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Der Teufel hat keine Zeit: Philosophisch-politische Betrachtungen
Der Teufel hat keine Zeit: Philosophisch-politische Betrachtungen
Der Teufel hat keine Zeit: Philosophisch-politische Betrachtungen
eBook287 Seiten3 Stunden

Der Teufel hat keine Zeit: Philosophisch-politische Betrachtungen

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Über dieses E-Book

Daniel Strassberg verbindet in seinen lebensnahen philosophischen Essays auf eine bestechende Weise seine psychoanalytische Erfahrung mit philosophischen Gedanken, und nie fehlt ihnen ein aktueller Bezug. Seine Überlegungen kreisen alle um das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft und speisen sich aus einem tiefen Wissen darum, dass der Mensch aus der lebendigen Gesamtheit seiner Eigenschaften und nicht aus etwas Einzelnem, Bestimmtem, seinem Bewusstsein etwa, besteht. Er beschäftigt sich mit Fragen wie, wo der Umschlagpunkt einer Befreiungsbewegung in etwas Totalitäres liegt oder ob wir unserer Existenz ein übergeordnetes Ziel geben müssen, um Erfüllung zu erlangen, oder warum unsere Demokratien mehr gelassene Skepsis brauchen als kontroverse Debatten. Es finden sich so schöne Vorschläge darin wie der, den Monat Juni doch mal einfach meinungsfrei zu halten, seine vermeintlichen Überzeugungen abzulegen, keine Likes, keine Bewertungen, keine Urteile, keine Behauptungen, nur Beschreibungen und Erzählungen von sich zu geben. Das ist zwar nicht einfach, aber man kommt ohne seine Meinungsrüstung den Dingen und den Menschen näher, verborgene Eigenschaften werden spürbar, die vielfältiger und farbiger sind und voller Widersprüche.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum17. Aug. 2022
ISBN9783858699701
Der Teufel hat keine Zeit: Philosophisch-politische Betrachtungen

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    Buchvorschau

    Der Teufel hat keine Zeit - Daniel Strassberg

    Identität und Politik

    Gelandet im Widerspruch

    Die Reise von Bett zu Bett dauerte genau 24 Stunden. Um 3 Uhr 30 stieg ich in Zürich aus meinem Bett, um 21 Uhr 30 sank ich erschöpft und aufgedreht in Cozumel, einer Yucatan vorgelagerten Insel, in ein fremdes Bett. Meine Frau und ich sind in Mexiko und besuchen unseren Sohn.

    Seit unserer Ankunft sind nun einige Tage vergangen, aber die seltsam ängstliche Unruhe, die mich in dem Augenblick erfasste, als ich in Cancún die Gangway hinunterstieg, will einfach nicht verschwinden. Als würde ein unter dem Rippenbogen zu eng geschnallter Gürtel die Atmung behindern. Dass die Worte »Angst« und »Enge« dieselbe Wurzel haben, leuchtet mir nun unmittelbar ein.

    Den Menschen die Angst zu nehmen, sahen die Philosophen der Antike als eine ihrer vornehmsten Aufgaben an, selbst die Angst vor dem Tod. In der Nacht, bevor er den Giftbecher trinken musste, tröstete Sokrates seine Freunde mit einer langen Rede darüber, dass der Tod im Grunde eine Erlösung sei, denn er befreie die Seele aus dem Gefängnis des Körpers. Er sprach so überzeugend, dass die Frage auf der Hand lag, weshalb sie sich denn nicht gleich das Leben nehmen sollten.

    Epikur, der ein halbes Jahrhundert nach Sokrates’ Tod geboren wurde, brachte sein Argument auf folgende einfache, aber doch recht überzeugende Formel:

    Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.

    Ob dieses Argument schon jemandem geholfen hat, der an Todesangst litt, ist zu bezweifeln. Wenn die Philosophie die Angst schon nicht nehmen kann, kann sie sie wenigstens adeln. Martin Heidegger erklärte Angst kurzerhand zur wahren Seinsweise. Der Mensch erfahre nur in der Angst – nicht in der Furcht, die sei etwas für Memmen – die eigentliche Abgründigkeit seiner Existenz:

    Das Wovor der Angst ist die Welt als solche. Die völlige Unbedeutsamkeit, die sich im Nichts und Nirgends bekundet, bedeutet nicht Weltabwesenheit, sondern besagt, dass das innerweltlich Seiende an ihm selbst so völlig belanglos ist, dass auf dem Grunde dieser Unbedeutsamkeit des Innerweltlichen die Welt in ihrer Weltlichkeit sich einzig noch aufdrängt.

    Trotz des blasierten Geschwurbels und trotz der Tatsache, dass man das Meiste schon bei Søren Kierkegaard lesen kann, bergen diese Zeilen möglicherweise doch einen Aufschluss über die merkwürdige Beklemmung, die mich festhält. In der Angst, meint Heidegger, erfahre der Mensch die Sinnlosigkeit seiner Existenz. Doch weshalb sollte mich gerade hier, wo ich nach einem tropischen Regen bei dreißig Grad Celsius und beinahe hundert Prozent Luftfeuchtigkeit an einer Bar an einem Mojito nippe, zehntausend Kilometer von zu Hause entfernt, die »Belanglosigkeit und Unbedeutsamkeit« meiner Existenz überfallen? Die Landschaft ist atemberaubend, Flora und Fauna gehören zum Reichsten, was die Erde zu bieten hat, die Menschen sind freundlich und das Essen ist wunderbar. Es fehlt, so scheint es, nichts zum vollendeten Glück.

    Woher also diese untergründige Irritation, die mich nicht loslässt?

    Es ist etwa elf Uhr nachts. Ein Motorroller schlängelt sich durch den Verkehr, der Vater am Steuer, die Mutter hinter ihm, zwischen ihnen eingeklemmt ein kleiner Junge von etwa sechs Jahren. Alle fahren ohne Helm. Der Junge scheint zu schlafen, jedenfalls sind seine Augen geschlossen. Ach, wie nett, denke ich, wie frei die Menschen hier sind, sie müssen sich nicht um kleinliche Verkehrsregeln kümmern, leben ohne solche Einschränkungen. Aber sogleich überfallen mich beklemmende Fragen: Was geschieht, wenn der Roller in einen Unfall verwickelt und der Junge verletzt wird? War diese Fahrt ein abenteuerlicher Familienausflug, oder entsprang sie nicht viel eher der bitteren Notwendigkeit, bis tief in die Nacht zu arbeiten? Oder ist dieser Armutsverdacht schon wieder eine aus der Fremdheit geborene Fantasie?

    Oder: Die Wohnung, Airbnb, liegt in einer riesigen Trabantensiedlung etwas außerhalb der Stadt, die wie die Kulisse eines dystopischen Films aussieht, mit zwei winzigen Zimmern, ohne WLAN, ohne einen einzigen Baum in der Umgebung, alle für die Siedlung gerodet. Nichts wie weg hier, war unsere erste Reaktion. Doch die Wohnung ist offensichtlich der Stolz der Besitzerin, die all ihr Geld in sie gesteckt hat, um durch ihre Vermietungen irgendwie über die Runden zu kommen. Der Unwille ihrer Gäste – der meiner Frau, der meines Sohns und meiner – beschämt sie; es ist ihr anzumerken. Wir ziehen alle unsere Beschwerden zurück und loben die Wohnung, beschämt über das eigene Verhalten.

    Oder: Wir sitzen bei stärkster Mittagshitze in einem Straßencafé; das Bier bleibt dank der geeisten Gläser kühl. Gegenüber steht eine junge Frau in der prallen Sonne. Laut dem Plakat, das sie tapfer vor sich hinhält, bietet sie eine Rückenmassage für 25 Dollar an. Hunderte Menschen, meist rotverbrannte, übergewichtige US-Amerikaner, gehen an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, manche scheinen peinlich berührt und schauen absichtlich in eine andere Richtung. Niemand nimmt das Angebot an. Einen Moment lang denke ich daran, mir selbst eine Massage geben zu lassen und ihr zu den 25 Dollar zu verhelfen. Aber ich kann mich nicht dazu überwinden.

    Oder: Die sehr junge, sehr kleine Mutter, selbst noch ein Kind, versucht mitten in der Nacht, mit ihrem Baby im Tragetuch, billigen Schmuck zu verkaufen, und gerät zunehmend außer sich, in eine Mischung aus maßloser Wut über die vollen Geldsäcke, die ohne jede Empathie an ihr vorbeigehen, und der schieren Panik, ihr Kind nicht mehr beruhigen zu können. Sie tun uns sehr leid, aber wir brauchen keinen Schmuck und haben überdies auch gar keine Zeit.

    Oder: Die Band, offenbar der indigenen Bevölkerung entstammend, stellt sich mit dem Marimbafon vor dem Restaurant auf, um ihre politischen Botschaften zur doppelten Unterdrückung der indigenen Frauen vorzutragen, was aber viel zu laut ist und ärgerlicherweise unser Gespräch unterbricht, an dem uns liegt.

    Die Liste der Widersprüche ließe sich beliebig verlängern. Es gibt kaum eine Situation, in der ich mich eindeutig verhalten kann, ja in der ich überhaupt weiß, was das richtige Verhalten wäre. Allen, die etwas anbieten, etwas abkaufen? Oder ist das genaue Gegenteil richtig? Und wenn auswählen, nach welchen Kriterien? Soll ich den Preis runterhandeln, weil das zum Spiel gehört und man sonst als Idiot dasteht? Oder wäre das angesichts der realen Unterschiede unanständig?

    Dazu kommen diese mich selbst anwidernden quasi kolonialistischen Affekte: der Ärger über die langsame Bedienung, über die Raser, die für Fußgänger nicht stoppen, über die mangelnde Hygiene, über das nicht funktionierende WLAN, darüber, beständig übers Ohr gehauen zu werden. Egal, was ich tue, es ist falsch; egal, was ich fühle, es ist herablassend, blasiert, kolonialistisch.

    Ich bin nicht mehr ich selbst.

    Doch was heißt überhaupt sich selbst sein? Oder, anders gefragt, was macht Identität aus? Am ehesten könnte man Identität als weitgehende Übereinstimmung von Selbstbild, Selbstideal und Verhalten definieren: Ich bin (beinahe) so, wie ich sein will und wie ich von anderen gesehen werden möchte, und entsprechend verhalte ich mich auch. Wer sich als sportlichen und körperbewussten Menschen sieht, ernährt sich entsprechend und trainiert dafür genug. Dass jeder und jede bisweilen davon abweicht, ist normal, und manchmal macht es sogar richtig Spaß, etwas zu tun, das so gar nicht zu einem passt – zum Beispiel als Kritiker des Nationalismus hemmungslos die »eigene« Nationalmannschaft zu unterstützen. Doch im Großen und Ganzen sollten die einzelnen Elemente eine Einheit bilden; Identität erträgt keine groben Widersprüche.

    Die Einheit der Identität muss durch eine Weltanschauung, das heißt durch ein einheitliches Weltbild mit konsistenten moralischen Werten abgesichert werden. Weltanschauung und Identität stabilisieren sich gegenseitig; mein Verhalten sollte mit der Sicht zusammenpassen, die ich auf die Welt habe. Die Übereinstimmung von Weltanschauung und Identität – daran glaube ich, und deshalb verhalte ich mich so, wie ich mich verhalte – erfahren wir subjektiv als Bedeutsamkeit unserer Existenz, als Gefühl, dass es eine Rolle spielt, wie wir handeln.

    Seit ich das Flugzeug in Mexiko verlassen habe, funktioniert das Bild, das ich von mir selbst habe, nicht mehr als Leitlinie meines Handelns. Was immer ich tue, stimmt weder mit meinem Selbstbild noch mit meinen Werten überein – und es ist angesichts der realen Widersprüche auch gar nicht in Übereinstimmung zu bringen. Dadurch entsteht genau das Gefühl, das Heidegger beschreibt, das Gefühl der Belanglosigkeit und Unbedeutsamkeit der eigenen Existenz. Erik H. Erikson (1902–1994), ein auf die Adoleszenz spezialisierter Psychoanalytiker, sprach in solchen Fällen von »Identitätsdiffusion«: Es ist, als gerate der Boden ins Rutschen, als spiele man in einem Spiel mit, dessen Regeln man nicht kennt, als spiele nichts mehr wirklich eine Rolle, nicht, was ich tue und lasse; nicht, wer ich wirklich bin. Natürlich kann man, wie Heidegger, dieses Gefühl als »eigentliches« bezeichnen und die Sinnlosigkeit als höhere Wahrheit feiern. Doch der Sinnlosigkeit höhere Weihen zu verleihen, ist lediglich ein Taschenspielertrick; für gewöhnliche Menschen – die Heidegger eh verachtete – ist Identitätsdiffusion bedrohlich.

    Möglicherweise sind wir Schweizer für diesen beängstigenden Zustand besonders anfällig. Die Willensnation Schweiz hat nämlich seit Jahrhunderten eine Meisterschaft darin entwickelt, Widersprüche zu exportieren – und daran zu verdienen. Damit vermieden wir, uns die Finger selbst schmutzig zu machen, und wenn, dann als Händler, nicht als Eroberer. Krieg und Gewalt? Findet seit den Söldnern im 15. Jahrhundert bis Bührle im 20. Jahrhundert im Ausland statt. Arbeitslosigkeit? Sie wurde uns in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts von Italien abgenommen. Umweltverschmutzung? Da kaufen wir uns frei.

    In der Schweiz muss man Widersprüche weder verleugnen noch schönreden; sie existieren einfach nicht. Sie sind weitgehend ausgelagert. Das erlaubt allen, auch sogenannten kritischen Zeitgenossinnen, eine klare, eindeutige Identität mit einer widerspruchsfreien Weltanschauung zu entwickeln. In der Schweiz kann man mit sich im Reinen sein.

    Doch nach einem Flug von vierzehn Stunden begegne ich all jenen Widersprüchen wieder, die ich so sauber entsorgt geglaubt hatte – und begegne jenen Menschen, die an unseren Widersprüchen zu ersticken drohen. Die meisten Menschen hier können sich das Gefühl, mit sich übereinzustimmen, schlechterdings nicht leisten, genauso wenig wie eine widerspruchsfreie Weltanschauung oder eine einheitliche Identität. Damit bricht aber auch mein fein gefügtes Gebäude aus Identität und Weltanschauung in sich zusammen.

    Stimmige Erzählungen

    Nie war mir die Philosophie ferner als in den Wochen nach Beginn des Krieges in der Ukraine. Angesichts der realen Möglichkeit eines Atomkrieges schien mir die Philosophie völlig ungeeignet, etwas zum besseren Verständnis dieser unbeschreiblichen, menschengemachten Katastrophe beizutragen. Dabei übersah ich, dass das Philosophieren schon immer eine intime Verbindung zum Krieg hatte. Der Krieg sei der Vater aller Dinge, meinte der Vorsokratiker Heraklit.

    Insbesondere die Philosophie der Neuzeit war zu Beginn ein politisches Projekt; sie sollte Frieden schaffen. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wüteten in Europa verheerende Religionskriege – der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) und der englische Bürgerkrieg (1639–1651) –, die an Zerstörung, Leid und Grausamkeit alles Bisherige in den Schatten stellten. Marodierende Banden hinterließen eine blutige Spur ausgebrannter Städte, verwüsteter Dörfer, kahlgefegter Äcker und entleerter Landstriche; überall lagen die Leichen erschlagener, gefolterter und vergewaltigter Menschen. Die Kriege hatten, begleitet von Hungersnöten und Seuchen, die Bevölkerung Europas fast um ein Viertel reduziert. Die fein säuberliche »Schadensliste«, die nach einem Überfall der kaiserlichen Soldaten auf das hessische Reinheim im Mai 1635 bei der zuständigen Obrigkeit eingereicht wurde, liest sich so: »Hans Philipp Goßmann von Spachbrücken zu Tod geschlagen. Hans Gerhards schwangeren Frauen die Rippen entzweigeschlagen, dass sie bald gestorben. Jakob Hans Frau zu Tod geschändet. Hans Simon mit dem Gemächt ufgehängt und vollends erschlagen […] Summa: 18 Personen.«

    Trotz fundamentaler Differenzen stimmten die bedeutenden Philosophen der Zeit, allen voran Thomas Hobbes und René Descartes, darin überein, dass die größte Gefahr für einen dauerhaften Frieden von religiösen Schwärmern ausgehe, von den enthusiasticks, wie sie in England genannt wurden. Der Kirchenhistoriker Friedrich Spanheim schreibt 1643:

    Unter Enthusiasten verstehen wir fanatische Menschen, die entweder vortäuschen oder annehmen, Gottes Atem oder Inspiration zu empfangen, und sei es durch teuflische, melancholische oder willentliche Illusion sich selbst und andere täuschen, dass solche Inspiration göttlicher Offenbarung zugeschrieben werden muss.¹⁰

    Wer sich wie die Geisterseher, Schwärmer und Enthusiasten auf die Existenz unsichtbarer Kräfte beruft, entzieht seine Behauptungen der intersubjektiven Überprüfung. Das persönliche Erleben wird zur göttlichen Inspiration verklärt und gegen jede Kritik immunisiert. Wo aber die Möglichkeiten der Überprüfung von Behauptungen fehlen, entstehen Gewalt und Krieg. Der Autorität der persönlichen Offenbarung kann nur mit Waffen, nicht mit Argumenten Nachdruck verliehen werden – das ist heute nicht anders.

    Letztlich erfüllte nach Ansicht der Philosophen des 17. Jahrhunderts nur die Mathematik die Bedingungen eines überprüfbaren, universalen Wissens. Die unabdingbare Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden ist deshalb eine Philosophie, die sich an die Mathematik anlehnt. So schreibt der Historiker der Royal Society Thomas Sprat:

    Das einzige Heilmittel, das für diese Extravaganz [des Enthusiasmus, DS.] gefunden werden kann: eine enge, nackte, natürliche Redeweise und alle Dinge so nahe an die mathematische Schlichtheit zu bringen wie möglich.¹¹

    Der Traum einer an die Mathematik angelehnten, universalen Philosophie, die dem Krieg ein für alle Mal ein Ende bereitet – ein Traum, dem noch Kant in seiner Schrift »Zum Ewigen Frieden« (1795), wenn auch ironisch gebrochen, nachhing –, hat sich offensichtlich nicht erfüllt. Das hat uns der Ukrainekrieg heute wieder vor Augen geführt.

    Zu den gespenstischsten Szenen dieses Krieges gehören die Pressekonferenzen von Sergej Lawrow. Wie eine mechanische Sprechpuppe gibt der russische Außenminister die von seinem Chef verordneten Sprechblasen von der Entnazifizierung der Ukraine und vom Völkermord in der Ostukraine zum Besten. Es ist ihm anzusehen, dass er selbst nichts von dem glaubt, was er sagt, und dass er weiß, dass ihm auch die anwesenden Journalisten und Journalistinnen kein Wort abnehmen. Ähnlich lächerlich waren die Inszenierungen, in denen der Verteidigungsminister und der Generalstabschef vom anderen Ende des riesigen weißen Tisches wie verängstigte Pudel den Befehl Putins zur Bereitstellung der Atomstreitmacht entgegennehmen. Selbst Putin wirkt, als fühle er sich im falschen Film.

    Weshalb gehören solche Propagandaveranstaltungen, so grotesk und unglaubwürdig sie sein mögen, zu jedem Krieg? Was ist der Sinn solcher Rituale, an deren Inhalt ohnehin niemand glaubt? Weshalb wäre es unmöglich gewesen, zu sagen: Wir verleiben uns die Ukraine ein, weil wir militärisch überlegen sind und niemand uns daran hindern kann? Warum kommt es auf die Wahrheit in solchen Situationen scheinbar so gar nicht mehr an? Menschen glauben entgegen der naiven Fehleinschätzung der meisten Philosophen nicht an die besseren Argumente, sondern an jene Narrative, die ihnen ein kohärentes Selbstbild erlauben.

    Sigmund Freud vollzog in seinem Artikel »Zur Einführung des Narzissmus« von 1914 eine radikale Kehrtwende in Bezug auf sein Verständnis der Verdrängung:

    Wir haben gelernt, daß libidinöse Triebregungen dem Schicksal der pathogenen Verdrängung unterliegen, wenn sie in Konflikt mit den kulturellen und ethischen Vorstellungen des Individuums geraten. Unter dieser Bedingung wird niemals verstanden, daß die Person von der Existenz dieser Vorstellungen eine bloß intellektuelle Kenntnis habe, sondern stets, daß sie dieselben als maßgebend für sich anerkenne, sich den aus ihnen hervorgehenden Anforderungen unterwerfe. Die Verdrängung, haben wir gesagt, geht vom Ich aus; wir könnten präzisieren: von der Selbstachtung des Ichs. […] Die Idealbildung wäre von Seiten des Ichs die Bedingung der Verdrängung.¹²

    Früher glaubte Freud, dass Vorstellungen verdrängt werden, die den kulturellen Normen widersprechen. Nun ist er der Meinung, dass Vorstellungen verdrängt werden, wenn sie mit der Selbstachtung nicht vereinbar sind. Der Unterschied mag klein erscheinen, er ist aber entscheidend. Selbstachtung, ja Identität überhaupt, ist von einer kohärenten Selbsterzählung abhängig, das heißt von einer plausiblen, in sich stimmigen Erzählung über sich selbst. Was nicht in die Geschichte passt, die ich mir und anderen erzähle, wird verdrängt, erklärt Freud. Neben der Verdrängung gibt es allerdings noch eine andere Möglichkeit, mit disparaten, unintegrierbaren Teilen der eigenen Geschichte und des eigenen Ichs umzugehen: Man schafft eine Erzählung, in die selbst die verpönten Teile passen.

    Genau dies ist die Funktion von Ideologien. Sie offerieren einen plausiblen Kontext, eine stimmige Erzählung für im Grunde inakzeptable Handlungen oder, anders gesagt, für Handlungen, die in anderen Kontexten inakzeptabel wären – wie zum Beispiel einen zerstörerischen Angriffskrieg anzuzetteln. Was also nicht verdrängt werden kann, wird in einen anderen Kontext versetzt – zum Beispiel mittels dem Narrativ eines Großrusslands, an dem die Welt genesen soll –, und plötzlich geht alles auf. Und nicht nur das, wer in anderen Erzählung nur Massenmörder genannt werden kann, ist auf einmal der Retter der Welt.

    Solange Geschichten Sinn und Zusammenhang vermitteln, spielen Argumente keine Rolle. Das Gefühl der inneren Kohärenz ist für die menschliche Psyche derart zentral, dass sie bereit ist, dafür jeglichen kritischen Sinn preiszugeben. In der Filmtheorie nennt man diesen Mechanismus suspension of disbelief, die Bereitschaft, für eine gute Geschichte zu glauben, dass ein Laborunfall dazu führen kann, dass sich ein Mensch mittels Spinnfäden, die aus seinen Fingern sprießen, fliegend durch eine Großstadt bewegt (Spiderman, 2002). Natürlich glaube ich es eigentlich nicht, aber ich bin bereit, meinen Unglauben für eine Weile beiseitezuschieben und mich auf die Geschichte einzulassen, solange sie in sich stimmig ist.

    Das geschieht gerade in Russland. Nicht nur um der politischen Repression zu entgehen, ist man bereit, sich dem grotesken Narrativ Putins zu unterwerfen, sondern auch um die Kohärenz des Selbst, die Selbstachtung und das Gefühl, mit sich im Reinen zu sein, bewahren zu können.

    Eine Ideologie ist demnach eine Geschichte, die ihren Anhängern erlaubt, auch unter Umständen mit sich identisch zu sein, die dies eigentlich nicht erlauben. Oder, genauer gesagt, es wird für das Narrativ, das den Krieg rechtfertigt, ein Kontext gesucht, in dem er nicht völlig absurd erscheint. Meist finden Ideologien diesen Kontext in der Geschichte, und zwar in einem genau ausgewählten historischen Ereignis.

    Allerdings funktioniert eine Ideologie nur, solange sie Erfolg hat. Im Moment der Niederlage ist plötzlich niemand mehr bereit, seinen kritischen Sinn hintanzustellen. Wenn nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich niemand mehr Nationalsozialist gewesen sein wollte, so ist das nicht nur eine böswillige Lüge oder eine Selbsttäuschung, sondern vielen schien es tatsächlich nicht mehr nachvollziehbar, wie sie diesen Rassenunsinn hatten glauben

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