ah«, sagte ich, »ich wünschte, das wäre möglich. Es tut mir leid. Ich hoffe …« Ich versuchte, mich an das wenige zu erinnern, was ich über die Religion der Dejauzida wusste. »Möge der Urgroße über Euch wachen«, sagte ich.

    »Der Urgroße kann mich mal. Ich bin eine Hus.«

    Ich verneigte mich höflich, dann wandte ich mich wieder an den Beamten. »Kann ich draußen ein Wort mit Euch sprechen?«

    Er wirkte überrascht, nickte jedoch. Der Feldwebel trat beiseite, um uns vorbeizulassen.

    »Was hat sie getan?«, fragte ich.

    »Gar nichts. Sie ist eine Geisel.«

    Ah. Eine Geisel zur Gewährleistung guten Benehmens. Die Tochter irgendeines Anführers, bei den Echmen zurückgelassen als Garantie für die Einhaltung eines Bündnisvertrages. Wenn der Vertrag gebrochen wird, wird die Geisel getötet. »Also haben die Hus den Vertrag …«

    »Die Dejauzida.«

    »Sie ist keine Dejauzi, sie ist eine Hus.«

    Er starrte mich an. »Seid Ihr Euch sicher?«

    »Das sagt sie jedenfalls. Außerdem hat sie eine blaue Lebenslocke in ihrem Haar, und die Lebenslocke der Dejauzida ist grün, und die Tätowierungen in ihrem Gesicht zeigen den doppelten Pfau, ein Symbol der Hus.«

    »Ihr seid Euch dessen sicher?«

    »Ja«, bestätigte ich. »Kein Dejauzi würde den doppelten Pfau tragen. Er ist tabu.«

    »Oh Himmelherrgott noch mal. Ihr seid Euch sicher?«

    »Ich habe ein Buch, das Ihr Euch ausborgen könnt, dort könnt Ihr es nachschlagen.«

    Er sagte mir nicht, was ich mit meinem Buch anstellen könne. Das brauchte er nicht. »Ihr kommt mit mir«, entschied er. »Wir müssen diese Sache klären.«

    »Moment mal«, wandte ich ein. »Ich bin kein Experte für Nomadenstämme, und ich glaube nicht, dass mein Botschafter möchte, dass ich mich in die Außenpolitik der Echmen einmische.«

    »Darüber hättet Ihr vielleicht nachdenken sollen, bevor Ihr Euer großes Maul aufgerissen habt«, antwortete er nicht ganz unberechtigterweise. »Kommt mit, auf uns wartet eine Menge Arbeit.«

    Es wurde eine lange Nacht. Ein halbes Dutzend Beamte von immer größerer Wichtigkeit musste aus dem Bett gerissen werden, dann musste man ihnen alles erklären, denn sie wiederum mussten Dokumente unterzeichnen und mit Siegeln versehen, und sie alle wollten wissen, was die Blauhaut mit dem Ganzen zu tun hatte. Der Stellvertretende Sowieso machte ein trauriges Gesicht und sagte, es sei eine furchtbare Schande, aber jetzt zu spät, in der Sache noch irgendetwas zu unternehmen. Woraufhin einer der anderen Beamten (inzwischen liefen wir hinter einer kleinen Armee übermüdeter Staatsdiener her, als würden wir Gänse zum Markt treiben) darauf hinwies, dass sie, wenn sie eine Geisel ihrer Verbündeten hinrichteten, alle tief in der Scheiße steckten, und es stellte sich heraus, dass doch so gerade noch Zeit genug war, das womöglich abzuwenden. Ein Dokument über die Aussetzung der Hinrichtung wurde aufgesetzt und besiegelt, und sie brauchten jemanden, der ihr das Dokument übersetzte …

    »Ihr schon wieder«, bemerkte sie.

    »Es ist alles in Ordnung. Es lag ein Irrtum vor. Ihr werdet doch nicht sterben.«

    Sie warf mir einen Blick zu, den ich niemals vergessen werde. »Ist das Euer Ernst?«

    »Sie dachten, Ihr wäret eine Dejauzi. Ich habe ihnen erklärt, dass Ihr eine Hus seid. Ihr seid doch eine Hus, oder?«

    »Sie haben sich geirrt?«

    »Richtig, aber jetzt ist alles geklärt. Ihr seid doch eine Hus, nicht wahr?«

    »Natürlich bin ich eine verdammte Hus, was denkt Ihr, was das hier ist? Pickel? Sie haben mich in diese Zelle geworfen und mir gesagt, dass sie mich umbringen werden, und das ist alles ein Irrtum? Oh, zum …«

    »Aber jetzt ist alles in Ordnung«, unterbrach ich sie. »Es ist alles …«

    »Nein, das ist es verdammt noch mal nicht. Ich hatte eine Scheißangst. Ich habe die ganze Nacht hier gesessen und gedacht, das war’s, ich werde sterben, weil irgendein Idiot …« Tränen schnitten tiefe Rillen in ihre kreideweiße Schminke.

    »Es tut mir leid«, sagte ich. »Aber alles ist nun geklärt, und sie werden Euch gehen lassen. Aber zuerst muss ich Euch das hier vorlesen, sonst ist die Sache nicht rechtskräftig.«

    »Ihr müsst was?«

    »Seid still«, bat ich, »und lasst mich Euch dieses Schreiben vorlesen. Dann könnt Ihr gehen.«

    Sie holte tief Luft. »Dann beeilt Euch.«

    Also las ich ihr das Dokument vor. »Habt Ihr es verstanden?«, fragte ich anschließend.

    »Natürlich habe ich es verstanden! Wofür haltet Ihr mich, für einen Dummkopf?«

    »Ich muss Euch sagen hören, dass Ihr es verstanden habt, es ist eine erforderliche Formalität.«

    »Besorgt’s Euch selbst!«

    »Das sagt Ihr immer wieder«, stellte ich fest. »Vielen Dank für Eure Geduld. Lebt wohl.«

    Ich wandte mich zum Gehen.

    »Übrigens«, sagte ich zu dem Beamten – dem ersten, der diese ganze wundervolle Erfahrung mit mir geteilt hatte, »sie spricht Echmen und versteht jedes Wort, Ihr hättet mich also überhaupt nicht gebraucht.«

    Er wirkte leicht verblüfft. »Davon hat sie nichts gesagt.«

    »Habt Ihr sie denn danach gefragt?«, entgegnete ich und verließ die Zelle.

    Überflüssig zu sagen, dass ich mich auf dem Weg zurück zu meiner Dachkammer hoffnungslos verirrte, meine große Geste sich also gegen mich kehrte und mir in den Hintern biss, so wie große Gesten das im Allgemeinen tun. Na wenn schon.

    Der Irrtum, der den Beamten unterlaufen war, war durchaus nachvollziehbar. Die Dejauzida und die Hus sehen einander ziemlich ähnlich, sprechen dieselbe Sprache und haben dieselben Vorfahren. Ansonsten aber sind sie völlig verschieden. Die Dejauzida huldigen dem Urgroßen, aber die Hus sind Feueranbeter wie die Echmen (obwohl ich den Eindruck habe, dass es sich dabei jeweils irgendwie um ein anderes Feuer handelt). Sie hassen einander wie die Pest, genau wie auch die anderen etwa zwanzig völlig unterschiedlichen und eigenständigen Völker es tun, die so aussehen wie die Dejauzida und dieselbe Sprache sprechen. Was uns gemäß dem monumentalen Band Über die Wilden, unserem wichtigsten Nachschlagewerk im diplomatischen Dienst, nur recht sein kann; denn wenn es anders wäre und sie sich alle wie eine große, glückliche Familie gut vertragen würden, statt einander bei der geringsten Provokation an die Kehle zu gehen, wären sie unaufhaltbar und eine echte und allgegenwärtige Gefahr für die Zivilisation.

    Es gibt verdammt viele von ihnen. Niemand weiß so recht, wie viele es tatsächlich sind, und sie selbst schon gar nicht. Sie leben in den Ödländern, die sich entlang der nördlichen Grenzen aller drei großen Reiche erstrecken, ein Gebiet, das so weitläufig ist, dass auch diesbezüglich niemand weiß, wie weitläufig es wirklich ist. Sie lesen und schreiben nicht – wohlgemerkt, sie tun es einfach nicht, dahingestellt, ob sie es können oder nicht. Es gibt alle möglichen Dinge, die wir tun und die sie nicht tun. Deshalb neigen wir dazu, sie als nur halb menschliche Barbaren anzusehen. Aber ihnen zufolge tun sie diese Dinge deshalb nicht, weil sie sie nicht tun wollen, und sie zeigen dann auf uns und sagen: Seht Euch an, was durch Lesen und Schreiben und das Leben in Städten aus Euch geworden ist! Damit wollen wir nichts zu tun haben. Nun, das ist auch ein Standpunkt.

    Die konkrete Folge davon ist jedoch: Wenn man etwas über sie erfahren will, ist man völlig auf die Aussagen von Außenstehenden angewiesen, von denen die meisten ihre eigenen Absichten verfolgen. Die Dejauzida statten uns keine Besuche ab, wenn sie es irgendwie vermeiden können, daher stammen alle Zeugnisse, die es über sie gibt, von diplomatischen Gesandtschaften – durchweg erfolglosen Gesandtschaften – und den wenigen geistesschwachen Händlern, die allen Warnungen zum Trotz glauben, ihnen etwas verkaufen zu können. Scheitern führt in der Regel nicht dazu, dass man denjenigen gegenüber wohlgesinnt ist, die einem die Pläne durchkreuzt haben. Und es ist leicht, seinen Mangel an Erfolg damit zu erklären, dass die Menschen, die nichts von diesen Plänen wissen wollten, ignorante Barbaren sind.

    Manche Menschen kommen hervorragend fast ohne Schlaf aus. Ich gehöre nicht dazu. Außerdem ergeht es mir mit dem Schlaf wie mit dem Geld: Beide sind für mich schwer zu finden. Als ich endlich in meine Mansarde zurückkehrte (wofür ich nicht weniger als siebenundachtzig steinerne Stufen einer Wendeltreppe überwinden musste), wusste ich, dass es sinnlos war, mich noch mal ins Bett zu legen. Mir blieben nur wenige Stunden, bevor ich wieder zum Dienst antreten musste. (Die Echmen haben solch wunderbare Wasseruhren.) Außerdem hatte mich diese Nacht mit ihrem endlosen Treppauf und Treppab in einen verschwitzten und undiplomatenhaft ungepflegten Zustand versetzt. Also stapfte ich die Treppe zur Zisterne hinunter und wusch mir den Schweiß vom Leib, dann ging ich wieder hinauf, um in respektable Kleidung zu schlüpfen und mich anständig zu kämmen.

    Da ich noch ein wenig Zeit hatte, machte ich einen Umweg über die Schreibstube. Sie ist riesig. Früher einmal war der Nordflügel des Palasts ein Kloster, in dem gut tausend Mönche für die Seelen toter Kaiser gebetet haben. Was jetzt der Raum der Schreiber ist, war früher der Schlafsaal der Mönche, und trotzdem leiden die Schreiber unter dem Platzmangel. Die Echmen haben das Schreiben erfunden, und sie haben eine große Vorliebe für geschriebene Dokumente.

    Einer der über tausend Schreiber, die dort arbeiteten – nur ein einziger –, war ein Lystragoner, und wie es kam, dass er für das kaiserliche Sekretariat arbeitete, muss eine faszinierende Geschichte sein, nur ist es mir nie gelungen, sie aus ihm herauszukitzeln. Aber er und ich waren innerhalb der rangniederen Verwaltungsebene in dem ganzen imposanten Komplex die Einzigen, die Robur sprachen, daher hatten wir es uns angewöhnt, miteinander zu reden.

    Die Arbeitsmoral in der Schreibstube ist nicht unerträglich hoch, daher hat niemand etwas dagegen, wenn Freunde vorbeikommen und eine Schale Tee trinken. Mein Freund freute sich, mich zu sehen, da keiner seiner echmenischen Schreiber mit ihm redete. Ich erzählte ihm von der amüsanten Verwechslung, die eine unschuldige Frau beinahe das Leben gekostet hatte. Vorsichtshalber fragte ich ihn, ob er vielleicht die Aufzeichnungen überprüfen und mir bestätigen könne, dass in den Büchern eine Geisel aus Hus aufgeführt war. Denn wenn nicht, hatte ich die Sache grandios vermasselt und würde meinem Botschafter das alles erklären müssen, bevor er von den Echmen davon erfuhr.

    Mein Freund verzog das Gesicht. »Wie heißt sie denn?«

    »Du weißt doch, wie’s damit ist.«

    »Nein, weiß ich nicht. Und ich kann die Akte nicht raussuchen, wenn du den Namen nicht kennst.«

    Ich erklärte es ihm: »Die Dejauzida, in diesem Fall einschließlich der Hus, haben alle möglichen merkwürdigen Tabus, was Namen betrifft. Man darf zum Beispiel nicht den Namen eines Menschen aussprechen, der gestorben ist, sondern muss stattdessen eine kunstvolle Umschreibung benutzen. Man darf auch niemanden nach seinem Namen fragen und niemandem den eigenen Namen verraten. Wenn man wirklich den Namen einer Person in Erfahrung bringen will, muss man einen seiner Familienangehörigen danach fragen (aber nicht irgendeinen Angehörigen; es gibt ein strenges Protokoll, das vom Familienstand und von der Stellung des Namensinhabers innerhalb der Familienhierarchie bestimmt wird). Eine Prinzessin nach ihrem Namen zu fragen, würde eine Beleidigung darstellen, die sich nur mit Blut rächen ließe. Also habe ich nicht gefragt.«

    »Na schön«, antwortete mein Freund. »Nur, wie gesagt, dadurch könnte es schwierig werden.«

    »Denkst du wirklich, dass es hier im Moment mehr als eine Geisel der Hus gibt?«

    Er funkelte mich an. »Die Liste enthält keine Querverweise auf die einzelnen Nationalitäten«, erklärte er. »Ohne einen Namen kann ich dir nicht helfen, tut mir leid.«

    Ich zuckte mit den Schultern. »Egal«, murmelte ich. »Wenn ich mich geirrt habe, werde ich es bald genug erfahren, nämlich dann, wenn sie mich rauswerfen. Natürlich werde ich dann zu Fuß nach Hause gehen müssen, weil sie mir meinen Beförderungspass für die Postkutsche entziehen werden, aber es sind ja nur ein paar Tausend Meilen, und diese Sandalen halten noch eine ganze Menge aus.«

    Er verdrehte die Augen. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach er.

    »Nur gut, dass du keine richtige Arbeit hast.«

    »Der Schlag soll dich treffen, Blauhaut.«

    Ich warf einen Blick auf die Wasseruhr. Mein Dienst hatte begonnen. Ich schenkte meinem Freund mein breitestes Lächeln und eilte zu unserer Abteilung im fünften Stock des Nordturms hinauf.

    Unser Bereich bestand aus dem Botschafter, seinem hohlköpfigen Neffen, dem hohlköpfigen Neffen irgendeiner anderen Person und mir. Nur gut, dass wir nie etwas zu tun hatten, sonst wäre es einfach nicht erledigt worden. Normalerweise tauchte der Botschafter erst mitten am Nachmittag auf, daher war ich ein wenig bestürzt, ihn am Schreibtisch sitzen zu sehen (wir hatten nur den einen), eine Pergamentrolle in den Händen.

    »Entschuldigt meine Verspätung«, sagte ich und hob an, ihm von meinem jüngsten Abenteuer zu erzählen.

    »Lest das«, unterbrach er mich und reichte mir das Pergament.

    Es war auf Sashan geschrieben. Später erzählte mir der Botschafter, sein sashanischer Kollege habe ihm das Pergament zu lesen gegeben, obwohl es streng genommen geheim sei und so weiter. Es war die Kopie eines Berichts der sashanischen Botschaft in Aelia – einer der Republiken der Milchgesichter am unteren Rand des Mittleren Meeres, zu deren Eroberung wir nie gekommen waren. In dem Dokument hieß es, dass eine bisher nicht identifizierte Armee die Garnison der Stadt der Robur in einen Wald gelockt und dort ausgelöscht habe, sodass die Stadt selbst vollkommen schutzlos war. Wenn Ihr das hier lest, stand in dem Bericht, wird die Stadt gefallen sein. Außerdem hatte der sashanische Botschafter aus absolut verlässlicher Quelle von einem unbekannten, aber extrem mächtigen Bündnis gegen die Robur erfahren, das die Provinzen unseres Reiches in Übersee in einem enormen Tempo eroberte und sich diese einverleibte. Das erklärte Ziel dieses Bündnisses war, die Robur bis auf den letzten Mann auszulöschen. Wenn es so weitermache, stand in dem Bericht, könne es nur eine Frage von Wochen sein, bis das Reich und damit das Volk der Robur nicht mehr existiere.

    Ich las das Datum am oberen Rand. Der Bericht war zwei Monate alt.

    Ich sah den Botschafter an. Sein Gesicht war ausdruckslos.

    »Das kann nicht wahr sein«, sagte ich.

    Er schaute zu mir auf. »Wann haben wir das letzte Mal etwas von daheim gehört?«, fragte er.

    »Vor ungefähr zwei Monaten. Aber das heißt nichts.«

    »Ich bekomme jede Woche eine Depesche«, erklärte er. »Jedenfalls sollte ich eine bekommen. Ich habe während des vergangenen Monats jeden Tag nach Hause geschrieben und gefragt, was, zum Teufel, da los sei.«

    »Die Stadt kann nicht fallen«, wandte ich ein.

    »Doch, kann sie, wenn niemand da ist, der sie verteidigt.«

    Ich besah mir den Bericht, konnte aber die Worte nicht erkennen. Ich hatte irgendetwas im Auge. »Es kann nicht wahr sein.«

    »Das habt Ihr bereits gesagt.«

    »Was sollen wir tun?«

    Er lachte. »Ich beantrage politisches Asyl. Doch wenn dieser Bericht wahr ist, glaube ich nicht, dass ich es bekommen werde. Ich an Eurer Stelle würde mich rarmachen. Geht so weit fort, wie Ihr nur könnt, und bleibt dort.« Er deutete ruckartig mit dem Kopf zur Tür, die das vordere Amtszimmer mit dem Kabuff verband, das den Neffen als Arbeitsraum diente. »Die sind längst fort«, sagte er. »Verratet mir nicht, wo ihr hingeht, hab ich ihnen gesagt. Dann kann ich es auch niemand anderem verraten.«

    Ich starrte ihn an. »Wer sind diese Leute?«

    Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht mehr als Ihr. Selbst die Sashan wissen nichts. Aber sie schenken dem Bericht Glauben. Das ist die Vorstellung des Verfassers von Fairness: uns einen Vorsprung zu verschaffen.«

    Ich legte das Pergament auf den Schreibtisch. »Wer hasst uns so sehr?«

    Das trug mir ein breites Grinsen ein. »Alle«, antwortete er. »Verfolgt Ihr denn nicht die aktuellen Nachrichten?«

    Ich lief die Treppe hinunter und durch die Flure zur Schreibstube. Mein Freund, der Lystragoner, saß an seinem Schreibtisch, hatte die Füße hochgelegt und las den Spiegel irdischer Leidenschaft.

    »Ihr Name«, sagte er und gähnte, »ist ›Sie Stampft Sie Platt‹. Und ja, sie ist tatsächlich eine Hus. Du schuldest mir was.«

    Ich erzählte ihm, was ich soeben erfahren hatte, und er starrte mich an. »Das ist unmöglich«, meinte er.

    »Du hast nichts gehört?«

    Er klappte das Buch zu und legte es beiseite. »Nein, aber ich hätte so oder so nichts davon erfahren.«

    »Kannst du dich mal umhören?«

    »Mit mir redet niemand, das weißt du doch. Aber dennoch«, fügte er hinzu und sah mich an, »ich werde sehen, was ich tun kann. Wo finde ich dich?«

    Gute Frage. Wie gesagt, die Echmen sind Feuer und Flamme für ihre diplomatische Immunität. Die Frage war nur: Kann eine Nation, die nicht länger existiert, Diplomaten haben? »Im Weißen Garten«, sagte ich. »Dort mag man mich.«

    Also ging ich zum Weißen Garten, obwohl ich mich nicht an meinen gewohnten Tisch setzte, sondern mich für eine Ecke neben dem Feuer entschied. Dort verbrachte ich die möglicherweise schlimmste Stunde meines Lebens. Und dann kamen die Soldaten mich holen.

    »Ist nichts Persönliches«, erklärte der Feldwebel, als er mir die Hände hinter dem Rücken fesselte. Nicht derselbe Feldwebel, was wahrscheinlich ganz gut war. »Versucht stillzuhalten, wir wollen keine gebrochenen Knochen.«

    Die Echmen legen ihren Gefangenen hölzerne Kragen um die Hälse. Diese Kragen haben ungefähr die Größe eines Infanterieschilds und ein Loch in der Mitte – für den Hals –, außerdem Scharniere und ein Vorhängeschloss. Der Kragen drückt sich einem direkt ins Schlüsselbein, und wenn man ihn trägt, kann man seine eigenen Füße nicht sehen. Wunderbar praktische Geschichte, wie alles, was die Echmen herstellen.

    Dieser Feldwebel war nicht zum Plaudern aufgelegt, wofür ich dankbar war.

    Der echmenische Beamte, dem ich schließlich vorgeführt wurde, war ein älterer Mann mit einem traurigen Gesicht. Ja, sagte er, soweit man wisse, entspräche der Bericht den Tatsachen. Ein echmenischer Beauftragter habe höchstpersönlich die Ruinen von fünf roburischen Städten an der Ostküste des Freundlichen Meeres gesehen, was so weit westlich lag, wie die Echmen zu gehen bereit gewesen waren, und seine Quellen würden den sashanischen Bericht in jeder Einzelheit bestätigen. Soweit es die Echmen betraf, existierten die Robur nicht mehr.

    »Abgesehen von Euch«, fügte er hinzu.

    Ich sah ihn an.

    »Euer Botschafter«, fuhr er fort, »hat politisches Asyl beantragt, das ihm zu gewähren wir uns jedoch außerstande sahen. Er hat sich das Leben genommen. Eure beiden Gesandtschaftskollegen aus Robur sind ebenfalls tot. Sie haben den Fehler begangen, sich auf der Straße blicken zu lassen. Ich vermute, die Neuigkeit dessen, was geschehen ist, hat die breite Öffentlichkeit erreicht, und die Robur …« Er bedachte mich mit einem bekümmerten Lächeln. »Sie waren bei unserem Volk noch nie sehr beliebt.«

    Ich öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus.

    »Ich habe«, sprach er weiter, »ein offizielles Gesuch von einer der anderen Botschaften erhalten, in dem darum gebeten wird, Euch als Übersetzer in ihren Personalstab überführen zu lassen. Wenn Ihr den Posten akzeptiert, werdet Ihr natürlich volle diplomatische Privilegien genießen. Ich habe nicht die blasseste Ahnung, warum sie Euch wollen. Doch ich sollte Euch darauf hinweisen, dass Ihr ohne Euren diplomatischen Status als nicht registrierter Ausländer eingestuft werdet und nicht länger unter dem Schutz des Gesetzes steht.« Er hielt inne und warf mir die Art von Blick zu, die man wirklich nicht auf sich ziehen will, niemals. »Wollt Ihr die Stelle oder nicht?«

    »Ich will sie.«

    Er nickte dem Feldwebel zu, der vortrat, den schrecklichen Kragen aufschloss und meine Hände losband. »In diesem Fall«, sagte der Beamte, »schlage ich vor, dass Ihr Euch bei Euren neuen Herren meldet, bevor sie es sich anders überlegen.«

    »Selbstverständlich«, beteuerte ich. »Wer …?«

    Er sagte es mir.

    Verdammt, es wurde immer schlimmer.

    »Es gibt bei uns diese ausgesprochen blöde Tradition«, erklärte sie mir. »Wenn dir jemand das Leben rettet, gehört deine Seele für neun aufeinanderfolgende Wiedergeburten ihm, es sei denn, man kann ihn seinerseits retten. Ich persönlich halte das für Schwachsinn, aber man kann nie wissen.«

    Zumindest kannte ich ihren Namen, auch wenn es mehr gekostet hätte, als mein Leben wert war, ihn auszusprechen. »Danke«, murmelte ich.

    »Nicht der Rede wert. Ich denke, ich werde Euch meinem Onkel geben«, fuhr sie fort. »Er sammelt Seltenheiten und Einzelstücke. Im Moment ist, soweit ich das einschätzen kann, ein Robur so ziemlich das Seltenste und Einzigartigste, was man sich nur vorstellen kann.«

    Um nicht in einer Welt ohne Robur leben zu müssen, hatte mein Botschafter Selbstmord begangen. Er hatte Gift genommen, wie ich später erfuhr. Nicht irgendein Gift, sondern eins für echte Kenner. Es wird aus einer unglaublich raren und kostbaren exotischen Blume destilliert, und wenn man stirbt, ist man in Trance und hat die wunderschönsten und herrlichsten Visionen. Daher hat man das Gefühl, als würde man leibhaftig in den Himmel aufsteigen, begleitet vom Klang von Harfen und Trompeten. Mit dem Gehalt eines Übersetzers würde ich jedoch zehn Jahre brauchen, um genug Geld für eine Menge anzusparen, mit der man auch nur ein Huhn töten könnte.

    »Ich dachte, Ihr wollt mich als Übersetzer«, merkte ich an.

    Sie nickte. »Wie viele Sprachen sprecht Ihr?«

    »Ich beherrsche zwölf fließend«, berichtete ich ihr, »und kann mich in neun weiteren einigermaßen zurechtfinden.«

    Ihre Augen weiteten sich. »Um Himmels willen, wie viele Sprachen gibt es denn?«

    »Die offizielle Zahl liegt bei sechsundsiebzig«, antwortete ich, »aber ich glaube, dass es viel mehr sind.«

    »Und Ihr beherrscht einundzwanzig davon. Das ist …«

    »Nun, jetzt sind es natürlich nur noch zwanzig. Ich nehme nicht an, dass Robur noch länger zählt.«

    Das war mir irgendwie herausgerutscht und trug mir einen finsteren Blick ein.

    Sie war klein, selbst nach dejauzidischen Maßstäben, und nicht direkt fett, sondern eher vierschrötig und untersetzt, mit einem kantigen Gesicht und einer flachen, breiten Nase. Zudem hatte sie kräftige Hände, beinahe wie die eines Mannes, und wie alle Dejauzida jeden Quadratzentimeter entblößter Haut mit schillerndem, weißem Zeug beschmiert (hauptsächlich Kreidestaub und Schweineschmalz mit anderen Kleinigkeiten darin, damit es nicht rissig wurde und abblätterte). Das Haar trug sie zu einem Knoten auf dem Kopf frisiert, und es war in einem fast an Lavendel erinnernden Purpurblau gefärbt. Die Pfauen reichten von direkt unter ihren Augen bis hinab zu ihrem Unterkiefer. Wir nennen diese Bilder Tätowierungen, aber in Wirklichkeit sind es Narben, eingeritzt mit dem Splitter eines scharfen Feuersteins. Das macht man bei ihnen ungefähr im Alter von zwölf Jahren. Das Narbengewebe wird mit Schminke in fünf Farbtönen nachgezeichnet, jeden Morgen aufs Neue. Dazu benutzt man eine Wasserschale als Spiegel. Das Dejauzi kennt übrigens vierzehn Synonyme für gut aussehend, aber kein einziges Wort, das hübsch bedeutet. Sie war zwischen zwölf und fünfzehn. Entschuldigt, ich bin ein hoffnungsloser Fall, wenn es darum geht, das Alter von Frauen zu schätzen.

    »Unsere Verhältnisse sind ein wenig beengt«, sagte sie, »daher werdet Ihr hier schlafen. Das wird Euch nichts ausmachen.« Eine Feststellung, keine Frage. »Ich weiß, es ist nicht das, woran Ihr gewöhnt seid, aber das kann ich nicht ändern.«

    Es stand kein Stuhl im Raum; Nomaden sitzen auf dem Boden. Der hier war aus wunderbaren echmenischen Fliesen in allen Regenbogenfarben gefertigt, härter als Granit. »Ich komme schon zurecht«, sagte ich.

    In jener Nacht bekam ich nicht viel Schlaf. Zum Teil, weil Ihre Majestät im Zimmer nebenan lag und schnarchte, dass es sich anhörte, als würde jemand Schweine schlachten, und zum Teil, weil mir so manches durch den Kopf ging. Der Raum war fensterlos und wurde nur von einer kleinen Tonlampe notdürftig erhellt, die aber schon bald erlosch. Da sie nach irgendeiner Art von Talg gestunken hatte, störte mich das nicht weiter.

    Ich werde Euch einen Bericht über meinen inneren Aufruhr und meine Gefühlsqualen ersparen, obwohl ich mich, um Euch gegenüber ehrlich zu sein, immer noch in der Phase befand, in der man noch gar nichts spürt, als habe man gerade einen Tritt gegen den Kopf erhalten. Ich versuchte, eine Liste all der Dinge zu erstellen, die ich hatte tun wollen, wenn ich aus dem Dienst ausschied und nach Hause ging, was aber ja nicht mehr passieren würde. Manches davon wäre gut gewesen, wenn auch nicht alles. Nun würde ich dieses und jenes nie tun können und diesen und jenen nie wiedersehen. Auf der anderen Seite musste ich dieses und jenes nie tun und diesen und jenen nie mehr wiedersehen. Ich erinnere mich,

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