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Das Auge der Nacht: Der letzte Vers
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eBook288 Seiten3 Stunden

Das Auge der Nacht: Der letzte Vers

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Über dieses E-Book

"Der letzte Vers" verstummt in Phy, einem Kontinent, auf dem über ein Jahrhundert lang ein magischer Bann lag. Heute ist der Bann gebrochen, doch seine Auswirkungen sind noch immer spürbar.

Aber weder der Bannwirker noch der Bannbrecher wussten, was ihre Taten darüber hinaus bewirken würden. Eine uralte Prophezeiung wurde erfüllt und eine neue ausgesprochen.
Jetzt, einige Jahre nachdem der Bann gebrochen wurde, ist Lyna, eine Jägerin aus dem hohen Norden, auf ihrer eigenen, ganz speziellen Jagd, während der junge Druide Merik auf der Suche nach Relikten der alten Magie über den Kontinent reist und andere mehr oder weniger schlicht ihr Leben leben.

Das Auge der Nacht schaut auf sie alle herab.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum22. Sept. 2020
ISBN9783347135949
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    Buchvorschau

    Das Auge der Nacht - Markus D. F. Haasl

    1 Der Hauptmann der Wache

    Das Finale

    „Kämpft!", dröhnte es über den Kampfplatz. Ihr gegenüber, auf dem plattgetrampelten und stellenweise bereits blutgetränkten Kampfplatz, stand Robar mit Schwert und Schild. Die Menge feuerte sie an. Lyna hatte lange auf diesen Moment gewartet, sie hatte es bis hierher geschafft, sie durfte es jetzt nicht vermasseln, indem sie etwas überstürzte und unvorsichtig wurde. Dennoch musste sie jetzt schnell und entschlossen handeln, bevor er die Oberhand gewinnen konnte. Lyna trug weniger Rüstung und hatte im Gegensatz zu ihrem Kontrahenten auch keinen Schild; für sie war Angriff die beste Verteidigung. Ihre Schnelligkeit war ihre Stärke. Er mochte mehr Kampferfahrung haben, doch er teilte nicht ihre Motivation, nicht ihre Leidenschaft, nicht ihren eisernen Willen.

    Lyna stürmte direkt auf ihren Gegner zu. Im letzten Moment machte sie einen Schritt nach rechts - weg von seinem Schwert. Die Forstaxt in ihrer Linken schnitt mit dem Schwung ihres Ansturms durch die Luft. Sein Helm würde deren Wucht wenig entgegenzusetzen haben - nicht genug. Robar duckte sich weg und riss seinen Schild hoch. Mit einem lauten „Tock" hieb die Axt eine Kerbe in den Schild, bewirkte jedoch sonst nichts weiter. Lyna setzte direkt nach. Darauf bedacht, auf Abstand zu seinem tödlichen Langschwert zu bleiben, haute sie mit ihrem Sax zu, sobald er hinter seinem Schild hervorschaute. Diesmal versuchte sie ihn am Hals zwischen Helm und Kettenhemd zu erwischen, doch er riss seinen Schild wieder rechtzeitig hoch und ihr Sax, ein Haumesser, schlug nicht in seinen Hals, sondern nur in den Rand seines Schildes. Sie wollte es herausreißen, doch es steckte fest. Verdammt! Er ließ ihr keine Zeit, dies zu ändern. Mit dem Schild stieß er nach ihr. Instinktiv ließ sie ihr Sax los und wich zurück. Gerade rechtzeitig, denn dem Schildstoß folgte ein Stich mit dem Schwert, den sie andernfalls zu spät bemerkt hätte. Ihr blieb nur noch ihre Axt, die sie jetzt mit beiden Händen griff.

    Robar schleuderte sein Schild neben ihr zu Boden, was ihm den Jubel der Menge bescherte. Wie „ehrenvoll" von ihm. Sie wusste es besser. Er gab seinen größten Vorteil einfach auf. Ein Fehler.

    Mit einem Ausfallschritt griff er an. Die Klinge des Langschwerts sauste von schräg oben auf sie zu. Ein kraftvoller Hieb, der auf ihren Hals zielte und jemanden zwar nicht enthaupten, aber definitiv töten könnte. Doch sie war nicht irgendjemand. Sie hatte seinen Angriff erwartet und vor allem war sie flink. Sie duckte sich unter der herannahenden Schwertschneide hinweg, während sie einen Schritt neben ihren Angreifer machte und ihre Axt mit beiden Händen schützend über sich hielt. Wäre sie nicht schnell genug, würde das Schwert von dem Stiel ihrer Axt abgeleitet, ohne dass sie dessen ganze Kraft aufhalten müsste. Das Schwert würde nutzlos in den Erdboden neben ihr schlagen. Doch sie war schneller als das Schwert. Mit einer raschen Drehung ließ sie ihre Axt pfeilschnell in einem Bogen herabfahren. Das Axtblatt schlug in Robars Kniekehle und durchtrennte dessen Hose, Haut, Muskeln und Sehnen. Ein befriedigender, entscheidender Treffer. Hätte sie es gewollt, hätte sie sein Bein vom Knie abwärts mit diesem Hieb kurzerhand abgetrennt. Aber auch so brachte der Hieb eine ausreichende Wirkung. Sein Bein konnte das Gewicht von Körper und Rüstung nicht auch nur einen Wimpernschlag länger halten. Ihr Gegner stürzte schreiend zu Boden. Krachend landete er auf seinem Schild, bevor er vollends in den Dreck des Kampfplatzes rutschte.

    Aufstehen würde er nicht mehr, doch er würde überleben, wenn er zu einem guten Medicus oder Heiler gebracht würde. Das Blut durchtränkte seine lange Wollhose und eine rote Lache bildete sich in der niedergetrampelten Wiese unter seinem grotesk abgewinkelten Bein. Vage hörte sie die Menge raunen, pfeifen und rufen - doch noch schenkte sie dieser keine weitere Beachtung. Ihr Gegner, Robar, Hauptmann der Stadtwache von Alkert, hatte sich noch nicht ergeben. Er lag zwar im Dreck, doch er hielt sein Schwert noch in den Händen. Das Wappen von Alkert auf seinem Wappenrock, den er über seinem Kettenhemd trug, war nur noch schwerlich zu erkennen. Sie selbst trug, abgesehen von Armschienen und einem leichten Brustpanzer, keine Rüstung. Lyna war eigentlich keine Kriegerin - sie war Jägerin, doch Bögen waren bei diesem Turnier verboten. So oder so hielt sie sich besser außerhalb seiner jetzt stark eingeschränkten Reichweite, auch wenn sie hervorragende Reflexe hatte. Sie hätte ihn nun einfach töten können, doch wozu jetzt noch ein Risiko eingehen? Er würde nach und nach verbluten, wenn er sich nicht ergab. Jeder Herzschlag pumpte mehr und mehr Blut aus ihm heraus. Die Zeit war auf ihrer Seite. Außerdem wollte sie, dass er überlebte - zumindest vorerst. Er war der Grund, warum sie überhaupt am Turnier teilgenommen hatte. Einen schnellen, ehrenvollen Tod hier beim Finale des Turniers zu Degaron wollte sie ihm nicht gewähren.

    Robar keuchte, es kostete ihn scheinbar die letzten Kraftreserven, um sich nicht die Blöße zu geben, vor Schmerz zu schreien. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell unter seinem Kettenhemd. Sein Helm war beim Sturz verrutscht und so sah sie sein schmerzverzerrtes, rotes Gesicht, auf dem sich Schweiß und Tränen mischten. Er schaute zu ihr auf. In seinen Augen erblickte sie Wut und das Entsetzen der Erkenntnis, dass er nicht nur verloren hatte, sondern womöglich nie wieder normal gehen können oder sogar sterben würde. Er konnte ihrem Blick nicht länger standhalten. Die Augen zum Himmel gerichtet, warf er sein Langschwert zur Seite und hob die Arme gekreuzt in die Luft. Er hatte sich ergeben. Es war vorbei. Der Kampf war vorbei, das Turnier war vorbei. Eine Anspannung, größer als ihr bewusst gewesen war, fiel von ihr ab wie die Blätter im Herbst von den Bäumen. Doch wie im Herbst auch bei starkem Wind nicht alle Blätter auf einmal fielen, so blieb etwas von der Anspannung nach wie vor zurück. Das Turnier mochte vorbei sein, doch ihre eigene, ganz spezielle Jagd war noch nicht vorbei. Zwar fast, aber noch nicht ganz.

    „Wir haben einen neuen Sieger!, verkündete der königliche Herold Badrig dem Publikum. „Lyna die Jägerin triumphiert über Robar, den Hauptmann der Stadtwache von Alkert! Die Menge toste bei Herold Badrigs Worten, auch wenn wohl keiner zuvor auf ihren Sieg gesetzt hätte.

    Das Turnier zu Degaron fand wie auch der Wettkampf der Schmiede oder das Bogenturnier von Foren jedes Jahr aufs Neue statt. Es wurde vor den Stadtmauern von Degaron ausgetragen, von denen herab es sich einige Wachen und Soldaten nicht hatten nehmen lassen, das Turnier zu verfolgen. Es durften bei diesem Turnier nur ehrbare Bürger, hauptsächlich Soldaten und Stadtwachen, aber auch Handwerker, Gastwirte oder eben Jäger wie sie teilnehmen, die keinen schlechten Ruf hatten und von denen keine Verbrechen bekannt waren.

    Die Bürger und das einfache Volk standen am Rand des Turnierplatzes und weiter hinten auf einem Hügel. Von dem Hügel konnte man die Menge zwar überblicken, jedoch war man zu weit weg, um überhaupt die Kämpfer sicher auseinanderhalten zu können, wenn man nicht gerade ein Elf war. Elfen waren unter anderem für ihre ausgezeichnete Fernsicht bekannt. Auch ihr hatte einmal jemand nachgesagt, sie hätte die Augen einer Elfe, doch sie war keine Elfe. In Phy gab es keine Elfen, nicht seit dem Bann, der vor einem Jahrhundert in Phy gelegt worden war. Mittlerweile war der Bann zwar gebrochen worden, doch ihr war trotzdem noch nie ein Elf begegnet. Auch kannte sie niemanden, der das von sich behauptete.

    Die Edelleute, die Adligen, die Ritter und hohen Damen saßen in ihren teuren, bunten Gewändern auf einer extra für dieses Turnier errichteten Tribüne rund um den König, dessen Familie und nahen Freunden. Während Herold Badrig die Höhepunkte des Turniers lobpreiste und Turnierhelfer kamen, um Robar auf einer Trage ins Lazarett zu bringen, wurde Lyna bewusst, dass sie ab sofort auch zu diesen Edelleuten gehören würde. Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern hatte sie jedoch nicht wegen des Preises für den Sieger an dem Turnier teilgenommen.

    Der Preis für den Sieger war jedes Jahr der gleiche. Zum Ersten eine hübsche Summe Geld, auf dass man sich anständig rüsten könne. Zum Zweiten die Waffe, die der Sieger der Meisterschaft der Schmiede gefertigt hatte, auf dass man gut gewappnet sei. Und zum Dritten den Ritterschlag, welcher einen zu einem Ritter von Euried erhob, auf dass man Euried und dessen Gesetze achten und verteidigen werde. Als Ritter wird man in den Dienst des Königreichs genommen wie ein Soldat, jedoch leistet man keinen förmlichen Eid und erhält keinen Sold, dafür genießt man die Privilegien des niederen Adels. Den Ritterschlag würde Prinz Aralin von Euried persönlich erteilen.

    Der Preis war ansehnlich und so ein Ritterschlag würde neben den lästigen Pflichten auch Vorteile bringen, jedoch hätte sie dafür nicht im Traum ihr Leben riskiert. Auch wenn die Kämpfe des Turniers nicht auf Leben oder Tod ausgelegt waren, so wurde doch mit scharfen Waffen gekämpft. Verletzungen und Verstümmelungen standen auf der Tagesordnung und auch Tote waren keine Seltenheit. Sie hatte wegen Robar an dem Turnier teilgenommen und würde ihm später im Lazarett einen Besuch abstatten. Weglaufen konnte er jetzt ja schlecht.

    „Die Ehrung unserer Siegerin wird zu Beginn der vierten Wache auf dem Schlossplatz stattfinden! Lyna, Siegerin des Turniers zu Degaron! Gehet nun, ruhet euch aus, waschet den Schweiß des Kampfes ab und stärket euch!, verkündete Badrig mit seiner dröhnenden Stimme und fügte witzelnd hinzu: „Auch wenn ihr nicht ausseht, als ob ihr sonderlich ins Schwitzen gekommen wäret. Unter dem Applaus der großenteils auflachenden Menge, gemustert von den Edelleuten, zu denen sie nachher bereits gehören würde, verließ sie den Turnierplatz. Sie sah zu, dass sie sich von der Menge entfernte, um bis zur Ehrung ihre Ruhe zu haben.

    Schnellen Schrittes lief sie zwischen den anderen Zelten hindurch bis zu ihrem. Die Zelte waren vor der Stadt zur Unterbringung der Teilnehmer aufgebaut worden. Bis zur vierten Wache hatte sie noch Zeit, es war erst später Morgen. Zuerst würde sie ihre Axt und ihre Kleidung reinigen. Anschließend würde sie etwas essen, ein Bad nehmen, ihre gesäuberten Sachen anziehen, ihre Waffen anlegen und dann bereits in die Stadt gehen und beim Schlossplatz auf die Ehrung warten.

    Der Preis des Siegers

    Die dritte Wache war zur Hälfte vorüber, als Lyna sich auf den Weg in die Stadt und zum Schlossplatz machte. Sie hatte, seit sie im Frühjahr aufgebrochen war, immer noch dieselben Kleider an. Sie besaß auch zuhause nicht viele andere Kleidungsstücke, doch die Kleider, die sie trug, waren dafür passgenau maßgeschneidert. Lyna trug kniehohe Stiefel, feine, lange Handschuhe und eine lange Hose aus kastanienbraunem Leder. Sie hatte Armschienen aus verleimten Leinen, die mit demselben braunen Leder überzogen waren. Über ihrer weißen, kurzen und ärmellosen Leinenuntertunika trug sie als Brustpanzer eine gepolsterte Weste, die teilweise verleimt und wie ihre Armschienen mit Leder überzogen war.

    Armschienen und Brustpanzer hatte sie sich vor dem Turnier zugelegt. Die Weste schützte zwar weniger von ihrem Körper als ein Gambeson, da sie weder Arme noch Oberschenkel bedeckte, doch Lyna zog die dadurch fehlenden Behinderungen in ihrer Beweglichkeit dem zusätzlichen Schutz vor. Solange sie ausweichen konnte, musste ihre Kleidung auch nichts abhalten, aber eine Rüstung, die sie nicht störte, konnte schließlich nicht schaden. Auch wenn man sich mit Gambeson und Kettenhemd, ja auch mit einer Vollplattenrüstung, noch gut bewegen konnte – Lyna mochte es nicht, wenn sie etwas in ihrer Bewegung auch nur geringfügig behinderte. Die Weste bot so zumindest ihrem Torso einen ordentlichen Schutz. Einen Helm hatte sie nicht gekauft, auch wenn sie sich der daraus resultierenden Gefahren für ihren Kopf durchaus bewusst war. Die Einschränkung ihres Sichtfeldes oder Gehörs war ihr mindestens ebenso zuwider wie Beeinträchtigungen ihrer Beweglichkeit. Vor allem konnte sie jedoch das Gewicht auf ihrem Hals schlicht nicht leiden.

    Über ihrer Weste trug sie ihren schwarzen Wollmantel. Ein samtiges aber robustes Gewand, das durchaus Ähnlichkeiten mit einem Kleid mit langen Ärmeln und Kapuze hatte. Der Mantel war hinten etwas länger als vorne und eingeschlitzt, sodass er sie auch bei einem Ausfallschritt nicht behinderte. Ihre Kleidung mochte vom Stil etwas sonderbar und nicht sonderlich edel wirken, aber sie war aus hochwertigem Stoff und Leder. Sie raschelte nicht bei jeder Bewegung, war funktional, leicht, wetterfest, warm, aber auch nicht zu warm und nicht zu vergessen: bequem.

    An ihrem Gürtel, den sie über ihrem Mantel trug, waren mehrere kleine Taschen und Beutel für Geld, Proviant und andere praktische Kleinigkeiten sowie ihr Trinkschlauch angebracht.

    Ihre Waffen trug Lyna auf dem Rücken. Ihren bespannten Kurzbogen hatte sie, wie in Norwes üblich, so über den Rücken gehängt, dass die Sehne diagonal über ihre Brust lief. Ebenso hatte Lyna die Axt an einem Lederriemen über ihren Rücken hängen sowie ihren Köcher, welcher zudem am Gürtel befestigt war. An dem Köcher war auch die Scheide für das Sax gegenläufig angebracht. So hingen Köcher und Sax diagonal auf Hüfthöhe. Doch die Scheide für ihr Sax, das ihr unter anderem als Jagdmesser diente, war nun leer. Nach der Zeremonie würde sie noch einen Schmied aufsuchen. Ihr Sax, ein langes Haumesser, hatte Robars Sturz auf seinen Schild, in dem es noch steckte, nicht überstanden. Die Klinge war gebrochen.

    Die Kapuze ihres Mantels verbarg ihre geflochtenen, in einem Zopf endenden, kastanienbraunen Haare. Ihre blattgrünen Augen mit der türkisblauen Maserung schauten aufmerksam wie immer darunter hervor. Lyna überquerte den breiten Wassergraben vor der Stadtmauer über die Zugbrücke und ging mit großen Schritten durch das offenstehende Stadttor von Degaron. Trotz ihrer offen getragenen Waffen wurde sie nicht angehalten. Nicht dieser Tage in Zeiten des Friedens, da so viele Leute vom Turnier die Tore passierten. Sie bog von der gepflasterten Hauptstraße ab und ging über die schmalen, verwinkelten Gassen zwischen den Fachwerkhäusern hindurch. Sie zwängte sich nicht durch die wirklich engen Gassen und mied die verrufenen Viertel. Schließlich wollte sie ihre frisch gereinigte Kleidung nicht jetzt vor der Ehrung direkt wieder beschmutzen. Generell war sie lieber etwas abseits statt mitten zwischen so vielen Leuten. Selbst wenn man von der Gefahr durch Taschendiebe im regen Treiben einmal absah.

    Lyna zog die Ruhe der Natur dem Lärm der Stadt vor. Vermutlich lag es daran, dass sie fast ihr ganzes Leben in der Natur unterwegs gewesen war. Sie war in einem kleinen Haus, recht abgeschieden von Lovag, dem nächsten Dorf in Norwes, aufgewachsen. Ihr Vater Kraridos hatte es am Waldrand unweit der Nordküste von Phy errichtet. Es lag in einer Senke, welche zu einer Bucht in der Steilküste führte. Sie hatte dort nicht nur ihre Kindheit verbracht, sondern bis Anfang dieses Jahres dort mit ihrem Vater gelebt. Geschwister hatte sie keine und an ihre Mutter konnte sie sich nicht erinnern; sie war gestorben, als sie noch ein Säugling war.

    Ihr Vater Kraridos war Schreiner und Schnitzer, der sich auf das Anfertigen von Tier-Galionsfiguren für Schiffe spezialisiert hatte, aber gab man ihm sein Werkzeug und ein Stück Holz, konnte er so ziemlich alles daraus herstellen, was irgendwie möglich war. So fertigte er auch diverse Schnitzereien für einen Händler im Dorf, hatte das ganze Mobiliar ihres Hauses, die Schindeln auf dem Dach und auch ihren Bogen hergestellt. Er hatte ihr das Jagen beigebracht und sie vieles von dem gelehrt, was sie jetzt wusste. Welche Beeren, Früchte, Pilze und Muscheln man essen konnte, wie man Spuren oder auch die Schrift las. Wie man schrieb, Feuer machte, kochte, eine Forstaxt schwang, mit dem Bogen schoss oder mit dem Sax ein Tier häutete.

    Das Jagen und Schießen lagen ihr dabei schon immer besonders gut. Schon früh war sie allein jagen und sammeln gegangen, während er an der nächsten Galionsfigur arbeitete. Sie war viel durch den Wald und das Moor gerannt, hatte wieder und wieder die Klippen der Steilküste erklommen, nur um von dort aus Spaß wieder in die Wogen des Meeres zu springen und nach Berasperlen zu tauchen. Die erste Perle, die sie gefunden hatte, war grün wie ihre Augen. Lyna trug sie noch immer bei sich, während sie die anderen verkauft hatte.

    Die Lehrstunden ihres Vaters im Bogenschießen und ihre zahlreichen Jagdausflüge hatten ihr vor vier Jahren – sie war da gerade sechzehn gewesen – beim Bogenturnier in Foren den ersten Platz beschert, wodurch sie eine Jagdlizenz für Euried gewonnen hatte. Im Königreich Euried durfte nicht wie in Norwes jeder freie Mann einfach jagen. Wenn man kein Adliger war, bedurfte man hier einer Jagdgenehmigung, welche man entweder als fertig ausgebildeter Lehrling eines Jägers, als Bogenschütze in der Armee nach seinem Dienst oder wie sie durch das Gewinnen des Bogenturniers in Foren bekommen konnte. Es war ihr erstes Mal gewesen, dass sie Norwes verlassen hatte, auch wenn Foren direkt an der Grenze zu Norwes lag.

    So in Gedanken versunken war sie bereits bei der Abtei angekommen. Direkt hinter der Abtei von Degaron und hinter der Kirche mit ihrem hohen Turm lag der Schlossplatz. In Norwes gab es weder Abteien noch Kirchen. Druiden hüteten die Legenden, dienten den Göttern der Natur und berieten die Häuptlinge. Lyna war nicht besonders religiös. Auch wenn sie an die Existenz der Götter glaubte, so glaubte sie nicht an Gebete. Bis sie erwachsen wurde, hatte sie kein Heiligtum betreten und dieses eine Mal hatte sie in ihrem Glauben, sich nicht auf die Götter zu verlassen, bestärkt.

    Sie trat auf den Schlossplatz. Auf ihm hatten sich schon einige Leute versammelt, um die Siegerehrung zu sehen. Handwerker, Händler, Arbeiter, Wachen, Kinder und andere tummelten sich bereits vor dem Schloss. Das Schloss von Degaron bestand aus zwei getrennten Anlagen: zum einen das Gebäude vor ihr, welches sich über die ganze Breite des Marktplatzes erstreckte und als Regierungs- und Verwaltungsgebäude der Stadt und des ganzen Königreiches diente, und zum anderen aus dem Wohnschloss der königlichen Familie, welches auf

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