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Die Dimensionen der Demut: Ein naturgemäßer Zweifel an der Ausrichtung unseres Lebens
Die Dimensionen der Demut: Ein naturgemäßer Zweifel an der Ausrichtung unseres Lebens
Die Dimensionen der Demut: Ein naturgemäßer Zweifel an der Ausrichtung unseres Lebens
eBook333 Seiten4 Stunden

Die Dimensionen der Demut: Ein naturgemäßer Zweifel an der Ausrichtung unseres Lebens

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Über dieses E-Book

Aus einer Rezension zur Printvorlage:
"Wenn Philosophie zugleich verstanden wird als Lebenskunst und Lebenshilfe, dann ist dies ein Lebenshilfebuch. Es würdigt in einer umfassenden Weise die Demut als Schlüsseltugend. Was wir alle wollen, ist mehr Gelassenheit, ein Denken und Handeln mit Maß und Mitte. Dieses Buch zeigt auf, dass dieses allerdings ohne eine besondere Demut nicht möglich ist.
Man muss Geduld mitbringen, um das Buch zu lesen, weil der Verfasser zwar klar und verständlich zu formulieren weiß, sein Buch aber trotzdem dem Leser eine gewisse Ausdauer abverlangt. Allerdings werden dem Leser genügend handwerkliche Hilfen geboten, den Text selektiv zu erschließen, zusammenfassende Abstracts, ein ausführliches Inhaltsverzeichnis und acht angehängte Glossen, die einzelne Zugänge zum Begreifen der Demut thematisieren. Soweit ich sehe, gibt es nichts auf dem Buchmarkt, was die Demut so multiperspektiv bespricht."
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Apr. 2020
ISBN9783347047259
Die Dimensionen der Demut: Ein naturgemäßer Zweifel an der Ausrichtung unseres Lebens

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    Buchvorschau

    Die Dimensionen der Demut - Dr. Hermann-Otto Leng

    1. Zum Thema

    In der Praxis unseres alltäglichen Tuns und Lassens kommt die Demut in ihren verschiedenen Bezügen viel häufiger vor‚ als wir uns dessen bewusst sind. Dort‚ wo wir uns hartnäckig gegen sie stellen‚ hält das Schicksal zumeist dann ‚Lektionen der Demut‘‚ genauer: der Demütigung für uns bereit‚ oder wie der Volksmund sagt: Hochmut kommt vor dem Fall.

    Sich in der Demut zu üben‚ ist mit inneren und äußeren Risiken verbunden. Aber wir riskieren immer etwas‚ bei jeder Charakterveränderung‚ bei jeder Verhaltensänderung. Unsere Ängste gegenüber der Tugend der Demut sind indes vielleicht etwas größer‚ als dies bei manchen anderen Tugenden der Fall sein mag. Der Grund: Wir können den qualitativen Unterschied zwischen der Demut und der Demütigung‚ jener von außen veranlassten oder erzwungenen Erniedrigung‚ zuweilen nicht klar genug ins Auge fassen. Allerdings riskiert‚ wer sich in Hochmut‚ aufgesetztem Stolz und Arroganz ergeht‚ bekanntlich auch sehr viel. Er genießt nur den Vorteil‚ dies zunächst nicht zu bemerken. Je nach Situation kann man mit ihm oder ihr auch barmherzig umgehen‚ vielleicht ist nur ein Minderwertigkeitskomplex im Spiel.

    In jüngster Zeit werden für den hierfür sensibilisierten Beobachter einige Tendenzen sichtbar‚ die in Richtung einer Renaissance der Demut weisen. Die Fortschrittsmythen haben an Faszination verloren; eine Reihe von Großprojekten der gigantischen Art gerät in zunehmende Kritik; im Kulturbetrieb ist es nicht mehr en vogue‚ mit einem Avantgardeanspruch aufzutreten. Das reduktionistische‚ vereinfachende Denken nimmt ab‚ die Bereitschaft‚ sich auf komplexe Vernetzungen einzulassen‚ wird größer. – Am Ende ist alles wieder deutlich komplexer‚ als beim Siegeszug des Rationalismus angenommen‚ auch in den sogenannten harten Naturwissenschaften. Die Ansprüche werden gemindert. Demut ist eine Verminderung des Ego. Wobei das Selbst‚ so diese Verminderung souverän erfolgt‚ an Substanz zu gewinnen vermag.

    In den Massenmedien kommt es neuerdings zu Bezeugungen einer gewissen Demut; bei Politikern‚ bei Fußballtrainern‚ zuweilen sogar bei Wirtschaftsmanagern. Papst Franziskus kultiviert einen Stil der Demut‚ welcher in den Medien aufmerksam registriert wird. Ein zweiter Trend tritt hinzu: die Suche nach einem hinlänglich guten Leben. Zaghaft verbreitet sich gesellschaftlich dabei die Ansicht‚ dass das ‚gute Leben‘ dann eben auch die Frage einer die Demut achtenden Lebenskunst mit einschließt und nicht notwendig von der Eroberung eines Spitzenplatzes abhängt.

    Das Wort Tugend kommt neuerdings wieder in „Schwang" (Honecker‚ S. 166). Etwas fairer hätte es statt Schwang Schwung heißen dürfen. Es wird wohl in absehbarer Zeit zu tugendethischen Fragen mehr Literatur geben; aus dem einfachen Grund‚ weil im Gegensatz zu dem Diktum Adornos ein ‚richtiges‘ Leben auch im ‚falschen‘ unser Bestreben bleibt. Denn das Falsche hält sich offenkundig. Jedes ethische Bestreben‚ das sich auf die gute und richtige Handlung richtet (und diese in aller Regel am Ende gar nicht wie gewünscht zu verändern vermag)‚ wird die innere Verfassung des Handelnden‚ mithin die Tugendethik‚ am Ende einbeziehen müssen.

    Emanzipation und Demut erscheinen zunächst als nicht überbrückbare Gegensätze. Der Weg aus diesem Dilemma eröffnet sich augenscheinlich nur dann‚ wenn die hergebrachte Demut von ihren überkommenen gesellschaftlichen und religiösen Vorgaben abgelöst wird – abgelöst zumindest von der traditionell geforderten Allgemeinverbindlichkeit dieser Vorgaben.

    Damit rückt die Demut dann in den Bereich einer „privaten Selbsterschaffung" (Rorty) und kann auch in einer bürgerlich-liberal verfassten Gesellschaft ihre Kraft neu entfalten. Dies ist jedoch wie bei jeder Tugend eine Ebene der Haltung im inneren Charakter jeder einzelnen Person (vgl. die Kontroversen hierzu bei Halbig‚ S. 279ff.)‚ die ein differenziertes Verständnis vom je eigenen Selbst voraussetzt. Unsere heutige Gesellschaft mit ihrem allseits akzeptierten Interessenpluralismus und dessen Verrechtlichung lädt allerdings zu einer solchen differenzierten Selbstreflexion nicht gerade ein. Was soll ich denn mehr machen und wollen‚ als meine legitimen Interessen zu verfolgen?

    Wer siegen will – und in unserer Konkurrenzgesellschaft müssen alle vom Grundsatz her siegen wollen –‚ darf vordergründig betrachtet nicht demütig sein. Es sei denn‚ er / sie findet sich damit ab‚ an den Rand gedrängt zu werden. Gelegentliche Anflüge von Reue‚ hier und da zu lesen in den Medien nach dem Stolpern auf dem zum Teil fragwürdig egomanischen Weg‚ ändern daran nichts‚ selbst wenn dann von Demut gesprochen wird‚ als Lippenbekenntnis. Nach der vorherrschenden Auffassung untergräbt eine demütige Haltung das mit Anstrengung aufgebaute Selbstbewusstsein‚ sie beraubt uns damit auch der Selbstsicherheit. Schrieb doch schon Friedrich Nietzsche‚ jener Antreiber zu einer asketischen Selbstverwirklichung hin zu einem ‚Übermenschen‘ in seinem Zarathustra: „Ihr habt den Wurm zum Menschen gemacht‚ und vieles ist in euch noch Wurm. In der später verfassten Götzendämmerung heißt es dann: „Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit‚ von neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral: Demut.

    Mit der Kopernikanischen Wende um 1500 begann bekanntlich eine neue Zeit. Diese neue Zeit‚ von den Historikern mittlerweile nicht mehr als Neuzeit‚ sondern als Moderne bezeichnet‚ brachte zwar nicht den ‚neuen Menschen‘ hervor. Dieser blieb ein Traum‚ wie er seit dem 16. Jahrhundert bis heute immer wieder einmal geträumt wird. Gleichwohl war der Bruch mit dem Lebensgefühl und der Lebensweise des mittelalterlichen und des antiken Menschen ja gewaltig. Das Lebensgefühl sowie das Paradigma der Lebensweise bestimmen indes das jeweilige Tugendbewusstsein in einem entscheidenden Maße. Der Bewusstseinswandel‚ wie er in der Kopernikanischen Wende sich vollzog‚ ist nur vergleichbar mit demjenigen‚ wie ihn die neolithische Revolution‚ der Schritt in die Sesshaftigkeit‚ zur Folge hatte.

    Ein am Zeitalter der Moderne ausgerichtetes Verständnis der Demut wird sich demnach nur in einer Umformung des traditionellen Demutbegriffs entfalten können. Der Misskredit‚ in den das allgemeine Verständnis der Demut seit dem Verblassen des mittelalterlichen Lebensgefühls geriet‚ ist ja geistesgeschichtlich betrachtet wenig überraschend. Wie alle Tugenden unterliegt natürlich auch die Demut einem historischen Wandel‚ es kommt zu Irritationen‚ auch Akzentverschiebungen und Brüche werden notwendig. Bis hin zu einer Metamorphose kann dies gehen. Im Falle der Demut hat dieser Wandel in einer besonderen Weise zu einer Kollision des Zeitgeistes mit dem hergebrachten Verständnis dieser Tugend geführt.

    Der Einbruch des Christentums in die antike Welt

    In der griechisch-römischen Antike hatte sich das Verständnis der Demut an einer vorgegebenen‚ hierarchisch vielfach gegliederten Gesellschaft orientiert‚ ungeachtet dessen‚ dass der Demokratiegedanke innerhalb der Oberschicht entwickelt worden war. Das Volk blieb der Bauch‚ war nicht der Kopf‚ wie es in einer römischen Quelle heißt. Im Bauch wird die Speise verdaut‚ nicht zubereitet. Und auch zum Volk gehörten ja beileibe nicht alle.

    Die altgriechische Tapeinophrosyne‚ wohl nicht durchgängig verstanden als eine handlungsorientierte Tugend‚ aber in deutlicher Opposition zur Hybris‚ zur Anmaßung stehend‚ war eine Demut des Niedrig-Gestelltseins. Demütig war derjenige‚ der sich nicht nur äußerlich‚ weil gezwungenermaßen‚ sondern auch innerlich mit seinem‚ wenn auch niederen Platz in der Gesellschaft angefreundet hatte. Wer sich darauf ausrichtet‚ seinen Platz sorgsam auszufüllen‚ das heißt‚ den ihm zugefallenen Lebensrahmen akzeptiert und sich mit diesem produktiv begnügen kann‚ der / die kann aus einer solchen Demut eine spezifische Kraft schöpfen. Mit Blick auf Platon lässt sich in der Tapeinophrosyne eine Demut des Dienens erkennen (vgl. Glosse II). Die Tapeinophrosyne ist eine politisch verstandene Tugend.

    Das Christentum hat diesen antiken Demutsbegriff aufgegriffen‚ ihn aber grundlegend umgeformt. Aus einer auf gesellschaftliche Bezüge ausgerichteten Tugend wurde eine religiöse. Aus der inneren Verarbeitung des Niedrig-Gestelltseins wurde die im Glauben an den erlösenden Gott zu erringende Tugend des Niedrig-Gesinntseins (vgl. Exkurs nach Abschnitt 7). Vor Gott sind nun alle gleich. Der Bezug hierbei ist indes ein auf das Jenseits ausgerichtetes Versprechen. Gemäß diesem Versprechen Jesu werden die Glaubensdemütigen‚ die Vorbehaltlosen‚ belohnt. „Aber viele‚ die da sind die Ersten‚ werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein (Matth. 19‚30). Und: „Seelig sind‚ die nicht sehen und doch glauben! (Joh. 20‚29).

    Wie nicht anders zu erwarten‚ ist eine solche gegenüberstellende Interpretation natürlich strittig. Zumal sie sich dazu versteigt‚ eine griffige Definition der antiken Demut als Tugend und dann ihrer christlichen Aus- und Umformung anzubieten. Strittig ist zunächst einmal in den Fachdiskussionen der Theologen und Altphilologen‚ in abgeschwächter Form auch bei den Philosophen‚ ob anhand der antiken Quellen wie ebenso anhand der frühen biblischen Texte überhaupt von einer Demut als Tugend gesprochen werden kann. Übertragen wir da nicht eine Vorstellung von Tugendethik in eine Zeit‚ der eine ganz andere Sichtweise eigen war?

    Etwas konkreter ist sodann die Frage‚ ob anhand eines sorgfältigen Studiums der biblischen‚ besonders ja der paulinischen Texte zu schließen ist‚ dass zuerst und allein es die frühen Christen waren‚ die aus der Niedrigkeit (vgl. Tapeinos) überhaupt eine Tugend haben werden lassen. Wäre dem so‚ dann müsste die Demut als eine spezifische christliche Tugend gelten (vgl. hierzu Glosse I und VI). Und wenn im Laufe dieser Studie hier in verschiedenen Zusammenhängen von einer heidnischen Demut Montaignes geschrieben wird‚ so wäre dies zumindest in sprachlicher Hinsicht Unsinn.

    En passant wäre damit die Demut so auch insgesamt in eine ausschließlich christliche Ecke gestellt. In philosophischer Sicht ließe sich dann bequemerweise sagen‚ es handele sich bei ihr eindeutig um eine religiöse‚ um eine theologische Tugend. Die Demut habe keine unmittelbare Relevanz für die praktische Philosophie.

    Eine solche schematische Kategorisierung widerspricht jedoch dem Common Sense und unserem Alltagsbewusstsein von der Demut. Ob Christ oder nicht‚ wir alle spüren‚ dass an der Demut irgendetwas (bloß was?) dran ist.

    Ein mehrdimensionales Tugendverständnis

    Einer Tugend zu folgen‚ bedeutet‚ eine Haltung einzunehmen. Der tapfere Mensch zeigt eine mutige Haltung‚ der maßvolle Mensch eine besonnene Haltung‚ der demütige Mensch eine Demutshaltung usf. Auf den ersten Blick scheint es sich hierbei um eine fest umrissene charakterliche Disposition zu handeln‚ und es entspricht dies auch dem gängigen Selbstverständnis‚ wie es jeder Mensch von sich hat.

    Bereits die Tugendlehre des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik macht indes ein in sich plurales Verständnis der Tugenden deutlich. Wenn zum Beispiel die Tapferkeit gemäß des Aristoteles die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit ist‚ so zeigt sich zum einen‚ dass diese Mitte nicht als mechanisch-geometrisch fixiert aufzufassen ist; sie oszilliert. Zum anderen ist zu bedenken‚ wie der tapfere Mensch bezogen auf die aktuelle Herausforderung seine Tapferkeit jeweils ausrichtet. In welcher Art und Weise‚ in welchem gesellschaftlichen Zusammenhang und von welchen Motiven her ist die konkrete Person bei einem konkreten Anlass tapfer? Die jeweilige Tugend‚ wie hier zum Beispiel die Tapferkeit‚ zeigt sich uns also in einer mehrdimensionalen Disposition‚ im Inneren der Person wie auch im äußeren Handlungsvollzug. Besonders der Mensch der Moderne findet sich in solchen komplexen Dimensionen vor‚ er wird nach einer Balance suchen.

    Innerhalb der christlichen Theologie erweist es sich indes als schwierig‚ ein solches mehrdimensionales‚ in sich plurales Tugendverständnis zuzulassen. Es kann nur eine Glaubensdemut geben. Diese eine Glaubensdemut wurde in der langen Geschichte der Kirche und der Theologie mit aller erdenklichen Sorgfalt ausgearbeitet‚ durchaus auch begleitet von diffizilen Streitfragen.

    Die christliche Demut ist nicht eine religiöse Demut allgemeiner Art. Wie jede religiöse Demut enthält sie das Element der Unterwerfung unter eine höhere Macht‚ wie auch den Willen zu einer verbindlichen Gotteserfahrung und den Glauben an die Möglichkeit derselben. In diesem doch weitgesteckten Rahmen erschöpft sich die christlich-religiöse Demut indes nicht. Der wahrhaft gläubige Christ muss sich dezidierter gebunden sehen; er hat sich demütig in die Nachfolge des Christus zu stellen.

    Wenn nun Jesus ‚wahrer Mensch und wahrer Gott‘ war (es gibt in der langen Geschichte der Christologie zahlreiche Versionen) dann bedeutet dies für den entschiedenen Christen zum einen‚ ganz Gott zugewandt zu sein‚ und zum anderen‚ gleichzeitig wie Jesus sein Tugendverständnis menschlich-weltlich auszurichten. So verstanden ist die christliche Demut in sich eine vollkommen umfassende. Die Pluralisierung in ein mehrdimensionales Tugendverständnis aber findet hierbei keine Rechtfertigung. Es ist eine Demut wie ein Monolith.

    Ja‚ es erscheint schizophren‚ nachgerade blasphemisch‚ christlich religiöse Tugenden in verschiedene Dimensionen aufspalten zu wollen. Christliche Tugenden können nach dieser strikten Glaubensauffassung nicht wie bei Aristoteles oszillieren. Gleichwohl umfassen sie nach ihrem Selbstverständnis das ganze Leben.

    Die frühchristliche Ausprägung der Demut war eine Absetz- und Gegenbewegung zum altgriechischen Demutsverständnis als einer Tapeinophrosyne für die sozial Niedriggestellten. Aus einer sozialen Tugend des Niedrig-Gestelltseins wurde die religiöse Tugend des Niedrig-Gesinntseins‚ eine Tugend des „reinen Herzens" (vgl. Exkurs nach Abschnitt 7). Die Wahrheit des religiösen Tugendwegs kann dem eigenen Verständnis nach nicht in verschiedene Dimensionen aufgespalten werden.

    Nun ist aber gerade bei der Demut zu vergegenwärtigen‚ dass diese Tugend philosophisch wie theologisch eine Bezugstugend ist. Sie entfaltet sich in Bezügen. Als religiöse Demut ist sie vorrangig auf den Glauben gerichtet‚ sie wird ergriffen als eine Glaubensdemut. Politisch aber ist sie zum Beispiel auf die Führung eines Amtes bezogen. Hat der Mandatsträger die notwendige Demut‚ diesem Amt zu dienen‚ oder missbraucht er das Amt für seine egoistischen Zwecke?

    Zwar ist das Bestreben‚ sich in Demut zu üben‚ immer gerichtet auf eine Verminderung des Ego‚ womöglich im Sinne Pascals bis hin zu seiner Nichtung. Dies geschieht indes stets in Verbindung mit einem aktuell fassbaren Bezug. Eine Demut ‚an und für sich‘ macht keinen Sinn. Beim Gegenpol der Demut‚ bei der egoistischen Ausweitung des Geltungsdrangs und der eigenen Seinsmächtigkeit‚ zeigt sich das gleiche Bild. Auch hier muss es die konkreten Bezüge geben.

    Die Mehrdimensionalität der Demut ist demnach also nicht das Thema in dem Bereich einer durchgängig gegebenen bzw. einzufordernden Egoverminderung. Hierin gibt es keine Differenz zwischen der Form einer religiösen und den Formen einer säkularen Demut. Die Mehrdimensionalität der säkularen Demut zeigt sich vielmehr in den verschiedenen weltlichen Bezügen‚ in denen sich diese Demut zeigen kann. Welchen Bezug der Einzelne aufgreift‚ um sich in Demut zu üben oder um sich im Gegenteil aufzublähen‚ ist eine Frage der Lebensauffassung und charakterlichen Disposition. Die Antipoden Montaigne und Pascal sind hier ein gutes Beispiel‚ ohne dass es notwendig ist‚ sich völlig auf die eine oder die andere Seite zu schlagen.

    So ist es ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Studie‚ die säkularen Bezüge der Demut aufzuzeigen‚ ohne allerdings der religiösen Demut ihren Wert nehmen zu wollen. Die Verdeutlichung der Mehrdimensionalität der Demut ist gerade auch in ihren säkularen Bezügen angesichts der gegenwärtigen Zeitgeistprobleme (Ökologiefrage u. a.)‚ wie wir sie gerade mit dieser Tugend haben‚ von einer großen Bedeutung.

    Kategorial zeigen sich‚ wie in der folgenden Darstellung aufgeführt‚ drei große Demutsbereiche‚ der religiöse und zwei weltlich-politische. Jeder dieser Bereiche kann sich selbst nicht genug sein‚ sie können für Geübte als ein Konzert im Inneren dieser Tugend aufgefasst werden.

    Demut ist eine Verminderung des Ego

    Darf aber mit Selbstverleugnung‚ mit Unterwürfigkeit und Kleinmut‚ d. h. mit Demütigung‚ nicht verwechselt werden. Im alltäglichen Sprachgebrauch kommt es häufiger auch zu einer Verwechslung von Demut und Bescheidenheit. Wer mehr Demut zeigen will‚ möchte zumeist künftig nur bescheidener auftreten. Tiefer eindringen in die Demut lässt sich‚ wenn man drei Bereiche unterscheidet:

    Die religiöse Demut

    Sie wurde in der europäischen Tradition christlich-theologisch mit einem Alleinstellungsmerkmal belegt.

    Die Demut des Annehmens

    Sie ist für die Lebenskunst unerlässlich.

    Ohne die Demut des Anehmens‚ des Akzeptierens kann es keine Gelassenheit geben.

    Die Demut des Dienens

    Man sollte nicht zu viel von ihr reden‚ damit sie uns nicht als ein Opfergang erscheint.

    Diese drei Bereiche der Demut sollten besser nicht begrifflichabstrakt definiert‚ sondern beschreibend einander gegenübergestellt werden‚ um sie zu vertiefen.

    Nach ihrem Selbstverständnis ist die christlich-religiöse Demut eine allumfassende; von ihrem religiösen Gehalt einer selbst-losen Niedrig-Gesinntheit sind die beiden weltlichen Dimensionen der Demut aber nicht ableitbar‚ wie näher mehrfach noch zu begründen ist (vgl. bes. Glosse V und VII). Umgekehrt war es historisch eben nicht so‚ dass sich das christlich-religiöse Verständnis der Demut vor Gott etwa aus einer Umformung der vorgefundenen Demut – der Tapeinophrosyne / Humilitas als einer sozialen und politischen Tugend – heraus entwickelt hätte. Vielmehr zielte diese Demut durch den Christus selbst von vornherein auf einen ganz ihr eigenen Sinngehalt.

    Es ist schwierig‚ sich diese unverbundene Parallelität in den Dimensionen der Demut wirklich bewusst zu machen; schwierig für die Theologen (vergleiche gegenläufig aber die Mönchsliteratur im Exkurs nach Abschnitt 7) und schwierig für alle‚ die ernsthaft ihr christliches Demutsverständnis mit den weltlichen Gegebenheiten und Anforderungen konfrontieren und hier einen Einklang suchen. Die Einsicht in die nicht gegebene Ableitbarkeit der verschiedenen geistigen Bereiche findet sich wohl am deutlichsten bei Max Scheler (vgl. Glosse V).

    Der Blick in andere Kulturkreise zeigt‚ dass die Frage nach der Demut in variierenden Ausprägungen den Menschen wohl immer gegenwärtig war. So finden sich beispielsweise in den alten Gesängen des Homer Zeugnisse des überbordenden Hochmuts und der krassen Demütigung. Wer Demütigung einerseits und den Hochmut andererseits negativ zur Sprache bringt‚ hat auch ein Verständnis von der Demut – nicht als eine bloß mechanisch gedachte Mitte zwischen diesen beiden abzulehnenden Extremen‚ sondern als eine Mitte im Sinne von Konfuzius und eben auch Aristoteles. Nämlich als etwas Höheres.

    Im Mahabharata‚ dem großen Epos des alten Indien‚ auch den heutigen Indern‚ soweit sie nicht Moslems sind‚ noch sehr geläufig‚ wird die Demut als Tugend mehrfach und deutlich angesprochen. So steigt‚ um ein Beispiel zu nennen‚ im Buch 12‚ Kap. 228 die Göttin‚ die „in der Mitte der Lotosblüte wohnt‚ aus ihrem sonnengleichen Wagen herab und sagt von sich: „Ich wohne bei den Tugendhaften‚ die voller Weisheit‚ Wahrhaftigkeit‚ Demut und Toleranz sind. […] Ich verbinde mich mit denen‚ die ihre Lebensaufgabe erfüllen. Die auf dem Wasser gleichsam schwebende Lotospflanze symbolisiert das Freisein von Verhaftung. An einer anderen Stelle wird betont‚ die Demut sei eine notwendige Eigenschaft des Yogin‚ des Übenden also.

    In ihren feineren Verästelungen ist die Frage‚ ob es vor dem christlichen Verständnis der Demut als einer besonderen theologischen Tugend ein in der griechisch-römischen Antike beheimatetes heidnisches Verständnis der Demut als einer profanen Tugend gab‚ vorwiegend von Reiz für eine fachwissenschaftliche Disputation. Im Glossar dieser Studie wird von verschiedenen Seiten her begründet‚ weshalb sehr wohl von einer ‚heidnischen Demut‘ gesprochen werden kann.

    Um im Stil Montaignes zu reden‚ ist indes noch das Folgende dazu zu bemerken: Die geneigte Leserin‚ der geneigte Leser möge entscheiden‚ ob sie ihre / er seine kostbare Zeit auf eine solche‚ verhältnismäßig unwichtige Disputation verwenden will.

    Der sinkende Wert der Demut im bürgerlichen Selbstbewusstsein

    In historischer Perspektive dürfte deutlich sein: Das aufstrebende Bürgertum am Beginn der Moderne in Europa konnte mit den traditionellen Strömungen im Verständnis der Demut wenig anfangen. Die religionsgeschichtlichen Umformungsversuche vor allem im Zuge der Reformation einmal beiseite gelassen‚ konnte es nach seinem Lebensgefühl und Selbstverständnis im Grunde mit der Demut gar nichts anfangen. In vielen‚ auch philosophisch gebildeten Köpfen reduzierte sich der Gehalt der Demut auf das Ärgernis einer schlichten Unterwerfung‚ und der grundlegende Unterschied zwischen der Demut und einer Demütigung verblasste zunehmend im Bewusstsein. So wird bis heute Demut sehr oft als eine Schwäche‚ als Kleinmut und Unterwürfigkeit empfunden und es wird ihr eine herzliche Abneigung entgegengebracht. Desungeachtet werden in verdeckter Form Unterwerfung und Selbstdemütigung als eine Strategie opportunistisch eingesetzt‚ um sich Vorteile oder ein bequemes Auskommen zu sichern.

    Mittlerweile aber gibt es auch einen Ratgeber für Führungskräfte‚ der selbigen Kräften die Demut direkt empfiehlt. Kristian Furch hat ihn geschrieben mit dem Titel: Demut macht stark. Das Büchlein ist rasch gelesen‚ besagte Führungskräfte haben wenig Zeit. Der Autor schreibt in einem calvinistisch-biblischen Geist‚ der die Führungskräfte darin bestärkt‚ Berufene zu sein‚ die ihrer gottgewollten Bestimmung dann aber auch gerecht werden sollten. Einer wohlverstandenen Demut zu folgen‚ diene in erfüllender Weise ihnen selbst und führe zugleich natürlich auch zu einem guten Management. Gleichwohl erfolgen auch Hinweise auf die ‚heidnisch‘-politische Demut des Dienens in der Art‚ wie sie sich auf Platon zurückführen lässt (vgl. Glosse II).

    Gewisse Anklänge finden sich auch zu der Demut des Annehmens‚ wie sie in der Folge im Sinne Montaignes zu erläutern sein wird. Wünschenswert wäre gewesen‚ wenn in dieser auf die Wirtschaftselite ausgerichteten Schrift die Megalopsychia‚ die Großgesinntheit des Aristoteles ins Spiel gebracht worden wäre. Aristoteles adressiert in der Nikomachischen Ethik die Abhandlung dieser Tugend ja ausdrücklich an die gesellschaftlich Hochgestellten. Die für Aristoteles ‚Ehrenwerten‘ sollten bei ihrer Tugendübung im Sinne der richtigen Mitte zum einen das Extrem der Arroganz und Protzerei meiden‚ zum anderen dasjenige einer servilen Unterwürfigkeit (vgl. Glosse I). Sie sollten also weder hochmütig noch kleinmütig und devot sein.

    Wie bei einer solchen Ratgeberliteratur kaum anders erwartet werden darf‚ ist auch bei Furch allerdings das Problembewusstsein des Öfteren bedenklich gering. Dies gilt gerade auch für seine Interpretationen der angeführten Bibelstellen. Die Erwartungshaltung sollte aber fairerweise gegenüber einer solchen kurzen Schrift‚ die auf konkrete Lebenshilfen zielt‚ auch nicht unangemessen hoch sein. Schließlich erhofft sich der Leser hier vor allem die Bestätigung seiner guten Seiten‚ wie er sie nach den gegebenen Anregungen bei sich selbst vorfinden mag‚ und er erwartet Ermutigungen‚ auf dem richtigen Weg zu sein.

    Geistesgeschichtlich betrachtet muss der Niedergang der Demut vor allem auch darin gesehen werden‚ dass sie sich dagegen sperrt‚ in ein rationales Tugendverständnis transformiert zu werden. „Demut ist keine Tugend‚ das heißt‚ sie entspringt nicht der Vernunft" (Baruch de Spinoza‚ 17. Jh.). Benachbart ist sie der Sophrosyne‚ der Tugend der gelassenen Besonnenheit und des ruhigen Blicks für das rechte Maß. Bei der Betrachtung der inneren Haltung Montaignes wird dies noch deutlich hervortreten. Auch die Besonnenheit entzieht sich der Reduktion auf einen rationalen Kern‚ während die drei weiteren der vier Kardinaltugenden‚ die Klugheit (Weisheit)‚ die Gerechtigkeit und die Tapferkeit‚ hinlänglich verbürgerlicht werden konnten.

    Sophia (Weisheit) wurde auch schon mit „Gescheitheit" (Gottfried Heinemann) übersetzt. In der Frage der Gerechtigkeit kann zumindest graduell eine rationale Deliberation erfolgen‚ eine an rationalen Argumenten orientierte Fallentscheidung. Tapferkeit wird im bürgerlichen Tugendverständnis zumeist als Zivilcourage ausgegeben‚ eingeschlossen das mutige Ja zur Individualität der eigenen Person.

    Der Demut indessen haftet‚ wie wohl schon genügend deutlich wurde‚ der Geruch eines Mangels an demokratischem Selbstbewusstsein an‚ sie schmeckt nach Untertänigkeit und dienstbeflissenem Gehorsam. Das althochdeutsche Wort Diomuoti für Demut schwingt nach – die Gesinnung eines unterwürfig Dienenden; so jedenfalls eine mögliche Interpretation‚ wenn man nicht schlicht bei ‚Dienstbarkeit‘ bleiben will. Beginnend mit dem Humanismus‚ in Italien ab dem 14. Jahrhundert‚ wurde die Geschichte der Demut so eine solche des Rückzugs. Ihr umfassender Sinngehalt schwand dahin. Sieht man einmal von Thomas Hobbes (1558–1679) ab‚ der ihre Notwendigkeit innerhalb seiner besonderen Konstruktion des Gesellschaftsvertrags anerkannte‚ so wurde in der philosophischen säkularen Literatur die Forderung nach einer Demut kaum noch laut. Erst der weniger

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