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JENSEITS DER TRAUMGRENZE: Anthologie
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JENSEITS DER TRAUMGRENZE: Anthologie
eBook343 Seiten4 Stunden

JENSEITS DER TRAUMGRENZE: Anthologie

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Über dieses E-Book

Orte, die wir im Traum aufsuchen, sehen bei jedem anders aus. Der eine fühlt sich in einer Märchenwelt wohl, der andere reist auf ferne Planeten oder in die Zukunft, wieder andere landen in einer Albtraumwelt. Lassen Sie sich nicht nur von den zauberhaften Texten begeistern, sondern erfreuen Sie sich ebenso an den wunderschönen Illustrationen, die Gerd Scherm zusammen mit ungewöhnlichen Helfern erstellt hat.

Der Inhalt:
Joachim Groos: Die Traumbibliothek
Jol Rosenberg: Auf Abwegen
C. Gina Riot: Parasit
Ellen Norten: Die Wolkenfee
Ulrike Gschwendtner-Schütt: Eindringling im Stadtteil
Yvonne Tunnat: Der Spielplatz
Marianne Labisch: Lauffliegen
Eska Anders: Vom fehlenden Mut und verpassten Chancen
Michael Schmidt: Des Leierkastens Dreifaltigkeit
Gabriele Behrend: Reverie
Christopher Sprung: Halle der Wiederkehr
Emanuel Memminger: Looping
Carola Seeler: Der Schrei
Ansgar Sadeghi: Waldemar ist angekommen
Peter Stohl: Wie Ritter Friedhelm die Liebe der Grafentochter gewann
Susanne Horky: Der Traumläufer
Achim Stößer: Du magst sagen, ich sei ein Träumer, doch ich bin nicht der einzige
Angelika Brox: Das Ziegenproblem
Ute Bünk: Bass Bass
Johnny Wallmann: Garten des Lichts, Garten der Finsternis
Johanna Vedral: Varjus Traum
Carolin Zwergfeld: Namid, der Weltensucher
Cornelia Schulz: Der Traumschlüssel
Veith Kanoder-Brunnel: Die Übernahme
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum2. Jan. 2023
ISBN9783957657954
JENSEITS DER TRAUMGRENZE: Anthologie

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    Buchvorschau

    JENSEITS DER TRAUMGRENZE - p.machinery

    Anthologie

    Außer der Reihe 77

    Marianne Labisch & Gerd Scherm (Hrsg.)

    JENSEITS DER TRAUMGRENZE

    Anthologie

    Außer der Reihe 77

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © dieser Ausgabe: Januar 2023

    p.machinery Michael Haitel

    Titelbild & Illustrationen: Gerd Scherm

    Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

    Lektorat: Marianne Labisch, Gerd Scherm

    Korrektorat: Michael Haitel

    Herstellung: global:epropaganda

    Verlag: p.machinery Michael Haitel

    Norderweg 31, 25887 Winnert

    www.pmachinery.de

    ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 311 6

    ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 795 4

    Vorwort

    Jeder von uns besucht im Traum Orte, die uns seltsam vertraut vorkommen. Meine eigenen kannte ich, wusste, wo am Strand die Fischbude steht, wo im Dorf der kleine Lebensmittelladen ist, in dem ich so nett bedient werde. Ich ahnte, dass nicht nur ich diese Traumorte habe, sondern nahezu jeder Mensch. Diese Orte wollten mein Co-Herausgeber und ich kennenlernen. Wir wollten sie so gut beschrieben bekommen, dass sie vor unserem Auge sichtbar werden, wollten uns dort hin entführen lassen und starteten eine öffentliche Ausschreibung.

    Wir bekamen sehr unterschiedliche Geschichten, welche, die sich des Themas märchenhaft annahmen, einige, die mystisch angehaucht daher kamen, andere, die in ferner Zukunft spielen und auch einige, die man wohl als Albtraumorte bezeichnen müsste. Lassen Sie sich an ferne Orte entführen und genießen sie nicht nur die Texte, sondern auch die Illustrationen, die Gerd Scherm zusammen mit mehreren Künstlichen Intelligenzen erstellt hat. Im Nachwort zu dieser Anthologie wird er Ihnen noch etwas über diese eigenartige Arbeitsteilung erzählen.

    Wir wünschen gute Unterhaltung.

    Marianne Labisch

    & Gerd Scherm

    Joachim Groos: Die Traumbibliothek

    _groos__4

    Bereits nach 20:00 Uhr. Zeit, diese hässliche Realität zu verlassen. Florian saß an seinem aus zwei Böcken und einer Sperrholzplatte provisorisch errichteten Schreibtisch, das Laptop aufgeklappt vor sich, die leere weiße Seite im Schreibprogramm starrte ihn an. Neben dem Laptop das Wort »Sau«, das sein Freund Kai vor drei Wochen mit dem Finger in den Staub auf der Arbeitsplatte geschrieben hatte.

    Er wuchtete sich mühsam aus dem Drehstuhl und bewegte sich die vier Schritte bis zu seinem Bett. Auf dem billigen Nachttisch aus dem Baumarkt stand neben der Lampe eine geöffnete Flasche Bier. Er setzte sich aufs Bett, nahm einen langen Zug aus der Flasche.

    Heute musste es gelingen.

    Seit fast zwei Wochen hatte er jede Nacht diese Träume. Eigentlich war es immer der gleiche Traum. Ein großer Raum. Bücherregale an den Wänden. Er saß an einem gewaltigen Schreibtisch, edel, aus massivem Holz. Und er schrieb. Er konnte schreiben. Anders als in seinem schäbigen echten Leben war er in diesem Traum ein produktiver und ausdauernder Schriftsteller. In der Realität hatte er den Wunsch, Autor zu sein. In diesem Traum war er einer. Ein begnadeter Autor.

    Die Technik an seinem Traumort erschien eigenartig veraltet. Er benutzte eine Computertastatur, schwarz, klobig und mindestens vierzig Zentimeter breit. Der Monitor war groß und sah schwer aus. Grüne Schrift auf schwarzem Hintergrund, nur Schrift. Es erinnerte Florian an Fotos von Computern aus den Achtzigern.

    Im Traum kümmerte er sich nicht darum. Er schrieb Zeile um Zeile. Die alte Tastatur klapperte vernehmlich, grüne Sätze füllten den Monitor wieder und wieder. Und er wusste, dass die Sätze gut waren. Er fühlte mit jeder Faser seines Körpers und mit vollständiger Überzeugung, dass er grandiose, fesselnde und mitreißende Geschichten schrieb. Es war ein Rausch, ein Genuss, mühelos sprudelten seine Gedanken, er kam mit dem Tippen kaum nach.

    Aber irgendwann wachte er auf. Es blieb die Erinnerung an den Ort, an das Schreiben. Florian konnte sich an jedes Detail erinnern. Nur nicht an den Text. Nichts. Stunden produktiver Arbeit umsonst. Er zermarterte sich das Hirn, verbrachte viel Zeit damit, die Erinnerung auszuweiten, um doch noch irgendetwas hervorzuholen, und seien es nur Bruchstücke seines Textes. Aber vergeblich.

    Er hatte recherchiert. Luzides Träumen. Eine Menge Experten, Gurus und Therapeuten boten Tipps und Beratung dazu an. Florian fand mehr Interesse an chemischer Unterstützung seines Vorhabens. Kai hatte aus früheren bösen Phasen seines Lebens noch ein paar Kontakte zur Drogenszene, dort hatte Florian nach einem Beratungsgespräch ein entsprechendes Mittel erhalten. Mit genauer Dosierungsanleitung und Warnung vor falscher Anwendung.

    Zwei von diesen gelben Tabletten, ein weiterer großer Schluck Bier. Florian legte sich ins Bett, mit dem Einschlafen hatte er sowieso nie Probleme, und auch heute war er nicht nervös, sondern freute sich auf die Reise. Er schloss die Augen, wartete wie üblich auf den ersten Schub matter Müdigkeit, der sich wie eine sanfte warme Welle über ihn schob, drehte sich in seine bevorzugte Schlafposition und …

    Er saß wieder an dem Schreibtisch. Auf dem Bildschirm blinkte der Cursor am Ende eines Textes. Florian war begeistert. Es funktionierte. Er träumte und wusste, dass er träumte, er konnte seinen Traum aktiv gestalten.

    Er bewegte den Cursor per Taste nach oben, weiterer Text wurde sichtbar. Offenbar war das Werk der letzten vierzehn Tage nicht verschwunden, er hatte jede Nacht daran weitergearbeitet. Hektisch ließ er den Cursor nach oben und weiter nach oben wandern. Ab und zu hielt er inne und las einen Absatz. Dann weiter nach oben. Er musste grinsen. Das stichprobenweise Lesen bestätigte ihn: Es war gut. Mehr als das, es war großartig. Sein Leben würde sich dadurch komplett ändern. All die Jahre vergeblicher Bemühungen, all die mickrigen Schreibversuche, der ungeliebte Brotjob, das lag nun hinter ihm. Er würde zukünftig von und mit seinem Schreiben leben können. Der Traum aller Autoren, für ihn würde er zur Realität werden.

    Den Cursor bewegte er nach und nach wieder ans Textende, wobei er immer wieder kurz stoppte und eine seiner Formulierungen bewunderte.

    Entspannt lehnte er sich zurück und schaute sich um. Er saß in einer Bibliothek, soweit war seine Erinnerung nach dem Aufwachen korrekt gewesen. Ein hoher Raum, mindestens dreieinhalb Meter hoch, mit schlichten weißen Bücherregalen bis zur Decke. Der rechteckige Raum hatte kein Fenster, die Beleuchtung war irgendwo hinter den Büchern der obersten Regalreihe verborgen. An den schmalen Seiten führte je eine Tür hinaus, die anderen Wände waren vollständig mit gefüllten Regalen bedeckt.

    Florian stand auf. Etwas unsicher, schließlich träumte er diesen Ort nur und hatte keinerlei Erfahrung mit geträumten Beinen und deren Funktionalität. Mühelos konnte er sich bewegen, die Traumwelt funktionierte identisch mit dem realen Leben. Er schlenderte zu einem der Bücherregale und betrachtete die Buchrücken. Sehr viele ihm bekannte Werke, die meisten hatte er gelesen. Klassiker, die in der Schule behandelt wurden. Ein Regal mit seinen Lieblingsautoren, moderne amerikanische Schriftsteller, die eigenartigerweise meistens in Maine oder New Hampshire lebten. Ein Regal mit der heimlich und immer mit etwas schlechtem Gewissen von ihm verschlungenen Fantasyliteratur.

    In einer anderen Ecke entdeckte er sogar die Bücher seiner Kindheit. Internatsgeschichten, eine lange Reihe mit den grün verschnörkelten Karl-May-Bänden, die vielen Drei- und Fünf-Freunde-Bücher.

    Neugierig schritt er die Regale ab. Die Bücher spiegelten sein Leben. Da standen Reiseführer zu Orten, die er besucht hatte. Ratgeber, die Hilfe zu Krisen versprachen, die er durchlitten hatte. Medizinische Abhandlungen über Krankheiten, mit denen er sich in der Vergangenheit hatte plagen müssen. Lehrbücher, die ihn während seiner Ausbildung und später während des Studiums begleitet hatten.

    Ein wenig unheimlich, dachte er. Aber es ist ja nur geträumt.

    Er hörte ein Geräusch aus der Richtung der Tür zur Rechten. Ein Seufzen oder Stöhnen. Zögerlich näherte er sich der Tür, öffnete sie ein Stück, bewegte langsam den Kopf zum Türspalt und schaute hinaus.

    Ein Raum, identisch mit seinem. Die gleichen Maße, die gleichen Regale, in der Mitte der gewaltige Schreibtisch mit dem altmodischen Arbeitsplatz.

    Eine junge Frau saß dort, starrte auf den Bildschirm und schrieb. Sie war ungefähr in Florians Alter, ihre schwarzen Haare hingen bis über die Schultern und zur Hälfte über ein verwaschenes T-Shirt. Konzentriert schrieb sie. Ab und zu stoppte sie, um ihr Haar irgendwie zu zerzausen und dabei zu seufzen. Danach schrieb sie weiter.

    Florian fühlte sich nicht wohl, sie zu betrachten, solche Heimlichkeiten waren ihm zuwider. Er überlegte kurz, ob er im Traum überhaupt eine Stimme haben würde, dann sagte er »Hallo«.

    Die junge Frau erstarrte, schaute ihn an und stieß einen schrillen Schrei aus.

    Florian lag in seinem Bett. Nass geschwitzt, mit zerknülltem Laken. Sein Schädel schmerzte wie nach einer Sauftour mit Altbier und Cocktails. Stöhnend stand er auf und taumelte ins Bad, wo er sich das Gesicht kalt abwusch und mit langen gierigen Zügen direkt aus dem Wasserhahn trank.

    Er schleppte sich zurück ins Bett und schaute auf die Uhr. Erst zwanzig nach vier, aber an weiteren Schlaf war nicht zu denken. Trotz der rasenden Kopfschmerzen konnte sich Florian gut an alle Details des Traums erinnern. Die Bücher seines Lebens, seltsam genug. Die Unbekannte im Nachbarzimmer, die er so sehr erschreckt hatte. Und sein genialer Text. Moment, der Text? Er erinnerte sich nur an Bilder, Cursor hoch und Cursor runter, grüne Zeilen. Der Inhalt: Verschwunden, er wusste nichts mehr davon. Seine Kopfschmerzen legten noch mal deutlich an Intensität zu. Er wälzte sich im Bett umher, auf der Suche nach irgendeinem Haken, einem Trick, mit dem er doch noch an seine Arbeit gelangen könnte, aber vergebens.

    Der Weg zurück war zum Glück nicht versperrt. Er konnte es wieder versuchen. Er würde es wieder versuchen, so schnell wie möglich, am liebsten hätte er sofort einen weiteren Versuch gestartet, sich mit Alkohol und Schlaftabletten und natürlich dem gelben Wundermittel wieder in die Bibliothek geträumt, aber er wusste, dass dieser künstliche Schlaf eher einer Ohnmacht gleichkäme und keine geplanten Träume ermöglichen würde.

    Den ganzen Tag hindurch bewegte sich Florian möglichst diszipliniert. Ein Spaziergang, ein leichtes Mittagessen, nachmittags ins Hallenbad, seichte Lektüre – gesund und kontrolliert arbeitete er auf einen natürlichen Schlaf hin.

    Zeitig legte er sich ins Bett, trank ein Bier und nahm drei der gelben Tabletten. Wie am Abend zuvor schlief er rasch ein. Das merkte er daran, dass er plötzlich wieder an seinem mittlerweile bereits vertrauten Schreibtisch saß. Sein Text war noch da. Wie konnte er es schaffen, sein Werk in die reale Welt zu überführen? Warum vergaß er alles beim Übergang? Er könnte zumindest versuchen, einige Absätze auswendig zu lernen. Jede Nacht ein paar Absätze, dann am nächsten Morgen in der echten Welt niederschreiben. Er bewegte den Cursor im grünen Text und schätzte die ungefähre Menge. Da war bereits ein circa vierhundertseitiges Buch entstanden. Das absatzweise mit nach Hause zu nehmen, würde zu lange dauern. Falls diese Traumreise überhaupt von Dauer wäre … also musste er einen Weg finden, den Text vollständig zu transportieren. Oder er musste es irgendwie schaffen, die Fähigkeit des erfolgreichen Schreibens zu transportieren.

    »Hallo.«

    Er zuckte zusammen und schaute sich um. In der Tür stand die schwarzhaarige Nachbarin.

    »Hallo«, sagte er.

    Sie trug wieder das verwaschene T-Shirt. Sie bemerkte, wie er sie anschaute und sagte: »Das ist mein Schlafanzug. Bist du auch ein Träumer?«

    »Ich glaube schon, der Begriff passt. Eigentlich liege ich in meinem Bett und schlafe, das hier träume ich nur. Es fühlt sich aber verdammt echt an.«

    Sie nickte. »Ja, verrückt, oder? Ich heiße Elisa.«

    »Florian. Schreibst du auch?«

    »Jede Nacht. Viel und schnell und gut, aber beim Aufwachen ist alles weg. Das quält mich schon seit Monaten.«

    »Bei mir sind es nur zwei Wochen, aber ich kann es kaum noch ertragen. Ich muss eine Möglichkeit finden, meinen Text zu retten.«

    Elisa seufzte. »Ich habe alles Mögliche ausprobiert. Hypnose, verschiedene Medikamente, ich habe mich in unterschiedlichen Intervallen wecken lassen, ich habe versucht, meinen Text auswendig zu lernen. Sogar bei einem esoterischen Guru war ich. Alles wirkungslos. Am liebsten würde ich überhaupt nicht mehr hier sein, das bringt ja alles nichts. Aber nicht mal das geht, es sei denn, ich schütte mir haufenweise Alkohol rein, dann träume ich nicht. Das will ich aber auch nicht dauernd …«

    »Sind da noch andere außer uns?«, fragte Florian.

    »Ja, viele, sehr viele. Ich bin etwa fünfzig Zimmer weitergegangen. In jedem sitzt so eine arme Gestalt wie wir. Die meisten wollen keinen Kontakt, sie fühlen sich durch mich gestört.«

    »Fünfzig Zimmer, also fünfundzwanzig in jede Richtung?«

    »Ungefähr, ja.«

    Florian stand auf und ging auf Elisa zu. »Vielleicht sollten wir …«

    Er lag in seinem Bett und rang nach Luft. Der Kopfschmerz war brutal, alles überdeckend. Er rollte aus dem Bett, fiel auf den Boden, drückte sich halbwegs hoch und krabbelte auf Händen und Knien ins Bad. Er übergab sich lange und schmerzhaft, legte sich dann auf den Boden und drückte sein Gesicht auf die kühlen Fliesen.

    Er dämmerte weg, ein unruhiger Schlaf brachte etwas Linderung, aber er kehrte dabei nicht wieder in die Bibliothek zurück.

    Den Tag brachte er irgendwie hinter sich. Spazierengehen, Lesen, Netflix, er nahm kaum auf, was er las oder schaute, seine Gedanken waren bei seinen nächtlichen Ausflügen. Für die er teuer bezahlen musste, das Aufwachen und die ersten Stunden in der Realität waren hart.

    Abends nahm er sein übliches Bier, aber keine der gelben Pillen. Er schlief die Nacht durch, erwachte ausgeruht und gesund, war aber nicht in der Bibliothek gewesen.

    Am nächsten Abend also doch wieder mit chemischer Unterstützung. Eine Flasche Bier, drei Tabletten. Zuvor stellte er einen Eimer und eine Wasserflasche neben das Bett.

    Er drehte sich in die übliche Schlafposition.

    »Da bist du ja wieder, was war los?« Elisa stand direkt vor seinem Schreibtisch.

    »Hallo, hat nicht geklappt gestern, ich möchte nicht darüber reden.«

    »Okay, ist auch nicht so wichtig. Vorgestern hattest du eine Idee, gerade bevor du verschwunden bist, hast du einen Vorschlag?«

    »Ja. Wir sollten die Bibliothek weiter erkunden. Nicht nur fünfundzwanzig Räume, sondern weiter. Falls nötig, viel weiter. Es muss doch etwas anderes geben als nur diese Arbeitszimmer.«

    Elisa sah ihn eine Weile an, ohne zu antworten. Schließlich sagte sie: »Die Idee gefällt mir nicht besonders, aber daran gedacht habe ich natürlich auch schon. Leider habe ich keinen besseren Vorschlag. Also los geht’s.«

    Mit energischen Schritten ging sie in das Nebenzimmer. Florian folgte. Er war Elisas Raum, der Schreibtisch war unbesetzt, die Regale ebenso befüllt wie in seinem Raum. Zusammen näherten sie sich dem Durchgang zum nächsten Raum und schauten hinein. Ein älterer Mann arbeitete konzentriert an seinem Text, er schaute nicht auf, als die beiden den Raum betraten. Florian sah viele ledergebundene Bücher in den Regalen, viele mit identischen Buchrücken.

    Der nächste Raum. Ein etwa vierzehnjähriges Mädchen, in den Regalen Fantasybände, glitzernde Vampire, Einhörner. Das übliche Klischee, dachte Florian. Das Mädchen sah auf, betrachtete die beiden und sagte: »Haut ab, geht weiter und lasst mich in Ruhe.«

    Elisa und Florian betraten den nächsten Raum …

    Er hing über der Bettkante, würgte und spuckte in den Eimer. Übelkeit und Kopfschmerzen schüttelten ihn, er zitterte unkontrolliert. Der Besuch in der Bibliothek war viel zu kurz, wie in der vorletzten Nacht hatte er nur Minuten dort zugebracht. Trotz seines elenden Zustands beschloss er, in der kommenden Nacht die Dosis zu erhöhen. Wenn schon Schmerzen, dann sollte es sich auch lohnen.

    Abends schluckte er sechs der gelben Pillen. Wie üblich schlief er ohne Probleme ein und traf Elisa, die bereits auf ihn wartete.

    »Na endlich. Fangen wir noch mal an? Ich hoffe, dass du heute länger durchhältst.«

    »Hallo, Elisa, ich habe mich vorbereitet, ich denke, ich bin fit. Lass uns keine Zeit verlieren.«

    Wieder gingen sie durch Elisas Raum in den ihres Nachbarn, der wieder nicht aufschaute. Weiter zum nächsten Raum. Das Mädchen war sichtlich genervt. »Habe ich euch nicht gesagt ihr sollt mich in Ruhe lassen? Verpisst euch!«

    Elisa und Florian rannten in den nächsten Raum, in den übernächsten und immer weiter. Anfangs schaute Florian noch auf die jeweiligen Personen und versuchte, auch einen Blick auf die Bücherregale zu werfen. Je mehr Räume sie durchquerten, desto weniger interessierte es ihn. Frauen und Männer in jeder Altersstufe, manche reagierten auf die beiden, andere nicht. Es war ihm einerlei, er wollte nur weiterkommen, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden.

    Er hatte nicht mitgezählt, aber sie hatten bereits Hunderte Räume durchquert, als sie plötzlich hinter einem der üblichen Zimmer einen Saal betraten. Er war riesig, Florian konnte das Ende nicht sehen. Auch hier waren die Wände mit Bücherregalen besetzt. Aber diese hier waren alt, stabil, kunstvoll aus Holz gefertigt.

    Und hier hielten sich Menschen auf. Viele Menschen. Teilweise einzeln an Schreibtischen, teilweise in Gruppen, stehend oder entspannt auf Sofas und Sesseln. Sie redeten miteinander, sie hielten Getränke in der Hand. Eine Szenerie wie im Foyer eines teuren Hotels oder auf einem altmodischen Kreuzfahrtschiff.

    Sie näherten sich einer der Gruppen. Sechs Personen, auf Sofas und Sesseln um einen Tisch herum verteilt. Einer erzählte eine Geschichte, die anderen hörten aufmerksam zu. Niemand nahm Notiz von Florian oder Elisa.

    Sie gingen auf eine andere Gruppe zu, auch dort schien man sie nicht zu bemerken.

    Elisa deutete auf einen weißhaarigen Mann, der alleine an einem der Schreibtische saß. »Mein Gott, Florian, schau mal dort, das ist doch der, wie heißt der noch, der mit dem Nobelpreis?«

    »Stimmt, er sieht aus wie Elias Canetti. Aber der ist doch schon lange tot. Unheimlich, oder?«

    Sie gingen langsam weiter. Wieder entdeckte Elisa einen verstorbenen Autor, auch Florian erkannte eine Autorin. Auch diese ebenfalls seit Jahren tot.

    »Langsam wird mir dieser Traum unangenehm, das macht keinen Spaß mehr. Tote um uns herum, und wir sind unsichtbar. Das ist gruselig.«

    Elisa nickte. »Das geht mir genauso. Lass uns etwas versuchen.«

    Sie ging auf die nächste Gruppe zu und sprach sie direkt an. »Hallo, könnt ihr mich hören, was ist hier los, verdammt noch mal!«

    Keine Reaktion. Sie stellte sich direkt vor einen Sessel, in dem ein zerzauster älterer Mann saß, ein Weinglas in der Hand.

    Florian sagte: »Das ist Bukowski, diese Visage würde ich überall erkennen. Noch ein toter Autor.«

    Elisa schrie ihm direkt ins Gesicht. »Halloooo, aufwachen, was ist das mit euch Zombies hier?«

    Florian wachte auf. Und dachte, er müsse nun sterben. Das war die Kombination aller Kater und aller Schmerzen seines Lebens. Krämpfe schüttelten ihn, er bemerkte kaum, dass er sich einnässte. Er wollte seinen Schmerz hinausschreien, aber das war zu anstrengend, alleine der Gedanke daran ließ eine brutale zusätzliche Kopfschmerzwelle entstehen.

    Winselnd und kurzatmig, nass geschwitzt und mit rasendem Puls verbrachte er Stunden der Qual, bevor er nochmals einschlief und etwas Linderung fand.

    Obwohl er froh war, diese Tortur überstanden zu haben, hatte er keinen anderen Gedanken, als die schnellstmögliche Rückkehr in die Bibliothek. Eigentlich wusste er, dass ein Tag Pause notwendig wäre, aber es war ihm egal. Noch immer etwas wackelig auf den Beinen, trank er sein Bier und schluckte zehn Tabletten.

    Wieder saß er an seinem Schreibtisch. Diesmal wartete Elisa nicht auf ihn. Er stand auf und schaute in ihren Raum. Sie war nicht da. Er ging etwas auf und ab, betrachtete die Bücher in ihrem Zimmer. Klopfte auf ihren Schreibtisch, rief sogar ihren Namen. Dann beschloss er, ohne sie zu starten. Er rannte in die gleiche Richtung wie am vorigen Tag, die träumenden Autoren waren ihm gleichgültig. Er befürchtete, der Saal könnte nicht mehr vorhanden sein, so wie auch Elisa nicht mehr da war. Schließlich war das alles nur ein Traum. Er rannte weiter. Kurz blitzte die Angst vor dem Aufwachen und dem Schmerz auf, aber er verwarf diese Gedanken.

    Da vorne, endlich, schon zwei Räume vorher, konnte er es durch die offenen Türen mehr ahnen als sehen, dann der letzte Raum, nur noch wenige Schritte, dann betrat er endlich den Saal.

    Alles war wie am Tag zuvor. Die gleiche Szenerie. Und doch fühlte es sich irgendwie anders an. Florian schlenderte durch den Raum. Bei einer der Gruppen erstarb das Gespräch, als er sich näherte. Und hatte einer der Schriftsteller ihm nicht eben zugenickt?

    Da vorne rechts, Canetti oder sein Ebenbild, am selben Schreibtisch wie am vorigen Tag. Er schaute Florian an, kein Zweifel. Florian ging ein paar Schritte auf ihn zu. Canetti stand auf, betrachtete ihn für eine kurze Weile, lächelte und sagte: »Willkommen.«

    Jol Rosenberg: Auf Abwegen

    _rosenberg__12

    Lora starrte in den Schneesturm vor dem Fenster und nippte an ihrem Tee. Die Blechwände des Containers dämpften das Toben und Fauchen kaum, es übertönte fast die Stimme des Radiosprechers.

    »… Forschende interpretieren dies als erste Hinweise auf Versuche der Kontaktaufnahme einer außerirdischen Spezies. Allerdings ist es bislang nicht gelungen, die Quelle der Signale ausfindig zu machen …«

    Lora schaute ungläubig das Radio an und schluckte, bevor ihr der Tee aus dem offenen Mund rann. Bislang hatte sie den Sender für seriös gehalten. Aber vielleicht war es egal. Das meiste, was draußen in der Welt passierte, war egal. Abgesehen vom Klimawandel, der die Gletscher abschmelzen ließ und dafür sorgte, dass ihr kleines Paradies schneller unter ihrem Hintern wegschmolz, als sie denken konnte. Aber darum scherte sich da draußen niemand, außer einer Handvoll Jugendlicher, denen niemand zuhörte. Missmutig nahm Lora einen weiteren Schluck aus der angeschlagenen Tasse. Wenn es Außerirdische gäbe, kämen die sicher nicht hierher, zu ihrer abgelegenen Station in Grönland. Niemand kam hierher, von den gelegentlichen Versorgungshubschraubern einmal abgesehen. Und nicht einmal die landeten hier, sondern in Zackenberg, von wo aus sie alles mit dem Motorschlitten herüberholte. Wenn genug Schnee lag.

    Immer wieder sagten die Leute dort, dass es Unsinn sei, ihren Außenposten aufrechtzuerhalten. So besonders waren Loras Wetterdaten nicht. Und selbst wenn man ihre Messstation erhalten wollte, konnte man von Zackenberg herüberfahren – wenn es gelang, den Rest zu automatisieren, sodass nur alle paar Wochen eine Wartung nötig wäre. Lora hielt nichts vom Automatisieren. Sie belud stets stur ihr Fahrzeug und fuhr wieder weg.

    Es reichte ihr völlig, alle drei Wochen jemanden zu sehen. Solange die Position ihren Lebensunterhalt sicherte, war sie zufrieden. Sie und die Wetterstation, mehr brauchte sie nicht.

    Das war nicht immer so gewesen.

    Nach Banus Tod hatte sie sich zunächst in Kontakte geworfen. Partys, Dates, Konzerte – alles nur, um nicht allein zu sein. Dann zog sie sich zurück. Erfand Ausreden, um niemanden treffen zu müssen. Ihre Freunde bemühten sich um sie. Redeten ihr gut zu, luden sie immer wieder ein. Immer mit diesem mitfühlenden Blick, der Lora an Banu erinnerte. An die, die fehlte. Als habe ihr Tod ein schwarzes Loch in Loras Leben gerissen, das die Blicke der Freunde einsaugte, bevor sie Lora erreichen konnten. Banus Tod hatte ein Loch in Loras Leben gerissen. Sie wollte nur nicht ständig daran erinnert werden.

    Diese Stelle war ihr wie eine Rettung vorgekommen: Niemand, der etwas von ihr wollte. Keine Verlockungen. Keine Erinnerungen. Nur

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