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Der Amuramidolch
Der Amuramidolch
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eBook471 Seiten6 Stunden

Der Amuramidolch

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Über dieses E-Book

Annika und Alina gelangen nach Norenika, einer fremden Welt mit völlig andersartigen Wesen. Es wartet nicht nur die Aufgabe, trotz vieler Gefahren und Abenteuer einen Weg zurück nach Hause zu finden, sondern auch eine scheinbar aussichtslose Rettungsmission. Und dann gibt es da auch noch eine Prophezeiung, in dessen Mittelpunkt die beiden stehen. Aber um in Norenika nicht zu scheitern, muss Annika ihr persönliches Problem immer wieder bekämpfen und überwinden. Welche Rolle spielt der furchteinflößende Merim und was genau beabsichtigt Daniel? Was hat es mit dem mysteriösen Amuramidolch auf sich? Gelingt es Annika, trotz ihrer Schwäche, die ihr gestellten Aufgaben zu meistern und die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Sept. 2016
ISBN9783734500664
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    Buchvorschau

    Der Amuramidolch - Richard Stieglbauer

    Der Neue Raum

    „Annika, geh bitte in den Keller und hole das große Brecheisen. Mit diesem Kinderwerkzeug hier bin ich ja noch nächstes Jahr beschäftigt", sagte Markus genervt, als er erst zwei Bretter vom alten Bretterboden herausgelöst hatte. Er richtete sich auf, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und mit einem verächtlichen Blick auf sein Arbeitsgerät, wandte er sich zu ihr um. Karin, seine Frau, schmunzelte bereits, was er etwas verärgert registrierte.

    „Mach ich", antwortete sie und war auch schon unterwegs nach unten.

    Sie waren gerade dabei, das letzte Zimmer ihres gekauften Hauses zu renovieren. Im Grunde war das ja auch sinnvoll, aber musste es ausgerechnet in den Sommerferien sein? Sie würde viel lieber in Urlaub fahren, wie die anderen aus ihrer Klasse auch. Nach den Ferien konnte sie sich wieder all die schönen Erlebnisse ihrer Klassenkameraden anhören. Auch ihre beste Freundin Alina war gerade in Spanien und sie saß zu Hause und musste ein Zimmer renovieren! Echt toll!

    Bereits am gestrigen Sonntag hatte sie ihren Eltern während des Mittagessens vorgeschlagen, eine Reise an den Gardasee zu machen, wie im Jahr ihrer Kommunion. Da sie jetzt 15 Jahre alt war, hatten also sie und ihre Eltern das letzte Mal vor sechs Jahren so richtig Urlaub gemacht und es war für alle ein schönes Erlebnis. Ein anderes Land besuchen, Land und Leute kennenlernen, es sich gut gehen lassen, das wäre nach so langer Zeit wirklich wieder einmal angesagt. Sie hatte noch gehofft, ihre Mutter auf ihrer Seite zu haben, aber die wollte auch lieber am Zimmer arbeiten, um endlich ganz fertig zu werden. Nach dieser Ankündigung war sie natürlich frustriert und rannte, zuvor noch den Rest ihres Essens hinunterwürgend, in ihr Zimmer und wollte nur noch weinen, aber sie war dermaßen wütend, dass sie nicht weinen konnte. Mittlerweile war aber der erste Ärger bereits wieder verraucht und sie fügte sich notgedrungen ihrem Schicksal.

    Unten angekommen, brauchte sie nach dem Brecheisen nicht lange zu suchen. In Sachen Werkzeug legte ihr Vater eine penible Ordnung an den Tag, die in andern Bereichen doch deutlich zu wünschen übrig ließ, wovon auch ihre Mutter ein Lied zu singen wusste.

    Die größeren Werkzeuge befanden sich an der linken Seite direkt vor der gemauerten Rückwand, welche eigenartigerweise nur hier in der Werkstatt vorhanden war, während links und rechts im Hobby- und im Hauswirtschaftsraum die hintere Begrenzung aus natürlichem Felsgestein bestand. Da das Haus am Fuße eines kleinen Berges errichtet wurde, musste nur der untere Bereich hier etwas bearbeitet werden und schon war die Rückwand des Kellers fertig.

    Als sie nach dem Brecheisen greifen wollte, sah sie aus den Augenwinkeln etwas über den Boden huschen. Es handelte sich um eine Maus, die vor einem Loch an eben der gemauerten Rückwand stehen blieb und schnüffelnd ihre kleine, spitze Nase hob. Sie versuchte, sich nicht zu bewegen und beobachtete amüsiert das süße Geschöpf. Die Maus putzte sich noch kurz die linke Pfote und verschwand dann in diesem Loch. Sie wartete noch etwas, vielleicht würde die Maus noch mal erscheinen, aber zu ihrer Enttäuschung ließ sie sich nicht mehr blicken.

    Dass sie so süße Haustiere hatten, überraschte sie. Ihre Mutter sorgte sofort nachdem sie das Haus gekauft hatten durch einen Kammerjäger dafür, dass ihr solche Nager nicht über den Weg laufen konnten. Vor Mäusen hatte sie panische Angst und sie durfte ihr von dieser Begegnung nichts erzählen, sonst würde ihre Mutter keinen Fuß mehr in die Werkstatt setzen, wahrscheinlich würde der gesamte Keller für sie eine gesperrte Zone werden. Die Angst mancher Menschen vor Mäusen oder auch Schlangen konnte sie noch nie verstehen. Die einzigen Tiere, vor denen sie sich ekelte, waren Spinnen und beim Anblick größerer Exemplare konnte auch sie manchmal einen Schrei nicht unterdrücken. Aber so kleine Mäuse waren doch niedliche Tierchen.

    Merkwürdig. Die Mauer war doch bestimmt aus Steinen gefertigt. Mäuse sind zwar Nager, aber durch Steinmauern konnten sie doch kein Loch beißen, oder? Sie ging auf die Öffnung zu, bückte sich und erkannte des Rätsels Lösung. An einer Stelle war ein Stein herausgebrochen und das vermutlich erst nach der Einrichtung der Werkstatt, denn sonst hätte ihr Vater diesen Makel mit Sicherheit beseitigt. Als sie nach dem Stein griff, verspürte sie an der Hand deutlich einen kalten Luftzug. Sofort ließ sie ihn erschrocken fallen und hielt noch einmal ihre Hand unmittelbar an die Öffnung. Kein Zweifel, aus dem Loch strömte kalte Luft. Aber dahinter war doch auch diese Felswand, wie in den Räumen nebenan, oder etwa doch nicht? Sie wollte Gewissheit. Nach kurzer Suche entdeckte sie ein dünnes Metallrohr und steckte es in das Loch am Boden. Das Rohr war etwa 1,30 Meter lang und konnte vollständig eingeschoben und auch noch nach oben und seitlich bewegt werden, was bedeutete, dass es hinter dieser Mauer noch weiterging!

    In diesem Augenblick kam sichtlich verärgert ihr Vater hereingestürmt. „Was treibst du hier so lange? Glaubst du, die Arbeit macht sich von alleine? Hier, das große Brecheisen vor deiner Nase brauche ich, spielen kannst du auch ein andermal. Los jetzt, pack dich zusammen und ab nach oben."

    Erschrocken fuhr sie in die Höhe. Ihr Vater hasste solche Verzögerungen bei der Arbeit, wenn wieder ein Werkzeug oder ein Material fehlte und sagte zu ihrer Verteidigung: „Hinter dieser Mauer ist ein Hohlraum."

    Markus, der bereits wieder auf dem Weg zur Tür war,

    wandte sich um und sah sie verdutzt an. „Was ist los?"

    „Hinter der Mauer geht es weiter." Sie schilderte ihm kurz ihre Entdeckung, wobei er die Wand von oben bis unten betrachtete und danach selbst den Versuch mit einem längeren Rohr wiederholte. Aber auch er konnte es vollständig hineinschieben und sein Gesichtsausdruck hellte sich immer mehr auf, schwebte ihm doch immer noch ein Lagerraum im Haus vor, denn zur Zeit waren ihre Vorräte im angrenzenden Geräteschuppen zwischen den Gartengeräten deponiert. Für ihn war das immer nur eine Notlösung und jetzt bestand die Möglichkeit, daran etwas zu ändern.

    Kurz entschlossen nahm er den großen Steinhammer und schlug mehrmals auf die Wand ein, aus deren sofort unter lautem Gepolter Steine herausbrachen und eine Öffnung freigaben, die nach einigen weiteren Schlägen schnell größer wurde, so dass ein erwachsener Mensch, ohne sich den Kopf zu stoßen, hindurchgehen konnte. Nachdem er noch die lockeren Steine entfernt hatte, ging er zur Werkbank und holte sich aus einer Schublade einen Halogenstrahler und ein Verlängerungskabel, als mit sorgenvollem Blick Karin in die Werkstatt kam. „Was ist denn hier passiert?, fragte sie entsetzt und starrte durch die staubige Luft auf das Loch in der Wand. „Oben hört es sich an, als ob jemand beginnen würde, das Haus niederzureißen!

    „Beruhige dich, ich vergrößere nur unser Zuhause", sagte Markus mit einem verschmitzten Lächeln.

    „Was soll das heißen, du vergrößerst nur unser Zuhause. Ihre anfängliche Besorgnis wich immer mehr Verärgerung. „Deine überschüssigen Kräfte kannst du oben zum Einsatz bringen, anstatt sie hier zu vergeuden, um zum Spaß Wände einzureißen. Dahinter ist sowieso nur die Felswand wie nebenan auch.

    „Eben nicht. Annika hat noch einen Raum entdeckt, sieh es dir selber an", frohlockte Markus euphorisch und verschwand, gefolgt von Annika, in der Öffnung.

    Karin zögerte noch etwas, ließ sich die Besichtigung der neuen Räumlichkeit dann aber doch nicht entgehen und ging den beiden schnell hinterher.

    Auf der anderen Seite schaltete Markus seinen Strahler ein und leuchtete damit erst einmal den vorderen Bereich aus. Links und rechts war noch ein Stück von der ursprünglichen Felswand, wie in den anderen Räumen auch, zu sehen und in der Mitte erstreckte sich eine Höhlung in die Tiefe. Deutlich erkennbare Bearbeitungsspuren wiesen darauf hin, dass dieser Hohlraum, der etwa einen Durchmesser von zwei Metern aufwies, nicht auf natürliche Weise entstanden war. Die Seitenwände und die bogenförmige Decke waren uneben und nur grob behauen und in der Mitte verlief eine Art Weg, der nach hinten führte. Dieser war gegenüber den Seitenstreifen, in denen stellenweise loses Gestein herumlag, etwas erhöht und die Oberfläche erstaunlich glatt, es wirkte fast so, als ob sie geschliffen wäre und das Ganze erinnerte stark an einen Gang, in dessen Mitte ein Gehweg verlief.

    Markus schwenkte seine Lampe nun nach hinten und im selben Augenblick blendete sie ein starker Lichtstrahl. Schützend seine Hand vor das Gesicht haltend, senkte er mehr unbewusst den Strahler und schimpfte: „Was um alles in der Welt spiegelt da nur so?" Er leuchtete die Seitenwand entlang und mit dem, was nach und nach im Lichtschein des Strahlers zu erkennen war, hatte niemand gerechnet!

    „Ja was haben wir denn da?", sagte Markus und starrte ungläubig auf den hier völlig deplatzierten Gegenstand.

    Karin, die sich dicht hinter ihrem Mann befand, konnte es ebenfalls nicht fassen und stellte verwundert fest: „Der ist ja richtig eingemauert und sieht fast so aus wie eine Tür."

    Auch Annika war total überrascht und stand mit offenem Mund neben ihrer Mutter. Die hintere Wand wurde fast vollständig von einem großen Spiegel ausgefüllt, der direkt im Gestein integriert war! Bis zur Decke reichend und breit genug, dass sich zwei Personen darin betrachten konnten, hatte er mit seinem breiten Holzrahmen und der zurückgesetzten Glasfläche wirklich große Ähnlichkeit mit einer Tür. Das Einzige, was nicht ganz dazu passte, war die unter einer dünnen Staubschicht durchschimmernde, goldene Verzierung, die sie eher an wertvolle Gemälde in einem Museum erinnerte.

    Direkt neben dem Spiegel an der linken Seitenwand fand sich außerdem etwa auf Brusthöhe eine ungefähr 40 mal 60 Zentimeter große Nische, die aber, soweit sie es im Licht des Strahlers erkennen konnte, leer war.

    Sie blickte sich um, genau wie ihre Eltern, ob sie noch irgendwas entdecken konnte, aber außer diesem Spiegel und der Nische war die Höhle vollkommen leer. Sie war etwas enttäuscht. Insgeheim träumte sie bereits von einem versteckten Schatz oder zumindest von wertvollen Gegenständen, aber hier war rein gar nichts zu finden. Der Spiegel hatte zwar ein antikes Aussehen und wäre bestimmt einiges Wert, aber dazu müsste man ihn schon mühsam aus dem Felsen herausarbeiten, denn auf den ersten Blick sah es so aus, als ob er förmlich mit dem Gestein verwachsen wäre. Nach dem Gesichtsausdruck ihrer Eltern hatte Annika den Eindruck, dass auch sie sich mehr erhofft hatten, ließen sich aber natürlich nichts weiter anmerken.

    „Das wird der ideale Weinkeller, nur der Spiegel passt nicht ganz", meldete sich Markus zu Wort.

    Karin drehte sich zu ihm und sagte trotzig: „Von wegen „Weinkeller. Wer meckert denn immer, wenn etwas aus dem Schuppen zu holen ist? Hier ist genügend Platz um unseren gesamten Vorrat zu lagern, nicht nur deinen Wein. Und der Spiegel stört nicht besonders.

    „Schon gut, ich mach ja nur Witze, beschwichtigte Markus. „Aber jetzt arbeiten wir wieder oben weiter. Los, kommt. Zurück in der Werkstatt, nahm er das große Brecheisen und eilte nach oben.

    Sie und ihre Mutter hatten es nicht so eilig und blieben noch kurze Zeit stehen.

    Annika sah sich noch einmal um. Es war eine merkwürdige Höhle, die sie da entdeckt hatte. Nicht nur der eingemauerte Spiegel irritierte sie, sondern auch die ganze Beschaffenheit an sich und vor allem das unangenehme Gefühl, dass sie hier drin verspürte.

    „Warum diese Höhle wohl zugemauert wurde", fragte auch Karin mehr sich selbst, leuchtete noch einmal alles ab und wechselte einen fragenden Blick mit ihr. Kurz darauf zuckte sie mit den Schultern, schaltete den Strahler aus und ging wieder hinaus.

    Annika wollte ihr gerade folgen, als sie plötzlich ein leises Geräusch hörte. Sofort machte sie halt, konnte jetzt aber nichts mehr vernehmen und setzte den Weg zum Ausgang fort, als sie es erneut wahrnahm. Es war wie ein leises Flüstern!

    „Annika, komm endlich heraus, dein Vater wird sonst wieder sauer, wenn wir nicht bald oben sind."

    „Mam sei still, da ist ein Geräusch zu hören."

    „Was soll da drin zu hören sein?"

    „Komm rein und überzeuge dich selbst." Sie machte Platz und ihre Mutter kam wieder herein.

    Diese lauschte kurz und drehte langsam den Kopf zu ihr. Mit spöttischem Blick sagte sie übertrieben langsam: „Also ich höre nichts."

    „Doch, ich habe es deutlich vernommen. Es war wie ein leises Flüstern, beteuerte sie und lauschte noch einmal mit angehaltenem Atem in die dunkle Höhle hinein, doch jetzt hörte sie auch nichts mehr. „Da war aber ein Geräusch, verteidigte sie sich etwas trotzig und blickte dabei herausfordernd ihre Mutter an.

    „Annika, da ist nichts, da ist kein Flüstern, erklärte ihr Karin ungeduldig. „Da geht mal wieder deine Fantasie mit dir durch.

    „Ich habe aber etwas gehört, ich bilde mir doch so was nicht ein!", rief sie jetzt mit einem zornigen Funkeln in den Augen.

    „Schluss jetzt mit dem Unsinn", fauchte Karin mit gesenkter Stimme und blickte etwas verstohlen durch die Öffnung in die Werkstatt, denn die Schritte von Markus hörte man bereits schnell näher kommen. Kurz darauf erschien er auch schon vor dem Ausgang.

    „Würdet ihr jetzt zu streiten aufhören und endlich oben mithelfen, oder soll ich alles alleine machen?" Verärgert ging er einen Schritt zurück und wartete nun, bis beide herausgekommen waren und vor ihm mit nach oben gingen.

    Ihr Vater war mit dem größeren Werkzeug bereits sehr erfolgreich und hatte mehrere Bretter herausgelöst, die sie nun leider mit ihrer Mutter nach unten schleppen musste.

    „Was war denn unten los, weshalb habt ihr gestritten?", wollte Markus wissen, trank einen Schluck Wasser und machte sich wieder an seine Arbeit.

    „Ach, nicht so wichtig", sagte Annika, darum bemüht, sich ganz normal zu verhalten, was ihr aber nicht so besonders gut gelang und sah mit einem kaum merklichen Kopfschütteln und einem fordernden Blick zu ihrer Mutter hinüber, damit sie ja nichts von dem eben Vorgefallenen erzählte. Ihr Vater hasste so fantastische und unglaubwürdige Geschichten und konnte dabei sehr aufbrausend sein.

    Den Rest des Tages arbeiteten sie zügig und ohne Unterbrechungen weiter und hatten bis zum Abend schon viel erledigt. Als sich ihr Vater duschte und Karin das Abendessen zubereitete, ging sie noch einmal in den Keller, um vielleicht wieder das mysteriöse Geräusch zu hören. In der Werkstatt war alles ruhig. Sie ging in die Höhle und lauschte einige Minuten, doch nichts war zu vernehmen. Nur das beklemmende Gefühl verspürte sie wieder, das sie auch schon heute Vormittag hier bemerkte. Enttäuscht wandte sie sich ab, ging hinaus und als sie bereits wieder in der Werkstatt war, blieb sie erschrocken stehen. Da war es wieder! Ein leises Flüstern!

    Das Buch

    Da sie das Flüstern wieder nur kurz gehört hatte, war sie etwas durcheinander. Hatte sie nun Halluzinationen, bildete sie sich das wirklich nur ein, oder war da doch etwas? Wahrscheinlich stimmte es, was ihre Mutter behauptete, dass sie eine zu lebhafte Fantasie besaß. Dennoch waren ihre Zweifel nicht gänzlich beseitigt. Sie musste die Höhle noch einmal genau und in aller Ruhe durchsuchen, am besten, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren. Bis dahin, schwor sie sich, wollte sie ihnen auf gar keinen Fall etwas davon erzählen, denn nach der Reaktion ihrer Mutter von heute Vormittag würde die Angelegenheit bestimmt nicht so glimpflich ablaufen.

    „Heute haben wir schon viel geleistet", verkündete Markus stolz, als er sich zusammen mit seiner Familie zum Abendessen an den Tisch setzte.

    Annika versuchte, sich ihren etwas verwirrten Zustand nicht anmerken zu lassen und anscheinend hatte sie auch Erfolg damit.

    „Wir sind sogar über meinem Zeitplan, fuhr ihr Vater fort. „Mit etwas Glück werden wir früher fertig als ich dachte. Vielleicht können wir doch noch eine kleine Urlaubsreise machen, sagte er und sah sie dabei mit einem aufmunternden Lächeln an.

    Mit einem pessimistischen Blick belehrte ihn Karin:

    „Mach ihr keine leeren Versprechungen, morgen gibt es vielleicht eine Verzögerung und dann hast du den Vorsprung von heute wieder aufgebraucht, das wäre nicht das erste Mal. Bei den anderen Räumen hat es auch immer irgendwelche Schwierigkeiten gegeben. Und morgen hat Annika sowieso einen freien Tag, weil sie heute wirklich viel gearbeitet hat. Es sind ja schließlich auch Ferien", fügte sie mit gespielt strengem Blick hinzu und umfasste ihren Arm.

    „Ja, das geht in Ordnung, ich muss morgen sowieso etwas besorgen und die nächsten Arbeiten kann ich auch alleine erledigen."

    Erleichtert nahm sie diese Ankündigung zur Kenntnis, denn ihr ganzer Körper schmerzte bereits jetzt. Wie würde es sich erst morgen anfühlen? Wahrscheinlich stünde sie schon vor einem Problem, um vernünftig die Treppe herunter zu kommen.

    Völlig erschöpft von der Arbeit des Tages ging sie zeitig in ihr Zimmer. Sie wollte schlafen, aber sie konnte nicht. Stattdessen lag sie mit offenen Augen im Bett und dachte an die merkwürdigen Ereignisse des Tages und an das Flüstern, das nur sie gehört hatte. Sie wälzte sich hin und her und nach einer kleinen Ewigkeit, wie es ihr schien, schlief sie endlich ein.

    Wider erwarten fühlte sich ihr Körper am nächsten Tag weniger schlimm an, als sie befürchtet hatte und bereits am Nachmittag half sie wieder ihrem Vater. Immer wenn es die Gelegenheit erlaubte und wenn während der Arbeit kleine Pausen entstanden, schlich sie in die Werkstatt zur Höhle und lauschte angestrengt nach dem Flüstern. Aber seltsamerweise konnte sie nichts hören, wie auch den Rest der Woche nicht mehr und sie fand sich schließlich damit ab, sich das alles nur eingebildet zu haben.

    Der Raum war nun renoviert, sie brauchten aber doch so lange, wie ihr Vater zu Anfangs veranschlagt hatte und konnte jetzt eingerichtet werden. Ihre Eltern machten sich gerade bereit, in ein Einrichtungshaus zu fahren, um passende Möbel auszusuchen.

    „Willst du wirklich nicht mitfahren, Annika?", fragte ihre Mutter etwas ungläubig und verstaute den Plan vom Zimmer in ihrer Tasche, den ihr Vater noch gezeichnet hatte.

    „Nein, ich will lieber zu Hause bleiben und im Garten lesen", antwortete sie. Bei so einer Hitze wie heute machte Einkaufen nicht wirklich Spaß und sah auf das Thermometer, das annähernd 30° anzeigte. Da würde es im Schatten in der Hängematte schon angenehmer sein. Außerdem gab es da ja noch eine andere Sache. Es war die perfekte Gelegenheit, doch noch mal ungestört und in aller Ruhe die Höhle genau zu inspizieren, um dem Ursprung des Flüsterns auf die Spur zu kommen, obwohl sie schon mehrmals vergeblich danach gelauscht hatte. Viel Hoffnung, erfolgreich zu sein, hatte sie eigentlich nicht, aber einen letzten Versuch wollte sie noch wagen.

    Markus sah sie fragend an: „Das ist doch sonst nicht deine Art. Wenn wir etwas von einer Einkaufstour sagen, dann bist du doch immer die Erste, die im Auto sitzt und ungeduldig wartet, bis wir endlich losfahren."

    Etwas Hektik verbreitend und noch diverse Kleinigkeiten in ihre Tasche packend, wandte sich Karin an Markus: „Komm jetzt endlich und lass sie einfach zu Hause bleiben. Sie will eben heute nicht. Wir müssen jetzt losfahren, sonst kommen wir wieder so spät nach Hause", nörgelte sie und zog ihn am Arm Richtung Ausgang.

    Als sie sich vergewisserte, dass ihre Eltern fort waren, ging sie sofort hinunter in den Keller und hoffte darauf, das Flüstern wieder zu hören. Um die Zeit hier sinnvoll zu nutzen, fing sie an, die Höhle genau zu untersuchen. Sie begann mit den Seitenwänden und tastete daran entlang, aber da war nichts, was besonders auffiel. Genauso die Decke. Nur grobbehauenes Felsgestein. Der Weg in der Mitte verlief vom Anfang des Höhlengangs bis unmittelbar vor den Spiegel und direkt davorstehend, hatte man den Eindruck, dass er dahinter weitergehen würde. Es sah so aus, als ob der Spiegel als eine Art Trennwand fungierte. Aber das war natürlich völliger Quatsch.

    Sie schüttelte den Kopf und besah sich als Nächstes den Rahmen des Spiegels, um vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches zu finden. Aber Fehlanzeige. Ein ganz gewöhnlicher Holzrahmen! Nur seine auffällige, goldene Verzierung war merkwürdig. Unzählige Linien und Muster waren ineinander geflochten, es war sogar schwierig, ein System oder irgendeine Reihenfolge zu erkennen und das alles erinnerte sie stark an keltische Knoten. An den vier Ecken befand sich jeweils nur ein Symbol und sie kannte es auch. Eins ihrer vielen Interessen waren besondere Zeichen und Ornamente. Dieses hier nannte man das Drachenauge.

    Es stand für Unruhe stiften, was aber nichts heißen musste. Bei ihren Nachforschungen stellte sich heraus, dass gleiche Zeichen zu verschiedenen Zeiten oder in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen haben konnten.

    Der Spiegel selbst war, soweit sie es erkennen konnte, unversehrt, nur von den Rändern her löste sich bereits mehr oder weniger stark die Silberbeschichtung. Damit bestätigte sich ihr erster Eindruck von einem alten Spiegel.

    Dann gab es da noch die Nische, aber auch hier fanden sich bei genauerer Betrachtung keine besonderen Auffälligkeiten.

    Missmutig setzte sie sich vor den Spiegel, um zu lauschen. Durch die Abwesenheit ihrer Eltern herrschte jetzt im Haus vollkommene Stille und sie würde dadurch jedes kleinste Geräusch wahrnehmen.

    Eigentlich hatte sie jetzt keine Angst mehr davor, ganz allein in dem großen Haus zu sein. Es war in letzter Zeit nicht ungewöhnlich, dass ihre Eltern auch mal für ein oder sogar zwei Tage unterwegs waren. Anfangs hatte sie zwar noch erhebliche Schwierigkeiten damit, aber mittlerweile hatte sie sich schon daran gewöhnt und sie wusste diese neu anvertraute Freiheit auch gebührend zu schätzen. Im Gegensatz zu anderen Eltern, die ihre Kinder mit all ihrer Fürsorge regelrecht erdrückten, waren ihre in dieser Hinsicht sehr modern eingestellt und schenkten ihr vollstes Vertrauen. Aber jetzt und hier in dieser Höhle, nur mit dem Strahler als Lichtquelle und dem merkwürdigen Gefühl, dass sie hier drin verspürte, war ihr nun doch etwas unbehaglich und kam bereits an ihre Grenzen, denn man konnte sie nicht gerade als mutig und forsch bezeichnen. Ganz im Gegenteil. Im Allgemeinen mied sie Situationen, die ihr nicht ganz geheuer waren oder Mutproben aller Art und wenn es den kleinsten Anschein gab, unkalkulierbar oder sogar gefährlich zu werden, dann machte sie einen Rückzieher und ließ andere machen. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie bei fast allem irgendwelche Bedenken. Dadurch wurde sie auch häufig in der Schule gehänselt. Sie war richtig schissig! Wenn sie etwas an ihr hasste, dann war es diese blöde und lächerliche Feigheit. Schon vor Jahren hatte sie sich vorgenommen, ihre Angst zu bekämpfen und mutiger zu werden, aber bereits bei den nächsten Gelegenheiten kniff sie immer wieder und fiel in ihr kindisches Verhaltensmuster zurück. Es war zum Mäuse melken. Sie schaffte es einfach nicht, ihre beschissene Angst zu überwinden! Aber noch war nicht aller Tage Abend. Es würden sich bestimmt noch Möglichkeiten ergeben, in dieser Hinsicht an sich zu arbeiten, zumindest war das ihr Vorsatz.

    Sie stellte sich bereits auf eine längere Sitzung ein und überlegte, sich das Buch zu holen, das sie gestern von ihren Eltern bekam, ließ es aber dann doch bleiben. „Für das gute Zeugnis, das du bekommen hast", sagte ihre Mutter mit einem Lächeln auf den Lippen, als sie es ihr überreichte und voller Stolz stand ihr Vater hinter ihr und lächelte ebenfalls. Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich, langes dunkles Haar, dunkle Augen, schlanke sportliche Figur, nur das warmherzige Wesen hatte sie nicht von ihr. Das eher aufbrausende Gemüt kam von ihrem Vater. Er war relativ groß und kräftig und hatte lockiges, braunes Haar, das er immer sehr kurz halten musste, denn sonst sah sein Kopf aus wie ein kugeliger Wischmob. Das Verhältnis zu ihren Eltern war eigentlich ganz gut.

    Obwohl sie nie besonders viel für die Schule lernte, hatte sie ein erstaunlich gutes Zeugnis erhalten. Sie freute sich über das Geschenk ihrer Eltern sehr, denn sie war ein richtiger Büchernarr. Bei jeder Gelegenheit nahm sie ein Buch zur Hand und tauchte ein in eine andere Welt. Wunderschöne Landschaften, fantastische Wesen mit Zauberkräften, fremde Menschen, unbekannte Schicksale, all das war für sie dermaßen faszinierend, dass sie manchmal ganz versunken alles um sich herum vergaß. Beim Lesen konnte sie so richtig abschalten und half ihr über so manchen Ärger hinweg, wie auch gestern, als sie wegen der „Arbeitsferien" richtig stinkig war.

    Warum mussten ihre Eltern unbedingt jetzt den letzten Raum renovieren? Es wäre doch nicht nötig, sie könnten ja auch einmal ein Jahr pausieren, genug Platz für alle war ja bereits jetzt schon vorhanden. Außerdem könnte ihr Vater doch auch wieder an den Wochenenden arbeiten, wie er es Anfangs auch immer gemacht hatte. Es eilte ja nicht.

    Als ihre Eltern das Haus vor sechs Jahren gekauft hatten, war immer etwas zu reparieren oder umzubauen und somit entweder nicht genügend Geld vorhanden oder keine Zeit für eine Urlaubsreise. Diese Entscheidung, die zwangsläufig mit einem Umzug verbunden war, verstand sie damals nicht. Sie sagten, es sei besser ein Haus zu besitzen, als immer nur in einer engen Wohnung zu leben und Miete zu zahlen. Aus der Sicht ihrer Eltern vielleicht! Sie wollte aber nicht umziehen, sie wollte in der alten Wohnung und in ihrem gewohnten Umfeld bleiben.

    Da sich das neu erworbene Haus zu ihrem Entsetzen einige Kilometer außerhalb der Stadt befand, musste sie die Schule und all ihre Freunde verlassen. Sie dachte mit Grauen daran, als sie den ersten Schultag in der neuen Schule hatte. Jeder starrte sie an, als ob sie eine Aussätzige wäre. Ihrer Meinung nach war sie doch ein ganz normales Mädchen mit durchschnittlichem Aussehen. Es dauerte somit eine ganze Weile, bis sie sich einlebte und neue Freunde fand, obwohl sie eigentlich einigermaßen kontaktfreudig und zugänglich war, wie sie sich selbst einschätzte.

    Auch das Haus fand sie anfangs nicht gerade einladend. Es war ein Hanghaus, ein altes, großes Haus am Fuße einer einzeln stehenden Erhebung, wie es ihre Eltern bezeichneten. Nach ihrem Empfinden hatte diese „Erhebung" eher Ausmaße eines kleinen Berges. Das Grundstück umschloss einen großen Garten und die nächsten Nachbarn waren etwa 500 Meter weit entfernt. Also keine Spielgefährten nebenan! Sie fragte damals ihre Mutter, warum es ein so großes Haus sein musste. Sie wolle sich mit einem kleinen Laden für Bastelbedarf und Geschenkartikel etwas hinzuverdienen und einen eigenen Garten haben, hatte sie ihr geantwortet. Trotzdem, musste es so groß sein?

    Das Haus war ein düsterer Anblick. Das Walmdach, die kleinen Fenster und der im linken, hinteren Bereich integrierte Geräteschuppen verliehen dem Haus etwas Gedrungenes, der Gesamteindruck war ungefähr so, wie ein Pfarrhof oder ein Gebäude aus dem Mittelalter. Diesen Eindruck verstärkte zusätzlich noch der ursprünglich weiße, aber im Laufe der Jahre schon sehr vergraute und bereits an manchen Stellen abblätternde Anstrich des Hauses. Die Garage, die sich an der rechten Seite befand, passte zum Gesamtbild irgendwie nicht richtig dazu. Wahrscheinlich war sie später angebaut worden. Die Zimmer im Inneren des Hauses waren alle sehr groß im Vergleich zur alten Wohnung und man kam sich darin ziemlich verloren vor. Alles in allem hatte sie den Eindruck, sich als Stadtkind hier nicht wohl zu fühlen und an Einsamkeit und Langeweile zu sterben.

    Aber ihre Eltern hatten Recht behalten. Nach und nach brachten sie gemeinsam das Haus wieder auf Vordermann. Da nach dem Hauskauf die finanzielle Situation es nicht erlaubte, alle anstehenden Arbeiten von Handwerkern ausführen zu lassen und weil ihr Vater handwerklich sehr geschickt war, erbrachten sie den Großteil der Renovierung selbst. Sie erneuerten den Anstrich, reparierten, bauten um oder aus und richteten die Zimmer wohnlich und geschmackvoll ein. Mit Möbeln vollgestellt, sahen sie auch nicht mehr so riesig aus. Jetzt hatte sie im ersten Stock ein schönes, helles Zimmer und ihre Eltern teilten sich den Keller für ihre Hobbys. Im vorderen Bereich, der sowohl über eine kleine Treppe vom Garten als auch von der Zufahrt aus erreichbar war, hatte ihre Mutter zwei Räume für ihren Nebenverdienst. Auf der bergzugewandten Seite befanden sich drei Räume, die zwangsläufig etwas kleiner waren als die beiden vorderen und in denen sich ihr Vater in der Mitte eben diese Werkstatt und rechts davon einen Raum für Modellbau und Angeln eingerichtet hatte. Den linken beschlagnahmte ihre Mutter und funktionierte ihn zum Hauswirtschaftsraum um. Alle hatten nun jede Menge Platz und einen schönen, großen Garten, in dem sie so oft es ging in ihrer Hängematte, ihrem Lieblingsplatz, zwischen den zwei großen Obstbäumen lag.

    Die idyllische Lage an der Südflanke dieses Berges hatte sie mittlerweile auch zu schätzen gelernt und Langeweile oder Einsamkeit verspürte sie auch nicht. Sie hatte schließlich Alina, mit der sie viel Zeit verbrachte und über alles reden konnte. Manchmal saßen die beiden stundenlang beieinander und plauderten über so manche Probleme in ihrem Leben, genauer gesagt, sie meinten Probleme zu haben. In Wirklichkeit waren das nur irgendwelche Kleinigkeiten und Begebenheiten, die im Teenageralter eben so auftraten, aber wenn sie sich alles von der Seele geredet hatten, war die Welt wieder in Ordnung.

    Da fiel ihr auf einmal ein, dass sie ja übermorgen wieder nach Hause kam. Dann würde sie sich gleich mal mit ihr treffen und sich alles vom Spanienurlaub erzählen lassen. Natürlich würde sie auch über ihre tolle „Ferienbeschäftigung" berichten und vor allem, dass sie diese Höhle entdeckt hatte, um auch ein Highlight aufweisen zu können.

    Als sie so ihren Gedanken nachhing, wurde ihr die Zeit plötzlich wieder bewusst. Sie sah auf ihre Armbanduhr und erschrak. Fast 30 Minuten saß sie nun schon hier und noch immer kein Flüstern! Wie sie schon befürchtet hatte aber trotzdem ein wenig enttäuscht, war das alles nur Einbildung mit dem flüsternden Spiegel und sie mühte sich ab, ihren starren Körper aufzurichten.

    „... musst ... ch ... len", wisperte es ganz leise.

    Sofort brach sie ihre Bewegung ab, riss die Augen auf und starrte ehrfurchtsvoll den Spiegel an. Ungläubig sah sie sich in der Höhle um, ob ihr vielleicht jemand einen Streich spielte und auch in die angrenzende Werkstatt warf sie einen Blick, doch es war niemand da, sie war allein. Das Geräusch musste aus dem Spiegel kommen und das bedeutete, dass sie doch keine Halluzinationen hatte! Sie befürchtete schon, zu einem Psychiater auf die Couch zu müssen.

    „... se in ... ch", war wieder zu hören.

    Sie rannte dicht vor den Spiegel und versuchte, die Wörter zu verstehen. Es war immer nur ein tiefes, kehliges Flüstern zu hören und sie konnte nur Bruchstücke entziffern. Vor Aufregung pochte plötzlich ihr Herz so laut, dass sie Angst hatte, dadurch noch weiniger verstehen zu können. Sie versuchte, sich zu beruhigen und lauschte etwa fünf Minuten lang, doch es war nichts mehr zu vernehmen. Kein Flüstern. Nur das entfernte, leise Brummen eines vorbeifahrenden Autos.

    Langsam wurde ihr die Sache zu blöd. „Jetzt reicht’s mir bald. Wenn ich nicht aufpasse, höre ich etwas und wenn ich darauf warte, dann höre ich nichts. Blöder Spiegel! Du willst mich wohl zum Narren halten?, sagte sie aufgebracht und schlug mit der flachen Hand an den Rahmen. Sie erschrak. Hatte sie jetzt wirklich mit einem Spiegel geredet? „Annika, hör bloß auf mit dem Unsinn, ermahnte sie sich selbst.

    „Finde das Buch", konnte sie plötzlich einigermaßen deutlich wahrnehmen und bekam etwas weiche Knie.

    „W … Was? Welches Buch?", stotterte sie unsicher. Ihr wurde mulmig zu Mute. Es war wirklich ein Spiegel der sprach!

    „Finde das Buch, du musst es lesen."

    „Was ist das für ein Buch, das ich finden soll?, antwortete sie etwas hilflos und fuhr mit den Augen die Umrisse des Spiegels ab, als ob sie dadurch die kehlige Stimme orten könnte. „Wo soll ich danach suchen? Keine Antwort. Völlig verdattert stand sie da und wartete, doch der Spiegel blieb stumm. „Komm schon, antworte gefälligst!", schrie sie jetzt beinahe und schlug nochmals gegen den Rahmen, denn das hatte vorhin auch funktioniert. Jetzt tat sich aber nichts mehr. Der Spiegel gab keinen Mucks von sich.

    Sie musste erst einmal wieder einen klaren Kopf bekommen. Mit der Situation völlig überfordert, wandte sie sich ab und ging mit schleppendem Schritt und verwirrtem Gesichtsausdruck in den Garten und ließ sich auf die Hängematte fallen. Was für eine Geschichte! Ein sprechender Spiegel! So etwas Verrücktes gab es doch nur in Büchern, in Fantasyromanen, sie hatte ja schon jede Menge davon gelesen. Aber jetzt geschah so etwas bei ihr im wirklichen Leben! Sie kam sich vor, wie in einem schlechten Traum und konnte an nichts anderes mehr denken, als an den Spiegel und was er gesagt hatte.

    Finde das Buch, hallte es in ihrem Kopf nach. Du musst es lesen.

    Wenn sie nur wüsste, nach welchem Buch sie suchen sollte und wo? Mit einem Kopfschütteln setzte sie sich auf und sah mit leerem Blick zur Gartenbank, die unter einem großen Baum stand. Sie wusste nicht mehr weiter und beschloss, alles Alina zu erzählen, vielleicht konnte sie ihr weiterhelfen. Aber sollte sie mit ihr wirklich über diese merkwürdige Geschichte vom Spiegel sprechen? Sie war sich unsicher. Vielleicht würde Alina nur über sie lachen. Diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Sie hatten sich gegenseitig schon mehrmals merkwürdige und peinliche Dinge erzählt und da lachte niemand darüber, Alina nicht und sie selbst auch nicht. Ganz im Gegensatz zu Alinas Bruder, der sich über jede Kleinigkeit amüsierte und keine Gelegenheit ausließ, um sie zu ärgern. Aber untereinander verstanden sich die beiden eigentlich ganz gut, wie sie wehmütig feststellen musste. Sie wollte auch immer einen Bruder haben, doch leider ging das nicht mehr. Bei ihrer Geburt gab es Komplikationen und die Ärzte stellten danach fest, dass ihre Mutter keine Kinder mehr bekommen konnte, wie sie es ihr schließlich nach langem Nachfragen und mit Tränen in den Augen erzählte. Aber vielleicht hätten sie sowieso nur gestritten und sich nicht vertragen.

    Bis sie mit Alina gesprochen hatte, würde sie auf alle Fälle den Spiegel nicht mehr belauschen.

    Die folgenden Tage verliefen ohne Zwischenfall und sie wartete sehnsüchtig auf Alinas Anruf, denn sie hatten vereinbart, dass sie sich sofort nach ihrer Ankunft melden würde. Sie müsste eigentlich schon zu Hause sein und blickte immer wieder auf ihr Handy, ob es auch wirklich eingeschaltet war. Nach einiger Zeit ertönte endlich ihr Klingelton. „Hallo Alina, wie war der Urlaub?, sagte sie hastig, ging dabei in ihrem Zimmer auf und ab und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Du musst so bald wie möglich zu mir kommen, ich muss unbedingt mit dir reden.

    Alina klang etwas besorgt und versicherte ihr, in 15 Minuten bei ihr zu sein.

    Annika stand an ihrem Zimmerfenster und beobachtete ungeduldig die Auffahrt zum Haus. Alina wohnte ungefähr drei Kilometer entfernt in einer Siedlung am Stadtrand und natürlich dauerte es eine Weile, bis sie mit ihrem Fahrrad bei ihr vor der Tür stand. Um auf andere Gedanken zu kommen, setzte sie sich an den Schreibtisch und wollte etwas lesen. Unwillkürlich musste sie wieder an das Buch denken, dass sie suchen sollte und an die unheimliche Stimme, die mit ihr gesprochen hatte. Irgendwie musste sie die Angelegenheit sachlich betrachten, die Tatsache, dass der Spiegel sprach, annehmen und auf der Suche nach dem Buch systematisch vorgehen, denn sonst würde sie verrückt werden.

    In ihre Überlegungen vertieft, nahm sie das vertraute Geräusch eines klappenden Fahrradständers wahr und rannte sofort hinunter, um Alina in Empfang zu nehmen.

    „Hallo Annika, was ist denn los, was gibt es denn so Wichtiges?", fragte die von der südlichen Sonne braungebrannte und nach Luft ringende Alina mit wachsender Ungewissheit.

    Alina war etwas größer als sie und hatte blonde, kurze Haare und himmelblaue Augen, aber vom Wesen her waren die zwei fast gleich. Deshalb verstanden sie sich ja auch so gut.

    „Hallo

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