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Tales of Martyria: Zwischen Clan und Ehre
Tales of Martyria: Zwischen Clan und Ehre
Tales of Martyria: Zwischen Clan und Ehre
eBook453 Seiten6 Stunden

Tales of Martyria: Zwischen Clan und Ehre

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Über dieses E-Book

Martyria, ein Land zerrissen von Krieg und Machtspielen. Drei unversöhnliche Mächte kämpfen um die Vorherrschaft.
Inmitten dieses chaotischen Konflikts führt Leutnant Sigurd Kobaltbart eine Expedition auf die Heimatinsel der wilden Shraz'na.
Zwergen und Ureinwohnern droht ein eskalierender Konflikt. Sigurd muss zwischen Moral und Status wählen, während der junge Shraz'na Sierrkha um das Überleben seines Volkes kämpft. Eine Welt voller Intrigen, Gefahren und unerwarteter Wendungen - wer wird am Ende siegen, und wer wird in diesem epischen Kampf ums Überleben untergehen?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Okt. 2023
ISBN9783347955349
Tales of Martyria: Zwischen Clan und Ehre
Autor

Simon van de Loo

Simon van de Loo wurde am 26.11.1991 in Düsseldorf geboren. Schon in jungen Jahren entwickelte er ein starkes Interesse an belletristischen Texten, insbesondere an Abenteuergeschichten wie "Die Schatzinsel" von Robert Louis Stevenson. Während seiner Schulzeit entdeckte er seine Liebe zum Fantasy-Genre und begann im Alter von etwa 10 Jahren seine ersten Geschichten zu schreiben. Im Jahr 2015 begann er dann mit dem Projekt "Steamworks&Fangs", einem jugendlichen Cross-over aus Fantasy und Coming-of-Age-Drama, welches jedoch nie vollständig fertiggestellt wurde. Simon van de Loo's Schreibstil zeichnet sich durch einen aktiven Einsatz von Beschreibungen und Metaphern sowie tiefe Einblicke in die Gedankenwelt seiner Protagonisten aus. Nach einer längeren Pause, in der er seinem Beruf in der Altenpflege nachging und Vater wurde, fand er 2022 die Inspiration, um wieder an einem großen Romanprojekt zu arbeiten. So entstand "Tales of Martyria", ein Steampunk/Fantasy-Epos mit einem ausgeprägten Sinn für die psychologischen Aspekte seiner Charaktere. Bisherige Veröffentlichungen: Martyria Stories vol.1: „Schwefelstein“ (Kurzgeschichte), 20.03.2023, ASIN B0BZ53B35T Martyria Stories - The Marybeth Chronicles: Ungerührt (Novelle),

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    Buchvorschau

    Tales of Martyria - Simon van de Loo

    TEIL 1: 1856 - VERLUST

    KAPITEL 1 - TRANSZENDENZ: ROTTENBRUDER

    Sierrkha kroch durch den feuchten Schlamm einer lehmigen Mulde im Dschungel, als würde er sich durch ein Meer aus flüssigem Teer bewegen. Jeder Schritt war ein Kampf gegen die klebrige Masse, die an seinen Füßen zog und ihm seine Bewegungsfreiheit nahm. Ihm entfuhr ein tiefes Knurren, als er bemerkte, dass er die Spur des verletzten Tigers, dessen Pfotenabdrücke ihn hierhergeführt hatten, verloren hatte. Wie ein flüchtiges Wetterleuchten in der Nacht waren sie im weichen Untergrund verschwunden, als hätten sie niemals existiert.

    Doch Sierrkha war ein Shraz’na und somit ein Teil dieser Wildnis. Von solch geringfügigen Hindernissen ließ er sich bestimmt nicht entmutigen. Er zwängte sich unter einem morschen Baumstamm hindurch, der wie ein verwitterter Koloss halb auf dem Boden auflag, und spürte die Erleichterung, als er wieder auf festem Boden stand.

    Es war sein Glück, dass die Prüfung der Wildnis für die jungen Anwärter der Rotte bereits stattfand, wenn sie ihre fünfte Regenzeit erlebt hatten. Obwohl er wusste, dass er körperlich schwächer war als die Erwachsenen, so hielt er sich zumindest für schneller und wendiger. Auch hatte er keine Mühe, sich lautlos und unbemerkt durch das Dickicht zu bewegen. Eigenschaften und Talente, die den erfolgreichen Jäger von jenen unterschieden, die im Dschungel ein schnelles Ende fanden. Sierrkha war sich bewusst, dass er sich in einem gefährlichen Territorium befand. Der Urwald um ihn herum war ein wunderschönes Meer aus grünen und braunen Farben, durchzogen von hellen Lichtflecken, die sich ihren Weg durch das Blätterdach bahnten. Doch er war auch gnadenlos, und selbst die kleinste Unachtsamkeit konnte bereits den Tod bedeuten. Die Kinder der Shraz’na mussten früh lernen, ihre Stärken zu nutzen und ihre Grenzen zu kennen, wenn sie überleben wollten. Sierrkha wusste, dass er noch sehr jung war, aber er war kein Narr. Ihm war klar, dass die Wildnis keine Fehler verzieh und dass er keine Zeit hatte, um unbesonnen und kindlich zu sein.

    Er fuhr sich mit seiner Hand durch das Gesicht und versuchte, eine verfilzte silbergraue Haarsträhne, die lose über seine rechte Gesichtshälfte hing, hinter sein angelegtes spitzes Ohr zu schieben. Jeder Moment zählte, und er konnte es sich nicht leisten, von solchen Kleinigkeiten abgelenkt zu werden. Er schloss die Augen und stellte sich vor, dass er der verletzte Tiger war. Wohin würde er fliehen? Wo würde er sich verstecken?

    Ein lautes Platschen riss ihn aus seinen Gedanken. Instinktiv ging Sierrkha in die Hocke und zog seinen Dolch. Sein Herz raste, als er sich mental auf die mögliche Gefahr vorbereitete, die sich ihm näherte. Als er dann aber schlurfende Schritte im Morast vernahm, entspannte er sich augenblicklich. Wie ein lauernder Jaguar lauschte er in die Dunkelheit, bis er die ungefähre Position seines Artgenossen ausgemacht hatte. Behände kletterte er auf einen tief hängenden Ast und pirschte sich vorsichtig an. Und da war er, Zrassha, ein Konkurrent aus seiner Rotte, der soeben die sumpfige Grube betreten hatte. Wütend sprang Sierrkha direkt vor dem anderen Jungen auf den Boden, dessen dunkelbraune Haut wie in einer perfekten Tarnung im Schlick der Grube unterging, und enthüllte sein scharf bezahntes Gebiss. Ihm war klar, dass Zrassha dasselbe Ziel wie er verfolgte. Er kannte diesen Jungen bereits seit seiner Geburt und schon immer hatte er versucht, in einen albernen Konkurrenzkampf mit ihm zu treten. Doch die Beute, der er seit vielen Nächten durch die Wälder gefolgt war, gehörte ihm allein. Die Kratzwunden auf seiner Brust waren der Beweis für seinen mutigen Kampf gegen das wilde Tier. Und doch wagte Zrassha es, ihm seinen Anspruch streitig zu machen. Sierrkhas Verachtung stieg brennend in seiner Brust empor und entlud sich schließlich in einem animalischen Fauchen. Der junge Shra’zna beschloss, seine Beute mit aller Macht gegen seinen Widersacher zu verteidigen.

    Sierrkha blickte Zrassha aus seiner kauernden Haltung heraus mit zusammengekniffenen Augen an. »Was willst du hier? Das ist mein Tiger. Ich verfolge ihn seit vielen Nächten und habe auch bereits gegen ihn gekämpft.«

    Zrassha hockte sich vor Sierrkha und betrachtete die Kratzwunden auf dessen Körper mit einem höhnischen Ausdruck. »Anscheinend hast du ihn aber nicht getötet. Nur weil du dich von ihm hast erwischen lassen, heißt das nicht, dass du jetzt einen Anspruch auf das Tier hast.«

    Sierrkha knurrte. Er wusste, dass Zrassha recht hatte. Es gab keine Regel, die den Anwärtern verbot, die Beute eines anderen zu jagen. Aber sich nun einfach geschlagen geben würde er auch nicht.

    »Ich werde nicht zulassen, dass du mir meine Beute stiehlst«, sagte Sierrkha und funkelte Zrassha herausfordernd an.

    Zrassha sah ihn mit einem übertrieben unschuldigen Ausdruck an und sagte ebenso geheuchelt: »Sierrkha, wir haben während der Prüfung nicht die Erlaubnis, gegeneinander zu kämpfen. Das weißt du genauso gut wie ich.«

    Sierrkha lächelte listig. Wenn sein Widersacher das Spiel so spielen wollte, dann konnte er es so haben. Er erwiderte: »Warum sollte ich kämpfen, um dir Probleme zu bereiten? Vielleicht tue ich das bereits, indem ich einfach hier stehe und dich beschäftige, während der gestreifte Kerl im Dschungel das Weite sucht.«

    Die Provokation zeigte Wirkung. Zrassha wirkte deutlich unruhiger als zuvor. »Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich werde den Tiger finden, bevor er sich zu weit entfernt oder – Zamah bewahre – du ihn noch vor mir aufspürst.«

    Gerade wollte Sierrkha ihm antworten, doch sein Rivale ignorierte ihn und konzentrierte sich auf seine Umgebung. Seine Ohren spitzten sich wie die eines Luchses auf der Pirsch und sein Blick durchdrang das Dickicht wie ein abgeschossener Pfeil aus einem Bogen. Plötzlich schien Zrassha eine Bewegung zu bemerken. Er lächelte triumphierend und sprintete los, die wenigen roten Zöpfe auf seinem sonst geschorenen Haupt hinter sich herziehend. Sierrkha fluchte innerlich. Sein Kontrahent musste etwas bemerkt haben, das ihm entgangen war. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er musste seinen Kontrahenten einholen und die gemeinsame Beute finden, bevor es zu spät war.

    So schnell und geschmeidig wie Raubkatzen bewegten sich die beiden Shraz’na durch den undurchdringlichen Wald. Jeder Schritt war ein leiser, gezielter Tritt, als ob sie sich auf den Zehenspitzen fortbewegten – nur viel schneller. Der Geruch von feuchtem Laub und Blumen erfüllte Sierrkhas Nase und der vertraute Klang der Vögel und Insekten umgab ihn wie eine lebendige Symphonie der Wildnis. Er folgte Zrassha immer tiefer in den Dschungel hinein, durch dichtes, dorniges Gestrüpp und über matschige Böden. Schließlich blieb Zrassha abrupt stehen und Sierrkha wäre beinahe in ihn hineingerannt. Im letzten Moment konnte er sich noch abfangen und blieb wie erstarrt stehen. Mit einem Fingerzeig gebot Zrassha ihm, leise zu sein und obwohl er sich fragte, weshalb, versuchte er genauso lautlos wie sein Rottenbruder zu sein, während er ihm mit geschärften Sinnen durch die Tiefen des Urwalds folgte. Die Geräusche, die sie hörten, waren eindeutig Schritte. Insgeheim war Sierrkha reichlich beeindruckt von Zrasshas Gehör. Er selbst hätte sie nicht auf so große Entfernung hören können, während er bereits einer anderen Beute folgte. Doch etwas an dem Knirschen des Bodens und dem Rascheln des zertretenen Laubwerks war ungewohnt. Das Auftreten von Shraz’na war stets vorsichtig und leicht, beinahe lautlos, und andere zweibeinige Dschungelbewohner gab es nicht. Diese Füße jedoch erzeugten weitaus lärmendere Klänge, wenngleich sie eindeutig zu Wesen gehörten, die sich ähnlich fortbewegen mussten wie seine eigene Art.

    Im Wald gab es vieles, das von einem aufmerksamen Ohr gehört werden konnte: Das Rauschen der Blätter im Wind, das Singen der Vögel und das Schreien der wilden Tiere. Diese Schritte hingegen waren alles andere als ein Teil der Wildnis und ihrer natürlichen Harmonie. Sie gehörten nicht hierher. Klangen fremdartig und grotesk. Sierrkha beschloss, so bald wie möglich dem Ältesten über das unheimliche Getrampel zu berichten. Doch das musste warten, bis er die Jagd erfolgreich abgeschlossen hatte und er der Tradition entsprechend in die Rotte aufgenommen worden war.

    Während er weiterhin Zrassha durch den dichten Dschungel folgte, machte dieser immer wieder Halt, nahm schnuppernd Gerüche mit seiner Nase auf, oder betrachtete bestimmte Dinge mit großem Interesse, als würde er verborgenen Hinweisen folgen. Beinahe hätte Sierrkha die noch immer gut in einiger Entfernung hörbaren Schritte aus seiner Wahrnehmung verdrängen können, doch plötzlich gesellten sich Stimmen dazu. Dunkel, volltönend und anders als alles, was er je aus dem Munde eines Shraz’na gehört hatte. Sie klangen wie das Grollen des Donners über dem Ozean oder wie das Bersten eines jungen Baums. Auch die Sprache, in der sich die Unbekannten offensichtlich unterhielten, war fremd, als wären sie aus fernen Welten zu ihnen gestoßen. Doch das konnte nicht sein. Außer seiner Rotte gab es vielleicht noch drei oder vier andere Gruppen von Shraz’na, die jedoch in ganz anderen Teilen ihrer Insel lebten. Sierrkhas Herz pochte wie wild. Im Lauf tippte er Zrassha auf die Schulter. »Kannst du erkennen, was diesen Krach verursacht?«, fragte er seinen Rottenbruder.

    Dieser schaute ihn achselzuckend an. »Ich habe keine Ahnung, aber sollen sich damit doch die Krieger aufhalten. Wir haben Wichtigeres zu tun.«

    Sierrkha sah ihn skeptisch an. »Wichtigeres als die Sicherheit der Rotte? Wohl kaum.«

    »Wenn du meinst«, winkte Zrassha ab. »Dann schau du nach dem Rechten und ich schnappe mir derweil den Tiger.« Kurz sah er sich suchend um, fand dann aber seine Spur wieder und rannte los.

    »Das könnte dir so passen«, knurrte Sierrkha und hechtete hinterher.

    Zum Glück endlich etwas Ruhe, dachte Sierrkha, als sie nach einer Weile endlich in eine andere Richtung abbogen und das Getrampel zunehmend verklang. Zwar war die Gefahr damit noch nicht aus der Welt, zumindest war sie aber jetzt nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe. Dann musste er aber an seine Prüfung und den bevorstehenden Kampf mit dem Tiger denken. Sie sind Meister der Täuschung, rief er sich die Intelligenz und Gerissenheit der Katzen ins Gewissen, während er und sein Rottenbruder weiter der Fährte folgten, sie gehen stets ihren eigenen Pfad, ergeben sich niemandem und respektieren nur jene, die sich ihrer als würdig erwiesen haben. Ich muss gut auf mich aufpassen, wenn ich nicht in eine Falle gelockt werden will.

    Obwohl schon viele unvorsichtige Rottenmitglieder und Anwärter den Raubkatzen des Urwaldes zum Opfer gefallen waren, hatten die Shraz’na eine ganz besondere Verbindung zu diesen klugen Tieren. Oft deponierten sie Nahrungsmittel für sie am Rande ihrer Dörfer und einmal im Jahr brachten die Ältesten der verschiedenen Stämme jeweils eine große Opfergabe zu dem majestätischen Wasserfall im Nordosten der Insel. Hinter diesem Vorhang aus kristallklarem Wasser lebte die mächtige Pantherdame Zamah, die Schöpferin und Gönnerin der Wildnis – und somit auch der Rotte. Sie war es, die ihnen der Legende nach das Leben gewährte, die Nahrung, den Zugang zu Wasser. Doch Sierrkha und die anderen Anwärter seiner Rotte hatten die große Katzengöttin noch nie gesehen und sahen in den einheimischen Raubtieren nicht mehr als gefährliche Fressfeinde. Trotzdem war Sierrkha wie alle jungen Anwärter fasziniert von den Geschichten über Zamah, und bewunderte die Schönheit und Anmut ihrer Schöpfungen.

    Der Pfad, auf dem Sierrkha und Zrassha wandelten, wurde immer schmaler und gefährlicher, als ob er von einer unsichtbaren Hand in die Tiefe gedrückt würde. Selbst ihre zarten Füße konnten kaum noch Halt finden und ständig drohten sie, abzurutschen. Ein einziger falscher Schritt konnte einen grausamen Preis fordern, denn während auf der rechten Seite des Pfades undurchdringliches Blattwerk und gewaltige Baumstämme den Weg blockierten, fiel das Land auf der linken Seite steil und unerbittlich ab. Ein Absturz aus dieser Höhe hätte verheerende Folgen, von schmerzhaften Wunden hin zu gebrochenen Knochen und damit wahrscheinlich sogar dem Tod.

    Das Volk der Shraz’na kannte kein Mitleid für Kinder, die in ihrer Prüfung der Wildnis versagten. In ihrer Gemeinschaft gab es vor der Aufnahme in die Rotte keine Familie, die sich um ihre verletzten Söhne und Töchter kümmerte. Stattdessen wurden die Kinder unmittelbar nach der Geburt von ihren Eltern getrennt und in einem umzäunten Bereich am Rande des Dorfes aufgezogen. Die Frauen der Shraz’na, die gerade Milch gaben, übernahmen abwechselnd das Stillen, um sicherzustellen, dass alle hungrigen Säuglinge der Rotte genährt wurden. Derweil wurden die älteren Sprösslinge jede Nacht von den Alten des Dorfes unterrichtet und erhielten eine Vielzahl von Anleitungen: zur Beutejagd, dem Umgang mit verschiedenen Waffen wie Messern, Speeren und Bögen, bis zu den essenziellen Fertigkeiten des Kochens, der Herstellung von Kleidung und dem Bau von Behausungen. Erst nachdem sie in die Gemeinschaft aufgenommen wurden, durften sie ihre Eltern kennenlernen, sofern diese noch lebten und Interesse zeigten. Doch die größte Stärke der Lebensweise der Shraz’na beruhte auf der Tatsache, dass man von Anfang an als Abkömmling der gesamten Rotte betrachtet wurde und nicht nur als Spross einer einzelnen Familie. Wenn man seine Prüfung bestand und das Ritual der zwei Seelen beging, dessen genauer Ablauf den Anwärtern, bis es schließlich geschah, nie erklärt wurde, war man für immer ein Teil dieser Gemeinschaft.

    Gelegentlich stattete auch der Älteste den Kindern einen Besuch ab. Er war der spirituelle Führer der Rotte und seine Stimme hatte bei allen wichtigen Entscheidungen das meiste Gewicht. Wenn er zu den Kindern kam, bedeutete dies in der Regel eines von zwei Dingen: Er erzählte ihnen Geschichten über Zamah, über die Schöpfung der Shraz’na, der Tiere und des Waldes. Oder er kam, um Kinder mitzunehmen, die als ausreichend bereit galten, um ihre Fähigkeiten und ihre Charakterstärke bei der Bewältigung der Herausforderungen der Wildnis unter Beweis zu stellen und schließlich vollwertige Mitglieder der Rotte zu werden. So erging es auch Sierrkha, als vor acht Mondwechseln der Älteste erschienen war und nach ihm und vier anderen Kindern verlangt hatte. Sie waren gebeten worden, sich zu ordnen und von ihren Spielkameraden Abschied zu nehmen, bevor man sie aus dem Dorf geleitete. Ausgestattet mit dem Zamvhi, dem knöchernen Ritualmesser, waren sie schließlich in die Wildnis des Dschungels entlassen worden und für die Dauer der Prüfung nicht länger ein Teil der Rotte. Nun war es die Aufgabe der Prüflinge, das Plateau südlich des großen Wasserfalls mit einem der Panthergöttin würdigen Opfer zu erreichen und das Initiationsritual zu vollziehen, um als vollwertige Shraz’na wiedergeboren zu werden. Damit wurde der Pakt besiegelt und sie wurden zu einem festen Teil der Gemeinschaft. Zumindest war das die Theorie.

    Zrassha verlangsamte seinen Lauf und nahm eine leicht gebeugte Haltung ein. Sierrkha folgte seinem Vordermann und sah eindeutig, dass etwas Blut an einem Baumstamm klebte. Sierrkha kratzte es vorsichtig mit seinem Messer ab und kostete es aufmerksam mit seiner Zunge. Erfolg! Er kannte diesen wilden, eisenhaltigen Geschmack. Es war das Blut einer Raubkatze. Zrassha schaute ihn fragend an, und Sierrkha überlegte, ob er ihn in die Irre führen könnte. Dann nickte er aber bloß, da ihm keine glaubwürdige Lüge einfallen wollte.

    Gemeinsam schlichen sie weiter den geschlungenen Weg am Abhang entlang, während das Dickicht an den Seiten dünner wurde.

    »Da«, murmelte Zrassha und nickte mehr an sich selbst gerichtet vorwärts. Eine flache, in den Boden abfallende Höhle, der Eingang fast vollständig verdeckt von dichtem Gestrüpp. In einer plötzlichen Bewegung stürmte Zrassha vor, sein Messer zum Angriff gezückt. Sierrkha sah ihm überrascht nach, dann entdeckte er ihn. Den verletzten Tiger, halb verborgen durch den verwachsenen Busch. Er japste nach Luft und war offensichtlich bereits dem Tode nah.

    Verdammt, schoss es Sierrkha in den Kopf. Wenn ihm jetzt keine rettende Idee kam, würde Zrassha das sterbende Tier vor ihm erreichen und zur Strecke bringen. Dann galt es als Zrasshas Tat. Sein Opfer. Sierrkha hingegen würde keine andere Wahl haben, als sich eine neue Beute zu suchen. Und das nach all diesen Strapazen.

    Der Junge hatte die sterbende Großkatze beinahe erreicht. Siegestrunken hechtete er vorwärts und ließ jede Vorsicht fallen. Dann ein animalisches Brüllen und ein lauter Schrei. Die vorher nur vom schweren Atmen des Tigers gezeichnete Stille war durchbrochen und die Spannung in Sierrkha ließ jedes seiner Glieder beben. Er sah Zrassha zurücktaumeln, hinter ihm der Schatten einer zweiten Raubkatze, aus der Höhle zu ihnen emporgeklettert. Dann stürzte der Junge zu Boden, der wenige Augenblicke zuvor nichts als ein verhasster Kontrahent gewesen war, seine Hände überrascht um den eigenen Hals geschlungen. Das Blut rann ihm durch die Finger und tropfte beängstigend schnell herab.

    Sierrkha war wie gelähmt.

    Ein dumpfes Knacksen durchbrach die Stille hinter ihm. Instinktiv drehte er sich um und sprang in Richtung der Höhle. Keinen Moment zu früh. Ein großer Leopard setzte auf ebenjener Stelle auf, an der Sierrkha vor einem Lidschlag noch gestanden hatte.

    Hat der etwa bis jetzt gewartet, nur damit ich mich in Sicherheit wiege?, fluchte Sierrkha in seinen Gedanken, doch aus seinen zusammengebissenen Zähnen drang nur ein erschrockenes Fauchen, wieso müssen diese Mistviecher so gerissen sein?

    Sierrkha wich weiter zurück, in Richtung seines verletzten Rottenbruders. Das Tier, dessen orange-rote Fellzeichnung ihn wie ein aggressives Muster aus Flammen und Blut beinahe paralysierte, folgte ihm. Seine Tatzen trugen ihm in unvergleichlicher Gewandtheit und Anmut entgegen, was sein gieriger Blick offenbarte: Mordlust.

    Sierrkha biss sich auf die Lippen. Er war nicht bereit zu sterben. Nicht so. Verzweifelt blickte er sich nach Zrassha um. Diesem war es in der Zwischenzeit gelungen, sich aufzurichten. Seine Hände umschlossen noch immer die stark blutende Wunde und sein Gesicht war verzerrt vor Angst und Schmerz, als würde er in den dunklen Schlund eines Abgrunds blicken, während dieser ihn unaufhörlich in die bodenlose Tiefe des Todes zu ziehen drohte. Blut quoll aus seiner Kehle. Er versuchte, etwas zu sagen, doch es kam nichts als ein Gurgeln dabei heraus. Offenbar hatten ihm die Krallen der Katze seine Stimme genommen. Sein Gegner, ein grauer Panther, schlich mit gebleckten Zähnen, vertieft in sein sadistisches Spiel, auf den schwer verwundeten Shraz’na zu, als wolle er mit seinem grimmigen Grinsen Spott mit dem Leid des Jungen treiben. Zrassha starrte dem Panther entgegen, dessen Kiefer zum tödlichen Biss bereit auseinanderklafften. Er ließ sein Messer fallen, das zunehmend blau anlaufende Gesicht erstarrt vor Angst. Der Panther hob eine Pranke und schlug nach ihm, doch es gelang dem Anwärter, im letzten Moment auszuweichen. Sein Blick wandte sich noch einmal Hilfe suchend zu Sierrkha, bevor er taumelnd und ohne Orientierung davonstolperte, den Panther, von Jagdeifer gepackt, dicht auf seinen Fersen.

    Sierrkha war tief geschockt. Schüttle das ab – keine Zeit!, drängte sein Verstand. Zrassha war verloren, nun hatte sein eigenes Überleben Priorität. Vorsichtig wandte er sich der Höhle zu. Mit zitternd vor sich ausgestrecktem Messer schritt er rückwärts weiter, immer darauf bedacht, den Leoparden nicht zu provozieren. Er achtete auf das schwere Atmen des verletzten Tigers, das dessen zwar schwachen, aber noch immer standhaft glimmenden Lebensfunken verriet. Sierrkha war völlig klar, wenn er überleben wollte, musste er seine Aufmerksamkeit auf jede noch so kleine Bewegung seines Feindes legen.

    Nachdem er die Situation in seinem Rücken beurteilt und seine Chancen eingeschätzt hatte, wich Sierrkha noch einen Schritt weiter zurück. Plötzlich, als hätte sich eine Dornenschlinge um sie gelegt, durchfuhr ein stechender Schmerz seine rechte Wade. Etwas zerrte an seinem Bein. Er geriet ins Straucheln und stürzte. Sein Körper überschlug sich mehrfach, während er hinab in die Tiefe rutschte, den steilen Abhang hinunter, den er und Zrassha zu vermeiden versucht hatten. Seine Haut riss an mehreren Stellen auf, als er den steinigen Boden entlangschrammte. Plötzlich befand er sich im freien Fall und schlug am Fuß des Hanges auf – abgefedert von etwas unerwartet Weichem. Dann traf sein Kopf auf einen harten Untergrund und alles wurde schwarz.

    Als Sierrkha schließlich wieder zu sich kam, spürte er Schmerzen in jeder Faser seines Körpers, auch an Stellen, von denen er bislang keine Ahnung hatte, dass sie überhaupt existierten. Er setzte sich vorsichtig auf und tastete seine Gliedmaßen ab. Erleichtert seufzte er auf, als er feststellte, dass nichts gebrochen war – obwohl er gut ein Dutzend Schürf- und Schnittwunden hatte. Doch als er seinen Blick auf seine Wade richtete, erschrak er. Eine kleine Bisswunde prangte dort, doch das war nicht das Schlimmste. Der Übeltäter, der ihm diesen Biss verpasst hatte, lag direkt vor ihm. Das weiche Etwas, auf dem er gelandet war und das er zunächst für eine Art riesigen Pilz gehalten hatte, war nichts anderes als ein kleines, zierliches Leopardenjungtier. Im Gegensatz zu ihm hatte es bei ihrem gemeinsamen Sturz nicht so viel Glück gehabt. Sierrkha konnte nicht genau sagen, ob es der Sturz selbst oder seine Landung auf ihm gewesen war, aber der Körper des Tiers war zerschmettert. Sierrkha sah mit einem Blick mehrere Brüche. Einige davon offenbarten sogar die blanken Knochen. Ihn packte das Mitleid, als er sah, wie das schwer verletzte Kätzchen nach Luft japste. Es hatte große Schmerzen. Sofort regte sich Sierrkhas Gewissen. Kein Wesen, egal ob Shraz’na oder Tier, hatte ein solches Ende verdient. Er führte einen kurzen und heftigen inneren Kampf, traf dann aber eine Entscheidung. Er hatte nicht viel Zeit. Jeden Moment konnten die ausgewachsenen Tiere den Abhang hinunterschleichen, um nach ihrem Nachwuchs oder nach ihm, ihrem Feind und potenziellen Abendessen, zu suchen. Er flüsterte: »Es tut mir leid …«, dann zog er sein Ritualmesser und stieß die knöcherne Klinge in das mit jedem schmerzerfüllten Atemzug bebende, wunderschöne silberne Fell mit den schwarzen Leopardenflecken und beendete somit die Qualen der sterbenden Katze.

    Es schmerzte Sierrkha in den Tiefen seines naiven und unbelasteten Herzens, das Leben eines so unschuldigen jungen Wesens zu beenden, immerhin teilten das zierliche Tier und er eine Gemeinsamkeit, denn genauso wie er hatte es noch längst nicht genug Zeit auf dieser Welt verbracht. Der Katze war diese Zeit nun genommen worden, und anstelle des imposanten Tigers, den Sierrkha ursprünglich dafür ausersehen hatte, musste nun sie den Platz als Opfergabe für Zamah einnehmen. Schrecken und Verunsicherung breiteten sich in Sierrkha aus. Wie würden die Göttin und der Älteste darauf reagieren? Es war nicht üblich, ein so junges Tier für das Ritual zu wählen. Traditionsgemäß sollte ein starkes und ausgewachsenes Tier, dessen Geschlecht dem des Jägers entsprach, geopfert werden. Ebendies war der Grund gewesen, aus dem Sierrkha den Tiger gewählt hatte. Das tote Leopardenkätzchen zu seinen Füßen war hingegen weder ausgewachsen noch stark. Dazu war es eindeutig ein Weibchen. Sierrkha seufzte unglücklich. All das spielte keine Rolle. Es gab nur eine Regel, die bei der Wahl der Beute nicht gebrochen werden durfte: Die erste Raubkatze, deren Leben während der Prüfung durch den knöchernen Ritualdolch genommen wurde, sollte das Geschenk des Prüflings an Zamah sein. Abgesehen davon hatte der Älteste nie klare Vorschriften hinsichtlich des Opfers genannt, auch nicht zur körperlichen Verfassung oder dem Alter. Klar gab es Traditionen und Bräuche, aber waren diese wirklich in Stein gemeißelt? Oft genug hatte der Älteste betont, dass der Prüfling spüren würde, welches Tier für das Ritual ausgewählt werden sollte. Als er das kleine Tier derart hatte leiden sehen, hatte er ganz deutlich gespürt, dass er es nicht dabei belassen konnte. Ob das gezählt würde oder nicht – eines war klar: Selbst, wenn er Zamah mit dem ersten Blut auf der Klinge täuschen könnte, war es in seiner Verfassung völlig unrealistisch, auf die Jagd nach einer anderen Raubkatze zu gehen. Eine Rückkehr ins Dorf ohne vollendetes Ritual war ebenfalls keine Option. Und der sterbende Tiger, der nach Sierrkhas Einschätzung aufgrund des vorangegangenen Kampfes und der besonderen Umstände möglicherweise noch als Opfergabe zulässig gewesen wäre, war nun auch außerhalb seiner Reichweite und Möglichkeiten.

    Sierrkha zog sein blutiges Zamvhi aus dem Körper und schob es wieder in die Schnürung seines Lendenschurzes. Dann hob er den noch warmen Leichnam des Tiers über seine Schulter und begann seine mühsame Wanderung zum vereinbarten Treffpunkt mit dem Ältesten.

    * * *

    KAPITEL 2 - ORDNUNG: DIE ENTDECKUNG

    Das unendliche Eis. Der tosende Sturm. Die Rufe der in Pelze gehüllten Zwerge, die einst Bergarbeiter des berühmten Eisenclans gewesen waren. Sigurd sah einen Mann, dessen einst rotblonder Bart mit vielen weißen Strähnen Ehrfurcht gebietend über seiner Brust lag. Er trat vor, wies auf die nahe gelegenen, aber halb verfallenen Schächte und schrie gegen den Sturm an, sie alle sollten sich zurückziehen.

    Er kannte diesen Mann, hatte seine Statue schon so oft im Vorübergehen gesehen. Doch er fragte sich: Warum war er hier?

    Das Bild verschwamm, die Szenerie änderte sich.

    Die Zwerge des Clans gruben. Das Eisen ihrer Spitzhacken durchschlug das feste Gestein Amarrfjölls, als wäre es nur sprödes Glas. Auf einmal ein Aufruf. Erregung. Neugierde. Ein grün glimmender Klumpen Erz in der ausgestreckten Faust des Zwerges mit dem weißlichen Bart. Wieso erlebte er diesen längst vergangenen Moment zwergischen Ruhms?

    Erneut wurde alles unscharf und die Kulisse wandelte sich.

    Eine Explosion zerfetzte den Eingang des Stollens. Eine kegelförmige Oberfläche gebürsteten Metalls bohrte sich in den Berg. Ein Schiff. Es war mit der Flanke des Amarriniumgebirges kollidiert. Die Außenhülle riss auf. Offenbarte die panischen Maschinisten. Das Ächzen der riesigen Dampfmaschinen. Die Verbrennungsöfen, aus deren Inneren das lichterloh brennende Amarriniumerz herausrollte. Wieso spürte er die Hitze nicht?

    »Heda – Kobaltbart, aufwachen!«, hallte es durch das gewaltige Luftschiff. Sigurd spürte einen unsanften Schlag auf seiner rechten Schulter, der ihn aus seinem betrunkenen Traum riss. Seine Augenlider fühlten sich schwer an, als er noch völlig verwirrt versuchte, den Ursprung der Worte auszumachen. Wo war er? Ach ja. Natürlich. Sigurd richtete sich auf.

    Das Mannschaftsdeck, auf dem sie sich befanden, war geprägt von einem Durcheinander aus robusten zwergischen Möbeln, zahlreichen Rohrleitungen und einer Vielzahl von Holzkisten, die ungeordnet überall herumstanden. Der Geruch von Pech, Schmieröl und verbranntem Amarrinium hing in der Luft. Trotzdem befanden sich hier die wenigen Krieger, die der General Sigurd bei seiner Beförderung zum Leutnant zugewiesen hatte, und die meisten der angeheuerten Söldner. Im wilden Rausch eines durchzechten Tages lagen sie auf dem Boden oder rappelten sich mühsam auf. Ein wirres Durcheinander aus Schnarchen, Gesprächen und Gelächter durchfloss das Deck. Durch das Knarren und Ächzen des Luftschiffs konnte man hören, wie es sich langsam, aber stetig durch die Wolken bewegte.

    Diese gesamte Reise ist ein verdammter Reinfall, dachte Sigurd frustriert.

    Ursprünglich hatte man die ’Erzbuckel’ ausgesandt, um neue Quellen des seltenen, aber für die Technologie und Wirtschaft der Zwerge essenziellen Erzes Amarrinium zu erschließen. Für den Clan und vor allem auch den neuen König. Doch dann hatten sie sich auf die dumme Idee eingelassen, das gefährliche Geißelmeer zu überqueren. Einen Ozean voller tosender Stürme, so wild und aufgewühlt, dass nur ein einziger zwergischer Luftschiffkapitän es vor ihnen jemals geschafft hatte. Und wofür das alles? Bislang hatten sie nur diese eine mickrige Insel entdeckt, die auch schon besagter Kapitän vor langer Zeit gefunden hatte. Und selbst deren Erkundung war ein Desaster gewesen. Kein einziges Gramm Amarrinium hatten sie gefunden, nicht einmal einen mickrigen Felsen, der auch nur im Entferntesten danach aussah. Stattdessen diese wilden und völlig degenerierten Grünhäute, deren Gebrüll und Gepolter Sigurd auch jetzt noch aus dem Lagerdeck vernehmen konnte.

    »Sagt mal, hört Ihr schlecht?«, schnauzte jemand ihn von der Seite an und riss ihn somit aus seinen Gedanken.

    Mit leichtem Kopfschütteln wandte Sigurd sich um und sah einen breit gebauten, untersetzten Zwerg mit einem gepflegten, von der Pomade glänzenden roten Bart und einem spärlich behaarten Schädel. Sein Name war Bork, ein stinkreicher und in Sigurds Augen völlig nichtsnutziger Bürokrat der Minengesellschaft. Er begrüßte ihn mit einem aufgesetzten Lächeln, um seine Abneigung für diesen Kerl zu verbergen. »Bork«, antwortete er, während er sich durch seinen dichten schwarzen Bart strich. »Was führt Euch hierher? Wir feiern.«

    Bork zog eine Augenbraue hoch und fixierte ihn skeptisch. »Was gibt es denn zu feiern? Wir sind seit Wochen unterwegs und haben bislang nichts erreicht, was Eurer Zögerlichkeit zu verdanken ist. Ihr seid ineffizient. Ein Haufen versoffener Versager, allesamt, eine völlige Fehlinvestition für unsere Auftraggeber.«

    Wut stieg in Sigurd empor. Bork war nicht Teil des zwergischen Militärs und hatte auch sonst bislang keine nennenswerten Erfolge für den Clan erzielt. Warum also sollte einer wie er ihm Befehle erteilen dürfen? In einer gerechteren Welt hätte sich Sigurd niemals zu etwas verpflichtet sehen müssen, was dieser Kartellbastard ihm auftrug.

    Trotz seines benebelten Zustands gelang es ihm, seine Stimme im Zaum zu halten. »Als ob die Pleite auf Orkenrann unsere Schuld gewesen wäre …«, wollte er antworten, aber Bork fiel ihm ins Wort.

    »Genug der Ausreden. Es gibt eine neue Mission, und diesmal könnt Ihr Euch beweisen«, sagte Bork und beendete die Diskussion, bevor sie überhaupt begann.

    Sigurd wurde neugierig. Was hatte Bork vor? »Wie meint Ihr das?«, fragte er aufmerksam.

    Bork grinste schmierig und ein gieriges Funkeln blitzte in seinen tiefliegenden Augen auf. »Wir haben ein neues Land entdeckt. Eine Insel, dicht bewaldet und wahrscheinlich voller Schätze. Wir brauchen jede Hand, die wir kriegen können. Ganz egal, wie unfähig sie ist.«

    Sigurds Herz pochte und seine Augen weiteten sich. Nach Orkenrann hatte er nicht erwartet, eine weitere Chance zu bekommen, seine Aufgabe zu erfüllen.

    »Eine Insel? Hier, mitten im Nirgendwo?«, vergewisserte er sich und fühlte sich dabei wie ein Idiot.

    Bork seufzte und rollte mit den Augen. »Ja, eine Insel. Groß genug, um alles Mögliche zu entdecken. Vielleicht finden wir sogar endlich unsere neue Quelle für Amarrinium.« Er rieb seine Hände aus Vorfreude auf den möglichen Gewinn.

    Klar, Amarrinium – für dich das Einzige, was zählt, dachte sich Sigurd grimmig, während er seinen Vorgesetzten bei seiner raffgierigen Geste beobachtete.

    Er selbst hatte auf seinen Reisen schon oft über das Erz nachgedacht und hielt es mittlerweile für Segen und Fluch zugleich. Seit der verstorbene König, Thorwaldt Erzfinder, damals noch ein aus dem Eisenclan verstoßener Exilant, das wertvolle Mineral vor über 200 Jahren entdeckt und seinen nach dieser Ressource benannten Clan gegründet hatte, veränderten sich die Geschicke der Welt schneller als ein glühendes Roheisen unter den Hammerschlägen eines Schmieds. Einerseits ermöglichte es den Zwergen des Amarriniumclans all die wundersamen Erfindungen und Maschinerien. Die Luftschiffe, die Eisenbahnen, die verbesserten Waffen und Schilde, die durch den aufgeladenen Dampf des Erzes betrieben wurden – jene Dinge, die dem Clan zu Einfluss und Macht in der Allianz der Industrienationen verholfen hatten. Und doch richtete sich seither beinahe das gesamte Bestreben seines Volkes auf diese eine Sache, die schon viel zu oft den Wert der alten Sitten und Traditionen überboten hatte. Manchmal fragte sich Sigurd, wie viele blutige Schlachten noch für diesen Rohstoff geschlagen werden mussten und wie viele treue Soldaten noch dafür ihr Leben verlieren sollten, insbesondere jetzt, wo die politische Situation der Industrienationen bestenfalls instabil zu nennen war.

    Er schüttelte seinen kurz geschorenen Kopf und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er musste dringend aufhören, über die Welt zu philosophieren. Auch ohne das hatte er alle Hände voll zu tun. Die Trunkenbolde mussten zusammengetrommelt, die Mission vorbereitet werden.

    Die Zeit verging wie im Fluge und schon wenige Stunden später fand sich Sigurd an der Seite der restlichen Besatzung auf dem Oberdeck der ›Erzbuckel‹ wieder. Die mächtigen Triebwerke brummten wie der Herzschlag eines Riesen, während das Schiff imposant durch die Lüfte glitt.

    Sigurd blickte hinab auf die von den Flutlichtern des Luftschiffs erhellten Wellen des Geißelmeers, die wie wilde Tiere gegen die scharfkantigen Felsen prallten, welche um die Insel herum unheilvoll aus den Tiefen des Ozeans ragten. Doch hinter ihnen sah er eine tropische Oase mit weißen Sandstränden und dichten Mangrovenwäldern, die wie ein tiefgrüner Mantel über dem Terrain lagen. Die Luft war erfüllt vom Schreien und Pfeifen exotischer Vögel, während das Schiff zielsicher durch die Lüfte glitt.

    Als die ›Erzbuckel‹ schließlich wuchtig auf der Erde landete, wirbelte eine Staubwolke auf und umhüllte das Schiff wie ein Schleier. Sigurd und seine Kameraden sprangen sofort in Aktion, um den Landebereich mit ihren schussbereiten Flinten zu sichern. Inzwischen begannen die Arbeiter und Wissenschaftler des Bergbaukartells damit, eine Schutzmauer aus Holz und herumliegenden Steinen zu errichten und Beleuchtungskörper aufzustellen, um den neugewonnenen Boden zu erschließen.

    Mit dem Abschalten der grellen Scheinwerfer des Luftschiffs wurde es schlagartig stockfinster. Nur das kalte grüne Glühen des Amarriniummotors erhob sich gegen die schwarze Kulisse des Dschungels. Die Mannschaft arbeitete unermüdlich daran, das Lager aufzubauen und Zelte aufzuschlagen. Im Handumdrehen entstand ein kleines Dorf aus Verschlägen und Überdachungen, das von den Söldnern und Soldaten bewacht wurde, während sie auf den Beginn ihrer Expedition warteten.

    Sobald der Lageraufbau abgeschlossen war, stellte Sigurd zwei seiner Waffenbrüder zur ersten Nachtwache an dem improvisierten Eingangstor des Schutzwalls ab. Gemeinsam mit Ronan Wildfeuer, dem Kommandanten der clanlosen Söldner aus Borgarfjoror, die

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