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Im Innern der Seifenblase
Im Innern der Seifenblase
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eBook319 Seiten3 Stunden

Im Innern der Seifenblase

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Über dieses E-Book

Als der bekannte deutsche Schauspieler Bob Bodenbauer aus dem Koma erwacht, erinnert er sich an nichts. Doch eine wunderschöne Krankenschwester beugt sich über ihn und heißt ihn lächelnd in unserer Wachwelt willkommen. Kurz darauf klingelt das Telefon. Er hebt ab; eine heisere Stimme flüstert:
- "Hallo Bob, schön, dass du wieder bei uns bist. Hab gehört, sie werden dir eine Rolle anbieten, Telenovela!"
- "Was ist das, Telenovela?", fragt Bob vorsichtig.
- "Hey, so'n Emotionsporno, Mann, die Schlampe aus Kreuzberg, was Mexikanisches halt, 'ne Seifenblase!"
Bodenbauer bekommt tatsächlich die Rolle, und die Suche nach seiner verlorenen Identität beginnt. Professor Piano, sein behandelnder Arzt, Chef der Psychiatrie und Komatologie an der Charité, sowie Barbarella, die wunderschöne Krankenschwester, helfen ihm dabei. Nun ja, helfen wird der Professor schon, aber nicht ganz uneigennützig: Er benutzt seinen neuen Patienten dazu, um ganz andere, teuflische Pläne zu verwirklichen.

Mathieu Carrière hat - nach langer Selbsterfahrung als Film- und Fernsehschauspieler - einen rasanten Schundroman geschrieben, der dem Leser auf vergnügliche Weise und mit einer gehörigen Portion Ironie den ganzen Irrwitz heutiger Fernsehproduktionen beschreibt. Im Innern der Seifenblase erzählt die tragikomische Odyssee von Schauspielerseelen, die in den Fleischwolf des modernen, industriellen Herstellungsprozesses einer Telenovela geraten, und dabei ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs agieren.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. März 2011
ISBN9783627021740
Im Innern der Seifenblase

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    Buchvorschau

    Im Innern der Seifenblase - Mathieu Carrière

    MATHIEU CARRIERE

    IM INNERN DER SEIFENBLASE

    ROMAN

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    Dieser Text ist eine reine Erfindung. Jede Ähnlichkeit der handelnden Personen mit real existierenden Menschen wäre zufällig. Sollte jemand glauben, sich wiederzuerkennen, kann dies nur ein Irrtum sein.

    Allerdings haben in fast fünfzig Arbeitsjahren Erlebnisse und Kollegen aus vielen Ländern mich inspiriert; dafür möchte ich mich herzlich bedanken. Auch den eminenten Neurologen, Psychiatern und Psychoanalytikern Dr. Peter Schmode, Dr. Bern Carrière, Dr. Walter Sick, Dr. Peter Neubauer, Dr. Fausto Brunello, Dr. Hans Roemmelt, Dr. Mara Selvini Palazzoli, Dr. Pierre Marty, Dr. Sigmund Freud bin ich zu großem Dank verpflichtet. Ein Amalgam aus ihnen wurde zu Professor Mirko Piano.

    Alle namentlich erwähnten realen Promis sind natürlich sie selbst. Für ihre Erwähnung möchte ich mich in aller Form entschuldigen. Ich hoffe, die noch Lebenden unter ihnen werden mit Nachsicht verstehen, dass es sich bei dem nun folgenden Roman um eine satirische Fabel handelt.

    Mathieu Carrière

    Venedig, 13.12.2010

    Für Elena

    VORSPANN:

    AUSSEN – POTSDAM, MEDIENPARK – TAG

    UNTERTITEL:

    9.05 Uhr, 03.09.2010.

    Die KAMERA gleitet über Teiche, Lichtungen und sonnendurchflutete, in allen Farben leuchtende Baumkronen bis zum Warschau19-Studio, steigt, schwenkt an der Fassade hoch, fährt über eine Terrasse bis zu einem großen Fenster, bleibt stehen; ZOOM durch die schillernde Scheibe.

    CUT auf:

    Peter Niesel, der am Schreibtisch seines kleinen Büros sitzt und sich die Hände reibt. Dann schiebt er seinen Stuhl zurück und schlägt das rechte Bein über das linke.

    »Klappt doch ganz gut«, denkt er zufrieden und zupft beide Ärmel seines geliebten blasslila Schlabberpullovers zurecht. Als er jedoch sein linkes Bein schwungvoll über das andere hieven will, stößt er mit dem Schienbein gegen die scharfe Kante der mittleren, halboffenen Schublade, die er wieder mal vergessen hat ganz zuzuschieben, nachdem er dort sein Pausenbrot und die BILD-Zeitung verstaut hatte.

    »Aua, verdammte Scheiße!«, brüllt er und feuert wütend die Schublade mit dem rechten Fuß zu, als sei sie schuld an dem beißenden Schmerz, der ihm jetzt dicke Tränen in die riesigen Murmeltieraugen treibt. Er wischt das Wasser aus seinem runden Gesicht und erinnert sich an den Artikel auf Seite Vier, den er heute Morgen in der S-Bahn nicht zu Ende lesen konnte, da der Zug am Bahnhof Babelsberg so abrupt zum Stehen gekommen war, dass es ihn fast von der Sitzbank geschleudert hätte. Seufzend zieht er die leicht verbeulte Schublade wieder auf, kramt die vom Butterbrot schon angefettete Zeitung hervor und beginnt, darin zu blättern. Auf Seite Vier steht immer der Promiklatsch, den Peter Niesel als Inspiration für seine Plotarbeit nutzt; denn Peter Niesel ist Drehbuchautor und seit ein paar Wochen sogar Producer. Er entwickelt Konzepte, Rollenprofile, Plots und Handlungsstränge für Fernsehserien.

    Auf Seite Vier der BILD-Zeitung steht heute groß und fett über dem Foto eines grauhaarigen, älteren, aber noch recht gut aussehenden Mannes, der sich ans linke Ohrläppchen greift:

    KOMAPROFESSOR SCHALTET GERÄTE BEI HIRNTOTEM SCHAUSPIELER AB

    Peter Niesel muss trotz seines schmerzenden Schienbeines lächeln.

    »Hirntoter Schauspieler«, flüstert er verächtlich, »der reine Pleonasmus.«

    Obwohl sein Sarkasmus der ja eigentlich recht traurigen Titelzeile nicht angemessen ist, will er sich ein wenig Häme nicht verkneifen, denn die Erinnerung an diesen grauhaarigen Mann und den Autorenmord, den er vor ein paar Monaten auf Befehl seines letzten Auftraggebers an ihm begangen hat (und dem er seine Beförderung zum Producer verdankt), verschafft ihm endlich mal wieder sekundären Lustgewinn.

    »Man gönnt sich ja sonst nichts«, denkt Peter Niesel zufrieden, steckt die linke Hand in die Tasche seiner Jeans und knetet dankbar sein jetzt leicht tumeszierendes Schwänzchen. Denn seit er die Pubertät überstanden hat, nicht mehr das Bett nässt, keine Tiere mehr quälen darf und auch zum Zündeln keine Zeit mehr findet, missbraucht Peter Niesel seine Autorenarbeit, indem er viele Figuren verschwinden, an schweren Krankheiten sterben oder einfach umbringen lässt. Dieses makabre Hobby hat ihm in der Branche den Spitznamen Der Serienkiller eingebrockt. Die über zwanzig Fotos jener Darsteller, denen er schon mit seinem gespitzten Filzstift an die Filmgurgel gegangen ist, hängen im Badezimmer seiner kleinen Wohnung in Kreuzberg.

    Er greift nach einer Schere und schneidet sorgfältig die Überschrift und das Foto von Bob Bodenbauer – so heißt der hirntot abgeschaltete Mime – aus der Seite Vier. Dann öffnet er wieder die renitente Schublade und legt den Artikel auf sein Butterbrot. Heute Abend wird er schon das zweite Foto von Bob an die Wand über dem Waschbecken pinnen können, denn der ist jetzt ja endlich wirklich tot und damit gewissermaßen zum zweiten Mal sein Opfer geworden.

    Dann übt Peter wieder Händereiben und Beinüberschlagen, denn seine neue Chefin, Christine Knall, die Eigentümerin von C&K, macht das auch dauernd.

    Die Protagonistin ist immer blond

    War da was? Ein dunkler Fleck im Gras? Irgendwas hat sich verändert. Aber was und warum? Es fühlt sich an wie ein Finger, ein Zeigefinger, der zuckt, sich zusammenzieht, einen Daumen berührt. Welchen Daumen? Jetzt der Mittelfinger: Auch seine Spitze berührt den Daumen.

    »Zuck, zuck«, sagt der rechte große Zeh und streift etwas Glattes, dann der linke, auch er bewegt sich wie ein kleines Tier. Tiere, Füße, Hände. Und dann ein stummer Paukenschlag, als sich die Augen öffnen. Was ist passiert?

    INNEN – CHARITÉ, KRANKENZIMMER – TAG

    UNTERTITEL:

    Neun Monate später, 9.51 Uhr.

    Die KAMERA fährt langsam aus einer TOTALEN in eine NAHE:

    Bob Bodenbauer liegt auf einem schmalen Bett. Er trägt einen grünen Zellstoffkittel, und seine grauweißen Haare breiten sich unter Hals und Schädel aus wie ein aufgeplatztes Strohkissen. In seiner linken Armbeuge steckt eine Kanüle, durch die aus einem Tropf, der an einem Metallgestell über ihm hängt, eine klare Flüssigkeit in seinen abgemagerten Leib fließt.

    Als er aus dem Koma erwacht, erinnert er sich an nichts.

    Das Erste, was seine Augen sehen, ist ein grau flimmernder Monitor.

    ›Wie schön das ist‹, denkt er, ›Gudrun … Gernod … Gerhard … Richter? Ja, so heißt was!‹

    Das Telefon auf dem Tischchen neben dem Bett klingelt. Er merkt, wie die Finger einer Hand sich aufspreizen, eine Schulter den Arm hebt, ihn am Ellenbogen öffnet und in Richtung Klingelton streckt. Seine Hand greift zu, führt den Hörer zum rechten Ohr. Eine heisere, trockene Stimme flüstert:

    »Hallo Bob, du bist wieder bei uns, herzlich willkommen.«

    Bob hört eine schwache Stimme in seinem Frontallappen sagen:

    »Bist du sicher? Woher weißt du das?«

    »Wer hat das gesagt?«, flüstert die schwache Stimme.

    »Quellenschutz«, meint die heisere Stimme im rechten Ohr.

    Pause.

    »Wer bist du?«

    »Dein Freund Hannibal.«

    Er atmet tief durch, schließt die Augen und versucht, sich zu konzentrieren:

    »Okay, du bist Hannibal, und wer bin ich?«

    »Mann, du bist der Bob!«

    Lange Pause.

    »Und … was bedeutet das?«

    »Das bedeutet, dass ich und unser Land sich freuen! Außerdem hab ich gehört, dass sie dir ’ne Rolle in einer Telenovela anbieten werden.«

    Lange Pause.

    »Was ist das – Telenovela?«

    »Hey, Die Schlampe aus Kreuzberg, Die strenge, geile Mutter, solche Emotionspornos. Was Mexikanisches halt!«

    Bob im atavistischen Reflex:

    »… und wie soll ich die Rolle anlegen?«

    »So will ich dich hören, du Tier! Hintergründig natürlich!«

    Bob hyperventiliert ein wenig:

    »Okay, okay. Bitte gib mir noch ein paar Stunden Zeit. Ruf mich später noch mal an, vielleicht hab ich mich bis dann ein bisschen … erholt. Hannibal?«

    »Ja?«

    »Hat dieser Bob, ich meine, hab ich einen Agenten? Bist du mein Agent?«

    »Bob, ich bin der Hannibal von der BILD-Zeitung, dein größter Fan! Ich werd dich auf dem Laufenden halten. Du kannst dich auf mich verlassen.«

    Bob legt verwirrt auf und fasst sich verlegen ans rechte Ohrläppchen.

    ›Er kann sprechen, der Hörer‹, denkt er. Der Schirm vor ihm flimmert immer noch. Interessant, dieses Flimmern.

    Dann durchzuckt es ihn wie ein Blitz.

    »Ohrläppchen, Ohrläppchen! Bob, natürlich! Das ist Bob Bodenbauer! Das ist es … das ist er … das bin ich!«

    Bevor er sich Gedanken darüber machen kann, ob er die Stimmen, Hannibal, das Rollenangebot und sogar das ganze Telefonat halluziniert hat oder nicht, kommt eine dunkelblonde Krankenschwester ins Zimmer. Sie tritt an sein Bett, beugt sich über ihn und lächelt Bob mit ihrem präraphaelitischen Wundermund an.

    »Guten Morgen, Bob, der Professor hat mir gesagt, dass du endlich wieder aufgewacht bist. Wie schön!«

    Sie nimmt eine Tafel, die am Fußende liegt, und notiert darauf das Datum und die Uhrzeit: Berlin, 03.07.2011, 9.54 Uhr. Dann greift sie nach seinem Handgelenk, sieht auf die Uhr und misst seinen Puls.

    »Sehr gut, Bob, sehr stabil.«

    Sie reicht ihm eine Tablette und ein Glas Wasser. Er merkt erstaunt, dass seine Hand ganz ohne Willensakt nach Glas und Pille greift und sein Mund brav die Medizin schluckt. Dann wird gierig getrunken.

    »Bravo, Bob«, sagt das schöne Mädchen, nimmt ihm das Glas ab und stellt es auf den Tisch neben seinem Bett. Dann setzt sie sich zu ihm und sieht ihn mit ihren großen Rehaugen ruhig an.

    »Ich bin übrigens schwanger …«

    In Bobs Hirn flimmert es ein bisschen, dann hat er einen Flash: Er erinnert sich, was schwanger bedeutet! Außerdem wird ihm plötzlich auch klar, dass die meisten Fragen, die man stellen will, wie von selbst beantwortet werden. Also wartet er einfach diplomatisch ab, ohne sich oder dieses entzückende Mädchen zu fragen, warum sie ihm das erzählt, und schon spricht es weiter:

    »… und zwar von dir. Ich bin mir da ziemlich sicher.«

    Sie lächelt wieder ihr unvergleichlich strahlendes Lächeln. Bob, der sich an nichts erinnern kann, dessen Spiegelneuronen aber aktiviert werden, muss auch lächeln.

    »Schön … und wie heißt du?«

    »Barbarella.«

    »Und wie lange war es …, er …, ich weg, Barbarella?«

    »Über ein Jahr.«

    Kurze Pause. Bob versucht nachzurechnen. Er gibt auf.

    »Barbarella, bitte sag mir, was passiert ist.«

    Sie nimmt seine rechte Hand, streichelt sie und beginnt zu erzählen.

    »Bei deinen letzten Dreharbeiten wurdest du von deiner Filmfrau erstochen, in einen Koffer gepackt, aufs Land gefahren und in einen tiefen Brunnen geworfen. Du hattest dich derart mit deiner Rolle identifiziert, dass du nach Drehschluss in ein Taxi stiegst, hier in die Charité kamst, am Empfang deine Krankenversicherungskarte abgabst, auf ein Zimmer gebracht wurdest und sofort ins Koma fielst.

    Nach Monaten vergeblicher Behandlung erklärten die Ärzte dich für klinisch tot. Deutschland trauerte eine Weile, es gab ein paar pikierte und einen sehr netten Nachruf von Hannibal Stein. Und dann vergaß man dich allmählich, erst dein Gesicht, dann deine Hände und ganz zuletzt erst deinen Griff ans Ohrläppchen, durch den du dir Weltruhm erkämpft hattest, zumindest in Deutschland.«

    Bob versucht zu verdauen, was er da gehört, aber nicht verstanden hat. An das warme Gefühl im Bauch, als sie eben die Worte Rolle und Dreh sagte, kann er sich aber vage erinnern, also fragt er vorsichtig nach:

    »Dieser Bob, der war Schauspieler?«

    Barbarella zieht die Schublade des Tischchens neben seinem Bett auf, greift hinein, holt eine alte BILD-Ausgabe heraus und reicht sie ihm. Auf der Titelseite ein Jugendfoto von Bob, der sich ans rechte Ohrläppchen greift, darüber in fetter Balkenschrift:

    DEUTSCHLAND BETET FÜR SEINEN BUNTESTEN HUND!

    Bob spürt, wie ihm die Augen feucht werden.

    ›Ja, der Griff ans Ohrläppchen, das bin ich, Bob lebt wieder! Und danke, Hannibal, endlich mal eine gute Kritik‹, denkt er gerührt und versucht, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren.

    »Aber, Barbarella, wenn ich klinisch tot war, wieso bin ich dann wieder hier? Falls ich denn hier bin, woran ich nicht zweifeln will.«

    Sie nimmt ihm die Zeitung aus der Hand, streichelt seine Wange und lächelt wieder:

    »Doch Bob, du bist hier und du bist du. Aber dieses Du muss jetzt schlafen, denn dieses Hiersein, dieses Zimmer, deine Hände, die sich wieder bewegen, das ist alles ein bisschen viel für dich. Dein Hirn braucht Ruhe, um wieder auf Nachkomamodus in unserer Wachwelt umzuschalten.«

    Warum sein Hirn nach so viel Schlaf Ruhe braucht, versteht er nicht, aber das schöne Mädchen hat sicher recht. Also hält Bob den Mund und weiter ihre Hand, döst ein bisschen und schläft dann ein.

    Barbarella schämt sich trotz ihrer Freude, denn sie hat es nicht übers Herz gebracht, ihm sofort zu erzählen, dass auch sie ein großer Fan von ihm ist und sich standhaft geweigert hat, die Geräte abzustellen, die Bob am Leben erhielten. Sie wollte nie an seinen endgültigen Tod glauben, zumindest aber seinen Körper für sich behalten. Ihr Verbündeter war Professor Mirko Piano, Chef der Neurologie, der Psychiatrie, der Psychopharmakologie und der Komatologie hier in der Charité. Mit seinem Einverständnis versteckte sie Bob und seine Maschinen nach dessen offiziellem Ableben in einem Zimmer neben dem Büro des Professors, wo sie ihn, entfernt von den Augen auch der klinikinternen Öffentlichkeit, weiter versorgte. Eines Nachts, nachdem sie seinen Tropf geputzt und nachgefüllt hatte und dann begann, ihm traurig die Fußnägel zu schneiden, bekam er eine Erektion. Nach kurzer sowohl liebevoller als auch professioneller Handarbeit wurden ihr Mut, ihre Zuversicht und ihre Zuneigung unerwartet schnell durch einen ausgiebigen Erguss belohnt. Barbarella zögerte keine Sekunde: Sie wischte hochkonzentriert das auf Laken, Kittel und ihre Finger verspritzte Sperma in die linke Handfläche, griff sich ein leeres Reagenzglas vom Tischchen neben Bobs Bett, füllte es zur Hälfte mit destilliertem Wasser, zur Hälfte mit dem kostbaren Samen, legte einen Daumen obendrauf und schüttelte es, wie einen Gin-Martini. Dann warf sie sich auf den Rücken, streckte die Beine zur Kerze, bis ihre Zehenspitzen fast die Zimmerdecke berührten, riss sich ihren Rock bis unter die Brüste, schob ihr Unterhöschen zu den Knien hoch und goss mit der rechten Hand – der linke Arm stützte ihren Rücken – den Inhalt des Reagenzglases in ihre Vagina, wobei sie heftig mit dem Becken wackelte.

    »Wenn es diesmal nicht klappt, bring ich mich um!«, murmelte sie voller Hoffnung. In diesem entscheidenden Moment ging die Tür auf, und Professor Piano betrat das Zimmer.

    Weichenstellung

    Christine Knall, Mitte dreißig, graue Mandelaugen, kurze, aschblonde Haare, lange, schlanke Beine, ganz in lila Prada-Latex gekleidet, ist Produzentin und 0,1-prozentige Teilhaberin an der chinesischen Holding von Warschau19, einer Filiale des gleichnamigen nordkoreanischen Medienkonglomerats, dem auch ihre Film- und Fernseh-Produktionsfirma C&K gehört. Sie sitzt in ihrem Büro in Potsdam am Schreibtisch und trinkt ihre fünfte Tasse Kaffee. Die ganze Nacht hat sie mit ihrem Chefbuchhalter und zwei Justitiaren die Geldflüsse, Umsätze, Finanzierungspläne und Zahlen ihrer verschiedenen Unternehmen diskutiert. Zähneknirschend wurde ihr dann gegen vier Uhr morgens klar, dass sie bald, heute, sofort Gas geben, neu durchstarten, sich selbst übertreffen musste, wenn sie die drohende Insolvenz vermeiden wollte. Deshalb zündet sie sich jetzt auch eine ihrer leichten Kokainzigaretten an und inhaliert heftig. Als der Rush sie durchfährt wie ein Peitschenhieb, ruft sie nach Hiroshi, ihrem Sekretär. Die Tür fliegt auf und Hiroshi stürzt ins Büro. Der hübsche, zierliche Japaner verbeugt sich vor seiner Chefin, lächelt und stößt sein »Hai, Knallosan!« hervor, als wäre er bereit, sich auf der Stelle für sie mindestens ein Samuraischwert in den Bauch zu rammen. Christine Knall lächelt verzerrt zurück.

    »Diktat!« flüstert sie und saugt an ihrer gedopten Zigarette.

    Hiroshi zückt seinen Lieblingsbleistift, leckt kurz an dessen Spitze, setzt sich auf seinen Assistentenstuhl und zieht einen Mini-iPod aus der Hosentasche. Hinter ihm an der Wand hängt ein Plakat von Die Schlampe aus Kreuzberg, Christines letztem Hit, und ein Riesenfoto von netten jungen Menschen, die auf den Straßen von Pjöngjang vor einem Plakat, auf dem nette junge Menschen vor einem Palast Fahnen schwenken, Fahnen schwenken.

    Christine kreuzt ihre langen Marmorbeine, nickt Hiroshi zu und reibt sich die Hände:

    »Los geht’s, Hiroshi, Memo an alle:

    Liebe Freunde, lasst uns miteinander eine revolutionäre Telenovela machen. Wir werden das Genre bis zur Weißglut ausreizen, Ausrufezeichen! Lasst uns deshalb gemeinsam überlegen, wie wir in Zukunft unser neues Baby noch kreativer und noch marktgerechter als bisher formatieren können.«

    Hiroshi schreibt fiebernd mit. Christine runzelt die Stirn und reibt sich weiter nachdenklich die Hände.

    »Wenn ich in Gedanken mit dem Projekt spiele, erscheint es mir nie als abgeschlossenes Ganzes, obwohl sich gerade die Telenovela dadurch von der Soap unterscheidet, dass sie ein Ende hat. Am ehesten hat dieses Ganze noch etwas von einem dunkel fließenden Gewässer. Gesichter, Bewegungen, Rufe, Ausrufezeichen! Ein Sehnen, ein Hoffen, eine Furcht, in der das Furchtbare unausgesprochen bleibt …«

    Hiroshi kommt nicht mehr mit.

    »Sehr gut, aber bitte nicht so schnell, Christine!«

    Sie, langsamer, aber eindringlich:

    »Eine Eigentümlichkeit gibt es allerdings. Alle unsere Interieurs sind lila, in unterschiedlichen Nuancen. Fragt mich nicht, warum das so sein muss, ich weiß es nicht. Die gröbste, aber überzeugendste Erklärung ist wohl, dass das Ganze etwas Inwendiges sein soll, weil ich mir seit meiner Kindheit die Innenseite der Seele als Hymen … nein, Hymen schreibst du nicht, als zartes, feuchtes Häutchen in lila Farbtönen vorstelle. Danke. Nein, Danke schreibst du natürlich auch nicht!«

    Hiroshi nickt und seufzt: »Ich verehre Sie, Christine!«

    Aber Christine ist mit den Gedanken schon ganz woanders:

    »Take a number and get in line«, sagt sie vor sich hin und greift zum Telefon. Jetzt sind die Medien dran. Als erste wählt sie die Geheimnummer ihres Vertrauten Hannibal Stein, dem Starreporter der BILD-Zeitung, um ihn zu einem Essen einzuladen, Tête-à-Tête. Sie weiß, dass Hannibal sie mag, obwohl sie weder sechzehn noch Sängerin ist.

    Ist Bobs Vergangenheit die Zukunft seiner Gegenwart?

    Barbarella hat inzwischen bei der Produktion angerufen, für die Bob seinen letzten TV-Tod gestorben ist, einen Termin bekommen und im Kostümfundus herumgekramt. In einer Ecke findet sie schließlich die Sachen, die nach Drehschluss aus seiner Garderobe entfernt und hier abgestellt wurden: ein paar alte Drehbücher, samt rosa, blauer, grüner und gelber Seiten, mit Notizen und Telefonnummern vollgekritzelte Sudoku-Hefte, Fanpost, ein paar CD-ROMs, einen verstaubten Laptop und einen zusammenklappbaren Tretroller. Barbarella besorgt sich einen großen Pappkarton, packt alles rein, klappt den Roller auf, transportiert die Beute zu ihrem Peugeot, verstaut alles im Kofferraum und fährt in ihre Wohnung am Prenzlauer Berg. Dort schiebt sie die CD-ROMs in ihren Rechner und findet Dateien, die sie sofort als Bobs Tagebücher identifiziert. Sie druckt die Texte aus. Dann eilt sie zurück in die Klinik, bringt die Seiten mit in Bobs Zimmer neben Professor Pianos Büro, setzt sich an sein Bett, hält ihm die Hand und liest ihm in der Hoffnung vor, er könne so ein bisschen Identität wiederfinden.

    Bob spürt ihre warme Haut, hat die Augen geschlossen und lauscht ihrer melodischen Stimme.

    »Ich sitz am Schreibtisch in der Calle Colonne, blicke über rostrosa Schornsteine auf bleigrauen Zinkdächern und feile an der siebten Fassung des Drehbuchs Vampire Junkies, meinem Monster-Baby. Vlad Tepesh hat sich in die junge Mary verliebt, oder zumindest in den Ambrosiageschmack ihres Blutes. Er versucht vergeblich, seiner Schülerin Vampirbenehmen beizubringen. Sie hat gerade vor ihrem Hotel einen betrunkenen Fußballfan angebissen.

    VLAD

    (wütend):

    Erste Regel, Mary, so nah am Bau keine Beute schlagen!

    MARY

    (leckt sich die blutigen Lippen):

    Und die zweite, Papi? Nicht mit dem Essen spielen?

    Bob muss lachen: »Das hab ich geschrieben? Klingt nicht schlecht! Vlad rings a bell. Aber die bleigrauen Dächer? An die kann ich mich nicht erinnern. Wo soll das denn gewesen sein?«

    Bevor Barbarella weiterlesen kann, klingelt das Telefon. Bob hebt ab. Eine heisere Stimme flüstert:

    »Hallo Bob, würdest du ein Casting für eine Telenovela machen?«

    Bob ist verwirrt. Die Stimme kommt ihm bekannt vor. Klar: Hannibal!

    »Was ist das noch mal, eine Telenovela?«

    »So was Brasilianisches, du Idiot. Sie zahlen das Taxi.«

    Bob, im Reflex:

    »Super. Von wo wohin?«

    »Von der Charité zum Studio und zurück. Hauptrolle. Positiv.«

    »Und wann?«

    »Bald.«

    Bob zögert, dann fragt er verlegen:

    »Bist du mein Agent?«

    »Ja, du sagst es, der bin ich.«

    Bob, immer noch verwirrt, führt den Hörer vors Gesicht, sieht ihn an, legt ihn wieder ans Ohr:

    »Okay, okay, entschuldigung; und wie heißt du?«

    »David, Mann!«

    »Hallo, David Mann!«

    »Däivid, wenn ich bitten darf. Schon gut. Übrigens, Bob …«

    »Du meinst mich?«

    »Du sagst es. Schön, dass wir jetzt wieder Geld verdienen.«

    Bob muss lächeln:

    »An den Satz kann ich mich erinnern, Hannibal!«

    Däivid seufzt:

    »Okay, von mir aus auch Hannibal. Ciao.«

    Etwas zerstreut

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