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Emma Hahnenfuß: die Stadt der Schatten
Emma Hahnenfuß: die Stadt der Schatten
Emma Hahnenfuß: die Stadt der Schatten
eBook465 Seiten6 Stunden

Emma Hahnenfuß: die Stadt der Schatten

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Über dieses E-Book

»Stell dir vor, wir könnten das Leben beherrschen! Dann wäre das der Tod!«

Die alleinerziehende Emma, die gerade noch Kinderunterwäsche im Sonderangebot kaufen wollte und darüber nachgedacht hat, wie sie die Müllrechnung bezahlen soll, wird mit einem Schuss aus ihrem Alltag geschleudert. Da mischt man sich einmal ein bisschen ein und schon muss man so tun, als wäre man so eine Superheldin aus dem Comic ihrer Söhne!

Emma ist verzweifelt: Ihre vierzehnjährige Tochter hat sich der gefährlichen Gruppe namens Sherpa angeschlossen, die über die Dächer der Stadt klettern. Ungesichert.
Vollkommen hirnlos, denkt Emma. Bis sie Jave kennen lernt, den Anführer dieser Sherpa, der ihr die Welt über den Dächern zeigt und das Gefühl, außer Mama auch noch Frau und Mensch zu sein.

Und dann wird ein Jugendlicher aus den Reihen der Sherpa ermordet und Emma ist die Einzige, die verhindern kann, dass ein Krieg ausbricht. Ein Krieg, der die Kinder der Stadt töten wird. Ein Krieg, der die Schatten der Angst nährt. Ein Krieg, an den Emma Jave verlieren würde. Das will sie nicht. Aber kann sie überhaupt etwas dagegen tun?

Emma Hahnenfuß - die Stadt der Schatten ist ein Fantasy-Liebesroman für alle Romantasy-Fans, die sich wünschen, auch Erwachsene Menschen würden noch Abenteuer erleben, sich frisch verlieben und als Held/Innen für ein Buch taugen.

Leserstimme: "Witzig, spritzig und schwindelerregend tiefgängig. ICH habe es genossen!"
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Sept. 2022
ISBN9783347728684
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    Buchvorschau

    Emma Hahnenfuß - Julei Brenz

    1

    Emma

    Wenn dies ein Buch wäre, dann würde die Superheldin nichts ahnend über diesen wunderschönen, großen Platz in der Innenstadt gehen. Sie wäre langbeinig, blondgelockt und würde wahrscheinlich mit ihrem Helden bereits knietief im wortwitzigen Flirt stecken.

    Mein letzter Flirt ist vielleicht ein halbes Jahrhundert her und endete damit, dass ich heulend auf einem Bahnhofsklo über einem positiven Schwangerschaftstest verzweifelte. Während Tajo rotznasig an meinen Jeans zerrte und ständig fragte: »Mama, was ist? Was ist? Mama? MAMAAAA?« Damals war ich achtundzwanzig Jahre alt und schwanger mit dem dritten Kind. Das war vor vier Jahren.

    Ich schlendere nicht wortwitzig, sondern hetze. Ich lache nicht, werfe die Haare nicht zurück und fühle nicht genüsslich die Blicke der Umstehenden auf mir. Kein Neid. Höchstens Mitleid, weil meine Jeans inzwischen diverse Löcher haben und meine Frisur ein rotblonder Knoten aus krausen Locken ist. Ich trage keine sexy Handtasche von Gucci, sondern den praktischen Rucksack aus der Treuepunkteaktion von 4two, in unauffälligem Kackbraun.

    Ein paar Tauben flattern auf, ich werfe einen sehnsüchtigen Blick auf die Insassen eines Cafés, die an einem Mittwochvormittag Zeit haben (oder egal welchem anderen Tag), Sekt Orange zu trinken. Seufz!

    Selbstmitleid? Ja klar. Vielleicht, weil ich nicht, wie die blondgelockte Superheldin, in mein nächstes Abenteuer mit Kussende hineinlaufe, sondern Kinderunterhosen im 4two kaufen muss, wo es eine Preisaktion für Alleinerziehende gibt. Das ist demütigend. Wie gerne würde ich darüber stehen und die Unterhosen meiner Kinder einfach dann kaufen, wenn es mir passt! Es ist also einer dieser All-Tage, in denen man die To-do-Liste im Kopf durchgeht, die etwa von hier bis Neuseeland reicht. Einer dieser Alltage, an denen man gefangen zwischen Langweile und völligem Stress ist.

    Der Waschmaschinen-Typ müsste heute vorbeikommen, denke ich. Wann wollte eigentlich nochmal der Kaminkehrer da sein? Egal, der wird sich schon melden. Ich muss dringend meinen Step überprüfen, ich fürchte, ich bin herab gesunken, weil ich mein Sportpensum nicht schaffe. Das ist schlecht, weil die Zuflucht, die weltweit größte Krankenversicherung, die Steps nämlich je nachdem vergibt, wie gut du mitmachst. Je sicherer du lebst, umso besser sind deine Chancen auf eine gute Behandlung im Krankheitsfall. Diese Steps hat die Versicherung vor fünf Jahren eingeführt, es sollte ein Testlauf sein. Der Testlauf bewährte sich und das System setzte sich durch. Da sich das Leben der meisten Menschen auf die großen Städte konzentriert, hat jede einzelne Stadt sein eigenes Step-System, welches uns überwacht.

    Ein guter Step verbessert deine Chancen auf einen guten Job, eine schöne Wohnung, mehr Geld, einfach alles. Ich bewege mich mit Step fünfzehn am untersten Rand. Schon immer. Nicht, weil ich nicht gesund leben möchte. Ich schaffe es einfach nicht, alles zu erfüllen. Wann denn auch? Mütter, mit einem höheren Step, können Unterstützung im Haushalt beantragen. Ich nicht. Kinder mit Eltern, die einen höheren Step haben, gehen auf bessere Schulen, bekommen bessere Betreuung, zusätzliche Lernprogramme.

    Welche Unterhosengröße hat Tajo eigentlich nochmal?

    Bamm!

    Es ist nicht wie in Filmen, in denen alle sofort panisch kreischend zu Boden sinken und sich die Situation auf der Stelle offenbart, wenn ein Schuss ertönt. Es ist vielmehr ein Innehalten, Überlegen: Habe ich das jetzt gerade wirklich gehört? Die Umstehenden verharren. Fragen werden laut.

    Dann ist weiter vorne in Richtung der Einkaufsmeile ein Schrei zu hören und schließlich erreicht das Adrenalin meine langsamen Hirnwindungen. Ich erstarre in der Bewegung.

    Ein Schuss. Es war wirklich ein Schuss, der da gefallen ist! Keine Fehlzündung.

    Ein dicker Mann macht einen Schritt zur Seite und da sehe ich es: In einem weiten Halbkreis haben sich Schaulustige versammelt, während die Attraktion ein Junge mit einer Pistole, in der Mitte steht. Die ist nicht so lustig bunt, wie die Dinger, die Tajo so liebt, von einer namhaften Marke, die wirklich nervt. Diese Pistole ist schwarz und richtig echt, wenn ich das so fachmännisch als eingeschworene Jungsmutter beurteilen kann. Noch bin ich mutig, kann mit einigem Abstand den Jungen anschauen. Das ist spannend. Wie er seine Waffe mühsam ruhig hält, den Blick starr auf einen älteren Herrn gerichtet, der die Hände in die Luft streckt. Ich bin nur Teil einer gesichtslosen Menge, die sich zwanglos um diese schreckliche Szene gruppiert.

    »Bitte Mason«, fleht der ältere Mann den Jungen an. Moment, Mason? Die Gehirnwindungen klicken und rattern. Natürlich gibt es viele Masons in dieser Stadt. Doch dieser Mason kommt mir bekannt vor. Ein Bild drängt sich in mein Bewusstsein. Spaghetti mit Soße. Ein kleinerer Mason, der neben Elli auf der Küchenbank sitzt und kichert. Das ist Jahre her und ich weiß nicht mal, ob Elli wirklich noch mit ihm befreundet ist. Trotzdem verliert die ganze Szene plötzlich ihre Anonymität, sie wird so real, als wäre der schleimige Alien aus dem gleichnamigen Film plötzlich aus der Leinwand herausgefallen und säße nun sabbernd auf meinem Schoß. Mein Herz schlägt schneller.

    Mason ist in Ellis Klasse. Mason steht jetzt da, eine Pistole in der Hand und zielt auf einen Menschen. Er brüllt etwas und Spucke fliegt ihm aus dem Mund. Ich atme tief durch und versuche ihm zuzuhören. Worum geht es? Was treibt diesen Vierzehnjährigen dazu, so etwas zu machen? Mein Hirn spaltet sich. Ich versuche einerseits heraus zu finden, ob Elli irgendwas damit zu tun haben könnte und andererseits, die Szene im Blick zu behalten.

    »Ich will deine Sicherheit nicht mehr!«, brüllt der Junge namens Mason. »Du wirst mich in Ruhe lassen, ein für alle Mal! Ich komme nie, nie wieder zu dir! Hör auf mich zu kontrollieren und zu überwachen. Diese Überwachung macht mich krank. Krank, hörst du?«

    Alarm, Alarm! Schrillt es in meinem Kopf. Dieser Text könnte im Originalton von Elli stammen. Genau diese Worte hat sie vor zwei Wochen zu mir gesagt. Ich habe gedacht, was sie sagte, hätte irgendwas mit mir zu tun gehabt. Ich dachte, es ginge wirklich darum, was zwischen Elli und mir ist. Oder ist das einfach so eine Phase, in die jedes Kind einmal kommt? Die Sicherheit abzulehnen? Puh. Ist es auch nur eine Phase, dass ein Kind eine echte Waffe auf einen Erwachsenen richtet? Die Abzugs-Drückphase oder so. Da muss jedes Kind durch. Ist ganz normal. Die meisten Eltern gehen dabei halt drauf. Aber wenn das Kind endlich durch ist, und du überlebt hast, wird es wieder angenehmer. Bald erscheint sicherlich so ein Buch auf dem Markt: »Hilfe, mein Kind bedroht mich mit einer Waffe, was soll ich tun? 10 Wege, um die Abzugs-Drückphase zu überleben.« Oder: »Wie du die Drohungen deines Nachwuchses als Entwicklungschance nutzt.« Oder: »Umarme deinen tödlichen Nachwuchs.«

    Ja ok, ich gebe zu, ich fange an blödes Zeug zu denken, wenn es richtig brenzlig wird. Gerade jetzt sehe ich, wie der ältere Mann, einen halben Schritt auf den Jungen zugeht. Die Menge seufzt. Jeder weicht einen Schritt zurück, fort von der Szene. Man möchte ja in Frieden gaffen, aber nicht am Ende selbst ins Fadenkreuz geraten. Die Waffe zittert. Ich sehe Schweißperlen auf der Stirn von Mason. Dann sehe ich noch etwas anderes. Etwas, das mir buchstäblich eine Horde wilder Hornissen durch die Eingeweide treibt: Hinter Mason stehen ein paar Jugendliche im selben Alter. Zwischen ihnen erkenne ich eine schmale, schwarzgewandete Gestalt mit leuchtend rotem Haar.

    Elli!

    Masons Waffe schwankt zur Seite. Die Menschen neben mir weichen zurück. Ich sehe zur Seite und dann wieder auf Mason und Elli. Und schnappe nach Luft. Mein Herz bleibt stehen, stolpert und rast dann weiter. Ich sehe direkt in die Mündung der Pistole. Ich muss Ellis Namen laut ausgesprochen haben. Das war mir nicht bewusst. Oh, Scheiße!

    »Du!«, brüllt Mason und winkt mir mit der Waffe. Ich zucke zusammen. Wie fahrlässig. Beinahe will ich ihm zurufen: »Sei vorsichtig!«, der blödeste Mütterrat aller Zeiten. Aber ich schweige und trete nur artig ein Stück vor, wie er es mir bedeutet. Jetzt stehe ich ganz allein in einem weiten Rund von Menschen, die nichts mit mir zu tun haben wollen.

    »Ich kenne dich!« Masons Stimme überschlägt sich.

    »Ich weiß«, flüstere ich und suche Ellis Blick. Doch sie weicht meinem aus. Ich kann sehen, wie ihre Wangen glühen und ihre Augen riesig werden.

    »Du hast bei uns Spaghetti gegessen, erinnerst du dich?« Ich weiß selbst nicht, woher ich gerade diesen mütterlichen Plauderton nehme.

    »Ruhe!«, brüllt Mason, denn wenn ich weiter über Spaghetti rede, verliert er seine Autorität, das ist ihm klar. Mir auch. Ich schweige also. Mein Magen dreht sich und mir wird übel. Mein Herz spielt verrückt. Kann man vor Angst sterben?

    Der ältere Mann wendet sich mir zu und als er mich ansieht, meine ich, auch ihn zu erkennen. Er ist ein Onkel von Mason. Er sieht viel älter aus als damals, als er Mason ab und zu bei uns abgeholt hat. Klar. Bei einem Neffen, der mich mit der Waffe bedroht, würde ich umgehend auch alt aussehen. Ich meine sogar gerade jetzt meine Haare grau werden zu spüren.

    »Mason, das ist Emma Hahnenfuß, lass sie doch aus dem Spiel«, versucht Masons Onkel es mit Vernunft.

    »Frag doch mal ihre Tochter, ob ich sie aus dem Spiel lassen soll!«, schreit Mason wütend und funkelt seinen Onkel an. »Sie hat bestimmt auch schon einen Termin bei Dr. Famus gebucht. Gib es zu, Ellis Mutter!«, richtet er sich nun an mich.

    Ich schaue erneut zu Elli, die sich hinter einen breitschultrigen Jungen duckt, als wollte sie von der Erdkugel verschwinden. Eingesaugt werden, ins Erdinnere, glühende Lava. Ich kann sie verstehen, so geht es mir auch. Die Hornissen in meinem Magen proben einen Aufstand. Sie müssen mich erwischt haben, meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt. Ich bin eine Maus in einer Falle namens Mason. Moment. Was hat er gesagt? Ich sollte zuhören. Zuhören, Emma! Ich soll einen Termin bei Dr. Famus gebucht haben? Dem bekanntesten Psycho-Doktor der ganzen Stadt? Ich? Für Elli? Niemals hätte ich genügend Step-Punkte, um das zu schaffen. Ich schüttele nur sprachlos den Kopf.

    »Hört endlich auf, uns mit eurer Angst in Fesseln zu halten! Und stellt diese kranke Technologie ab, die unseren Kopf durchleuchtet, die alles sieht, was darin ist. Dann ist man plötzlich schuld und eine Gefahr! Eine Gefahr für sich, eine Gefahr für alle. Hier habt ihr eure Gefahr! Ich bin die Gefahr!«, brüllt Mason und seine Waffe beschreibt einen Bogen durch die Luft. Die Menschen weichen mit einem Aufstöhnen ein Stück zurück. Jetzt, spätestens jetzt müsste ich doch sterben. Kiloweise Eiswürfel scheinen in meinen Magen zu krachen. Mein Atem ist zu flach. Doch anstatt zu sterben, gehe ich einen kleinen Schritt näher auf Mason zu. Der Junge starrt mich an, seine Augen funkeln. Er wirkt wie diese Stiere in der Arena, wenn sie Rot sehen. Ich fange Ellis Blick auf. Er ist so voller Angst, dass ich eines ganz sicher weiß: Mason wird schießen. Ich kann es an ihren Augen erkennen.

    »Bleib stehen! Keine Bewegung«, knurrt er.

    »Ich bleibe stehen«, sage ich, stelle meine Einkaufstasche vorsichtig neben mich und hebe die Hände.

    »Ein Computer hat gesagt, dass ich falsch bin, weil ich nicht tue, was sie wollen!« Masons Stimme klingt wie in der Werbung, reißerisch und überzeugend. Er wirft einen Blick auf die Umstehenden, die ihn in einer Mischung aus Angst und sensationslüsterner Freude anstarren.

    »Er gibt mir Medikamente, damit ich still hinnehme, was sie mit mir machen wollen, damit ich gehorche!«, fährt er fort und ich kann den Widerspruch in der Menge geradezu spüren. Auch Mason scheint es zu spüren, denn er fährt lauter fort: »Er kann meine Persönlichkeit nicht ausradieren, mich nicht zu einem Zinnsoldaten des Systems machen. Dann ist nichts mehr übrig von mir. Dann könnte ich genauso gut Mavrobie haben und sterben!«

    Er ist gut. Wirklich gut. Ich hänge an seinen Lippen. Hat er etwa recht?

    »Ich will keine leere Hülle werden, hörst du?«, brüllt Mason seinen Onkel an. Der zuckt zusammen und krümmt sich, als würde er geschlagen. In der Menge werden ein paar Pfiffe laut, es gibt Zustimmung.

    »Ich will mein Leben nicht in Sicherheit verbringen, ich will leben!«, brüllt Mason weiter. Das alles kommt mir bekannt vor. Etwas Ähnliches habe ich schon aus einem viel vernünftigeren Mund gehört. Nein, nicht Elli. Elli und vernünftig? Haha. Ähnliche Worte hört man vom großen Jave Aneway, dem Verfechter der Natürlichkeit, der Unsicherheit. Den Verfechter des wahren Lebens mit Gefahr. Ist Mason ein Anhänger von ihm? Hat Elli irgendwas mit ihm zu tun? Ausgerechnet mit diesem neocoolen Jesus-Verschnitt? Oh Mann. Wie habe ich das nur verdient? Mir ist schlecht. Kotz-spei-übel. Elli, wer sind deine Freunde? Habe ich dich verloren?

    Ich könnte Mason noch eine Weile zuhören, wie er so für sich lamentiert, ein vierzehnjähriger Knilch mit der Sprache eines achtzigjährigen Philosophen. Aber der hat wohl genug von seinem eigenen Vortrag. Er geht einen Schritt auf seinen Onkel zu und sein Finger bewegt sich gefährlich über dem Abzug. Totenstille um uns her.

    Er wird schießen.

    Ich kapiere in diesem Augenblick, dass uns keiner retten wird. Wir werden von einem Jugendlichen angegriffen und niemand ist da, der uns rettet! Ist hier kein Erwachsener, der diesen Buben zu sich bringt? Hilfe! Ich bin ja selbst eine Erwachsene. Also muss ich wohl etwas tun. Nur was? In mir tobt das Chaos. Gedanken, Worte, Erinnerungen, Panik.

    Ruhe! befehle ich meinen unkonzentrierten Gedanken. Nicht gerade jetzt durchdrehen. Jetzt brauche ich Aufmerksamkeit, keinen Fliegenschwarm im Kopf. Ich brauche eine Idee.

    »Mason, sieh mich an«, sage ich leise und meine Stimme trägt viel weiter als ich gedacht habe (peinlich, Mist!). Er will sich weigern, schon aus Prinzip nicht tun, was ein Erwachsener von ihm will. »Mason«, wiederhole ich klar. Dann gleitet sein Blick in meinen und ich schaffe es, ihn wirklich zu festzuhalten. Der Fliegenschwarm in meinem Kopf beruhigt sich.

    »Ruhe, Mutter von Elli!«, kommandiert Mason, doch sein Blick bleibt mit meinem verschränkt. Sag ich doch. Ruhe.

    »Du bist wütend, Mason«, sage ich leiser. Er stockt. Ich sehe, wie seine Lippen zu einem Strich werden. Sein Blick wird härter. Aber er gibt mir keine Befehle mehr. Das bestätigt mich. Meine flatternden Gedanken bündeln sich. Ich kann mich konzentrieren.

    Einen halben Schritt näher. Dann spüre ich seine Zerrissenheit. Ich spüre sie, fast wie eine Wunde, seinen Schmerz, abgespalten, getreten, misshandelt, nicht – angenommen.

    »Die Erwachsenen haben gegen deinen Willen gehandelt. Jetzt wollen sie dich verbiegen, damit du anders bist«, wiederhole ich einfach nur, was er gesagt hat und taste mit meinem Gefühl nach seiner Zerrissenheit. Es ist schwer, er ist viel extremer als Elli es jemals war. Da ist etwas Düsteres, das in ihm tobt. Wut. Verzweiflung. Einsamkeit.

    Er keucht und ich sehe, wie die Waffe unkontrolliert schwankt. Aber jetzt ist es wie damals, als Elli sich den Arm gebrochen hatte. Ich kann nicht hysterisch werden. Ich muss etwas tun.

    »Mason«, sage ich sanft. »Wenn du jetzt abdrückst, dann wird alles noch viel schlimmer.« Nur ein Flüstern und dennoch weiß ich, dass er mich verstanden hat.

    Die Waffe sinkt einen halben Zentimeter.

    Noch ein wenig.

    Ich sende ihm Wärme und versuche ihn zu flicken. Notdürftig zu sich zu rufen. Meine Energie schwindet, es ist so schwer. Er ist so weit weg von sich selbst. Was ist ihm nur passiert, dass er so abgespalten wurde? Ich merke, wie sein Schmerz auf mich überschwappt.

    Die Waffe sinkt.

    Durch die Totenstille, die auf dem Platz herrscht reißt ein schriller Ton. Der Ton einer Sirene. Bremsen quietschen, ein Lautsprecher ertönt. »Lass die Waffe fallen!«, brüllt die Stimme über den Platz. Der Moment ist vorbei, ich verliere Mason und seinen Blick.

    Bamm. Bamm.

    Zwei Schüsse ertönen. Schockartiger Schmerz in meiner Seite. Alles wird schwarz.

    2

    Jave

    Ein weiterer Termin. Der 25. 05. 7.30 Uhr. Nur eine trockene Zahl für den Arzt. Einsen und Nullen im Computer. Und eine Welt voller Schmerzen für ihn. Obwohl er jetzt vierunddreißig Jahre alt ist, haben sie ihn nicht gefragt, ob er will. Haben sie noch nie. Und sein Körper hat ihn im Stich gelassen. Er ist zu reich und zu müde um sich zu wehren. Diese weitere Korrektur ist nötig, sonst würde er früher sterben.

    Sagen sie.

    Doch was ist früher? Morgen? Früher als andere? Früher als sein eigentlicher Sterbe-Termin? Und wie soll er je wissen, ob sie wirklich geholfen hat, diese Operation? Wer sagt ihm denn, wann sein natürlicher Sterbe-Termin ist und inwiefern er verschoben wurde? Feilscht er nicht ständig mit dem Sensenmann, seit er nicht geboren werden sollte?

    Sein Vater hat ihn beschworen, zu tun, was die Ärzte ihm empfohlen haben, denn er hat die Kontrolle über seine Muskeln erneut verloren. Doch jetzt ist der Vater nirgends zu sehen. Jetzt ist Jave ganz allein in seinem Zimmer mit Blick auf den Park. Und er spürt Angst wie ein nagender Hunger tief in sich. Es fühlt sich genauso an, als hätte er ständig Hunger. Es ist ein schmerzender Hunger, der niemals endet. Wenn er doch nur ein einziges Mal die Nahrung finden würde, die diesen Hunger stillt. Aber all die vielen Briefe und Anrufe, die an den berühmten Jave Aneway gerichtet sind, berühren ihn nicht. Es ist, als wäre er gar nicht selbst gemeint. Sie fragen nie nach ihm. Sie fragen immer nur nach sich selbst. Wie sie etwas entscheiden sollen. Ob sie sich fürchten müssen. Wie sie mit ihren Kindern umgehen müssen. Wie sie mit ihrem Schmerz klarkommen können. Sie fragen, wie sie sich wehren können und was er tun wird, um das System zu sprengen. Sie fragen, ob es Krieg geben wird. Sie fragen, wann es endlich vorbei ist. Sie fragen, wann die Welt wieder wie früher ist. Er fragt sich, was sie sich einbilden, wie sie früher war? Haben sie sich in ihrem Kopf ein vergangenes Paradies zusammengelogen?

    Er spürt, wie die Tablette, die er bekommen hat, langsam zu wirken beginnt. Er kennt das taube Gefühl, das sich in seinem Körper und seinem Kopf ausbreitet nur zu gut. Von all den Operationen und Korrekturen zuvor. Alles wird betäubt, aber nicht dieses schreckliche, nagende Hungergefühl, das er ständig mit sich herumträgt. Es wird sogar noch stärker, jetzt, da er hilflos in diesem weißen Krankenhausbett liegt, mitten im Luxus, wie in einem goldenen Käfig. Jetzt hat er schon vierundvierzig Operationen hinter sich und hat keine Angst mehr davor zu sterben, wie damals als Kind. Was er fürchtet, sind nur die Dämonen, die sein Bett belagern werden, sobald er wieder aufwacht. Die Schmerzen, die er dann haben wird, die ihn immer und immer wieder in diesen Abgrund stürzen und seinen Dämonen Zugang zu ihm verschaffen. All die düsteren und schwarzen Gedanken. Er kann sich nicht wehren, wenn die Schmerzen so stark sind. Er ist ihnen ausgeliefert. Das macht ihm Angst. Er fürchtet sich so sehr!

    Jave tastet nach der Fernbedienung, noch spürt er seine Hand, und zappt wahllos durch die hundertsechzig Programme, die er zur Verfügung hat. Ablenkung sollte helfen, damit er nicht schon vorher abstürzt. Eine Sitcom. Eine Talkshow. Eine Sendung über Technognose, eine Form der Diagnose durch einen Computer, die sein Vater erfunden hat. Werbung. Mehr Werbung. Nachrichten. Seine Hand wird taub, er kann nicht mehr wegzappen. Sein Kopf sinkt zur Seite. Und dann weiß er nicht mehr, ob er wirklich sieht, was sie da zeigen:

    Ein Amateurvideo, verwackelt und Schemenhaft. Oder ist es diese Tablette, die es so schwer macht, etwas zu erkennen? Ein professioneller Berichterstatter erklärt: »Diese Szene spielte sich heute auf dem Pedibusplatz ab. Unglaublich! Ein Akt der Selbstlosigkeit von dieser Emma Hahnenfuß… doch seht selbst.« Jave blinzelt. Gerne würde er sich ein wenig aufrichten. Er starrt auf den Flachbildschirm. Sieht im Hintergrund den 4two, einen ungepflegten Bau im Lowstepbereich der Stadt. In einem weiten Kreis stehen Leute. Die Angst geht um wie der Schwarze Mann. Dann sieht er einen Jungen in der Mitte des Kreises stehen, auf der einzigen freien Fläche. Der Junge kommt ihm bekannt vor. Oh, fuck! Ist das echt der schüchterne Mason? Mason wedelt mit einer Pistole und richtet sie auf einen älteren Herrn und eine Frau, etwa in Javes Alter, die in seinem Fokus stehen. Ein Festmahl für Dämonen, diese Szene. Er kann sie sogar auf diesem Video erkennen. Düstere Schatten. Sie haben hier sogar Form angenommen. Menschliche Gestalten, verwischt im Film. Sie nähren sich von der Angst, werden stärker und lähmen all die Umstehenden so sehr, dass sie nichts unternehmen können. Wie das Reh, geblendet vom hellen Scheinwerferlicht des nahenden LKWs, stehen sie einfach da, abgeschaltet und bewegungsunfähig.

    Doch Jave erkennt jetzt, was passiert. Er kann die weibliche Gestalt sehen, die in der Mitte, genau gegenüber des Amokläufers, steht. Sie hat rotes Haar, das fast zu leuchten scheint. Ein energisches Kinn im Profil. Keine Dämonen bei ihr. Das ist das Erstaunlichste. So etwas hat er noch nie gesehen. Er möchte die Szene weiter beobachten. Er möchte sehen, was passiert. Er will unbedingt wissen, wer diese Frau ist. Wo sind die Dämonen, die sie in genau so einem Moment aussaugen müssten wie einen wohlschmeckenden Drink?

    »Herr Aneway«, wie durch dicke Watte hört er eine Stimme von der Zimmertür her. Eine Pflegerin. Sie greift nach seinem Arm, überprüft die Infusionen, die sie schon gestern gelegt haben. Er lässt sie gewähren, starrt weiter auf das, was er nicht glauben kann.

    »Es ist so weit, wie geht es ihnen?«

    »Moment«, will er rufen. »Moment, stopp, ich will das noch sehen!«, doch es kommt nur ein unverständliches Gurgeln aus seinem Mund. Sie haben ihn bereits so ausgeknockt, dass er nichts mehr tun kann.

    »Schon gut«, sagt sie beruhigend, als hätte sie die Aufregung in seinen genuschelten Worten gehört. »Wir geben auf sie Acht, Herr Aneway«. Sie klappt die Bremsen des Bettes hoch, damit sie ihn liegend aus dem Zimmer rollen kann. Will ihm die Fernbedienung aus der Hand nehmen. Doch er hält sie fest. So fest. Mit größter Anstrengung schafft er es, den Kopf in Richtung des Fernsehers zu drehen, als sie sein Bett vorwärts bewegt, auf die Zimmertür zu. Und da sieht er es.

    Die rothaarige Frau im Video geht einen winzigen Schritt auf ihren Angreifer zu und sie spricht zu ihm. Mit ruhiger, beinahe beschwörender Stimme. Jave kann sehen, wie sich ihre Blicke treffen und dann passiert es. Oder bildet er es sich in seinem künstlichen Delirium nur ein? Nein. Er muss es wirklich gesehen haben. Die Dämonen lassen von dem Amokläufer ab. Licht durchströmt seine Gestalt. Licht flackert um Mason, nur ganz sanft, aber es ist da. Und dann ertönt der Schuss. Er zuckt innerlich zusammen.

    ***

    Die Schwester rollt ihn endgültig aus dem Zimmer. Jave schließt die Augen und fällt hinab in die Schwärze der Narkose. Doch da ist dieses Licht, das er um die Gestalt des Amokläufers herum gesehen hat. Er ist sich sicher. Er hält sich daran fest. Und er weiß, sie, diese Frau, sie hat das Licht gerufen, sie hat etwas getan, und die Dämonen verjagt. Sie hat dem Amokläufer das zurückgegeben, was er verloren hatte: Kraft, sich gegen die Dämonen zu wehren. Doch der Schuss. Da war ein Schuss. Oder?

    3

    Jave

    »Ist sie tot?«

    Die Frage schwebt durch den klinisch reinen Raum und scheint keinen Zusammenhang zu haben. Der Arzt, Dr. Rabes, der die Messwerte seines berühmten Patienten überwacht, fährt erschrocken herum. Er hat nicht bemerkt, dass Jave schon wach ist. Ist er wach? Seine Augenlider flackern.

    »Ist sie tot?«, fragt er jetzt eindringlicher und der Arzt hört in seiner Stimme die Befehlsgewohnheit des reichen Jungen. Er unterdrückt mit Mühe ein Seufzen. Wie oft war Jave in den letzten Jahren schon hier? Wieviel Schmerz kann selbst ein reicher, verwöhnter Junge überhaupt ertragen? Er ist kein Junge mehr, das weiß er. Aber jetzt, wenn er so hilflos daliegt, da erinnert sich der Arzt genau, wie er als Kind dort lag. Dürr und verängstigt. Damals waren die Eingriffe noch heftiger, die Schmerzen hielten tage - ja wochenlang. Heute wird er leichter davon kommen.

    »Wer ist tot?«, fragt Dr. Rabes jetzt mit dieser beruhigenden Stimme, die er für alle Patienten hat.

    »Sie«, murmelt Jave und öffnet mühsam die Augen einen Spalt breit. »Sie - sie wurde erschossen!«

    Dr. Rabes runzelt die Stirn und beugt sich über seinen Patienten. Er hat ihn schon so oft aufwachen gesehen. Schreiend. Um sich schlagend. In vollständiger Panik oder still weinend, als er noch kleiner war. Vor Wut brüllend, als er älter war. Aber jetzt wirkt sein Blick klar, wenn auch angespannt, beherrscht.

    Zuerst will er ihn beruhigen, will ihm sagen, dass niemand erschossen wurde, doch er verstummt unter Javes Blick und bringt schließlich nur ein Wort hervor:

    »Wer?«

    »Diese Frau. Auf dem Pedibusplatz.«

    Die Tür öffnet sich und eine Pflegerin huscht herein. Sie muss Javes Satz gehört haben und plappert begeistert dazwischen: »Emma Hahnenfuß? Sie wurde getroffen! Von einem Vierzehnjährigen. Das muss man sich mal vorstellen! Aber sie hat scheinbar überlebt. Sie haben sie in die Pedibusklinik gebracht. Tja. Lowstep, fraglich, ob sie sie retten können.«

    »Pedibusklinik?«, lallt Jave jetzt gereizt und flüstert, kurz bevor er zurück in die Betäubung sinkt: »Dann machen Sie was. Verstanden? Machen sie irgendwas!«

    4

    Emma

    »Mama?«

    Ich bin tot. Ich bin tot und noch immer nennt mich jemand Mama. Bin ich jetzt die Mutter von hundert kleinen, immer brennenden Teufelchen?

    »Mama!«

    »Was muss ich tun? Hast du Hunger? Soll ich dir den Popo abwischen?«

    »Hör auf!«, sagt eine wütende Stimme, die sofort in ein leicht hysterisches Lachen umschlägt. Es ist mehr ein Automatismus als ich versuche, meine Augen zu öffnen und etwas zu erkennen. Flammen, Chaos, das Ende. Die Hölle ist mintgrün gestrichen, wie erstaunlich. Wer hätte das gedacht.

    »Du bist so peinlich!«, knietscht die Stimme und ich kneife die Augen wieder zu und seufze. Es hat sich nichts geändert, meine Teufel sind in der Pubertät.

    »Du musst jetzt einfach still sein und die Augen aufmachen. Du bist im Krankenhaus. Es tut mir so leid, Mama«, jetzt klingt die Stimme theatralisch. Ich höre Tränchen darin. Aber eine etwas tiefere Stimme fügt an: »Du hast einen voll krassen Streifschuss, Mama, so cool! Linus hat nur eine Mutter, die einen gebrochenen Zeh hat. Interessiert niemanden, echt.«

    »Der Arzt hat dich zusammengenäht, wie Ellis Puppe, als Tajo ihr den Arm abgerissen hat! Mit Nadel und Faden, aber er hat keine Nähmaschine! Ich habe den Arzt gefragt.« Die gepiepste Erklärung katapultiert mich aus meiner Hölle in die Realität.

    »Muck? Elli? Tajo?«

    Ich habe überlebt und darf in meinem eigenen Leben weiterschmoren. Tja. Die hundert Teufelchen müssen noch eine Weile im Waisenhaus der Hölle köcheln. Da kann ich ihnen nicht helfen. Sie werden einen psychischen Knacks bekommen und einen satanischen Kult eröffnen und richtig teuflisch werden. So ist’s recht.

    »Ich bin so froh euch zu sehen«, hauche ich und dann spüre ich Mucks klebrige Hände auf meinen Wangen, bevor er mir einen feuchten Kuss auf die Backe drückt. Tajo tätschelt mir unbeholfen den Kopf. Elli heult schon wieder. »Es tut mir so leid«, schluchzt sie und ich erinnere mich kurz daran, wie ich sie vor dem Spiegel habe üben sehen: heulen auf Knopfdruck. Dabei noch gut aussehen.

    Jetzt umarmt Elli mich und flüstert mir zu: »Du darfst auf keinen Fall mehr solche peinlichen Sachen sagen, ok? Mama? Am besten sagst du gar nichts. ER ist nämlich hier!«

    ER? Wer ist ER? Habe ich da was verpasst? Elli löst sich von mir und ich folge ihrem Blick. ER sitzt neben dem Bett meiner Zimmernachbarin und ist deutlich zu alt, um von meiner Tochter angehimmelt zu werden. Die Zimmernachbarin schläft und ich kann ihr Gesicht nicht sehen, weil es zum Teil durch einen Verband verdeckt wird. Kabel führen in sie hinein oder aus ihr heraus, was auch immer. ER jedenfalls, kommt mir bekannt vor. Aber ich habe keinen Schimmer woher. Er trägt einen Dutt am Hinterkopf und sieht blass aus. Er hat kräftige Arme und Schultern und ist ansonsten schmal, wahrscheinlich steht Elli deshalb auf ihn. Moment! Elli ist mein Baby, seit wann steht sie auf Männer? Vor allem auf Männer Mitte dreißig! Er nimmt weder Notiz von Elli (zum Glück!), noch von mir. Er starrt auf sein Handy. Dann neigt er sich einen kurzen Moment über das Bett meiner Zimmernachbarin und verlässt grußlos den Raum.

    »Das war Jave Aneway!«, presst Elli kichernd heraus, irgendwo in der Tonlage, in der Fledermäuse sich normalerweise unterhalten und ich sehe in ihrem Blick diesen fiebrigen Glanz, den die Mädchen haben, wenn Stars in ihrer Nähe auftauchen. Jave Aneway ist allerdings ein Star. Er tritt in Talkshows und bei YouZUF auf. Weshalb noch gleich? Ich zermartere mir mein Hirn und stoße auf schwammigen Nebel. Der Nebel wird immer schwammiger. Er legt die dicken Arme um mich und schließt mich ein. Schlaf greift nach mir.

    »Mama?«

    »Wir müssen Ralf und Craz anrufen«, murmele ich völlig neben mir.

    »Ich hab das schon gemacht, Mama. Ralf holt uns alle ab und bringt uns zu Oma. Und Craz kann Muck dann am Abend dort abholen«, erklärt Elli. »Außerdem hab ich wegen deiner Arbeit im Hotel und bei Jeanette im Hundesalon angerufen, sie weiß Bescheid und wünscht dir gute Besserung.« Sie klingt so erwachsen und sogar an den Job bei Jeanette hat sie gedacht. Wow!

    »Ich will nich’ zu Craz«, wimmert Muck. Ich schlucke und habe das Gefühl, mein Herz würde über so einer metallenen Zitronenpresse ausgedrückt. Am liebsten würde ich heulend zusammenbrechen. Mein Hirn funktioniert noch nicht richtig, mir tut alles weh, ich liege hier gefesselt und mein Kind weint, weil es nicht zu seinem Vater will. Ich bin die mieseste Mama der Welt. Definitiv. Wie kann ich mich einfach anschießen lassen?

    Eigentlich dürfen Mütter nicht krank sein. Schon gar nicht erschossen. Eigentlich sollte es eine Versicherung für Mütter geben, dass sie auch weitermachen können, wenn ihnen die Beine weggemäht werden oder der Kopf wegfliegt. Sie sollten einfach ein paar homöopathische Kügelchen bekommen und dann zum Wäscheaufhängen gehen dürfen und pädagogisch wertvoll die Hausaufgaben betreuen. Ohne Kopf eben. Und ohne Beine. Egal. Denn niemand kann den Job von Mamas machen, so ist das in Wirklichkeit. Ich war nicht mehr krank, seit Elli auf der Welt ist und wenn ich es eben doch war, dann habe ich so getan, als wäre ich es nicht. Hat geklappt. Aber jetzt, da sie mich ohne Nähmaschine zusammengeflickt haben, jetzt funktioniert das nicht. Da kommen die beiden Väter meiner Kinder ins Spiel: Ralf, der Vater von Elli und Tajo und noch schlimmer, Craz, der Musiker, der Papa von Muck.

    O je. Nach dieser exquisiten Betreuung werde ich mir meine hundert Teufelchen zurückwünschen, denn es reicht, dass Papa-Wochenende ist, damit meine Kinder komplett verdreckt, klebrig und hysterisch am Sonntagabend durch unsere Wohnung rasen. Tajo mit Gameboy und Elli mit einem neuen Tattoo, während Muck nach Zucker schreit.

    Ich kann nichts tun. Ich fühle mich schrecklich und hilflos. Dann wird es dunkel um mich und ich verliere das Bewusstsein schon wieder. Als ich endlich erwache, sind meine Kinder schon weg. Sie fehlen mir. Vor allem Muck, denn er ist erst vier und hängt sehr an mir. Craz liebt seinen Jungen, hat aber kaum Zeit für ihn, da er ständig arbeitet, vor allem nachts.

    Doch ich werde von meinen düsteren Gedanken abgelenkt, es stellt sich heraus, dass einer meiner größten Wünsche in diesem Augenblick in Erfüllung geht: Ich muss nicht selber kochen! Gerade jetzt kommt eine Pflegerin herein. Im weißen Mieder, das um ihre knochige Gestalt schlottert, serviert sie mir Abendessen. Mit ein bisschen Kerzenschein würde ich doch tatsächlich denken, ich wäre seit vierzehn Jahren zum ersten Mal wieder in einem Restaurant. Im kurzen OP-Kleidchen, hinten offen, der letzte Schrei. Hübsch hergerichtet mit passenden Augenringen, aufgeschwemmt durch die Schmerzmittel.

    Abendessen, das ich nicht selber kochen muss. Ein Fest.

    »Das ist wie in einem Sternerestaurant«, murmele ich. Die Pflegerin wirft mir einen irritierten Blick zu und knallt mir das Tablett hin. Helles Brot, labriger Käse, ein Stück Gurke um das schlechte Gewissen zu beruhigen. Nicht unbedingt die Art Essen, die ich gerne mag, aber wer fragt schon danach, wenn er es nicht selbst herrichten muss? Ich lasse mich in die Kissen sinken und werfe einen Blick zur Seite. Neben mir im Bett, brav aufgereiht und auf den Flachbildschirm ausgerichtet, liegt eine Elfe. Sie haben ihr offenbar die Verbände abgenommen. Jetzt sehe ich, wie hübsch sie ist. Elfenkönig Kasimir hat sie vergessen, als er aus unserem Reich floh. Jetzt liegt sie im Sterben, weil ihr der Zauberstaub fehlt. Tja, wenn nur jemand in diesem Krankenhaus Zauberstaub hätte, würde sie erwachen und wenn sie lächelte, würde jedes Mal ein schönes Baby gesund geboren werden. Was ist in den Schmerzmitteln drin? Ich will mehr von dem Zeug, das rockt!

    Jetzt blinzelt sie und öffnet die riesigen Augen. Graue Elfenaugen mit langen Wimpern. Sie mustert mich einen Moment, dann grinst sie schmerzverzerrt und flüstert heiser: »Ich hab mir solche Mühe gegeben, bin acht Meter in die Tiefe gestürzt, nur um dann von dir ausgestochen zu werden – einer Mama, die erschossen wird und ohne Nähmaschine zusammengeflickt!«

    Wenn eine Elfe erwacht und so einen Satz zu einem sagt, muss das doch der Anfang einer wunderbaren Freundschaft sein. Oder nicht?

    5

    Jave

    »Sie ist ganz nett«, hat Maily ihm gesagt. »Aber bestimmt nicht das, was du suchst!«

    Er hat ihr einen Blick zugeworfen und Maily ist ihm ausgewichen. »Sie ist

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