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Könnte schreien: Band 1
Könnte schreien: Band 1
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eBook461 Seiten6 Stunden

Könnte schreien: Band 1

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Über dieses E-Book

AUFBRUCH IN EIN NEUES LEBEN

Eine junge Frau bricht alle Brücken hinter sich ab, um sich von den Zwängen ihres Elternhauses und dem Muff der Kindheit in einer typischen deutschen Kleinstadt zu befreien. Beherzt und unerschrocken geht sie neue Wege, erlebt zahllose Abenteuer, trifft ungewöhnliche Frauen, deren Schicksale sie tief berühren. Sie stellt sich ihren Dämonen und findet auf einer abenteuerlichen Reise in den dunklen Kontinent der menschlichen Seele schließlich zu neuem Selbstvertrauen und nach vielen Umwegen ihre große Liebe. Klug beobachtet und erfrischend originell und humorvoll erzählt: Viele Leserinnen werden sich in Valentina Behrmanns Geschichte wiederfinden. Ein mitreißender und hochemotionaler Roman, über die Lebensreise einer jungen Frau, der Leserinnen Mut macht, selbstbestimmt ihren eigenen Weg zu gehen. Beruht auf wahren Begebenheiten. Eine fesselnde Lektüre und ein Leseerlebnis, das man so schnell nicht vergisst.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Mai 2020
ISBN9783749786794
Könnte schreien: Band 1

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    Buchvorschau

    Könnte schreien - Carola Clever

    EIN ANFANG

    Nachdem ich die Praxistür abgeschlossen hatte, witzelte mein Mann: „Vali, du siehst blendend aus … wie Brigitte Bardot nach der neunzehnten Wurmkur!" Er lachte.

    „Du hast recht", grinste ich zurück. Wenn ich‘s mir recht überlegte, fühlte es sich auch so an.

    Befreit. Glücklich. Zufrieden und geliebt!

    Könnte schreien – vor Glück.

    Zwischen Neugier, Interesse und Fakten besteht ein himmelweiter Unterschied. Wäre damals gut gewesen, wenn ich etwas aufmerksamer, realistischer, vielleicht skeptischer gewesen wäre. Naiv glaubte ich an Liebe, baute auf Vertrauen und setzte Respekt voraus.

    Wollte mehr, als ich zu Hause erlebte.

    Hätte schreien können!

    Es ist jetzt auf den Tag genau sechs Monate her, dass wir unsere Praxis eröffnet haben. Sie läuft ganz gut, sie ist außergewöhnlich, weil Tier und Mensch uns am Herzen liegen. Eine Beauty-Farm für Hund und Katze, Tierarztpraxis, tierische Ferienpension.

    Hier gibt es Erlesenes, Witziges, Praktisches und völlig Irrationales. Eine Mischung aus Friseur- und Waschsalon und medizinischer Versorgung. Eine Ecke für Globuli, Cremes, Kräuter und Pastillen. Ein Supermarkt für Bücher und DVDs, Leckerlies in allen Geschmacksrichtungen, Spielzeug, Leinen und Anziehsachen für unsere zwei- und vierbeinigen Lieblinge. Sie befindet sich in einem Bauernhof aus dem Jahre 1908. U-förmig, zweigeschossig, aus roten Backsteinen erbaut, schließt das schmiedeeiserne weiße Einfahrtstor die Hofschaft ab. Mitten im Hofgelände steht eine imposante alte Kastanie, um deren Stamm sich eine weiße Holzbank wie ein Petticoat drapiert.

    In Augenhöhe habe ich eine Holztafel angebracht mit dem Spruch „Omnia vincit amor. Liebe besiegt alles."

    Zartrosa Hortensienbüsche wachsen und wuchern aus alten, mit Moos überzogenen Steintränken, die vereinzelt im Hof platziert sind. In allen Räumen, Behandlungszimmern, Ruheplätzen und an den Außenwänden gibt es Bretter, Bilder und Stellagen mit Sprüchen und Weisheiten, die den Besucher zum Nachdenken anregen könnten. An sonnigen Tagen, von Frühjahr bis Herbst, plätschert das Wasser aus Amphoren. Springbrunnen und kleine Teichanlagen, die im Innenhof und hinter dem Gebäude im Garten installiert sind, laden zum Entspannen ein.

    Es gibt auch eine Klagemauer, die aus aufgeschichteten Ziegelsteinen am Ende des Grundstücks errichtet worden ist. Die Eltern der vierbeinigen Lieblinge sollen hier zur Ruhe kommen. Früh bemerkte ich ihre Unruhe, Sorge oder tiefe Trauer, die sich bei den Besuchen aus diversen Diagnosen ergaben. Es stehen kleine bunte Farbdosen zur Verfügung, um den Namen des Lieblings auf Stein zu verewigen. Und so wurde für manche aus einer traurigen Steinmauer, die die Aufschrift „Jeder sieht, was du siehst, aber nur wenige fühlen, was du fühlst" trug, eine bunte Erinnerungstafel für ihre Lieblinge. Dienstag und Donnerstag ist Welpen-Spieltag. Dazu bauen wir eine Art Gatter im Kreis auf. Viele Hundebesitzer sitzen dann im Kreis, kommen ins Gespräch und erfreuen sich an ihren süßen Hundebabys, wie sie spielen und toben.

    Montag und Mittwoch trifft man sich im Katzenhaus zum Stelldichein. Ein großer Raum in der Scheune, in dessen Mitte ein riesiger Katzenbaum mit Glöckchen thront. Es gibt unendlich viele Schubladen, Ausbuchtungen und Treppengestelle zum Spielen. Alle sind zufrieden. Wir auch!

    Der Innenhof ist während des Sommers ein ideales Plätzchen, um in aller Herrgottsfrühe meine Yoga- und Qi Gong-Übungen zu praktizieren. Meine Übungsbegleiter sind Picasso und Lucy. Picasso, ein brauner Labrador und Handschmeichler, mit seinen Rehaugen kann er einem die letzten Leckerlies aus der Tüte gucken. Und wenn Lucy, das Schmusekätzchen, dieses flauschige Wollknäuel, sich neben mir langstreckt, spüre ich stets, wie tiefer Frieden und Dankbarkeit mich überwältigen.

    Wir haben natürlich Schmubidubi, Lucky und Katze Sammy mitgebracht. Bei den Übungen liegen sie entspannt in der Hofecke. Als Senioren beäugen sie meinen Aktivismus lieber aus der Ferne. Damals, während meiner Schulferien und einigen Wochenenden, habe ich in dieser Praxis bereits ausgeholfen. Unter liebevoller, fachmännischer Anleitung habe ich viel Praxiserfahrung erworben. Heute bin ich, Dr. Valentina Sarah Mooshammer, fünfundvierzig Jahre alt und leite zusammen mit meinem Mann eine Tierarztpraxis für Kleintiere. Ja, ich bin jetzt rundum glücklich, zufrieden und dankbar.

    Das ist weiß Gott nicht immer so gewesen! Mein Schicksal hat eine gewaltige Wende genommen!

    Endlich finde ich den nötigen Mut und die Gelassenheit, mich an meinen Computer zu setzen. Mein Ehemann, Dr. Maximilian P. Mooshammer, Freund und Kollege, hat mir schon oft geraten, alles einmal niederzuschreiben. Darüber habe ich dann nachgedacht. Bin aber in dem Gedanken hängengeblieben. Unternehme erst jetzt den erneuten schriftlichen Versuch, den Code meiner DNS zu knacken. Mal sehen, was dabei rauskommt! Vielleicht meine zweite Doktorarbeit?

    Es gab Momente in meinem Leben, in denen ich Zweifel hegte und weder an die Macht des Guten noch an mich selbst glauben konnte. Natürlich bin ich nervös und unsicher beim Schreiben, weil ich keine geübte oder gar professionelle Schriftstellerin bin. Doch eine Weisheit, die über meinem Computer an der Wand hängt, hilft mir dabei: „Wenn du etwas haben möchtest, was du noch nie hattest – musst du etwas tun, was du noch nie getan hast!"

    Ja, ich versuche es. Werde hier mein Bestes geben, denn ich will Frauen und vielleicht auch Männer ermuntern, nie, wirklich niemals den Mut zu verlieren. An die Macht der eigenen Kraft und Weisheit zu glauben und die Liebe zu leben!

    UND SO WURDE DAS PÄCKCHEN BEFÜLLT

    Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!

    Vielleicht war ich ungefähr sechs Jahre alt. Wir wohnten in einem schmucken Reihenendhaus in einem Stadtteil von Düsseldorf. Mein Vater Martin Behrmann, zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt, verdiente seine Brötchen als erfolgreicher Handelsvertreter. Bei Hausbesuchen verkaufte er den Leuten Möbel aus dem Katalog, von der Anrichte bis zum Zweiersofa. Für damalige Verhältnisse war sein Vertriebsnetz ungewöhnlich. Studenten liefen in jedem Stadtteil von Tür zu Tür und verteilten seine Hochglanzprospekte in den Briefkästen. Nach dem Lesen der Zeitungsbeilagen forderten potenzielle Kunden seinen Besuch an. Mundpropaganda brachte ihm jedoch den größten Erfolg.

    Meine Mutter Ella, nur ein Jahr jünger, war Hausfrau und Mutter. Sie suchte seit geraumer Zeit Arbeit in ihrem Beruf als Krankenschwester, hatte aber bis dato keinen Erfolg. Es wäre für sie schwierig geworden, Beruf, Kinder, Haushalt und Ehemann unter einen Hut zu bekommen. Sie suchte nicht wirklich.

    An diesem Samstagnachmittag saßen mein Bruder Alexander und ich in der Küche, spielten „Mensch ärgere dich nicht. Ella stand auf einer Leiter im Flur und wechselte Glühbirnen in der Flurlampe. Es klingelte Sturm. Gleichzeitig hörten wir den Schlüssel in der Haustür klappern. Schwungvoll flog die Tür auf. Martin kam schnaubend wie ein Stier ins Haus. Stieß mit der Türkante direkt an Ellas Leiter, fluchte und schrie: „Wie immer stehst du mir im Weg. Sekunden später: „Trägst du eigentlich dein Gehirn im Schlüpfer, oder was? Wie konntest du mich nur so bloßstellen?"

    Ella versuchte, ihr Gewicht auf der Leiter zu balancieren, ruderte mit den Armen und schrie zurück: „Ich bin deine gottverdammten Lügen gewaltig leid."

    Dann folgte ein Schlachtfest der Worte. Wir verstanden keinen Satz. Das beiderseitige Kreischen zerriss alle Worte. Ella, zwischenzeitlich von der Leiter gestiegen, kam zu uns in die Küche. Sie sah aus wie Ente süßsauer, die wir immer beim Chinesen bestellten. Sprachlos, aber mit scheuchender Handbewegung deutete sie aufs Kinderzimmer. Martin, jetzt ebenfalls in der Küche, brüllte: „Haut ab in euer Zimmer, ich hab mit eurer Mutter noch ein Hühnchen zu rupfen."

    Wir sprangen von den Stühlen und rannten aus der Küche. Im Kinderzimmer schlossen wir sofort die Tür. Zitternd saßen wir eng umschlungen direkt hinter der Tür und versuchten zu lauschen. Hörten einen wortgewaltigen Schlagabtausch, wobei Martin definitiv der Lautere war.

    Leise begann ich zu weinen. Schniefte in den Pulloverärmel von Alex, meinem geliebten Bruder. Vor lauter Aufregung musste ich wie immer in solchen Situationen Pipi. Aber für nichts auf der Welt wollte ich jetzt das Zimmer verlassen und unterdrückte den Drang meiner Blase. Kniff mir in den Schritt und heulte noch etwas mehr.

    Plötzlich trat diese gespenstische Ruhe ein. Kein Ton war zu hören. Irritiert und ungläubig schauten wir einander an. Alex fragte: „Was, meinst du, ist passiert? Haben die sich vielleicht verletzt?"

    Ich konnte nicht mehr sprechen und zuckte nur mit den Schultern.

    Dann hörten wir Martins lautes Stöhnen. Das Holz vom Bett quietschte. Das Kopfteil schlug rhythmisch gegen die Wand. Sekunden später war es Ella, die in einem stakkatoartigen Grunzen laute Töne von sich gab. Also ich stöhnte nur, wenn ich mir wehgetan hatte.

    Nervös flüsterte ich Alex ins Ohr: „Meinst du, die haben sich verletzt?"

    Alex’ Lippen waren an mein Ohr gepresst, er flüsterte leise: „Vielleicht ringen sie ja?" Gleichzeitig kaute er vehement an seinen Fingernägeln. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit nagte er los und spukte mit Wucht Nagelstücke und Hautfetzen aus.

    Wir setzten uns aufs Bett. Ich fror, kraterförmige Gänsehaut kroch unaufhaltsam über meinen ganzen Körper.

    Nach gefühlten Stunden flog die Tür auf. Martin sah aus, als wenn er rückwärts durch ein Hühnerloch gekrochen wäre. Die Haare zerzaust, sein gestärktes Hemd an der Brust zerknüllt, stand er strahlend im Türrahmen und meinte: „Wir wollen jetzt zu Abend essen, ihr könnt rauskommen."

    Dabei hielt er die Tür weit auf und pfiff den Kaiserwalzer. Ella wuselte geschäftig in der Küche, summte und sang das Lied von Hildegard Knef: „Für mich soll’s rote Rosen regnen, mir sollten sämtliche Wunder begegnen …" Dabei balancierte sie zittrig und etwas unsicher das Tablett mit Geschirr und Besteck, deckte den Tisch im angrenzenden Esszimmer.

    Es gab eine strenge Tischordnung. Am rechteckigen Tisch war mein Platz vor Kopf! Eigentlich die Position des Entscheidungsträgers. Bei uns nicht. Martin hatte ihn mir zugewiesen. Ella stimmte stillschweigend zu.

    Zu meiner Rechten saß Martin, zu meiner Linken hatte Ella ihren Platz. Alex saß neben ihr.

    Später wurde mir diese wundersame Sitzfolge aufschlussreich und professionell erklärt! Die Ordnungen der Liebe gehen bekanntlich von oben nach unten. Am Tisch: erst Vater, dann Mutter, dann Erstgeborener, Zweitgeborener und so weiter. Mir wurde von den Eltern eine Position zugedacht, die mir so nicht zustand. Ich saß wahrlich zwischen zwei Stühlen. Beide benutzten mich für ihre Bedürfnisse. Natürlich geschah das unbewusst. Mal diente ich als Mittler, mal als heiß begehrtes Objekt der Zuneigung. Als Schiedsrichter oder Bindeglied in ihrer Partnerschaft. Wie beim Schach manövrierten sie mich und uns zwischen den Figuren. Um diese Last zu tragen, brauchte ich Schultern wie ein Wasserbüffel. Gott sei Dank war die Last gleichmäßig auf beiden Schultern verteilt, damit ich nicht aus dem Gleichgewicht kam. Körperlich stark, dafür geistig verbohrt, trug ich über Jahre die mit Wut, Hass und Enttäuschung gefüllten Eimer, beidseitig. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!

    Bei Tisch blieb mir jeder Bissen im Hals stecken. Martin und Ella schienen guter Dinge zu sein, von Zank und Streit war nichts mehr zu spüren. Im Hintergrund konnten wir den Schneewalzer hören. Alex saß in gebeugter Haltung am Tisch. Sein Blick war starr auf seinen Teller gerichtet. Mein Bauch krampfte sich zusammen.

    Ich wollte die Würgeanfälle unbedingt unterdrücken, denn Ella achtete streng auf gute Tischmanieren. Eigentlich war ich bei Tisch eher eine Plaudertasche, aber heute wollte ich auf keinen Fall auffallen, wer wusste schon, was noch passierte, und so stocherte ich weiter lustlos in meinem Essen.

    Am nächsten Tag, als wir aus der Schule kamen, schenkte mir Ella ein Steiff-Tier. Es war ein braunes Stoffhäschen und als Trostpflaster gedacht. Alex bekam den langersehnten Waggon für seine Eisenbahn. Sicher, wir freuten uns, aber diese Geschenke lagen uns auch wie Klumpen im Magen.

    Ein paar Tage danach hörten wir Ella im Büro telefonieren. Das war nichts Außergewöhnliches. Kunden riefen ständig an und Ella machte Termine oder klärte Absprachen. Sie führte das Kassenbuch, machte die Buchhaltung oder fertigte dreidimensionale Zeichnungen für Küchen an. Aber bei diesem Gespräch war sie sehr aufgebracht, hielt den Atem an, wurde rot im Gesicht, drehte die lockigen Nackenhaare mit dem rechten Zeigefinger, immer wieder im Kreis. Nach dem Gespräch lief sie hektisch durchs Haus und suchte ihre Handtasche, obwohl sie da stand, wo sie hingehörte, schminkte sich im Bad, bürstete und toupierte die Haare, zog ihre neuen, totschicken blauroten Pumps an, dazu das passende Kleid mit Mantel. Sie hatte einen erlesenen Geschmack und verließ das Haus nie, ohne dass sie wie aus dem Modejournal perfekt gestylt aussah. Etwas, was sich auf uns übertrug. Morgens reihten wir uns vor Ella auf. Sie unterzog uns einer genauesten Prüfung, achtete auf Frisur, Fingernägel, ausgewählte jahreszeitlich korrekte Kleidung. Sie überprüfte die Farbkombination. Die Schuhe wurden entsprechend Anlass und Wetter gewählt. Unsicher und nervös, ob wir auch das für sie Richtige selektiert hatten, empfanden wir das Anziehen als Qual der Wahl.

    Wir waren kurz zuvor aus der Schule gekommen, wollten gerade die Schularbeiten beginnen, da rief Ella uns aus dem Bad zu: „Zieht euch schnell an, wir müssen sofort raus. Dann setzte sie noch nach: „Wir machen einen Ausflug und Besuch!

    „Aber wir haben doch noch gar nicht zu Mittag gegessen, rief ich hungrig und entrüstet. Alex unterstützte mich. Ella war kurz angebunden und genervt: „Wir holen etwas unterwegs.

    Aus dem Haus und auf der Straße hatte Ella trotz Pumps einen forschen Schritt drauf und ermahnte uns ständig zur Eile. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Wir waren beide an ihrer Hand, flankierten sie. Aber um mit ihr Schritt zu halten, mussten wir rennen. Am Bahnhof angekommen, sahen wir schon den Zug auf seinem Gleis einfahren. Ella zog ihren linken Pumps aus, stützte sich auf der Schulter von Alex auf und massierte ihren Hallux valgus – den schräggestellten großen Zeh, dessen Ballen bei ihr seitlich austrat. Eilig stiegen wir ein. Ella, noch völlig aus der Puste, kaufte beim Schaffner die Fahrkarten und saß dann mit geschlossenen Augen im Abteil. Sie wirkte nervös. Ich durfte am Fenster sitzen. Die ganze Zeit hatten wir nicht gesprochen.

    Dann fragte Alex plötzlich: „Mama, fahren wir zum Zoo?"

    „Au ja, zum Zoo, gluckste ich sofort. Ella sagte ironisch: „Ja so was Ähnliches.

    Die Fahrt war aufregend für mich, weil die Landschaft so schnell vorbeiflog. Auch die Schiffe auf dem Rhein flogen auf dem Wasser. Die Bäume trugen ein helles Grün.

    In Königswinter stiegen wir aus. In einem Blumenladen kaufte Ella einen kleinen roten Blumenstrauß. Entlang der Hauptstraße schaute sie sich jede einmündende Straße an und las das Straßenschild laut vor.

    Bei der fünften Querstraße sagte Ella: „Drachenfelsstraße, hm … hier ist es."

    Wir bogen rechts zum Rhein runter, als Ella vor einem großen Hotel plötzlich wie angenagelt stehen blieb, staunte und meinte: „Aha, also hier ist es!"

    Alex bemerkte wie nebenbei: „Mama, ich dachte, wir fahren zum Zoo?"

    Ella antwortete genervt: „Auf diese Frage hatte ich bereits geantwortet, erinnerst du dich? Sei jetzt still und warte ab, hier kannst du etwas lernen."

    Wir sahen sie fragend an, aber sie gab keine Erklärung. Ihr Blick war auf den Eingang vom Hotel Loreley geheftet. Wir stolzierten zum Empfang. Beim Portier angekommen, sprach Ella mit gedämpfter, freundlicher Stimme.

    „Hallo, guten Tag, ich möchte meinen Bruder Martin Behrmann zum Geburtstag überraschen, er muss hier mit seiner Frau übernachten!" Sie legte den Blumenstrauß auf dem Tresen ab. Während sie noch sprachen, schauten wir uns neugierig im Foyer um. Ich sah ein Aquarium.

    „Hat Ella eben von einem Bruder gesprochen?", fragte mich Alex flüsternd.

    „Ich weiß nicht, ich habe nicht zugehört. Guck mal die Fische da im Becken, sind die nicht toll?", entgegnete ich begeistert. Solche Fische hatte ich mal bei einem unserer Zoobesuche gesehen. Der Anblick einer Schatzkiste mit Perlen und Goldstücken auf dem Boden des Aquariums faszinierte mich.

    Aus heiterem Himmel brach dann die totale Hektik aus. Wir nahmen nicht den Aufzug, der gegenüber vom Empfang lag, sondern Ella sauste in Richtung Treppenhaus und rief: „Schnell, beeilt euch, wir müssen in den dritten Stock. Sie nahm gleich zwei Stufen auf einmal. Wir hatten Mühe, ihr zu folgen. Es war ein sehr langer Flur. Vor Zimmer 313 blieben wir stehen. Alex und ich sahen uns fragend an. Ella holte tief Luft, hielt den Atem an, während ihr gekrümmter Finger morseartig an der Tür klopfte. Mit verstellter Stimme rief sie: „Zimmer-Service.

    „Was wollen Sie, wir haben nichts bestellt!", hörten wir zu unserem Erstaunen Martins Stimme aus dem Zimmer rufen.

    Dann ging alles furchtbar schnell. Ella klopfte erneut. Die Tür wurde plötzlich von einer Frau in Dessous aufgerissen. Schwungvoll schob Ella sie mit der Tür zur Seite und stürzte ins Zimmer mit den Worten: „Ach so sieht dein Geschäftstermin aus! Du Schwein!"

    Wir folgten ihr ins Zimmer. Martin lag auf dem Bett und hatte den Mund weit aufgerissen, aber kein Laut war zu hören. Sechs Augen fixierten ihn. Ungläubig starrte er auf uns drei, die wir wie die Orgelpfeifen aufgereiht vor seinem Bett standen. Alex und ich gingen gleich in Deckung auf dem Boden. Wie ein Knäuel hielten wir uns aneinander fest. Nur für Bruchteile einer Sekunde waren alle sprachlos. Die stickige Luft im abgedunkelten Zimmer ließ mich husten. Mein Blick heftete sich an die Tür. Die wunderschöne Frau sah aus wie meine Schokoladenpuppe Kitty. Wie angewurzelt und die Tür als Schutz vor ihren Körper gezogen, schrie sie gellend: „Ach du Scheiße!"

    Martin, jetzt mit hochrotem Kopf, kochte vor Wut. In seinen Mundwinkeln hatte sich etwas Schaum gebildet. Er sprang vom Bett auf, holte aus und gab Ella, die nichts sagte, aber schon weinte, eine schallende Ohrfeige.

    Wie gelähmt blickte ich Alex an.

    Ella schluchzte und schrie wieder: „Mistkerl, elender Lügner!" Sie drehte sich um und scheuchte uns mit schwingender Handbewegung hoch. Eilig liefen wir zur Tür, an Schokopuppe Kitty vorbei, den langen Flur entlang. Aus dem Aufzug stieg der Mann vom Empfang mit dem Strauß Blumen in der Hand. Sein Mund war aufgerissen, als wenn er etwas sagen wollte, doch Ella winkte mit entsprechender Handbewegung ab. Er blieb stumm. Wir liefen weiter in Richtung Treppenhaus. Ich spürte diesen Drang im Bauch, musste schon wieder Pipi. In meiner Not zwickte ich mir zwischen die Beine, um das Gefühl zu unterdrücken. In brenzligen Situationen sollte mich dieser Harndrang zehn Jahre begleiten.

    Im Treppenhaus stützte sich Ella am Geländer ab, nahm wieder zwei Stufen auf einmal und rannte zum Ausgang. Draußen auf der Straße humpelte sie in Richtung Bahnhof, während sie uns an der Hand hielt.

    Mit schmerzverzerrtem Gesicht weinte sie immer noch. Alex presste die Lippen aufeinander und hatte den Blick zur Straße gerichtet. Ellas Ellbogen und Hand waren angewinkelt und hochgezogen. Mein Arm war nicht lang genug, um ihrer Hand zu folgen, deshalb ging ich den ganzen Weg, ohne aufzumucken, auf Zehenspitzen. Keuchend erreichten wir wieder den Bahnhof. An der Bahnsteigkante warteten wir nur kurz. Ella führte leise Selbstgespräche und verzog dabei das Gesicht.

    Im Zug fielen wir völlig erschöpft in die Sitze. Ich legte mich über den Schoß von Ella und vergrub mein Gesicht in ihrem Mantel. Mir taten die Schulter und die Füße weh und Hunger hatte ich auch, traute mich aber nicht zu sprechen. Alex regte sich nicht, stattdessen starrte er wie elektrisiert auf den Boden. Drei Tage später im Krankenhaus hat man mir die Schulter wieder eingerenkt. Das tat höllisch weh. Martin hatte mir vorher als Geschenk eine Puppe versprochen. In dieser Erwartung konnte ich den Schmerz ertragen.

    MEINE ELTERN, MEINE WURZELN

    Wahrheit ist nicht immer Realität, und Realität ist nicht immer Wahrheit. Die menschliche Wahrnehmung, geprägt durch das soziale Umfeld, den Glauben, Intellekt, Bewusstseinszustand und Lebenseinstellung, kreiert eine für uns schlüssige Wahrheit. Diese Wahrheit ist dann für uns unsere Realität. Die Realität kann jedoch für andere eine völlig andere sein. Die Brille unserer Wahrnehmung ist verfärbt und wir sehen uns außerstande, eine andere Haltung und Perspektive zu akzeptieren! Aus Erzählungen wusste ich, dass nach 1945 die Menschen mit dem Aufbau ihres Lebens beschäftigt waren. Jeder versuchte – mehr schlecht als recht –, gemäß den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ein neues Leben aufzubauen. Einigen war jedes Mittel recht, um sich einen gesellschaftlichen Aufstieg zu sichern. So auch Ella und Martin.

    In den fünfziger Jahren hatte Martin mit Schokolade und Kaffee gehandelt, die aus dem Bestand eines ehemaligen Internierungslagers stammten. Seine Kontaktleute hatten die Ware entwendet und boten sie zum Verkauf an. Martin verkaufte sie weiter an die örtlichen Bäckereien. Die Besitzer schätzten seine Ware, da es zu diesem Zeitpunkt schwierig war, die dringend benötigten Zutaten zu bekommen. Sie mochten seine zuverlässige, charmante Art, seinen witzigen Verkaufsstil und die herkunftsbedingte, ungewöhnliche Ausdrucksweise. Eine Mischung aus fröhlich rheinischer Mundart, gespickt mit Berliner Redewendungen: „Wat, ick mer Sefe kofen?

    Nee, lieber wasch ick mer nich." Zwei Jahre florierte das Geschäft.

    Eines Tages, auf dem Nachhauseweg etwa Mitte Mai an einem lauen Dienstagabend gegen zehn Uhr, wurde Martin in einer kleinen Seitenstraße kurz vor seinem Haus durch die Polizei angehalten: eine Straßenkontrolle und Überprüfung der Papiere. Nach einem längeren Gespräch und der Durchsuchung seines Wagens konfiszierten die Beamten seine Ware. Martin war verwundert über die Vorgehensweise bei der Beschlagnahmung. Hatten sie einen Tipp Dritter erhalten? Wer hatte ihn verpfiffen?, fragte er sich.

    Trotz der offiziellen, korrekten Uniform und der von ihnen vorgehaltenen Ausweise, der bestimmenden Tonlage stimmte etwas nicht. Nur was? Niedergeschlagen fuhr er nach Hause, ließ sich nichts anmerken. Nachts ging ihm die Situation nicht aus dem Kopf. Immer wieder dachte er an den Vorfall. Etwas war eigentümlich an der Sache. Eigentlich konnte er sich auf sein Gefühl verlassen, aber etwas stimmte hier wirklich nicht.

    Zwei Tage später, der Vorfall ließ ihm keine Ruhe, fuhr er zu einer nahegelegenen Polizeidienststelle, erklärte dem wachhabenden Beamten seine Situation und Bedenken. Dieser konsultierte seine Unterlagen.

    Unter Kopfschütteln des Beamten erfuhr Martin, dass es an diesem besagten Abend einen derartigen Einsatz an besagter Stelle nicht gegeben hatte. Frustriert und verärgert musste er akzeptieren, dass fiktive Beamte seine Schmuggelware entwendet hatten. Jemand hatte ihn verraten, getäuscht und bestohlen! Wutentbrannt schlug er immer wieder auf sein Lenkrad ein. Der weitere Amtsweg war dann kurz, aber nachhaltig. Martin wurde zu drei Monaten Haft und achtzig Tagen Arbeit im Tagebau verurteilt.

    Ella war außer sich. Was für eine Blamage! Sie hatte sich so gefreut, dass Martin endlich gutes Geld verdiente, das ihren Lebensstil sicherte und verbesserte – zumal sie keine Arbeit in ihrem Beruf als Krankenschwester fand. Das frustrierte sie sehr, da sie dadurch finanziell völlig abhängig war.

    Während der Haft fühlte sich Martin ungerecht bestraft und gedemütigt. Abends in seiner Zelle trat er gegen die Kloschüssel, brüllte vulgäre Ausdrücke und schlug dabei mit den Fäusten auf die für ihn zu kurze Matratze. Er hatte doch lediglich versucht zu überleben! Es sollte ein finanzielles Sprungbrett für die Zukunft sein. In diesen Monaten hatte er viel Zeit, über sein bisheriges Leben nachzudenken. Fetzen der Erinnerungen kamen aus der Vergangenheit hoch. Sein Vater Paul war früh an seiner Kriegsverletzung verstorben. Seine Mutter Frieda, völlig überfordert, musste sich allein um die drei Kinder kümmern.

    Das war eine harte Zeit für alle gewesen. Da blieben Streicheleinheiten, Verständnis und Unterstützung auf der Strecke. Oft hatten sie tagelang Hunger, aber Schuhe an den Füßen, Gott sei Dank. Keine Selbstverständlichkeit, denn manche seiner Schulkameraden hatten noch nicht einmal das. Um die Familie zu unterstützen, ging Martin nach der Schule in feine Clubs. Sammelte dort Tennisbälle ein. Half alten Damen beim Tragen der Einkaufstaschen. Suchte Pfandflaschen in Parkanlagen, Straßen und Mülleimern. Setzte diese in Geld um und gab es seiner Mutter. Darum bewarb er sich auch, als er achtzehn wurde, bei der SS. Seine Kumpels taten dasselbe. Er wollte nicht außen vor stehen. Außerdem würde er dort mit Essen versorgt, bekam Kleidung und Stiefel. Frieda, die Geschwister und er hatten dann ein Problem weniger. So glaubte er. Frieda hatte zuerst so ihre Bedenken, war aber letztlich einverstanden. Martin wurde ausgewählt, weil er dem Erscheinungsbild der SS, über einsachtzig groß, dunkelblond, blaue Augen, gesund, kräftig und muskulös, entsprach. Er wurde als Fallschirmspringer ausgebildet.

    Später war er beim Tito-Einsatz in Jugoslawien, organisierte nebenbei Essbares für seine Einheit, was immer er in den umliegenden Dörfern bei einheimischen Bauern, finden konnte, war zusätzlich für die Fahrzeugpflege und die technische Bereitschaft eingeteilt. Bei einer Schießerei erwischte ihn eine Kugel am Kopf und rasierte sein rechtes Ohr im oberen Drittel ab. Ein doppelter Schädelbasisbruch streckte ihn nieder. Er verbrachte einige Monate im Lazarett. Während er auf der Pritsche verletzt vor sich hindöste, dachte er an sein Zuhause, an seine Freunde, die er verloren hatte, und an die Sache mit den Juden. Das ließ ihn damals nicht völlig kalt. In Berlin waren manche seiner Freunde jüdischer Herkunft. Er mochte sie. Aber später, zwischen Einsatzbefehl, Gehorsam und Ausübung seiner Pflichten, fühlte er sich oft hilflos und zerrissen. Mittlerweile hatte er viel Elend gesehen und Ungerechtigkeiten erlebt, das prägte ihn. Wer war er schon, dass er den Lauf der Dinge hätte ändern können! Ein unwichtiges kleines Glied in einer langen Kette von Befehlsempfängern. Nein, er wollte nur überleben und heil nach Berlin zurückkehren. Sein neues Motto: „Wer sich raushält, kriegt auch keine rein."

    Ja, es war feige! Aber manch Mutiger, den er kannte, lag jetzt zwei Meter tief unter der Erde. Für ihn war seine Zeit noch nicht abgelaufen, deshalb blieb er lieber feige. Sein größter militärischer Erfolg war, dass er überlebte!

    Während der Zeit, als Martin im Gefängnis saß und grübelte, lag Ella nachts ebenfalls viele Stunden wach. Auch ihre Erinnerungen und Emotionen überschlugen sich. Sie dachte ebenfalls an ihre Vergangenheit, an die Zeit, als sie sich beide kennengelernt hatten.

    Wie verliebt sie damals doch gewesen war, als sie Martin traf. Sie dachte an die Zeit während ihres Pflichtjahrs bei der Marine in Kiel. Schmunzelnd auch an die Zeit danach, während der Anstellung als Kindermädchen und Haushaltshilfe bei einem in Berlin stationierten amerikanischen Oberst und seiner Familie. Fühlte sich damals als Glückskind, weil sie endlich Arbeit hatte. Es war ein ehrwürdiges, traumhaft schönes Anwesen, direkt am angrenzenden Grunewald gelegen. Die Arbeit machte ihr Spaß, denn die Kinder waren freundlich und wohlerzogen. Die Hausarbeit war gut zu bewältigen. Roy und E-mily Johnston waren liebenswerte, großzügige Menschen. Offiziell fungierte Martin damals beim Oberst als persönlicher Chauffeur und Dolmetscher, bewohnte wie andere Hausangestellte, Gärtner und Köchin einen Raum im Nebenhaus des Anwesens. Ella spürte noch heute die Schmetterlinge im Bauch, wenn sie nur an Martin dachte. Sofort hatte sie damals einen tiefen Blick auf Martin geworfen. Er war eine tolle Erscheinung in seiner blauen Fahreruniform. Eine Kreuzung aus Curd Jürgens und Sinatra. Das Timbre seiner sonoren Bassbariton-Stimme hatte sie sofort verzaubert. Die charmante, teilweise schleimige, tänzelnde Art, andere Menschen zu überzeugen, wirkte auf sie noch immer erotisch. Bei Begegnungen bemerkte sie Martins Begeisterung über ihre körperliche Erscheinung. Oft schnalzte er mit der Zunge, wenn er auf ihre Oberweite blickte. Es war noch nie Martins Ding gewesen, ausschließlich mit sprachlicher Begabung einen Partner zu erobern. Aber die Mischung aus lässigem Auftreten, gepaart mit Humor und Zielstrebigkeit, machte ihn für sie unwiderstehlich. Emily Johnston hatte Kleidung ausrangiert und Ella einige Teile davon geschenkt, die sie leicht veränderte, um ihre körperlichen Formen besser zur Geltung zu bringen und um Martin zu gefallen. Sie wusste, Kleider machten Leute und Bienen schwirrten nun mal gern zu schönen Blüten. Sie wollte blühen. Es dauerte nicht lange. Bald führte Martin einen regelrechten Balztanz auf, um ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung zu erlangen. Diese Erinnerungen zauberten ein versonnenes Lächeln auf ihr Gesicht.

    Rein optisch hätten Martin und Ella auch Geschwister sein können. Auch Ella war blauäugig, groß und schlank. Ihre lockigen, langen hellblonden Haare konnten nur mit einer Spange als Pferdeschwanz gebändigt werden. Ihre Zähne waren wie eine Perlenschnur aneinandergereiht. Nur das kleine Blutschwämmchen oben am Haaransatz verdeckte sie mit ihrem Pony. Den kleinen Leberfleck auf der linken Wange, akzentuierte sie mit einem Augenbrauenstift.

    Bei Oberst Johnston lernte Martin das sexuelle Doppelleben und das organisierte Tauschen kennen! Im Kellergeschoss des Hauses war ein riesiges Warendepot angelegt. Eine Auswahl an Tafelsilber, Geschirr, Kaffee, Zucker, Schokolade, gepökeltem Dosenfleisch und französischem Champagner rundete den Bestand ab. Der Tauschhandel florierte.

    Bei offiziellen Fahrten waren beide tagelang unterwegs. Bei diesen Anlässen konnten sie unter anderem ihren Bestand vergrößern oder gegen exklusivere Artikel tauschen. Die Nachfrage nach diesen begehrten Artikeln war bei den Kunden groß. Dazu gehörten Besuche in einschlägigen Nachtclubs, die beide schätzten, was das Band der Vertrautheit zwischen ihnen verstärkte. Mit der Zeit genoss Martin das uneingeschränkte Vertrauen seines Vorgesetzten. Nie würde er ihn enttäuschen, das Erlernte war für ihn Gold wert. Oft belohnte der Oberst Martins außergewöhnlichen Einsatz im Verkauf und Handel mit zusätzlichen Geschenken wie den begehrten Nylonstrümpfen. So legte sich Martin in kürzester Zeit selbst ein Depot von beträchtlichem Ausmaß an. Ella profitierte ebenfalls. Nach Rückkehr des Oberst und seiner Familie in die Staaten starteten beide in das eigene Leben mit einem guten Warensortiment als Fundament. Nach einer Schreinerlehre im Möbelbau entdeckte Martin seine Liebe zu hochwertigen Einrichtungsgegenständen. Ella fand einen Ausbildungsplatz als Krankenschwester, was ihrem Helfersyndrom entgegenkam. Drei Jahre später, schwer verliebt und materiell gut ausgestattet, wurde im kleinen Rahmen mit der ganzen Familie in Berlin die Hochzeit gefeiert.

    Dann an einem eisigen Januarmorgen erblickte Alexander, ihr Prinz und Herzenswunsch, strahlend das Licht der Welt. Er war ein strammer blondgelockter Engel mit leuchtend blauen, neugierigen Augen. Ellas Sonnenschein. In ihrer Familie war sie die Älteste von drei Mädels und hatte als Erste dann gleich einem Stammhalter das Leben geschenkt. Stolz und mit großer Erwartung an ihn präsentierten sie Alexander Christopher.

    Ellas Gedanken schweiften zum Umzug von Berlin nach Düsseldorf ab. Martin hatte damals eine neue Anstellung als selbstständiger Handelsvertreter für hochwertige Möbel bekommen. Außerdem lebte hier Ellas Familie. Erst wohnten sie in einer kleineren Wohnung in einem Außenbezirk von Düsseldorf. Aber bald schon hatte Martin andere Pläne für sich und seine Familie.

    Sonntags beim Frühstück erzählte er ihr: „Nachts träume ich von riesigen Wolkenkratzern. Ja, ich will hoch hinaus." Seine Wunschliste beinhaltete: finanziellen Erfolg, Unabhängigkeit, geliebt, geachtet und respektiert werden. Ella war begeistert. Zu lange hatte Martin das Elend der Nachkriegsjahre gesehen und erlebt. Das sollte sich ab sofort für ihn ändern. In diversen Gesprächen versprach er Ella, alles dafür zu tun, dass es ihnen gut ging.

    Ja, das war die Zeit, in der es noch wilden Sex, glühende Schwüre und einen regen verbalen Austausch miteinander gab. Ihre Welt war damals für sie beide in Ordnung. Seine Wünsche und Pläne waren ihr nur recht. Auch sie kannte Entbehrungen diverser Art. Ihr Traum von romantisch zärtlicher Liebe, Glück, Zufriedenheit und finanziellem Wohlstand war ihr Motor für Ehe und Zukunft.

    Aber irgendwie hatte sich dann alles anders entwickelt. Wenn sie heute so darüber nachdachte, konnte sie nicht wirklich den genauen Zeitpunkt der Veränderung bestimmen, ab wann sich alles veränderte. Sie vermutete, dass es etwas mit der neuen Karriere von Martin und der gesellschaftlichen Veränderung zu tun hatte. Diese Veränderung war ein schleichender, zähflüssiger Prozess. Der Wandel war kaum zu spüren, aber doch wahrnehmbar. Bei diesen Erinnerungen liefen ihr noch heute Tränen über die Wangen. Sie saß zwar jetzt in diesem schnuckeligen Haus mit weiß umzäuntem, blühendem Garten und einem kleinen Auto vor der Tür. Aber glücklich war sie nicht. Materieller Reichtum sei eben kein Garant für seelische Zufriedenheit, meinte ihre Mutter. Manchmal hätte sie innerlich platzen können. Schamgefühle kamen hoch. Traurig und enttäuscht musste sie sich eingestehen, dass das Kartenhaus ihrer Träume und Wünsche in sich zusammengefallen war.

    Oft kam Martin abends erschöpft, schlecht gelaunt, mit blauen Flecken oder Kratzspuren am Rücken nach Hause. Die Erklärungen waren vielseitig. Die körperliche Erschöpfung wegen der vielen schwierigen Kundentermine. Die schlechte Laune, weil es geschäftlich nicht immer so erfolgreich lief. Die blauen Flecken, die aussahen wie Knutschflecken an Hals oder Brust, weil er sich gestoßen hatte. Die Kratzspuren

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