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Aus der Balance
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eBook430 Seiten5 Stunden

Aus der Balance

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Über dieses E-Book

Dara hat ihr Leben im Schatten ihrer glamourösen Mutter verbracht. Zusammen mit ihrer Schwester Marie und ihrem Ehemann Charlie – dem ehemaligen Starschüler ihrer Mutter – leitet Dara jetzt die Ballettschule, die ihre Mutter einst gründete. So kultiviert ihre geschlossene Welt auch sein mag, ist sie doch auch geprägt von rücksichtslosem Ehrgeiz und einem intensiven Wettbewerb, den die Schwestern zwischen ihren Elevinnen und Eleven befördern. Als nach einem Brand ein Bauunternehmer in ihr Leben tritt, um die Sanierung vorzunehmen, überwindet er die sorgsam bewachten Grenzen dieser Welt und setzt eine Kettenreaktion aus Verlangen, Verführung und Verrat in Gang.

Mit allen Mitteln des Schauerromans beschwört Megan Abbott die Atmosphäre eines Unheils in Rosé — Neid und Eifersucht, sexuelles Verlangen und Erniedrigung — und entwickelt eine Geschichte verhängnisvoller Familienbande und des psychosozialen Netzes aus Macht und Weiblichkeit dahinter.

SpracheDeutsch
HerausgeberPulp Master
Erscheinungsdatum20. Jan. 2023
ISBN9783946582199
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    Buchvorschau

    Aus der Balance - Megan Abbott

    Aus der Balance

    Megan Abbott

    Übersetzt aus dem Amerikanischen

    von Karen Gerwig und Angelika Müller

    Für meinen Dad, meinen Helden

    Philip Abbott (1944-2019)

    Kindheit ist der glühende Schmelzofen, in dem wir auf das Wesentliche zusammengeschmolzen werden und wo dieses Wesentliche für alle Zeiten geformt wird.

    - Katherine Anne Porter

    I

    Wir drei

    Sie tanzten. Fast ihr ganzes Leben lang. Sie tanzten, sie unterrichteten Tanz, und sie unterrichteten gut, wie es vor ihnen auch schon ihre Mutter getan hatte.

    »Jedes Mädchen möchte Ballerina werden ...«

    Das stand in ihrer Broschüre, auf ihren Postern, auf ihrer Webseite; der Satz rollte in eleganter Schreibschrift über den Bildschirm.

    Die Ballettschule Durant, gegründet 1986 von ihrer Mutter, einer ehemaligen Solistin des Alberta Ballet, nahm die oberen beiden Stockwerke eines gedrungenen, rostfarbenen Ziegelbaus im Stadtzentrum ein. Das Ge­bäude gehörte ihnen, seit ihre Eltern in einer Blitzeis-Nacht vor über zehn Jahren ums Leben gekommen wa­ren, als ihr Auto über den Mittelstreifen des Highway ge­schleudert war. Als ein ambitionierter Lokalreporter er­fuhr, dass es ihr zwanzigster Hochzeitstag gewesen war, schrieb er einen Artikel über sie und behauptete, sie hätten sich selbst im Tod noch an den Händen gehalten.

    Hat einer von ihnen in diesen letzten Momenten die Hand nach dem anderen ausgestreckt, fragte der Reporter sich und seine Leserschaft, oder haben sie sich schon vorher an den Händen gehalten?

    Nach all diesen Jahren hatte die wie eine Sage weitergetragene Geschichte vom Tod der Eltern für die Schülerinnen noch immer etwas unsagbar Romantisches – weniger für Marie, die, nachdem sie während der Beerdigung ne­ben ihrer Schwester Dara heftig geschluchzt hatte, be­harrlich behauptete:

    Ich habe sie nicht ein einziges Mal Händchen halten sehen.

    ***

    Doch die Familie Durant hatte immer exotisch auf andere gewirkt, selbst damals, als Dara und Marie noch kleine Mädchen waren, die die Vortreppe dieses großen, alten Hauses mit den wegfaulenden Holzornamenten auf der Sycamore auf- und abschwebten, des Hauses, das alle das  Pfefferkuchenhaus nannten. Dara und Marie mit ihren langen Hälsen und den leisen Stimmen. Beide mit dem gleichen Haarknoten und dem entenhaften Gang, in kratzige Wintermäntel gehüllt, ihre rosa Strumpfhosen Farbtupfer im Schnee. Selbst ihre Namen stellten sie heraus: Sie klangen elegant und europäisch, obwohl ihr Vater Elektriker und Wohnzimmertrinker und ihre Mutter mit Mayonnaisesandwiches zu jeder Mahlzeit aufgewachsen war, wie sie ihren Töchtern immer mit wehmütigem Kopf­schütteln erzählte.

    Vom Kindergarten bis in die fünfte oder sechste Klasse waren Dara und Marie auf eine gruslige, alte katholische Schule auf der East Side gegangen, worauf ihr Vater be­standen hatte. Bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter verkündete, ab sofort werde sie sie zu Hause unterrichten, damit sie nicht die primitiven Lebensauffassungen der Schule verinnerlichten.

    Anfangs sperrte sich ihr Vater dagegen, doch dann kam er sie eines Tages vor der Schule abholen und sah einen Jungen – den gemeinsten aus der fünften Klasse mit einem Muttermal wie eine frische Verbrennung über dem linken Auge —, wie er versuchte, Marie die Hose herunterzuziehen, lila Cordsamt, passend zu Daras rosafarbenem. Marie stand einfach da, starrte ihn an, be­rühr­te ihre Stirn mit den Fingern, als wäre sie verwirrt, fasziniert.

    Ihr Vater scherte so schnell aus, dass sein Buick auf Bordstein und Gras zum Stehen kam.

    Alle sahen es. Er packte den kleinen Jungen am Hosen­boden und schüttelte ihn, bis die Nonnen herbeigeeilt kamen. Was für eine Schuleführen Sie hier eigentlich?, be­schwerte er sich.

    Auf der Fahrt nach Hause verkündete Marie laut, es habe ihr überhaupt nichts ausgemacht, was der Junge gemacht habe.

    Davon hat mein Bauch gekribbelt, sagte sie dann auf dem Rücksitz wesentlich leiser zu Dara.

    Ihr Vater sprach tagelang nicht mit Marie. Er rief die Rektorin an und wetterte so laut, dass sie ihn oben in ihrem Stockbett hören konnten. Maries Gesicht glänzte im Mondlicht von Tränen. Marie und ihr Vater waren Dara beide ein Rätsel. Ein Rätsel und irgendwie gleich. Primitiv, nannte ihre Mutter sie insgeheim.

    Sie gingen nie wieder hin.

    Zu Hause war der Unterricht jeden Tag anders. Man wuss­te nie, was drankam. An manchen Vormittagen holten sie den riesengroßen Globus aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters, Dara und Marie drehten ihn und ihre Mutter erzählte ihnen dann etwas über das Land, auf dem ihr Finger landete. (Singapur ist das sauberste Land der Welt. Die Strafe für Vandalismus sind Stockhiebe.) Manchmal musste sie im Arbeitszimmer etwas in dem stockfleckigen Lexikon nachschlagen, dessen Einband vom Alter weich ge­wor­den war. Oft schien es, als erfände sie Sachen (In Frankreich gibt es zwei Sorten von Toiletten ...), und sie lachten darüber, alle drei, es waren Witze, die nur ihnen ge­hör­ten.

    Wir sind drei, pflegte ihre Mutter zu sagen. (Sie waren drei, und dann irgendwann vier, aber das war, bevor Charlie kam und vor allem anderen.)

    Aber hauptsächlich ging es den ganzen Tag – jeden Tag – ums Ballett.

    Ihr Vater war wegen der Arbeit so oft und so lange weg. In diesem Umspannwerk oder auf jenem Flugplatz, machte Sachen mit Glasfaser – keine von ihnen wusste es so genau.

    Wenn er nicht da war, trugen sie den ganzen Tag Ballettanzüge und tanzten Stunde um Stunde im Übungsraum, über den Flur im ersten Stock, im von Gestrüpp überwucherten Hinterhof. Sie tanzten den ganzen Tag, bis ihre Füße glühten, kribbelten, taub wurden. Es war egal.

    So erinnerte sich Dara jetzt daran.

    Hauskatzen. So nannte ihre Mutter sie immer, was lustig war, wenn man darüber nachdachte, denn ihre Mutter war diejenige, die sie bei sich zu Hause behielt. Nicht eine einzige Übernachtung bei Freundinnen, kein Campingausflug, keine Geburtstagsfeier einer Nachbarin, ihre ganze Kindheit lang nicht.

    Sie sorgten selbst für ihren Spaß. An einem Valentinstag schnitten sie gemeinsam Karten aus verblasstem Tonpapier aus, und ihre Mutter erteilte ihnen eine Unterrichtsstunde über die Liebe. Sie sprach über all die verschiedenen Arten der Liebe und wie sie sich veränderte und drehte und dass man sie nicht aufhalten konnte. Liebe ändere sich immer für einen.

    Ich bin verliebt, sagte Marie, wie immer, und meinte damit den Jungen aus der Fünften mit dem Muttermal, der ihr die Hose heruntergezogen und der sich einmal unter ihrem Pult versteckt und versucht hatte, ihr einen Stift zwischen die Beine zu stecken.

    Das ist keine Liebe, sagte ihre Mutter und streichelte Maries babyweiche Haare, strich mit der Handfläche über Maries ewig rosige Wangen.

    Dann erzählte sie ihnen ihre Lieblingsgeschichte, die von der berühmten Ballerina namens Marie Taglioni, deren Anhängerschaft ihr derart ergeben war, dass sie zweihundert Rubel – seinerzeit ein Vermögen – für ein Paar ihrer ausrangierten Spitzenschuhe bezahlte. Nach dem Erwerb kochten sie die Spitzenschuhe, richteten sie an und aßen sie mit einer besonderen Soße.

    Das, erklärte ihnen ihre Mutter, ist Liebe.

    Jetzt, mehr als zwei Jahrzehnte später, gehörte die Ballettschule Durant ihnen.

    Den ganzen Tag, sechs Tage die Woche in den letzten über zehn Jahren unterrichteten Dara und Marie in den beengten, heimeligen Räumen desselben aschgrauen Gebäudes, in dem einst ihre Mutter regiert hatte. Feuchtheiß und mit stechendem Geruch im Sommer und eisig, mit vom Schnee getrübten Fenstern im Winter, blieb das Studio immer gleich und verfiel langsam, aber stetig. Oftmals schimmelte es, und nächtlicher Regen bildete an der Decke nässende Blasen in allen Ecken, aus denen es den Schülerinnen und Schülern auf die Nasen tropfte.

    Doch das spielte keine Rolle, denn die Schülerschar kam immer. Über hundert Mädchen und ein paar Jungen, von drei bis fünfzehn Jahren, Ballett-Einführung I bis Fortgeschrittene IV. Und eine Warteliste für den Rest. In den vergangenen sechs Jahren hatten sie vierzehn Mädchen und drei Jungen auf erstklassige Ballettschulen weitergeschickt und sechsunddreißig auf wichtige Wettbewerbe vorbereitet.

    Jeden Sommer stellten sie zwei zusätzliche Lehrkräfte ein, für die Wochenenden sogar drei, aber während des Schuljahrs waren es nur Dara und Marie. Und natürlich Charlie: einst der Vorzeigeschüler ihrer Mutter, ihr Sohn-Ersatz, ihr Seelensohn. Und jetzt Daras Ehemann. Charlie, der wegen seiner Verletzungen keinen Unterricht mehr geben konnte, der aber vom Büro aus die Ge­schäfte führte. Charlie, in den so viele Schülerinnen vorübergehend verliebt waren, ein Initiationsritus wie das erste Mal, wenn sie sich mit einer Rasierklinge an die Hornhaut ihrer Füße machten, oder wie das erste Mal, wenn sie einen Turnout schafften, wenn sie ihre Beine aus ihren Hüftpfannen drehten, die Körper zur Verrenkung getrieben. So weit verdreht, dass es sich ekstatisch an­fühlte. Bei ihrem ersten Mal hatte sich Dara wie aufgeplatzt gefühlt, bloßgelegt.

    Die Ballettschule Durant war eine Institution. Kinder, Teenager kamen aus drei Countys, um Unterricht bei ihnen zu nehmen. Sie kamen mit lebhaften Träumen und biegsamen Körpern, mit harten, kleinen Muskeln und hungrigen, schlanken Bäuchen und der Sehnsucht, einzutauchen in das Märchen, das der Tanz für kleine Mädchen und ein paar besondere kleine Jungen darstellt. Sie alle wollten teilhaben an der berühmten Tradition der Durants, die ihre Mutter vor dreißig Jahren oder mehr begründet hatte. Encore, échappé, echappé, achte auf deine Knie. Ihre Mutter – die Stimme gedämpft, doch stählern –, die über den Boden schritt, alles anleitete, alles beherrschte.

    Doch jetzt waren es Daras und Maries Stimmen – Daras leise und erbarmungslos (Schultern runter, heb das Bein, höher, höher ...) und Maries leicht und fröhlich, Marie, die ihren Fünfjährigen Hier kommt der Mäusekönig! zurief und ihre Füße und Hände zu Klauen bog, was die Mädchen vor Vergnügen quietschen ließ ...

    Im Büro hörte sich Charlie die Klagen der Eltern über die mangelnde Disziplin ihrer Kinder an, über die exorbitanten Preise der Spitzenschuhe, den Ferienplan; Charlie, der geduldig nickte, wenn Mütter mit gedämpfter Stimme über ihre einstigen Ballettsehnsüchte sprachen,  über verrückte Vorstellungen von Tutus und Geigenharz auf Ballettschuhen, Satin und Tüll, über Scheinwerferlicht und strahlende Gesichter, über endloses Springen in die wartenden Arme eines Geliebten.

    Alles funktionierte, nichts änderte sich je.

    Und doch war die Ballettschule Durant Jahrzehnte nach ihrer Eröffnung in einer ehemaligen Kurzwarenhandlung mit durchhängenden Decken zu einem großen Erfolg geworden.

    »Ich habe immer gewusst, dass es machbar ist«, sagte Charlie.

    Bei wem ist Ihre Tochter? Bei Dara oder Marie?

    Sie sehen sich so ähnlich, aber Dara ist so dunkel, wie Marie hell ist. Sie sehen sich so ähnlich, aber Dara hat den langen Schwanenhals und Marie die langen Fohlenbeine. Beide bewegen sich mit solcher Selbstsicherheit. Sie zeigen unseren Töchtern Anmut und Haltung.

    Sie biegen und drehen unsere zappeligen, hühnerbrüstigen kleinen Mädchen zu geschmeidigen, ranken Tänzerinnen. Unsere Mädchen betreten die Durant-Schule schrill und lärmend, mit dem Gewirr der Handys und dem Platschen von Flip-Flops, und binnen einer Stunde wird all das in die tiefe, wenn auch erschöpfte Ruhe einer Kaiserin, einer Zarin, einer Durant verwandelt.

    Unsere Töchter lieben beide, vor allem Marie.

    Marie, weil sie die Jüngeren unterrichtete. Weil sie sich zu ihnen auf den Boden setzte, ihre losen Zöpfe in Ordnung brachte und ihnen, wenn sie in Tränen ausbrachen, heimlich Erdbeer-Zuckerwaffeln gab. Nach dem Unterricht brachte sie ihnen vielleicht sogar diesen gewissen Tanz ihres Lieblings-Popstars bei, wenn sie ihn Marie auf ihren Handys zeigten. Am Abend warf Dara einen Blick in Maries Saal, auf pastellene Waffelkrümel, vergessene Haargummis und verbogene Haarnadeln, und fragte sich, ob Marie kleine Mädchen zu gut verstand.

    Dara folgte dem Vorbild ihrer Mutter. In ihrem Saal stand sie königinnengleich, das Kinn vorgereckt wie das einer Wölfin — so beschrieb es Charlie —, schnell dabei, sie zu korrigieren, sie zusammenzustauchen, die Mädchen mit der trägen Streckung, die Mädchen, die mit gebeugten Knien Pirouetten drehten.

    Jemand musste die Tradition der Strenge aufrechterhalten, die stramme Disziplin, und es fiel unweigerlich Dara zu. Oder passte am besten zu ihr. Das war schwer auseinanderzuhalten.

    Doch meistens waren Dara und Marie für all die kleinen Mädchen mit den erhobenen Gesichtern, in den gleichen rosa Strumpfhosen und abgestoßenen Ballettschläppchen aus Leder – und noch mehr für ihre Eltern, die sich im Vorraum drängten, sodass die Fenster be­schlugen, die ihre Kinder aus flauschigen, bauschigen Mänteln schälten und sie sanft ins Studio schubsten – gleich, aber verschieden.

    Dara war kühl, Marie war heiß.

    Dara war dunkel, Marie war hell.

    Dara und Marie, gleich und doch verschieden.

    ***

    »Jedes Mädchen möchte Ballerina werden ...«

    Es war immer die Fotografie, die sie in ihren Bann schlug. Die dunkle Dara und die blasse Marie, die Köpfe einander zugeneigt, mit den gleichen Haarknoten, die Füße im relevé. Das Foto war das Erste, was man sah, wenn man in den Vorraum des Studios kam oder auf die Webseite klickte oder das Gemeindeblatt oder das glänzende Lifestyle-Magazin in die Hand nahm und die Hochglanzwerbung auf der Rückseite sah.

    Das Foto hatte Charlie gemacht, und alle sprachen darüber.

    So eindrucksvoll, sagten alle. Himm-lisch, verstiegen sich manche sogar. Die kleinsten Mädchen, die in ihren rosa Ballettröckchen hereintapsten, starrten, den Finger im Mund, zu dem Foto hinauf, das in der Lobby hing.

    Wie Märchenprinzessinnen.

    Also machte Charlie noch mehr Fotos. Für die Lokalzeitung, die regelmäßig über sie berichtete, für ihre Werbematerialien, als die Schule wuchs. Doch die Fotos waren im Grunde immer gleich. Die dunkle Dara und die blasse Marie, selbstsicher, einander nah, einander berührend.

    Einmal bot ihnen ein Marketingmensch ein kostenloses Beratungsgespräch an. Nachdem er sie an einem Sommertag im Studio beobachtet hatte, schwitzend und schlapp in einer Ecke auf einem Barhocker, den sie ihm gegeben hatten, sprach er lange flüsternd mit Charlie. So kamen sie zu dem Foto von Dara und Marie am Ende eines langen Tages, nachdem sie zusammen in dem ruhigen Studio getanzt hatten, ihre Körper entspannt, ihre Ballettanzüge durchgeschwitzt.

    Charlie lichtete sie auf dem Boden übereinander zu­sammengesunken ab, ihre Gesichter gerötet vor Wonne.

    »Näher zusammen«, sagte er hinter der Kamera. »Noch näher.«

    Noch näher. Damals schien es unmöglich, sich noch näher zu sein. Sie drei, so verflochten. Charlie war Daras Ehemann, aber er war noch so viel mehr. Dara, Marie und Charlie, ihre gemeinsam im Studio verbrachten Tage, ihre Nächte im Zuhause ihrer Kindheit. Damals.

    Nach dem Shooting, als sie sich die Bilder auf Charlies Computer ansahen, zögerte Dara, stellte sich vor, was ihre Mutter wohl über die Fotos sagen würde, über ihre verborgenen blauen Flecke, Blasen und schwarzen Zehennägel, ihre Körper so glatt und perfekt und puristisch. »Seid ihr sicher?«, fragte sie.

    »Sie erzählen eine Geschichte«, sagte Charlie.

    »Sie verkaufen eine Geschichte«, fügte Marie hinzu und ließ ihr Trikot an ihre feuchte Haut schnalzen.

    Tänzerkarrieren sind naturgemäß kurz. Was Charlie er­lebt hatte – seine unseligen Verletzungen, seine vier schmerzhaften Operationen –, war immer präsent. Sein Körper, immer noch so schlank und wie in Marmor gemeißelt wie an dem Tag, als ihre Mutter Charlie mit nach Hause gebracht hatte, war eine lebende Mahnung, wie schnell sich alles wenden konnte, wie schön Dinge sein konnten und doch innerlich völlig kaputt. Man musste planen, sich eine Richtung geben. Das unterschied Dara und Charlie von Marie, von ihren Eltern.

    Marie schien immer bereit, wegzulaufen, aber nie für lange und nie weit. Wie weit kam man schon, wenn man immer noch Mühe hatte, sich die PIN seiner Bankkarte zu merken oder Gasbrenner anließ, wo man ging und stand?

    Als Dara und Charlie dann wirklich heirateten – im Rathaus, er mit Stützmieder und in einem Hemd mit offenem Kragen und sie fröstelnd auf der Außentreppe in ihrem hauchdünnen Spaghettiträgerkleidchen –, brachte er einen kleinen Treuhandfonds von seinem lange verstorbenen Vater mit, der an seinem einundzwanzigsten Ge­burtstag endlich geknackt werden durfte wie ein Platin-Sparschwein. Der Betrag war bescheiden, aber sie verwendeten ihn, um die Hypothek für das Studiogebäude abzuzahlen, durchhängende Decken und alles andere in­klusive. Sie besaßen es ganz. Es gehörte ihnen.

    Wir machen das zusammen, sagte er.

    Und mit Marie.

    Natürlich, sagte er. Zu dritt. Wir heißt wir drei.

    Sie waren zu dritt. Immer sie drei. Bis sich das änderte. Und ab da ging alles schief. Angefangen mit dem Feuer. Oder noch davor.

    Der Hammer

    Ist es Zeit? Diese Worte summten an diesem Morgen in ihrem Kopf.

    Die Küchenuhr ihrer Mutter, das Aluminium vergilbt vom Fett, zeigte Viertel vor sieben an. Dara atmete ein, lang und pfeifend, der Körper angespannt und schwer vom Schlaf.

    Dara konnte sich nicht so recht von ihrem Platz wegbewegen, ihre Handflächen auf dem antiken Tisch mit den klappbaren Seitenteilen, dem Walnusswurzelholz, das sie seit der Kindheit kannte.

    An diesem Morgen war sie aus einem Traum hochgeschreckt, in dem die Feuerschluckerin vorkam, die zu sehen ihr Vater sie beide auf den Frühlingsjahrmarkt mitgenommen hatte, als sie noch sehr klein waren. Wie die Frau die blau werdende Fackel gepackt hielt, wie die Flammen sich in ihrer Kehle hochzuziehen schienen, ihr langes Gesicht, ihre erschrockenen Augen.

    Der Traum war noch in ihr, irgendwie, sorgte noch immer für zuckende Lider, und nachdem sie vom Tisch aufgestanden war, um den Gasbrenner abzustellen, wartete sie drei, vier, fünf Sekunden, um zu verfolgen, wie die blaue Flamme flackerte und verschwand.

    Marie, dachte sie plötzlich. All diese Monate später, und sie erwartete immer noch, dass sie sich umdrehen und sie sehen würde, Marie, das Gesicht knittrig vom Schlaf, wie sie mit ausgestreckter, leerer Tasse auf sie zu­wankte.

    Ihren Tee in der Hand, sank Dara zurück auf ihren Stuhl, streckte dann den Oberkörper nach vorn, die Arme ausgebreitet, den Kopf mehr und mehr nach unten gesenkt; die Arme jetzt auf Höhe der Waden, umfasste sie mit ihren Händen die Knöchel – Blut, das sich sammelte. Nerven, die Funken sprühten.

    Wir haben eine andere Beziehung zum Schmerz, hatte ihre Mutter immer gesagt. Er ist unser Freund, unser Geliebter.

    Wenn ihr aufwacht und der Schmerz ist weg, wisst ihr, was das bedeutet?

    Was?, hatten sie dann jedes Mal gefragt.

    Ihr seid keine Tänzerinnen mehr.

    »Dara«, rief Charlie von oben, aus der Löwenfuß-Badewanne ihrer Mutter, »bist du nicht spät dran?«

    »Nein«, antwortete Dara. Nie, wollte sie hinzufügen, griff nach ihrer Thermosflasche, um sie zu füllen, Tee ging daneben, ihre Gelenke schmerzten wie immer, die einzige Art, wie sie an manchen Tagen morgens wusste, dass sie am Leben war.

    »Madame Durant!«, rief eine Jungenstimme, gerade so im Stimmbruch. »Ist es heute?«

    Es war Samstag und noch nicht einmal halb acht. Die Türen der Ballettschule Durant würden sich erst in einer halben Stunde öffnen, doch der Parkplatz begann sich bereits zu füllen, als Dara ankam, mit vibrierenden Beinen und brennendem Gesicht von ihrem belebenden Fußmarsch zur Arbeit.

    »Madame Durant!«, hörte sie die Stimme noch einmal.

    Dara drehte sich um, als sich ein Wagen näherte, eine delfingraue Limousine mit getönten Scheiben.

    Darin, neben seinem Vater, der ernsthafte, dunkeläugige vierzehnjährige Corbin Lesterio, die Haare noch nass vom Duschen und nach hinten gekämmt, wie bei einem Stummfilmschauspieler oder Gangster. »Madame Durant, ist es heute? Die Bekanntgabe der Besetzungsliste?«

    »Ja«, sagte Dara, lächelte insgeheim über seine Ernsthaftigkeit, die so offen war und ehrlich. Sie ging schneller, spürte die Blicke. Corbin, einer der sechs Jungen inmitten hundertzweiundzwanzig Mädchen an der Schule, wusste es noch nicht, aber sie hatten ihn für dieses Jahr als Nussknackerprinzen ausgewählt. Oder besser: Dara hatte das. Charlie hatte sich nicht wohlgefühlt und das Vortanzen vorzeitig verlassen, und Marie mischte sich nie in die Besetzung ein, überließ sie immer Dara, die wusste, es konnte nur Corbin sein, mit seinen unglaublich langen Armen und dem langen, schönen Hals.

    »Madame Durant! Madame!«, hörte sie andere Stimmen aus anderen Autos im Leerlauf, drinnen die Heizungen auf Hochtouren und die Fenster beschlagen, eifrige Eltern, ein Dutzend Mütter, ihre morgendlichen Frisuren mit Haarclips zusammengekratzt, neben sich die wippenden Haarknoten ihrer Töchter, die Töchter selbst energiegeladen und hektisch. »Madame! Madame!« Ihre Aufregung so anstrengend wie ihre Verzweiflung.

    Das Energielevel – das ständige Sirren von Unruhe und Qual, von Hunger und Selbstkritik – war immer hoch an der Durant-Schule, aber heute war es wesentlich höher.

    Es war unumgänglich. Es passierte jedes Jahr um diese Zeit, die kalte Luft, das Funkeln in den Augen aller Mädchen, ihre Arme hoch oben in der fünften Position.

    Es war Nussknacker-Zeit.

    Ein notwendiges Übel, das war der Nussknacker.

    Er überlagerte alles. Acht Wochen Vortanzen, Proben während der Kurse, Proben auf der Bühne, Kostümanproben und Hauptproben mit ihrer Partnerschule, der Mes Filles Ballet Company unter der Leitung von Madame Sylvie – all das mündete in sechzehn Aufführungen binnen zweier Wochen, dargeboten im Francis J. Ballenger Performing Arts Center, einer Bausünde in Stahl und Glas, die sich an Dezemberabenden auf wundersame Weise in einen in Dutzende Meter rotes Samtband ge­wickelten, leuchtenden Geschenkkarton verwandelte.

    Acht Wochen Stresskopfschmerz, Ohnmachten und nervöse Mägen. Acht Wochen Verletzungen und Bei­naheverletzungen, Springerknie und Wachstumsschübe, blutige Blasen und Fersensporne.

    Das alles versteckt hinter dem Glitzer und billigen Satin, den Rüschen und Netzen und Tüll, den drei Dutzend Perücken, gepudert, besprüht, vergoldet, der Pinnwand hinter der Bühne für die falschen Schnurrbärte der Spielzeugsoldaten, dem Kabuff mit den eingesunkenen Nagerköpfen für den Kampf gegen den Mäusekönig. Und das alles wiederum versteckt unter dreißig Pfund schwer entflammbarem Papierschnee, der nach jedem Auftritt wiederverwendet wurde, oder in früheren Zeiten unter Schnee aus geschredderten Plastiktüten, der an den Wimpern festklebte, in Münder geriet, und am Ende eines jeden Abends rollte die Crew große Magnete über die Bühne, um die heruntergefallenen Haarnadeln herauszuziehen.

    Vor allem jedoch waren es acht Wochen der Tränen.

    Der Nussknacker. Die Geschichte war so einfach, ein Kindermärchen, aber voller Geheimnisse und Schmerz. Auf der Weihnachtsfeier ihrer Familie ertappt sich ein junges Mädchen namens Klara dabei, dass sie von ihrem düsteren und charismatischen Patenonkel Drosselmeier fasziniert ist. Er gibt ihr ein kleines Männchen, eine Nussknackerpuppe, die sie heimlich mit ins Bett nimmt und zu einem jungen Mann erträumt, einem Fantasie-Geliebten, der sie in eine Traumwelt voll unvorstellbarer Pracht lockt. Und am Ende des Balletts fährt sie mit ihm auf einem Schlitten in einen tiefen, fernen Wald davon. Das Ende der Mädchenzeit und der heimliche Übertritt in das Dunkel dahinter.

    Natürlich wollten alle Mädchen Klara sein. Klara war der Star. Es gab Weinkrämpfe und gespielte Tapferkeit und stille Schluchzer unter den Dutzenden, die gezwungen wurden, einen der vielen Gäste des Festes zu spielen, einen Engel, eine Zuckerstange. Sie wollten Klaras steifes weißes Festkleid tragen, ihr fließendes weißes Nachthemd. Sie wollten die grinsende Nussknackerpuppe halten wie ein Zepter.

    Diese tiefe Sehnsucht der jungen Mädchen war wie Geld auf der Bank.

    Jedes Jahr stiegen die Anmeldungen im Herbst wegen all dieser Mädchen, die Klara sein wollten, um zwanzig Prozent. Kurz darauf stiegen die Winteranmeldungen wegen der Mädchen, die sich in die Tutus und die Magie verliebt hatten, noch einmal um zehn Prozent.

    Niemals fühle ich mich amerikanischer, hatte ihre Mutter stets beim Kassieren der Gebühren gesagt, diesen vage französischen Schauder in der Stimme.

    Sie persönlich mache sich nicht viel aus Klara, be­kannte ihre Mutter. Sie tut die ganze Zeit gar nichts, diese kleine Siebenschläferin von einem Ding. Und dann las sie ihnen die ursprüngliche Geschichte vor, die viel düsterer war, das kleine Mädchen so viel interessanter, intensiver. Und ihr Name in der Geschichte war nicht Klara, was hell und klar bedeute, erklärte ihre Mutter, sondern Marie, was rebellisch bedeute.

    Das bin ich!, sagte Marie jedes Mal, wenn ihre Mutter die erste Seite aufgeschlagen hatte.

    Daras Name besaß leider keine solche Geschichte. Ihre Mutter konnte sich nie erinnern, warum sie ihn ausgesucht hatte, nur, dass er richtig klang.

    Die Ironie daran ist, hatte ihre Mutter einmal zu Dara gesagt, dass du die Marie bist.

    »Madame Durant!«, piepste eine der Neunjährigen, als Dara an allen vorbei durch den Haupteingang ging. »Madame Durant, wer wird die Klara? Wer?«

    Denn heute war nicht nur einer dieser nervenzerfetzenden Tage der Nussknacker-Spielzeit, sondern abgesehen vom Premierenabend war das heute der Tag. Die Ver­kündung der Besetzung, wo alle erfahren würden, was Dara am Abend zuvor entschieden hatte. Wer ihre Klara sein würde, ihr Prinz, ihr Harlekin, wer ihre mechanischen Puppen sein würden, ihre klitzekleinen Bonbons und zarten Schneeflocken.

    »Ich halte es kaum aus!«, lispelte Chloë Lin und um­klammerte einen ihrer Stulpen, der ihr am Schienbein herunterrutschte, wenn sie rannte. »Wenn ich noch länger warten muss, sterbe ich!«

    Als sich die Tür hinter ihr schloss, atmete Dara durch.

    Doch mit jedem Schritt, den sie die Treppe hinauf machte, bebte die genau vor diesem Gefühl, dieser nervösen Energie.

    Oder sie bebte wegen Marie, wie sich herausstellte.

    BAMM! BAMM! BAMM! BAMM!

    Die Ballettschule Durant war von Lärm erfüllt, einem klaren, konzentrierten Hämmern, das sich in Daras Schlä­fe wie ein Bolzenschussgerät anfühlte.

    BAMM! BAMM! BAMM! BAMM!

    Dieses Geräusch kannte Dara gut. Sie hatte es schon tausendmal gehört, seit ihre Schwester zehn Jahre alt gewesen war und ihre Mutter sie zum ersten Mal auf ihre außerordentlich spitz zulaufenden Zehen gestellt hatte. Du, meine Liebe, bist für den Spitzentanz gemacht.

    »Schwester, liebe Schwester«, rief Dara aus.

    Und da war sie, Marie, das Gesicht gerötet, die Beine auf dem Boden von Saal A gespreizt, und ging mit dem rostroten Tischlerhammer auf ein neues Paar Spitzenschuhe los.

    »Der Hammer kehrt zurück«, sagte Dara mit hochgezogener Augenbraue.

    »Das ist das Einzige, was funktioniert«, sagte Marie und hielt Dara den Schuh hin, sein Rosé aufgeplatzt, die weiche Mitte freigelegt.

    Selbst wenn sie als junge Tänzerinnen drei Paar die Woche verschlissen, verbot ihnen ihre Mutter den Hammer. Er war zu grob, zu brutal. Es war Bequemlichkeit. Stattdessen sollte man den Schuh in eine Türangel stecken, die Tür langsam schließen, seine Härte damit weich machen, ihn brechen. Marie hatte nie die Geduld dafür.

    »Sieh mal«, sagte Marie und präsentierte stolz ihr Werk, legte den Finger auf die Zwischensohle, pikte hinein, streichelte sie. »Schau.«

    Dara spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte, und wusste nicht so genau, warum.

    Satin, Pappe, Jute, mit Kleister gehärtetes Papier – aus mehr bestanden Spitzenschuhe nicht. Und doch waren sie so viel mehr, das Herz des Balletts. Und die Tatsache, dass sie nur Wochen oder weniger als eine Stunde hielten, machte sie zu noch mehr, wie eine Haut, die man ständig abwarf. Dann kam eine neue Haut und musste geformt werden.

    Sobald ihre Tänzerinnen en pointe gingen, lehrten Dara und Marie sie, wie man Spitzenschuhe weich machte, wie man experimentierte, scheiterte, anpasste, individualisierte. Dann saßen sie auf dem Boden der Umkleide, die Beine wie Kompassnadeln, dazwischen ihre neuen Schu­he wie ein Paar glitschiger Fische.

    Brich den Block, bearbeite die Zwischensohle, biege die Sohle, mach sie weich, mach sie zu deiner. Fädle Zahnseide in eine Nadel – weit dicker als Faden —, um Gummi- und Satinbänder genau an den richtigen Stellen einzunähen; der Einsatz eines Feuerzeugs an den Enden der Bänder verhindert, dass sie ausfransen. Eine Kneifzange, um die Nägel herauszuziehen, ein Schablonenmesser, um den Satin rund um die Zehen wegzuschneiden, damit sie weniger rutschen. Das war Daras liebster Teil des Aktes, als schälte man einen weichen Apfel. Und danach das Messer nehmen und schnick, schnick, schnick, schnick die Schuhsohle einritzen, ein X oder ein Kreuz, damit sie Grip bekamen.

    Es ging darum, eine eigene Methode zu finden, den Fuß mit dem Schuh verschmelzen zu lassen, den Schuh mit dem Fuß, dem Körper.

    Der Schuh muss ein Teil von euch werden, hatte ihre Mutter immer gesagt. Ein neues Organ, komfortabel, an­spruchs­voll und eures.

    Wenn man sie nicht richtig vorbereitete, wenn man einen Schritt ausließ, eine Abkürzung nahm – eine zu weiche Sohle, ein zu niedrig angesetztes Gummiband –, dann konnte das einen Sturz bedeuten, eine Verletzung und Schlimmeres.

    Ihre Mutter erzählte ihnen Geschichten von älteren Mäd­chen, die Glasscherben in den Schuhen anderer Mäd­­chen versteckten, was wie ein düsteres Märchen klang, aber gab es auch andere?

    Das Ballett war reich an düsteren Märchen, und wie eine Tänzerin ihre Spitzenschuhe vorbereitete, war ein Ritual, so mysteriös und intim wie Selbstbefriedigung. Oft war es nicht voneinander zu unterscheiden.

    BAMM! BAMM! BAMM! BAMM!

    Marie würde nicht aufhören, sie hatte die Zähne in die Unterlippe vergraben, ihr Blick ging ins Leere. Sie würde ein, zwei, drei Paare vorbereiten.

    Es war lächerlich, eine Verschwendung. Marie, wollte Dara sagen, wofür sind die überhaupt?Marie, du bist jetzt Lehrerin, keine Tänzerin mehr. Und die kleinen Mädchen, die sie unterrichtete, waren noch Jahre vom Spitzentanz entfernt, ihre Füße steckten noch in rosa Schläppchen.

    Aber Dara war zu müde, um zu schelten. Zu sagen, was ihre Mutter gesagt hätte: Du misshandelst dich selbst, ma chère. Das ist Selbstmisshandlung.

    BAMM! BAMM! BAMM! BAMM!

    Marie hörte nicht auf, bis Dara schließlich die Eingangstür aufschloss und die ersten Schülerinnen hereindrängten, eine Schar quietschvergnügter Achtjähriger, von denen zwei in Tränen ausbrachen, als sie dieses Gespinst vor Marie sahen, ihre ausgeweideten Schuhe.

    Alles an diesem Tag war ein verrücktes Gewühle, so wa­ren Samstage immer, aber vor allem jetzt, wo der Stundenplan überladen war, um die Zeit fürs Vortanzen auszugleichen, und ihre übliche Vertretung, eine lebhafte Col­legestudentin namens Sandra Shu, wegen einer schnap­penden Hüfte ausfiel.

    Drückend hing die Spannung wegen der finalen Besetzungsliste in der Luft, die Dara, der sagenumwobenen Tradition ihrer Mutter folgend, niemals vor Ende des Tages bekannt gab. Andernfalls müsste sie den ganzen Nachmittag das Weinen und die stummen Blicke ertragen, die mürrischen Gesichter und die Verzweiflung, die unaufhörlich geflüsterten Sticheleien gegen die für die Hauptrollen Auserwählten.

    Da Der Nussknacker

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