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Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
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eBook1.460 Seiten21 Stunden

Ruhe ist die erste Bürgerpflicht

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Über dieses E-Book

Das sah jeder ein. Die Hofrätin öffnete vor Schreck den Mund, fast wie vorhin die junonische Frau. Die Partie war wirklich zerstört. Da übernahm der Wirkliche Geheimrat die Karten. Er blieb der Gott des Abends. Man sprach noch nach Wochen in den Kreisen von der Liebenswürdigkeit dieses Staatsmannes. – Er ist später gestürzt; die Hofrätin hielt fest am Glauben. Sie versicherte noch nach langen Jahren, es sei nur die schwärzeste Kabale, die einen solchen Mann stürzen können. - Aus dem Buch Willibald Alexis (1798-1871) war ein deutscher Schriftsteller, der als Begründer des realistischen historischen Romans in der deutschen Literatur gilt.
SpracheDeutsch
HerausgeberSharp Ink
Erscheinungsdatum5. Nov. 2017
ISBN9788028259587
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    Buchvorschau

    Ruhe ist die erste Bürgerpflicht - Willibald Alexis

    Erstes Buch

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Kapitel.

    Die Kindesmörderin

    Inhaltsverzeichnis

    »Und darum eben«, schloß der Geheimrat.

    In seiner ganzen Würde hatte er sich erhoben und gesprochen. Charlotte hatte ihn nie so gesehen. Der Zorn strömte über die Lippen, bis vor dem Redefluß des Kindermädchens allzeit fertige Zunge verstummte. Sie war erschrocken zurückgetreten, bis sie sich selbst verwundert an der Türe fand; aber der Geheimrat schritt noch in der Stube auf und ab.

    Charlotte hatte leise zu weinen angefangen – »Aber Herr Geheimrat, um solche Kleinigkeit!«

    »Eine Kleinigkeit, die Angst besorgter Eltern um Ihre Kinder! – Fünf Stunden von Hause fort, ohne eine Sterbenssilbe mir zurückzulassen, und die Kleinen mitgenommen, ohne um Erlaubnis zu fragen!«

    »Herr Geheimrat«, schluchzte sie, »haben nie nachgefragt, ich weiß auch gar nicht, warum jetzt!«

    »Schweige Sie!« fuhr der Hausherr fort. »Sie hat kein Einsehen, keine Moralität. Sie mißbraucht meine Güte. Sie muß aus meinem Hause. Es haben sich schon viele gewundert, daß ich Sie noch behielt. Aber Sie schlägt mit Ihrer Unverschämtheit den Boden aus dem Faß. Versteht Sie mich! Ein Glück noch, daß wir vom Viertelkommissar erfuhren, daß Sie zur Exekution hinaus war, wir hätten sonst gar nicht gewußt, wo Sie geblieben war.«

    »Wenn das die selige Frau Geheimrätin wüßte«, schluchzte das Mädchen, »das war eine seelensgute Frau. Und wie oft hat sie gesagt: ›Wenn wir nicht wären, mein Mann kümmert sich gar nicht um die Kinder.‹ Ja, das hat sie gesagt, nicht einmal, hundertmal. Und haben Herr Geheimrat jetzt auch nur einmal nach den Kindern gefragt? Das eben aber sagten die selige Frau Geheimrätin: ›Er hat kein Herz für sie!‹ Und es war eine Frau, so sanft wie die himmlische Güte und viel zu gut für diese Welt, und wer nur ihre stillen Tränen gesehen hat, die sie nachts vergoß, und darum nahm der liebe Gott sie zu sich, und sie würde sich im Sarge umdrehen, wenn sie wüßte, daß Herr Geheimrat mir darum solchen Affront antun.«

    Charlotte mußte die schwache Seite des Hausherrn kennen. Er wandte sich um und fuhr mit dem Taschentuch über das Auge, ob um eine Träne abzuwischen oder die Verlegenheit zu verbergen, laß ich ungesagt. An der Wand hing das Bild der Verewigten, in sehr abgeblaßten Wasserfarben gemalt, ein ebenso abgeblaßter Immortellenkranz darum. Darunter hing eine andere Schilderei, eine Urne mit einer Trauerweide. Ein Genius senkte eine Fackel. Das Bild war auf Pappe gezogen, und wenn man näher hinzusah, bemerkte man, daß in der Urne ein Medaillon angebracht war, in welchem einige blonde Haare zu einem Namenszuge sich verschlangen. Der Geheimrat nahm es heraus und drückte es an seine Lippen.

    »Oh du Unvergeßliche!« sagte er, noch einmal mit dem Tuch über die Augen fahrend. Sein Zorn war gewichen; in weicherem Tone fuhr er fort: »Aber Charlotte, wie oft habe ich Ihr gesagt, Sie soll mich nicht immer daran erinnern. Ein Mann in meiner Stellung darf sich nicht den Gefühlen hingeben. Aber Sie weiß das wohl, Sie braucht mich nur an die selige Gute zu erinnern, so tritt mir’s in die Augen. Sie führt sich auf, als wenn Sie die Hausfrau wäre – und ist doch nur eine – Sie ist eine –«

    Dem Geheimrat war jetzt wirklich etwas in die Augen getreten, was er daraus fortzuwischen suchte und darüber in Heftigkeit geriet. Es war der dicke Staub aus der Schilderei, als er das Medaillon mit Gewalt wieder in seine Umfassung zu drücken bemüht war. Je mehr er im Ärger draufschlug, so dichter puderte es ihm ums Gesicht. »Aus dem Haus muß Sie, daß Sie’s weiß«, schloß er, mit den Augen beschäftigt, aus denen jetzt wirkliche Tränen, aber nicht der Rührung, sich preßten.

    »Ja, Herr Geheimrat, das werde ich auch, sobald Sie es befehlen«, sagte Charlotte, die ihrerseits die Ruhe wiedergewonnen hatte. »Denn ich kenne meine Schuldigkeit. Aber erst werde ich vors Hallesche Tor gehen, aufs Grab der seligen Frau Geheimrätin, und die Kinder nehme ich mit. Da werde ich mit ihnen weinen, und sie sollen die kleinen Hände falten und ihre Mutter bitten, daß sie ihnen einen lieben Engel vom Himmel schickt, der sie in Schutz nimmt. Denn wissen Sie noch, Herr Geheimrat, wie die selige Frau Geheimrätin auf dem Totenbette lagen! Kreideweiß das Gesicht! ›Ach Jesus, was wird aus meinen Kindern!‹ Ja, das hat sie gesagt!«

    »Charlotte!« sagte der Geheimrat, »Sie weiß, daß ich meine selige Frau innigst geliebt habe, aber die Welt gehört den Lebendigen, sagt der Dichter, und die Toten soll man ruhen lassen.«

    »Die selige Frau Geheimrätin sollen wohl Ruhe haben, wenn sie aus dem Grabe sehen, wie’s hier oben zugeht! Die Frau Geheimrätin, Ihre Schwägerin, kommt auch nicht umsonst wieder so oft ins Haus. Aber ich werde mich wohl hüten und mir die Zunge verbrennen wie damals und sagen, was ich denke. Aber was die selige Frau Geheimrätin denkt, wenn die Geheimrätin Schwägerin den Kleinen Zuckerbrot bringt und sie über den Kopf streichelt, das weiß ich.«

    »Meine Schwägerin ist eine sehr respektable Frau, Charlotte.«

    »I Herr Jesus, wer redet denn auch gegen sie! Aber den Blick vergeß ich nicht, auf ihrem Totenbett, wie die selige Frau zurückschauerte: ›Ach, wie sieht sie die Kinder an!‹ sagten sie, nämlich die Frau Geheimrätin auf dem Totenbett. Und so riß sie die Kinder an sich, und dann sagte sie: ›Ach, sie hat so spitze Finger!‹«

    »Das waren Visionen, sie war im hitzigen Fieber.«

    »Aber die Frau Geheimrätin Schwägerin verkniffte ordentlich den Mund und sagten: ›Mein Gott, als ob ich mich um die Bälger risse!‹ Und dann sagte die Sterbende, und da war sie nicht mehr im Fieber: ›Die Charlotte, die hat wenigstens ein weiches Herz!‹ – Und da hatte die Selige recht, und ich habe die Kinder liebgehabt, als wenn’s meine eignen wären, und wenn’s nicht die Kinder wären, i, da wäre ich ja schon längst aus dem Hause, wo man so mit mir umgeht.«

    Dem Geheimrat schien unangenehm zumute zu werden, da Charlotte in einen Tränenstrom ausbrach, der nicht mehr zu stillen schien.

    »Es war auch nicht so gemeint«, sagte er endlich. – »Sie soll ja nicht auf der Stelle fort – ich meinte nur –«

    »Es werden sich schon andre finden – oh, das weiß ich –, ich weiß auch wer. Und wenn die Selige das von oben sieht, wie die Schwägerin mit ihren spitzen Fingern die Kleinen liebkost, dann wird sie nachts vor Herrn Geheimrats Bette treten, und was sie ihn dann fragen wird –«

    »Halte Sie doch das Mau –! Charlotte – liebe Charlotte, Sie ist echauffiert.«

    Das Kindermädchen war echauffiert, es ließ sich nicht in Abrede stellen. Es waren auch Gründe dafür.

    Aber der Herr Geheimrat liebte nichts Echauffiertes, nämlich wenn es ihn in seiner Ruhe inkommodierte. Er suchte sie zu beruhigen; er erklärte die Kündigung für eine Aufwallung, ein Echauffement. Indem er sagte, solche Dinge müsse man bei kaltem Blute überlegen, schob er den Stein des Anstoßes etwas weiter auf den Weg.

    Da schien ein Friede geschlossen, wenigstens ein Waffenstillstand; Charlotte weinte nur noch still, der Geheimrat seufzte und mochte wieder an anderes denken, als er sich erkundigte, was denn die Kinder machten. Gleich darauf fiel ihm noch etwas anderes ein.

    »Aber, Charlotte, sage Sie, wie kam Sie nur darauf, und mit den Kindern! vors Tor zu laufen, dahin! Eine Hinrichtung ist ein unmoralisches Vergnügen, habe ich Ihr das nicht oft vorgestellt, es ist gegen die Humanität, ein Schauspiel, woran nur der rohe Pöbel Vergnügen finden kann.«

    »Sie haben schon ganz recht, Herr Geheimrat, aber Sie hätten die Person sehen sollen, die Mariane; ganz schlohweiß war sie, vom Kopf bis zum Fuß, und wie sie die Augen niederschlug, die Hände hielt sie so vor sich gefaltet! Und der Herr Prediger saß neben ihr, und noch oben sprach er mit ihr, und dann küßte sie ihm die Hand und knickste noch einmal vorher gegen uns alle. Und die vornehmsten Herren in Tränen. Ach, Herr Geheimrat, es war Ihnen etwas, ich sage Ihnen, es ging einem durch Mark und Bein, und manche dachten, ach, wenn du doch auch so sterben könntest, so den Herrn Prediger neben sich und ganz weiß, und Blumen, und die Putzmacherin, Mamsell Guichard an der Stechbahn, hatte ihr ein Tuch mit Spitzen geschenkt, und die vornehmsten Personen weinten. Und ich habe sie auch gekannt, die Mariane, und ehedem war sie keine schlechte Person.«

    »Sie hat mir davon erzählt. Aber nun ist sie eine Kindesmörderin.«

    »Und das ist schlecht von ihr, Herr Geheimrat; das wird auch kein Mensch abstreiten. Und wir haben’s ihr alle vorhergesagt. An solchen Kerl sich zu hängen! Er war noch nicht einmal königlicher Stallknecht, da konnte er noch lange dienen. Und wenn er’s geworden, ob er sie dann geheiratet hätte! ›Wenn’s denn doch einmal sein sollte, wär’s nur ein anständiger Herr gewesen‹, sagte ihre Tante. Der hätte doch fürs Kind bezahlt, und wenn er nicht wollte, da ist das Stadtgericht! Das weiß ich ja von meiner Kusine. ›Heiraten oder bezahlen!‹ sagten der Herr Präsident. Da hat er auch gezahlt, jeden Ersten, der Herr Hoflackierer, und wenn’s bis zum Dritten nicht da war, auf der Stelle Exekution, jeden Monat. Beim zweiten hat er sich gar nicht erst verklagen lassen. Gleich gezahlt, oh, ‘s ist ein sehr reputierlicher Herr, das muß man ihm nachsagen, und wenn’s dritte kommt, wer weiß, ob sie dann nicht schon unter der Haube ist. Denn seine Alte wird’s ja nicht mehr lange machen, die hat er nur mit dem Geschäft geheiratet. Und warum sollte er sie nicht ins Haus nehmen? Ist ja sein purer Profit. Er kommt viel wohlfeiler fort, als wenn er Alimente zahlen muß. Aber ein Begräbnis wird er seiner Alten ausrichten – na, da könnte sich mancher Geheimrat schämen. Nein, das muß man ihm nachsagen, lumpen läßt sich der Herr Hoflackierer nicht; er ist ein sehr reputabler Herr. – Und, wie gesagt, hübsch war die Mariane, so blaß und schön, und das Kind, blutrot hat’s wie ‘ne Schnur um den Hals gehabt.«

    »Und meine Kinder hat Sie mitgenommen. Die unschuldigen Würmer! Sie Person, Sie!«

    »Aber, Herr Geheimrat, ich weiß auch nicht, wie Sie mir vorkommen. Es ist ja nur, daß die Kinder es einmal gesehen haben. Das ist ja fürs ganze Leben. So was kriegen sie nicht wieder zu sehen. Es soll ja kein Mensch mehr hingerichtet werden.«

    »Wer hat Ihr das wieder vorgeschwatzt?«

    »Sie können’s mir ganz gewiß glauben, Herr Geheimrat. ›Das ist die letzte Hinrichtung‹, hat der König gesagt. Und sie haben ihn beinah zwingen müssen, daß er nur die Feder in die Hand nahm. Die junge schöne Königin hat geweint. Und da hat er sie gefragt: ›Aber Luise, warum weinst du denn?‹ Denn unter sich sagen sie immer du; und es kommt einer zum andern, ohne daß die Kammerherren anklopfen und sie melden, und darüber ist die Hofmarschallin, die alte Gräfin Voß, ganz aufgebracht. Aber das tut nun nichts. Es wird alles noch ganz anders werden, sagen sie; und gar nicht wie beim Dicken. Die Livreen werden auch anders. Und alle Menschen sollen Brüder sein, und alle Frauenzimmer Schwestern…«

    Der Geheimrat intonierte, wie durch eine Erinnerung geweckt, plötzlich das Lied, indem er mit den Fingern auf dem Knie den Takt schlug:

    Wir Menschen sind ja alle Brüder,

    Vereinigt durch ein heilig Band,

    Du Schwester mit dem Leinwandmieder,

    Du Bruder mit dem Ordensband!

    Das Kindermädchen warf einen schlauen Blick: »Gestern, hinterm Gitterfenster auf dem Hofe – da sangen’s Herr Geheimrat viel lauter.«

    Die Erwähnung schien dem Geheimrat unangenehm. »Das versteht Sie nicht. Es ist allerdings gegen die Humanität, einen Menschen ums Leben zu bringen. Aber, wie gesagt, das versteht Sie noch nicht, und das ist nur unter uns, und wie sollten wir denn die Spitzbuben loswerden und die atrocen Menschen. Laß Sie sich also so was nicht einbilden, und die Königin –«

    »Ja, Herr Geheimrat, die Königin, das weiß ich expreß von jemand, der es weiß, vom Kommissar die Köchin, die hat beim Doktor, der die Hoflakaien kuriert, vorher gedient, und da hat sie’s von der Mamsell, die beim Hofmarschall ist, mit eigenen Ohren gehört, zum König hat sie’s gesagt, die Königin, sie könnte ihm ja keinen Kuß geben, weil seine Hände voll Blut wären, und nur diesmal, hat er gesagt, hätte er’s tun müssen, weil’s eine Kindesmörderin wäre, nämlich von wegen des Beispiels, weil’s sonst alle täten. Aber dann soll keiner mehr geköpft werden, und dies ist das letztemal, und darum verdienten’s wohl die Kinder, daß ich sie hinführte, denn es soll auch gar kein Blut mehr fließen und kein Krieg mehr sein, auf der ganzen Welt nicht, und der König hat’s gesagt.«

    »Aber sage Sie mal, Sie ist doch sonst eine vernünftige Person.« – Der Hausherr war aufgestanden, um ihr zu beweisen, daß sie diesmal unvernünftig sei. Das ist überall eine schwierige Aufgabe, wo die Person, welcher man es beweisen will, sich für vernünftig hält. Sie mußte überdem eine gute Royalistin sein; denn auf die Vorstellung des Geheimrates, daß so etwas gar nicht in des Königs Macht stehe, ja nicht in des Kaisers, auch nicht in der Macht des großen Feldherrn und Konsuls der Franzosen, erklärte sie, wozu denn ein König wäre, wenn er das nicht mal könne! Der König könne aber noch weit mehr, wenn er nur wolle; es gäbe jedoch Personen, die viel klüger sein wollten als der König, und alles besser wissen und machen, und sie wisse auch, was sie gehört, und könnte manches sagen, was mancher nicht gern hörte. Und wer nur gestern abend sein Ohr aufgehabt, hätte im hintersten Hofe und unterm Gitterfenster gehorcht, was die Gefangenen gesungen. Davon könnte manches Vögelchen Lieder singen, die mancher Mann gar häßlich klingen würden!

    »Sie unverschämtes –, ich glaube gar, Sie hat getrunken!«

    »Ich getrunken! Habe ich das um den Herrn Geheimrat verdient, als ich gestern abend gar nicht sah, wie Sie die Treppe heraufkamen, die kleine Hintertreppe, und nicht wußten, wo die Tür war! Ich getrunken! Ein Glas Weißbier setzten mir der Herr Wachtmeister von Prinz Louis’ Dragonern vor, und das trank ich, der Kinder wegen, denn wir waren außer Atem, weil die Leute so grausam drängten, und so hob der Herr Wachtmeister die Kinder über die Lyziumhecke, und ich quetschte mich durch die Hecke, und da sagte der Wachtmeister, ich sollte erst einen Pomeranzen mit ihm über die Lippen nehmen, weil ich so echauffiert wäre. Das kann der Wirt im Blauen Himmel bezeugen; der sagte, wir zerträten ihm seine Hecke, und er war betrunken. Aber wo wären wir alle, und die lieben Kinder, die schrien, daß es ein Gottserbarmen war; aber der Wachtmeister gab’s dem Wirt, daß er mäuschenstill ward. Ich hätt’s ihm nicht geraten, mit dem anzufangen. Er hat die Rheinkampagne mitgemacht und trägt noch eine Kugel in der Schulter, alles für seinen König! sagt er, und wenn Friede bleibt, kriegt er eine Zivilanstellung.«

    Es war eine Veränderung in dem Geheimrat vorgegangen. Von Zorn keine Spur mehr in seinem Gesicht, als er aus der emaillierten Dose eine lange Prise Spaniol nahm und mit dem Batisttuch den Tabak, der sich ausgestreut, von den Kleidungsstücken abklopfte und »ja, ja, so geht’s in der Welt!« sagte. Man sah, zwischen beiden hatte ein langer Verkehr eine Verständigung hervorgebracht, die gewissermaßen in hieroglyphischen Ausdrücken sich Luft machte. Und jeder verstand den andern. Offenbar war er an etwas erinnert worden, was er nicht liebte, und ebenso offenbar, daß Charlotte auf einen andern Gegenstand übergesprungen war, entweder, um ihm die Verlegenheit abzukürzen, oder weil dieser Gegenstand für sie einen Zweck hatte.

    »Wie ist’s denn nun mit dem Unteroffizier von Möllendorfs Grenadieren?« sagte der Geheimrat wie in vertraulicher Weise, nachdem er verschiedenes andere gefragt, zum Beispiel, wieviel Menschen wohl draußen gewesen und welche Equipagen darunter und ob die Kinder auch ordentlich gesehen hätten.

    »Dieser Mensch hat nicht meiner Erwartung entsprochen«, entgegnete Charlotte, »und Herr Geheimrat wissen auch, was ich immer gesagt habe von der Infanterie. Er stellte sich sonst ganz reputierlich an, denn Wahrheit muß Wahrheit bleiben, aber er hatte kein Herz für die Kinder und war von Profession, wie ich jetzt erfahren mußte, ein Schneider. ‘s ist wahr, er hat eine Zivilanstellung erhalten, aber was ist das, ein Nachtwächterposten! Wenn er mir das früher gesagt hätte, ich hätte ihn schön angesehen. Nein, Herr Geheimrat hatten ganz recht, wenn Sie mich warnten. So wegwerfen werde ich mich nicht, und ich sehe ihn auch gar nicht mehr an, wenn ich ihm begegne. Dieser Wachtmeister aber hat ein wirkliches Gemüt für die Kinder, und er ist ein Witwer. Prinz Louis Ferdinand hat zu ihm gesagt, er sollte sich trösten, der Soldat wäre so besser akkommodiert; und das ist wahr, sagt er, wenn’s wieder losgeht, ist der Pallasch die beste Braut für den Dragoner. Aber wenn Friede bleibt, sagt er, will er den Pallasch hinter die Tür hängen und sich nach einer Frau umsehen. Und, sagt er, eine, die treu ihrem Herrn gedient hat, die ist ihm lieber als eine, die noch nicht gedient hat, denn da weiß er nicht, was er kriegt. Und eine, die ihre Jugend ihrem Herrn geopfert hat, die wird der Herr doch nicht ohne gute Aussteuer fortlassen, das müßte ja ein schmutziger Herr sein. Und das kann ich wohl von meinem Herrn sagen, sagte ich, er wird sich nicht lumpen lassen; der Herr Geheimrat haben’s mir oft versprochen, wenn ich mich mal veränderte, dann wollten Sie dafür sorgen, daß es schmuck und blank in meinem Hause aussehen sollte. Und da hat er die Malwine auf dem langen Wege hergetragen, und sie schlief gleich auf seiner Schulter ein. Der Fritzchen, der schrie und hatte sich ungebärdig, den haben wir zwischen uns genommen, das war wirklich ein Elend mit dem Jungen, weil er sich auf die Erde warf, und wir mußten ihn an den Schultern rutschen, bis der Herr Wachtmeister ihm für einen Dreier Rosinen kaufte, und da ging’s denn, und Sonntag, wenn’s Herr Geheimrat erlauben, wird er mich nach den Zelten abholen und sich dem Herrn Geheimrat präsentieren und mich mit Waffeln traktieren.«

    Der Herr Geheimrat schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte, indem er mit einem Finger um den andern ein Rad schlug. »Ja, sieht Sie, Charlotte«, sagte er, »wer das wüßte, ob Friede bleibt, oder ‘s wieder losgeht. – Und hat Sie auch das bedacht, ein Kavallerist riecht immer nach dem Stall –«, wollte er sagen oder hatte es gesagt –

    Zweites Kapitel

    Die Geheimrätin mit den spitzen Fingern

    Inhaltsverzeichnis

    Als die Seitentür aufging und die Geheimrätin Schwägerin hereinrauschte.

    Rauschte, sage ich, denn ihr hellseidenes Kleid, obgleich die Schleppe abgeschnitten, bauschte noch immer in reichen Falten hinter ihr.

    »Ich hoffe doch nicht zu derangieren«, sagte die Dame, als der Geheimrat in einiger Verlegenheit aufsprang und die Spanioldose auf die Erde fiel. Wenn Charlotte sich in Verlegenheit gefühlt, fand sie die Gelegenheit, sie zu verbergen, indem sie die Dose auflangte und mit dem zusammengefegten Tabak in der Schürze das Zimmer verließ.

    »Wie kann meine teure Frau Schwägerin mich überraschen!« sagte der Überraschte.

    »Die Überraschung ist nicht ganz meine Schuld, denn der Herr Schwager hörten in dem konfidentiellen Gespräch, was ich zu meinem Bedauern stören mußte, nicht mein Klopfen. Da mußte ich endlich, ohne auf die Invitation zu warten, eintreten, denn ich liebe nicht das Lauschen.«

    Er drückte in verbindlicher Weise ihre Finger an die Lippen und führte sie auf das Kanapee.

    Ob die Finger besonders spitz waren, kann ich für jetzt nicht sagen, denn sie waren in Trikothandschuhen versteckt, und während die eine Hand an den Lippen des Geheimrats ruhte, umfaßte die andere den Fächer, um das Spiel zu beginnen, was bei einer Konversation auf dem Kanapee notwendig ist.

    Aber das ganze Gesicht war, was man spitz nennt. Vielleicht hätte man auch die kleine Gestalt der Dame so nennen mögen, indes war ein Etwas darin, entweder nenne ich es Anmut oder Elastizität, was diesen Eindruck verwischte. Alabasterarbeit, hätte ein Dichter oder Künstler gesagt, der erst der Hauch des Gedankens oder Gefühls Farbe und Bewegung gibt. Weder jung noch alt, weder schön noch eigentlich hübsch, konnten doch ihre dunkeln kleinen beweglichen Augen, wenn sie aus den blonden Augenbrauen besondere Blicke schossen, anziehen. Es war schwer zu sagen, wovon diese Blicke sprachen, ob von Verstand, Gefühl, Sinnlichkeit, ob sie stachen, suchten, lockten, ob sie aus einer beglückten oder zerrissenen Brust kamen. Sie konnten einen sehr verschiedenen Glanz annehmen, nur nicht den der ursprünglichen Wahrheit, jenen Glanz, der auf den ersten Blick einnimmt und überzeugt. Man sah in diesen Augen, daß sich die Gedanken und Gefühle erst sammeln mußten, um ihren Blicken den Ausdruck zu geben, den sie wollte. Es war überhaupt etwas Besonderes in der Frau; es lag in ihrem Wesen Ruhe und Unruhe. Man konnte sie in diesem Augenblick für sehr bedeutend, im nächsten für ein gewöhnliches Weib halten. Ihre Kleidung war einfach, aber gesucht; zwischen der zu Grabe getragenen Rokokomode und dem griechischen Ideal, das Mode geworden. Kurze, enganschmiegende Ärmel, ein weit ausgeschnittenes Kleid mit kurzer Taille, die eine rosaseidne Schärpe noch mehr hervorhob, aber ein Überwurf um die Schultern und die langen Handschuhe suchten die Entfaltung der griechischen Nacktheit wieder zu verbergen.

    Der Geheimrat entschuldigte sich wegen seiner Toilette. Er hatte Ursach. Die Geheimrätin sagte lächelnd, sie hätte für dieses Äußerliche keinen Sinn. Aber während er seine Füße in den Pantoffeln zu verstecken suchte, ohne sich doch der Bemerkung enthalten zu können, daß er sich von ihnen nicht trennen könne, weil sie noch von seiner seligen Frau gestickt wären, verbarg die Geheimrätin keineswegs ihre sehr zierlichen Füße auf dem Schemel, als sie mit der sanften, fast süßen Stimme, durch die nur zuweilen ein feiner, schneidender Ton fuhr, sagte:

    »Man muß gestehen, daß der Herr Schwager die Treue gegen die selige Geheimrätin bis zum Exzeß kultivieren.«

    »Und wie geht es denn meinem teuern Bruder, dem Geheimrat?« seufzte er. »Wir haben uns so lange nicht gesehen. Ach Gott, wir Geschäftsmänner!«

    »Er ist in seinen Büchern vergraben.«

    »Er kultiviert nicht das Leben«, fiel der Hausherr ein. »Ich hatte immer gehofft, daß eine so spirituelle Frau ihm einen Elan geben würde.«

    »Passons là-dessus«, sagte die Geheimrätin, mit einer eigentümlichen Bewegung des Fächers. »Ich begreife freilich zuweilen nicht, warum eigentlich die Männer auf der Welt sind, die sich nichts aus ihr machen. Aber ich bin gewissermaßen in seinem Auftrage hier.«

    »Von einem Gelehrten wie er weiß ich diese Attention zu schätzen. Warum mußte er aber neulich wieder ablehnen? Zu einer einfachen Suppe, à la fortune du pot, ein paar gute Freunde nur.«

    »Lupinus sagt, er verdirbt sich immer bei Ihnen den Magen.«

    »Scherz, Scherz! Spartanische Suppen kann ich freilich nicht vorsetzen, auch ist mein Malaga, mein Hochheimer kein Falerner. Nichts, als was ein armer Mann bieten kann. Müssen uns alle nach der Decke strecken, aber herzlich gegeben und – gut gekocht.«

    »Wenn Ihre Charlotte will, kocht sie trefflich«, sagte die Geheimrätin mit einem jener Blicke, von denen wir sprachen. – »Sie werden sich schwer von ihr trennen können«, setzte sie langsam hinzu. »Sie werden sich vielleicht nie von ihr trennen wollen.«

    Der Blick und die Beobachtung hatten für den Geheimrat etwas, was ihn aus seiner Ruhe brachte. »Liebste Schwägerin, in meiner Lage – in meinen Dienstverhältnissen, begreifen Sie, muß ich dann und wann kleine Diners arrangieren – man muß sich Freunde – man muß die Gönner warmhalten. Einer hilft dem andern. Es geht einmal nicht anders.«

    »Das begreife ich vollkommen«, sagte die Schwägerin mit dem gedehnteren Tone, »aber zu Ihren Diners bestellen Sie ja die Schüsseln beim Koch Corsika.«

    »Das wohl, in der Regel wenigstens – indessen –«

    »Essen Sie auch gern zu Hause gut. Und damit Sie immer gut gekocht bekommen, ist Ihnen darum zu tun, daß Charlotte immer bei guter Laune ist. Der Kalkül ist richtig, nur verdenken Sie es Ihrer Familie nicht, wenn sie einen andern macht –«

    »Welchen, meine verehrteste Schwägerin?«

    »Mon beau-frère«, sagte die Geheimrätin, mit dem Fächer einige kurze, bedeutungsvolle Schläge durch die Luft führend, »die Familie hofft, daß Sie ihr nicht den Chagrin antun werden, die Person zu heiraten!«

    Der Geheimrat wurde rot, aber nicht sehr, er klatschte mit beiden flachen Händen auf die Knie und seufzte: »Ja – man wird doch auch mit jedem Jahr älter. Und eine Pflege, wie ich sie nur wünschen kann.«

    »Herr Geheimrat, aber eine Mesalliance!«

    »Mais, ma belle-sœur! Adam war unser aller Vater. Neulich am Klavier, ich hätte meine Schwester embrassieren mögen, Sie sangen es zu allerliebst:

    Als Adam grub und Eva spann,

    Wer war denn da – der erste Geheimrat?«

    Er begleitete es durch ein angenehmes Gelächter.

    »Es ist also vollkommener Ernst!«

    »Ernst, teuerste Schwägerin! Ich hielt es für einen deliziösen Scherz, wenn es von der Kanzel stürzte: Der königliche Herr Geheimrat Lupinus mit der ehrsamen Jungfrau Charlotte Philippine Katharine, Tochter des ehrbaren –, was weiß ich, wer ihr Vater war, wenn sie einen hat. Ma belle-sœur, wie hätten sie die Köpfe zusammengesteckt, wie wären sie aus dem Dom gestürzt! Diese Gruppen unter den Pappeln, nachmittags die Kaffeeklatsche. Und nun denken Sie sich, Schwägerin, Charlotte und ich im Wagen und unsre Vorfahrvisiten! Vierzehn Tage kein ander Gespräch. Und das Hochzeitsmenuett! Sanft gebannt – an ihre Hand durchs Leben – schweben!«

    Die Dame war sehr ruhig geworden. »Mais mon beau-frère, warum haben Sie es aufgegeben?«

    »Mon Dieu, wer sagt Ihnen, daß ich es aufgab!«

    »Ein witziger Einfall, über den man nachdenkt, ist keiner mehr.«

    »Es geht doch nichts über einen sublimen Verstand. Ich werde mich hüten, sie zu heiraten.«

    »Ich bin jetzt ganz getröstet, wenn Sie es tun. Wirklich, lieber Schwager. Die Person hat gute Eigenschaften, und Ihre Erziehung –«

    »Wenn ich sie heirate, ist die Erziehung aus«, zischelte er ihr laut ins Ohr. »Sobald der Hochmutsteufel in sie schießt, kocht sie nicht mehr, pflegt sie mich nicht mehr, kurzum, sie ist nicht mehr, was sie ist, und darum müßte mich ja der – Excüs! wenn ich meine gute Charlotte aufgäbe, um eine schlechte Geheimrätin draus zu machen. – Man wirft so gemütliche Redensarten hin, möglich, es könnte sein – wenn nur nicht das und das wäre, wünscht ihr den besten Mann, aber klopft ihr auf die Schulter, sich nicht zu übereilen, es würde sich wohl noch alles anders und besser finden, als mancher denkt. Et cetera.«

    Nach einer Pause, während sie auf ihre spitzen Finger gesehen, sagte die Geheimrätin: »Aber die Person ist auch klug. Sie merkt es. Lieber Schwager, kein Mann ist so klug, daß nicht eine Frau, die er beständig um sich hat, ihm die schwache Stunde abmerkt. Schlingen sind nun einmal die Waffen unserer Schwäche; es ist in der Natur. Entweder entschließen Sie sich und heiraten sie, oder brechen Sie schnell.«

    »Das kann ich nicht, c’est absolument impossible! ‘s ist wahr, Corsika kocht gut, ‘s kocht keiner so in Berlin. Das heißt en général – mais –! Was hilft mir das, wenn die Gäste fortgehen und sagen: ›Es war alles recht fein, aber man weiß von nichts Besonderem zu sprechen, nichts hat einen Eindruck hinterlassen.‹ Das ist gleichsam ein verlorner Tag. In der Charlotte, verzeihen Sie mir, ist ein Genie. ‘s ist nicht zu leugnen, manches verdirbt sie, aber plötzlich mit einem Elan hat sie eine Komposition gefunden, parbleu! Erinnern Sie sich noch des Rebhühnerfrikassees mit farcierten Trüffeln? Da war doch nur eine Stimme. Noch acht Tage drauf, als wir bei Exzellenz Schulenburg-Kehnert am Tische saßen, sprach Lombard davon. Sein Koch hat’s versucht, der englische Gesandte auch, es schickten noch mehrere ihre Köche. Warten Sie – ça ne fait rien. Es hat’s keiner rausgekriegt. Und wär’s auch nur um Lombards willen. Es war ein glücklicher Tag, als er mir beim Abschied die Hand drückte. Ich weiß es, Lombard hat viele Feinde, aber in der Freundschaft und – und in gewissen Ideen hat er eine gewisse constance, persévérance. Man kann wohl sagen, ‘s ist ein Mann von einem nobeln Esprit, ein Mann comme il faut.«

    »Schade, daß Lombard verreist ist«, sagte die Geheimrätin, »ich meine, schade für Sie.«

    Es war wieder ein so eigner Ton, eiskalt und bitter wie der Blick, der den Geheimrat traf – und sie brach so scharf ab, daß die Wärme und Gemütlichkeit, welche die Erinnerung der Trüffeln und Rebhühner angeregt, plötzlich gedämpft war.

    »Mein Gott, belle-sœur, Sie kommen –«

    »Von meinem Mann geschickt. Was ist denn das mit den Gefangenen in der Vogtei und den eingeschmissenen Fensterscheiben? Mein Mann hofft, daß Sie dabei außer dem Spiele sind.«

    Wir wissen, daß diese Erinnerung für den Geheimrat zu den unangenehmen gehörte. Die Rosenlinien der Freude verzogen sich auf seinem Gesicht in graue Runzeln. Er schlug auch etwas die Augen nieder.

    »Ma belle-sœur wissen, daß ich immer ein Herz habe für die Leiden der Menschheit. Was an mir ist, tue ich, um das Schicksal der armen Gefangenen zu erleichtern.«

    »Unter denen auch der abscheuliche Bankerottier ist, der so viele Leute um ihr alles gebracht.«

    »Er ist ein Mensch wie wir, meine Schwester.«

    »Ganz doch nicht«, sagte die Schwägerin und zog den Arm etwas zurück, auf den er seine Hand gedrückt. »Man sagt, es sind sehr viele schlechte Menschen grade jetzt in der Vogtei.«

    »Wenn einer nicht bezahlen kann, hat er darum aufgehört, mein Bruder zu sein?«

    »Die Gefangenen sollen unerhörte Freiheiten genießen. Neulich bei Präsident Kircheisen ward behauptet, sie kämen abends frei zusammen und spielten Hasardspiele, ja einer hielte förmlich Bank.«

    »Um die Humanität zu fördern, drücke ich ein Auge zu. Die innern Türen lassen sie sich zuweilen aufschließen. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein ist, und unter Gottes Himmel sind wir alle –«

    »Und zwischen den Mauern der Vogtei!« fiel die Geheimrätin ein. »Gestern abend –«

    »Sehn Sie, teuerste Schwägerin, da hatte ich eine rechte Freude. Sie schickten eine Deputation an mich mit der Bitte, ihnen eine kleine, gewissermaßen religiöse Zelebration zu gestatten. Da morgen, als heute, ein menschliches Mitwesen, eine irrende Schwester, gewaltsam aus dieser Welt gerissen werden sollte, wollten sie den Abend nicht ohne stille, ich möchte sagen, sympathetische Betrachtung hingehen lassen. Ich war wirklich gerührt über dieses Zeichen edler Empfindung unter meinen Kindern, wie ich sie gern nenne.«

    »Sie waren also selbst bei dem – sogenannten Festin?«

    »Sie erzeugten mir die Ehre, mich einzuladen. Ach, aber so bescheiden. Und ich versichere Sie, ich fand eine Stimmung, die einer Kirche Ehre gemacht. Und die Arrangements so sinnreich und einfach. Der Regimentsquartiermeister, der bei der Lichtenau da im Marmorpalais als Dekorateur und Maschinist gearbeitet hatte – ein unglücklicher Mensch, er mag geirrt haben, wer irrt nicht! –, konnte um lumpige zehntausend Taler die Quittungen nicht aufweisen! – Lieber Gott, wenn man für alles Quittungen verlangte, was zur Zeit der Komteß Lichtenau ausgegeben ist! Ein charmanter Mann sonst, sage ich Ihnen, von so philosophischer Ruhe. – Das kleine Zimmer war griechisch drapiert, et aussi un peu gothique. Hinten ein Opferaltar; in Spiritus brannten die Flammen empor zu dem Triangel, aus welchem das Auge der Allwissenheit auf uns herabblickte. Der Rendant vom Salzsteueramt –«

    »Der in Hamburg ergriffen ward, als er sich einschiffen wollte?«

    »Ein Opfer der Mißverständnisse. Er hatte die beste Absicht, von London aus den kleinen Irrtum auszugleichen – sonst ein Mann von Charakter, sublimen Ideen, ist auch Maçon. In einem weißen Talar, eine Binde um die Stirn, hielt er eine Rede; ich wünschte, Sie hätten sie gehört; wie ließ er die irrende Schwester beten! Ach, aber wie das kleine Kind, das der Mutter voraufgegangen, die Arme ausbreitete und im Namen der Allmacht sprach: ›Mutter, dir ist vergeben! die Seligen warten auf dich!‹ – da blieb kein Auge trocken.«

    »Und nachher haben sie getrunken?«

    »Die Gesellschaft hat einige Flaschen besorgt. Das Herz schloß sich unwillkürlich auf. Man durfte sich doch nicht lumpen lassen. Ich ließ ein Dutzend Hochheimer bringen. Ich sage Ihnen, diese Empfindungen, die sich da aufschlossen! Da war doch kein böser Gedanke, nichts als die reinste allgemeine Menschenliebe, und wäre nicht der verlorne Mensch, der Sohn des Geheimrats Bovillard, dazwischengekommen, so wäre auch alles ganz gut abgelaufen.«

    »Läßt ihn der Vater noch immer einsperren?«

    »Nein, er sitzt jetzt wegen des letzten Skandals mit dem Gendarmerieoffizier. Dieser Taugenichts verdirbt mir eigentlich die Harmonie in meiner Gesellschaft. Indessen hat man doch Rücksichten wegen des Vaters.«

    »Gewiß, und sehr ernste.«

    »Und unser Hofrat Süßring, Sie kennen den exzentrischen Kopf – bös ist er nicht, nur wenn er etwas im Kopfe hat. Ich vergaß, Ihnen zu sagen, man war so froh geworden, man sah das Opferfeuer brennen. Man wollte sich daran wärmen. Man machte den Vorschlag, an der Flamme das Getränk der Freiheit zu brauen, das aromatische der Engländer, das unser Schiller so herrlich besungen hat –

    Vier Elemente, innig gesellt!«

    »Man kochte eine Bowle Punsch. das weiß ich auch, und sehr starken.«

    »Süßring, der eigentlich in Glatz sitzen soll, aber er ist kränklich und kann die freie Bergluft nicht vertragen. Belle-sœur wissen ja, durch welche Konnexionen – und er ist auch eigentlich unschuldig. Es war nur der Punsch. Sprang er plötzlich auf den Tisch –«

    »Und hielt eine seiner bekannten republikanischen Reden.«

    »Es sollten keine Kerker und Festungen mehr sein, die Eisenstäbe sollte man zerbrechen und die Schwerter auch, und als er das Lied sang und wir einfielen:

    Allen Sündern soll vergeben

    Und die Hölle nicht mehr sein!«

    »Da schmissen sie mit den Gläsern die Fenster ein.«

    »Nein, da sprang Bovillard erst auf den Tisch. Den eigentlichen Zusammenhang weiß ich wirklich nicht mehr, aber in seiner Barocksprache rief der tolle junge Mensch: wenn wir die Hölle zerstörten, wo wir denn bleiben wollten! Nun, ich sage Ihnen, einen Galimathias plein de romantique, daß uns Hören und Sehen verging.«

    »Ich glaube Ihnen wirklich, daß Sie beides nicht mehr konnten.«

    »Durch die Unart dieses einen einzigen Menschen ward uns ein Abend gestört – meine Schwester, das Menschenleben ist nicht reich an solchen Abenden voll Harmonie der Seelen. Und der Mond stand draußen und schien so friedlich durchs Gitterfenster.«

    »Der Mond wird auch vermutlich stehengeblieben sein«, sagte die Geheimrätin aufstehend, »wo blieben denn aber der Herr Schwager?«

    Sie machte Miene zum Gehen, und er beugte sich, um wieder ihre Hand an die Lippen zu führen: »›Homo sum, nil humani a me alienum puto‹, sagt Terenz, teuerste Schwägerin. Fragen Sie meinen Bruder, was das heißt. Im übrigen – abgeschüttelt!«

    »Meinen Sie, Geheimrat? In der Stadt ist man andrer Meinung. Man spricht davon, daß Sie die Ihnen obliegende Surveillance über die Gefangenen schlecht beobachtet.«

    »Man hat schon viel über mich gesprochen. Qu’importe!«

    »Wenn man aber auch bei Hofe davon spricht. Auch im Palais. Auch wenn der König entrüstet ist. Auch wenn Kabinettsrat Beyme auf der Stelle an den Justizminister schreiben müsse, daß die Sache untersucht wird. Herr Schwager, es ist kein Spaß, warum ich hier bin, es handelt sich um Ihre Existenz.«

    Der Geheimrat war zusammengefahren wie die Sinnpflanze bei der menschlichen Berührung. Sein Gesicht war blaß, seine Vollmondswangen schienen wie welk herabgesunken. Er öffnete die Lippen und wollte sprechen, aber die Zähne, die in eine unwillkürliche Berührung gerieten, stammelten nur die Formel: »Mein allerdurchlauchtigster König, mein allergnädigster König und Herr!«

    »Ist eine Natur, die wir alle eigentlich noch nicht kennen, aber in gewissen Dingen hat er sich außerordentlich streng gezeigt.« So sagte die Geheimrätin Schwägerin, die ruhig vor dem Zerknickten stand.

    Der Geheimrat stammelte noch etwas von geheimen Feinden, und nachdem er einige Schritte getan, fiel er auf seinen Armsessel.

    »Von Feinden weiß ich nichts«, sagte die Schwägerin, »im Gegenteil, Sie haben sich viele Freunde durch Ihre Diners gemacht, und es trifft sich nur sehr unglücklich, daß Lombard nach Frankreich ist. Aber sich in den Sorgenstuhl zu werfen, ist nicht Zeit, mon beau-frère! Ihre Freunde können wenig, Sie müssen selbst etwas tun, und auf der Stelle. Ihr Zopf ist noch gut, die Frisur passiert für den Abend. Werfen Sie sich in Ihr Habillement.«

    »Mein Gott, doch nicht zu Seiner Majestät!« rief er aufspringend und rang die Hände.

    »Auch nicht zum Justizminister. Ich rate Ihnen auch nicht, Haugwitz zu inkommodieren. Aber zu Bovillard müssen Sie. Schnell, schnell, Herr Geheimrat. Er vertritt Lombard beim Minister. Mein Mann hat schon etwas vorgearbeitet.«

    »Zu Bovillard! ja, zu Bovillard! Aber, mein Gott, was wird er sagen!«

    »Wenn Sie von seinem Sohne sprechen, wenn Sie auf ihn die Schuld schieben wollen, würden Sie alles verderben. Sie müssen ihn ganz ignorieren. Verstehen Sie mich; diese Schonung kann nur den Vater gewinnen, denn Vater bleibt er. Daß er von ihm erfahren soll, überlassen Sie andern. Sie exkulpieren sich nur für sich. Das Wie überlaß ich Ihrem Genie, wie Sie jetzt Ihrer Toilette.«

    Sie war hinausgerauscht, und der Geheimrat wankte nach seinem Kleiderschrank.

    Drittes Kapitel.

    Eine Heimfahrt

    Inhaltsverzeichnis

    Die Geheimrätin stieg die Hintertreppe hinab, auf der sie gekommen. Sie ging langsam, oft, schien es, in Gedanken versinkend.

    Auf dem Podest blieb sie stehen, von wo man einen Blick durch ein Wandfenster in die Küche hat. Charlotte spielte mit den Kindern, oder vielmehr, die Kinder spielten mit Charlotte. Sie zupften sie vom Herde fort. Malwine wollte ihr etwas ins Ohr sagen, derweil kletterte das Fritzchen heimlich auf den Herd und schüttelte die Salzmetze in die Kasserolle. Malwine fing plötzlich an zu lachen und ätschte das Mädchen aus, Fritzchen war mit einem Satz vom Herde auf ihrem Rücken und umschlang ihren Nacken mit den Armen. Sie sträubte sich, schimpfte und suchte den Alp loszuwerden, die Kinder tobten, sie schlug.

    Eine charmante Erziehungsszene, dachte die Geheimrätin, und unwillkürlich entschlüpfte es ihren Lippen: »Es wäre eigentlich nicht so übel, wenn der liebe Gott die Kinder zu sich nähme!«

    »Warum den inkommodieren!« sagte eine Stimme dicht hinter ihr. Ein Fremder, in seinen Mantel geschlungen, der vom Regen triefte, stand auf der Stufe neben ihr. Sie hatte ihn nicht bemerkt, als er vom Hofe die Treppe heraufkam. Auch erlaubten ihr die hereinbrechende Dunkelheit und der Mantelkragen nicht, das Gesicht zu sehen, als er im Vorbeigehen den Hut lüftete.

    Es lag etwas Unheimliches für sie in der Begegnung. Wer läßt sich gern in seinen Gedanken belauschen.

    »Wenn nur keine schädliche Substanz in dem Gefäß war«, setzte der Fremde hinzu.

    »Wie meinen Sie das?«

    »Der Mutwille der Kinder könnte unschuldige Personen in Verdacht bringen.«

    »Das einzige Unglück wäre doch nur, daß er heut abend eine versalzene Suppe auf den Tisch bekommt«, bemerkte die Geheimrätin, die, schnell zu sich gekommen, ihre Unruhe nicht merken ließ.

    »So treffe ich den Geheimrat zu Hause, was mir sehr angenehm ist«, entgegnete der Fremde, noch einmal den Hut anfassend, um die Treppe hinaufzusteigen.

    »Dies ist nicht der eigentliche Weg zu ihm«, konnte die Geheimrätin sich nicht enthalten zu bemerken. »Auf der Vordertreppe begegnen Sie der Bedienung, um sich melden zu lassen.«

    »Meine Botschaft kommt wohl gelegener über die Hintertreppe.«

    »Auch wenn er zu Hause wäre, zweifle ich, daß ihm überhaupt Besuch gelegen kommt, da er selbst im Begriff ist, einen zu machen.«

    »Ich weiß es«, entgegnete der Fremde, »und wenn auch nicht mein Besuch, wird ihm doch mein Rat nicht ungelegen kommen. Ich habe die Ehre, mich der Frau Geheimrätin gehorsamst zu empfehlen!"

    »Seltsam!« sprach die Geheimrätin für sich, als der Fremde mit sichern, leichten Schritten die Treppe hinaufgestiegen war. »Er kennt mich. Wer ist er? Er kommt gewiß in der Angelegenheit – was kann er aber für Rat bringen!«

    An der Hoftür stürzte ein heftiger Platzregen ihr entgegen. Ihre Kutsche hielt auf der Straße vor der Haustür. Sie überlegte, ob sie einen Versuch machen sollte, durch die wahrscheinlich schon verschlossenen Bureaus sich einen trockneten Weg nach dem großen Hausflur zu suchen, als ihr Bedienter mit einem Regenschirm ihr entgegentrat. Auf ihr Befremden darüber, da sie beim Ausfahren keinen mitgenommen, antwortete der Diener, der fremde Herr, welcher eben durchgegangen, habe ihm den seinen zurückgelassen, mit der Bemerkung, ihn für die Frau Geheimrätin zu benutzen, damit sie über den Hof in ihren Wagen könne.

    »Kennt Er den Herrn?« fragte sie beim Einsteigen.

    »Ich habe ihn nie gesehen.«

    »Seltsam!« wiederholte die Geheimrätin nachdenkend. Nicht alle Gedanken drücken sich auf dem Spiegel des Gesichts aus, und in einer dunklen Kutsche, nur erhellt vom ungewissen Laternenlicht, wenn der Regen gegen die Fenster schlägt, läßt sich auf diesem Spiegel noch weniger lesen. Dem Dichter ist es indes zuweilen vergönnt, eine andre Sonde in die Brust zu senken, wie er ja auch Geister und Träume zitiert, wo er den Vermittler zwischen dem Reich des Unsichtbaren und des Sichtbaren bedarf.

    Sie sann dem Fremden nach. Seine äußern Umrisse waren ihr verwischt, nur war es ein blasses Gesicht mit scharfen, tiefliegenden Augen, dessen konnte sie sich entsinnen. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Doch es waren damals viele Fremde in Berlin; auch hatte der Ton seiner Stimme etwas Ausländisches. Aber was wollte er bei ihrem Schwager? Wirklich einen guten Rat geben? Wenn auch der Geheimrat nicht eben persönliche Feinde hatte, waren doch viele, die auf sein einträgliches Amt lauerten. Weshalb sollte sich ein Fremder gedrungen fühlen, gerade ihrem Schwager zu helfen! Aber sie vertiefte sich im Aufzählen, wer wohl ihm auf den Dienst lauern könnte, bis ein leises Gelächter aus ihren feinen Lippen brach.

    Die Geheimrätin fragte sich, woher denn ihr eigner Anteil an dem Geschick des Geheimrates kam? – Achtete sie ihn? Liebte sie ihn? Oder weil er der Bruder ihres Mannes war? Was war ihr ihr Mann? – Ein Mann, der sich in seiner Bücherstube vergrub, wo die Welt umher für ihn lachte!

    Man hätte jetzt eine Röte sehn können über ihr blasses Gesicht steigen. Und um eine solche Familie Sorge und Anstrengung, darum Intrigen, damit eines ihrer Mitglieder nicht zu Schaden komme! Sie kam sich selbst in dem Augenblick so ordinär vor.

    Die Kutsche hielt vor ihrem Hause. Der Diener öffnete den Schlag. Er schien aus ihren Mienen ihre Bestimmung lesen zu wollen. Sie warf einen Blick auf die erleuchteten Fenster: »Herr Geheimrat erwarten Frau Geheimrätin zum Pikett.« – Sie hatte schon einen Fuß auf dem Tritt und blieb einen kurzen Augenblick stehen, als tue der Regen, der in unverminderter Heftigkeit fiel, ihr wohl, dann warf sie sich in den Wagen zurück und befahl: »In die Komödie!«

    Die Stadt war noch immer aufgeregt von dem Schauspiel am Mittage. Es war seit lange keine Hinrichtung vorgefallen. Die Heimgekehrten kamen erst jetzt aus den Schenken zurück, es gab mancherlei Unruhe, kleine Aufläufe, Verhaftungen. Der Kutscher zog es, der tobenden Menschenschwärme wegen, vor, durch eine der Quergassen zu fahren, welche herrschaftliche Equipagen sonst vermeiden. Auch hier stopften sich die Fuhrwerke, und die Dame hatte Gelegenheit, durch die Kutschenfenster ein Schauspiel zu betrachten, was Frauen ihres Standes sonst nicht aufsuchen – an den hell erleuchteten und grell drapierten Fenstern der kleinen Häuser die Schönheiten, welche sich den Vorübergehenden zur Schau stellen.

    Sie schlug die Augen nicht nieder und wandte den Blick nicht ab. Sie fühlte auch kein Mitleid mit den armen Geschöpfen: Sie schlürfen des Lebens Glut in vollen Zügen, aus einem Taumel in den andern gestürzt, kaum dazwischen erwachend, bis sie verwelken und man sie fortwirft. Und das ist unser aller Los – ob früher, ob später? Was kommt es drauf an. Wer nur sagen kann: er hat sein Leben genossen!

    Sie rezitierte in ihrem Selbstgespräch die Verse des Breslauer Dichters Bürde, der, damals in Berlin, seine Übersetzung des Milton herausgab. Dichter sorgen am väterlichsten für ihre Gedichte, wenn sie sich selbst in der Sozietät zeigen. Um der Väter willen nimmt man sich der Kinder an. Die Geheimrätin Lupinus würde die Verse:

    Ach, es sind die gleichen Todeslose,

    Die das Schicksal allen Wesen zieht!

    Früher nur entblättert sich die Rose,

    Später nur verwittert der Granit,

    die sie zweimal mit Empfindung wiederholte, so wenig gekannt haben, als die Mehrzahl unserer Leser sie kennen wird, wenn sie nicht die Bekanntschaft des Sekretär Bürde in den Gesellschaften gemacht hätte, wo der schlesische Minister, Graf Hoym, in dessen Gefolge er angekommen, ihm einen Ehrenplatz verschaffte.

    Das Komödienhaus war nicht gefüllt. Die Geheimrätin saß allein in ihrer Loge. Ihr schien das Haus dunkel. Es war nicht dunkler als gewöhnlich. Die Talglichter, die der Lampenputzer vor den Augen des Publikums ansteckte, duldeten auch keinen entfernten Vergleich mit dem Glanz der Theater von heut. Man sah wohl damals schärfer, denn man sah mehr, aber das Licht kam aus der Darstellung, versichern uns die, welche aus jener Zeit das deutsche Theater kennen. Für die Geheimrätin aber blieb es dunkel, obgleich Fleck als Odoardo seine ganze adlige Kraft entfaltete, die spätere Händel-Schütz als Orsina das Publikum entzückte. Lessings Meisterwerk schien ihr an einem Etwas zu lahmen, das sie sich nicht erklären konnte; der jungen Schauspielerin, welche die Emilia zum ersten Male gab, hätte sie nachhelfen mögen. Wenn sie sich Rechenschaft gab, war es aber nicht die Schauspielerin, sondern sie hätte ihrer Rolle, ihrem Charakter eine andere Richtung geben mögen. Ihre Phantasie beschäftigte sich, eine welche andere Rolle Emilia spielen können, selbst glücklich und beglückend, glänzend und Glanz um sich verbreitend, wenn sie den Pulsen folgte, die für den Prinzen schlugen. Eine welche andere Herrschaft über ihn blühte ihr als der stolzen Orsina, vermöge ihres Liebreizes, ihrer geistigen Vorzüge. Sie hatte es in ihrer Macht, auch dieses Prinzen Wankelmut zu fesseln, und Tausende, ein ganzes Land glücklich zu machen. Und alles das vernichtet ein plumper Dolchstoß, der alle unglücklich macht und – die Törin bat selbst darum!

    Die Geheimrätin war gewohnt, in ihrer Loge Besuche zu empfangen. Entweder zeigte sich heut kein Bekannter, oder sie hielten sich entfernt. In einer Loge gegenüber, wo eine neu angekommene Schauspielerin von Ruf saß, hörte das Klappen der Logentür nicht auf. Ihr war diese Störung unangenehm, das Schauspiel fing an sie zu langweilen. Sie besann sich, daß sie zwar die Einladung zu einer Gesellschaft heut abend nicht angenommen, aber auch nicht abgelehnt hatte. Sie hatte nur gesagt, sie fürchte einer Migräne wegen nicht erscheinen zu können. Sie hatte oder wollte jetzt keine Migräne haben und verließ die Loge.

    Der Bediente hielt schon im Korridor ihre Enveloppe bereit.

    »Er zittert ja.«

    Sie hätte kaum nötig gehabt, sich nach dem Grund zu erkundigen, der Bediente war ja noch in denselben ganz durchnäßten Kleidern, in welchen er auf dem langen Doppelwege aufgestanden. Der zugichte Korridor hinter den Logen war nicht geeignet, die Naßkälte zu vertreiben. Johann sagte, das Fieber sei noch immer nicht ganz fort. Die Geheimrätin erwiderte nicht unfreundlich, er müßte endlich etwas dazu tun.

    Der Regen goß noch immer in Strömen, als sie wieder in die Kutsche stieg und Johann hinten auf Der arme Mensch! dachte die Geheimrätin. Seltsam, daß es so sein muß! Es mußte so sein; über diesen Damm kam sie nicht hinweg, ja, sie lächelte über den närrischen Gedanken, daß sie Johann auffordern könnte, sich in den Wagen zu setzen. Aber sie dachte über die Zukunft des Menschen nach. Er litt nicht vom Regen, sondern an einer innern Krankheit, deren gelegentliche Ausbrüche nur in Fieberanfällen sich zeigten. Sie glaubte etwas von der Arzneikunde zu verstehen und den Schluß ziehen zu dürfen, daß er nie vollständig genesen werde. Was wird nun aus solchem Menschen? Eine Zeitlang hält man es noch mit ihm aus. Wenn er aber immer wieder zurückfällt, muß man ihn entlassen. Dann findet er wohl noch einen Dienst. Aber auf wie lange? Die neuen Herrschaften werden nicht so lange Geduld mit ihm haben. Er wandert ins Krankenhaus, vielleicht ins Spital, vielleicht auf die Gasse. Und wäre es ihm nicht besser, wenn er durch einen Blutsturz, eine radikale Erkältung ein rasches Ende fände? Er ist auch eine verfehlte Existenz!

    Sie schauderte und verfiel in ein Sinnen, dem die Ausdrücke fehlten, bis der Wagen vor dem erleuchteten Hause hielt.

    Viertes Kapitel

    Hier politisch, dort poetisch

    Inhaltsverzeichnis

    Der Eintritt der Geheimrätin in die Gesellschaft erregte einen allgemeinen Aufstand; es schien ein froher. Man hatte sie nicht mehr erwartet. Die Wirtin und einige Damen embrassierten sie; die ältern Herren bemühten sich, ihr die Hand zu küssen: »Nein, das ist hübsch und liebenswürdig von ihnen, uns doch noch zu überraschen!« – »Es wäre ein halber verlorener Abend gewesen ohne die Frau Geheimrätin«, sagte der Wirt. Ein dritter: »Je später der Abend, so schöner die Gäste.« Es war eine ansehnliche, aber etwas bunte Gesellschaft, vielleicht eine, wo die Wirte auch solche Verwandte und Bekannte gebeten haben, welche sonst sagen könnten: »Zu so etwas werden wir nicht eingeladen!« Die Geheimrätin war von der zuvorkommendsten Freundlichkeit. Man konnte auf den ersten Blick annehmen, daß sie, wenn nicht an Stand und Vermögen, doch von Natur und Bildung von feinerer Art, ein Wesen war, was man so gewöhnlich ein höheres nennt, wenn es in Kreise tritt, die sich ihrer Gewöhnlichkeit bewußt sind. Der Neid, den es hervorruft, zeigt sich in der Regel erst dann, wenn dies vornehme Wesen seine Eigenschaften geltend machen will. Dies war bei der Geheimrätin nicht der Fall. Sie konnte nicht liebenswürdiger, bescheidener, gewissermaßen harmonischer zur Gesellschaft auftreten; sie bedauerte so sehr den Aufstand, den sie erregt.

    »Aber warum ist Ihr lieber Mann nicht mitgekommen? Wir sind ihm zwar unendlich verbunden, daß er sich entschlossen, unsre Frau Geheimrätin uns zu gönnen, aber es wäre doch hübsch gewesen, wenn er sich selbst entschlossen. Das hätte erst unsre Freude vollkommen gemacht.«

    »Sie tun meinem Manne unrecht«, entgegnete die Angekommene. »Wenn es nach ihm gegangen, wäre ich längst hier. Er kann es nicht sehen, wenn ich ein Vergnügen seinetwegen entbehre. Aber liebe Frau Geheimrätin« – die Wirtin nämlich war auch eine Geheimrätin –, »Sie glauben nicht, wie er jetzt mit Arbeiten überhäuft ist, und ich sehe mit wahrer Angst, wie er sich dabei anstrengt, daß sein Kopfleiden wieder heraustritt. So machte ich mir ein Gewissen daraus, ihn heut zu verlassen. Aber er hatte keine Ruhe. Wir wollten Pikett spielen; da legte er mit dem freundlichen Blicke, dem man nicht widerstehen kann, die Karten weg, streichelte mir über die Backe und sagte: ›Liebe Ulrike, ich werde viel mehr Ruhe haben, wenn ich dich in heitrer, lieber Gesellschaft weiß. Du mußt Dich aufheitern nur um meinetwillen.‹ Da kann man denn nicht widerstehen.«

    »Man muß gestehen, unsre Frau Geheimrätin Lupinus ist das Muster einer Hausfrau«, sagte der Wirt, »und diese Ehe eine exemplarische. Man wird nicht viele in Berlin so finden.«

    »Mit Ausnahme doch!« sagte die Geheimrätin Wirtin, und die Geheimrätin Gast schlang sanft den Arm um ihre Schulter: »Ich kenne eine Ausnahme. Was unsere Ehe betrifft, so möchte ich ihr nur darin einen kleinen Vorzug beimessen, daß wir uns so innig verstehen, ohne es auszusprechen. Wir gehen eigentlich jeder seinen eigenen Weg, was gewiß zu Mißdeutungen Anlaß gibt, aber jeder fühlt für den andern mit, er verfolgt ihn still in den Gedanken, jeder ist unsichtbar beim andern. Wir wissen oft nicht, woher die Sympathie kommt, doch sie ist da. So in diesem Augenblick. Das Vergnügen, in dieser liebenswürdigen Gesellschaft zu sein, ist mir gestört, weil ich weiß, mein Mann hat nicht die Augen geschlossen und ruht nicht, wie er mir versprach, im Lehnstuhl aus, sondern er hat wieder seine Folianten vorgenommen, er vergleicht zwei alte Handschriften, er bückt sich über, er drückt die Feder, während der Angstschweiß ihm von der Stirne träuft, weil er sich die Abweichung in einer Lesart nicht erklären kann. Ich sehe das alles so deutlich vor mir wie den Pique-As in Ihrer Hand –«

    Sie fuhr sich leicht über die Stirn und erschrak über den Eindruck, den ihre Rede gemacht. Dabei kam ihr zu Sinn, daß die Gesellschaft ja durch sie vom Spieltisch zurückgehalten werde. Sie bat um Entschuldigung wegen ihrer unzeitigen Herzenseröffnungen.

    »Was kann eine schöne Seele Schöneres tun, als andere ihre Empfindungen mitempfinden lassen«, lispelte eine Seele, die sich wohl selbst für schön hielt.

    »Nennen Sie es lieber eine Schwäche«, schüttelte die Geheimrätin den Kopf. »Die Welt will nicht, daß wir uns geben, wie wir sind, und die Welt hat im Grunde recht.«

    Nun aber hatte sie auch keine Ruhe, als bis die Herrschaften sich niedergesetzt. Ein heiteres Vergnügen zu stören, erschien ihr immer wie eine Todsünde.

    Sie hatte recht. Wer die Karte zur Whistpartie in der Hand hält, läßt sich ungern stören, am wenigsten durch Herzensergüsse einer schönen Seele.

    Einige hatten die Geheimrätin schon immer für eine Clairvoyante gehalten; die Clairvoyance war in der Mode. Andere meinten, sie sei nur von einer außerordentlich reizbaren, nervösen Komplexion. Man bedauerte sie, es gab wohl auch andre, die sie darum beneideten. Hier lobte man sie, wie schonend sie das Verhältnis zu ihrem Ehemann darzustellen wisse, da jedermann bekannt sei, ein wie eigensinniger Stubengelehrter der Geheimrat wäre. Sie sei gewissermaßen eine Märtyrin ihres feinen Sentiments. Er bereite und gönne ihr kein Vergnügen, was sie sich nicht abstehle. Eine andere rief: »Und wie unrecht von ihm, denn von ihr kommt doch das Geld!«

    Es war eine glänzende Gesellschaft aus den höhern Kreisen des mittlern Lebens. Aber man muß an eine Gesellschaft aus dem Anfang dieses Jahrhunderts ebensowenig den Maßstab des Glanzes von heut legen, als an die Komödienhäuser von damals den unserer Theater. Der Vergleich geht vielleicht noch weiter. Die Kleiderstoffe und Geschirre waren kostbarer, gediegener und dauerhaltiger, aber im künstlichen Ausbeuten und geschickten Zerlegen des Stoffes, damit jeder Teil seine Wirkung erhalte, haben wir es weitergebracht. Trifft das vielleicht auch auf die Unterhaltung zu? – Aber gar keinen Vergleich duldeten die Räumlichkeiten. Unsere Bürgerhäuser werden Paläste. Diese hohen Räume, die gewaltigen Fenster und Flügeltüren, welche den Zimmern die Wände stehlen, fand man zu Anfang dieses Jahrhunderts nur in den wenigen aristokratischen Häusern der neuen Stadt. Die vornehmen Bürgerhäuser in den Vierteln der Friedrichsstadt aus Friedrichs Zeit geben zum Teil anspruchsvolle Fassaden, aber im Innern ist alles klein und zugemessen. Die niedrigern Zimmer liefen eines in das andere; dennoch blieb der Wohnung etwas Wohnliches, weil Flügeltüren und Fenster nicht die Räume unnatürlich verkürzten und der Mensch Platz für sich und seine Sachen an den Wänden fand und trauliche Winkel, sich zu verlieren.

    In Zimmer an Zimmer konnte die Gesellschaft sich ausbreiten. Wenn aber die Geheimrätin das Theater dunkel fand, weil ihr Auge in eine künftige Zeit drang, so konnte sie auch hier, trotz der vielen Wachskerzen auf schweren Silberleuchtern, den flimmernden Schein des Lampenlichtes vermissen, das die Nacht zum Tage macht. Unter den Möbeln, zum großen Teil noch vom spätern Rokoko, gewundenen weißlackierten Stühlen und Tischen mit dem verbleichenden Schimmer von Gold, sah man schon den Übergang zur antiken Welt in einigen glatten, scharf eckichten Stücken, deren Modelle dem Tischler wenn auch nicht aus Pompeji, doch angeblich aus Hetrurien zugewiesen waren. Sie konnten sowenig als die Schildereien und die paar plastischen Stücke an den Wänden die Schnörkeleien des Rokokotum durch edle Einfalt beschämen.

    Wovon man sich unterhielt? – Wer faßt die zuckenden Irrlichter zusammen, die von Mund zu Munde hüpfen. Und in einer gemischten Gesellschaft!

    Hier politisch, dort poetisch,

    Regelrecht wie ein Lineal,

    Philosophisch und ästhetisch,

    Krümmend hier sich wie der Aal,

    Sprudelnd wie der Dampf vom Teetisch,

    Aber überall trivial,

    hat ein späterer Dichter sie beschrieben.

    Ob die Geheimrätin sie auch so fand? Sie wechselte oft die Gruppen. Hier der ewige Streit, ob Goethe oder Schiller ein größerer Dichter sei. In diesen Kreisen war es längst entschieden. Welcher Mann von Bildung hätte zarten Lippen widersprochen, welche dem Dichter, der gesungen:

    Ehret die Frauen, sie flechten und weben

    Himmlische Rosen ins irdische Leben,

    den Preis zuerkannten! Es war nur seltsam, daß der Streit, trotz der Entscheidung, immer wieder von neuem aufgeworfen werden konnte. Eine Geheimrätin – es war aber eine dritte Geheimrätin – stellte sogar die Behauptung auf, während jede Seite in Schiller wenigstens ein nobles Sentiment enthalte, wisse sie keine einzige Sentenz in Goethe, welche die Seele rührt und erhebt. Dies fand doch Widerspruch, und man zitierte aus der »Iphigenie« die Verse:

    Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern

    Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram

    Das nächste Glück von seinen Lippen weg.

    Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken

    Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne

    Zuerst den Himmel vor ihm aufschloß, wo

    Sich Mitgeborne spielend fest und fester

    Mit sanften Banden aneinander knüpften.

    Ein junger Mann mit blassem ernstem, aber etwas eingefallenem Gesicht rezitierte die Verse mit Ausdruck. Man schwieg eine Weile. Als die Geheimrätin sie schön fand, drückten alle ihre Bewunderung aus. Eine Dame hatte bis da geglaubt, sie rührten von Schiller her, sie hatte die Erhabenheit des Gefühls Goethe nicht zugetraut. Doch bemerkte sie, die Verse ründeten sich nicht so wie bei Schiller, und bei aller Schönheit fehlte ihnen der schmeichelhafte Klang des Gefühls. »Aber er liegt in unsrer Seele und fühlt das Weh, das uns in der einsamen Brust verzehrt«, hatte die Geheimrätin gesagt, als sie sich abwandte. Man schien sich zu fragen, was sie damit meine. Ein alter Hofrat antwortete seiner etwas schwerhörigen Nachbarin: »Sie ist eine Adlige von Geburt und mag’s nun doch nicht recht verschnupfen, daß sie einen Bürgerlichen geheiratet hat. Darum hält sie wohl das von ›seines Vaters Hallen‹ auf sich anzüglich. Aber Schloß Wustenau stand schon 1762 sub hasta, und sie ist auch gar nicht mal drin geboren; sie bildet sich’s nur ein.«

    Die Dame, vor kurzem erst nach Berlin gekommen, war zufällig selbst eine adlige Offiziersdame, was der Hofrat vermutlich nicht gewußt. »Wenn er ihr ein Sort gemacht hatte«, erwiderte sie, »das passiert wohl, aber wie ich höre, ist das Vermögen von ihr, et voilà qui est bien curieux.«

    »Ja, meine gnädigste Frau«, erklärte der Hofrat, »als sie ihn heiratete, war sie ein blutarmes Fräulein, man hielt’s für ein großes Glück, daß sie ihn kriegte. Erst nachher machte sie die große Erbschaft.« – »Ah! c’est ça«, sagte die gnädige Frau und sagte nichts weiter.

    »Wie kommt es, daß man den Einsiedler einmal in Gesellschaft sieht«; sagte die Geheimrätin im Vorübergehen zu dem jungen Manne, der die Verse gesprochen. »Und noch mehr, wie kommt es, daß Sie Goethe noch für wert achten, ihn auswendig zu lernen? Wer so in transzendentalen Regionen der neuen Poesie schwebt, gäbe auf die alten Dichter, dachte ich, nichts mehr. Aber nehmen Sie sich in acht, daß mein Mann nichts davon erfährt, Herr van Asten! Für ihn, wie Sie wissen, sind ja schon Goethe und Schiller Neuerer.«

    Ohne eine Antwort abzuwarten, war sie vorübergeschwebt. In einem Kreise, wo man über Politik sprach, stritten sie sich, wer ein größerer Feldherr gewesen: Moreau oder Napoleon Bonaparte? Die Parteien standen scharf gesondert. Der Geheimrätin kam das sonderbar vor; den Grund wußte sie sich nicht recht anzugeben. Das Gespräch ward ihr langweilig. Sie hatte sich auch einmal für Bonaparte interessiert und auch für Moreau. In diesem Augenblick waren die Feldherren ihr gleichgültig. So gleichgültig als die Gespräche über die Tagesgeschichten und Stadtklätschereien, die in jeder Gesellschaft ihr unverwüstliches Recht beanspruchen, auch wenn man sie vorher grundsätzlich ausschloß, wie es heut abend mit der Geschichte der Kindesmörderin geschehen war. Aber wer wußte nicht einen pikanten Zug zu erzählen, wer fühlte nicht den Zug in sich, aus eigner Wissenschaft das Erzählte zu berichtigen, und ehe man es sich versah, war der verbotene Gegenstand überall der des lebhaften Gesprächs.

    Es gab aber noch einen andern Gegenstand. Man berührte ihn nicht in ihrer Gegenwart. Die Geheimrätin sah nicht allein in die Ferne, sie konnte auch dahin hören. Sie wußte genau, was gesprochen wurde und daß sie, ihr Mann, dessen Bruder, das fatale Ereignis der vorigen Nacht den Stoff abgab. Vielleicht, daß sie eben darum die Gesellschaft besucht hatte, um zu zeigen, daß sie ohne Besorgnis war oder – darüber hinweg.

    Aber es gefiel ihr nicht länger, daß das Gespräch verstummte, wo sie sich näherte. Wer spielt gern die Vogelscheuche! Bei einer Whistpartie fehlte durch einen Zufall der vierte Mann. Sie zeigte sich bereitwillig, die Karte zu übernehmen. Man erkannte das ganze Opfer, welches sie brachte. Sie versicherte, wenn sie durch ihr schlechtes Spiel das Vergnügen ihrer Mitspieler störe, so sei ihre Schuld doch nicht so groß als ihre Genugtuung, in so angenehmer Gesellschaft eine Stunde zu verbringen.

    Das Spiel prosperierte in der Tat nicht durch ihren Eintritt, aber wie die Mücken um den hellsten Lichtschein, sammelte sich um diesen Tisch die ambulierende Gesellschaft. Wer fühlte sich nicht geehrt, der Geheimrätin Rat zu geben, die bei ihren Fragen vielleicht mehr Unschlüssigkeit verriet, als in ihrem Charakter lag. Und wie liebenswürdig nahm sie ihn hin. »Sie ist die charmanteste Frau!« flüsterten die andern. Die Geheimrätin zankte auch nicht um die Points.

    »So aufgeräumt, Herr von Dohleneck?« sagte sie, die Karten prämelierend, zu einem Kavallerieoffizier, der sich neben ihr etwas brüsk auf einen Stuhl warf, den ein Zivilist eben für eine junge Frau hingestellt zu haben schien. Die Dame warf dem Offizier einen bösen Blick zu, den er aber nicht bemerkte oder bemerken wollte, und der Zivilist beeilte sich, ihr einen andern Stuhl hinzusetzen, den sie aber nicht annahm, sondern ins Nebenzimmer eilte. »Sie irrten sich«, sagte die Dame, »ich wollte mich gar nicht setzen, ich suchte meinen Mann.«

    Möglich, daß nur

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