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Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst  (Teil 2)
Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst  (Teil 2)
Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst  (Teil 2)
eBook649 Seiten9 Stunden

Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst (Teil 2)

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Über dieses E-Book

Nach einer dramatischen Flucht scheint für Sylviane der Kampf ums Überleben fast gewonnen. Doch es ist nur eine Atempause, die Bedrohung wächst. Die letzte Möglichkeit, ihren Verfolgern zu entkommen, führt mitten durchs Kriegsgebiet, und am Ziel lauern unbekannte Gefahren. Alte Wunden brechen auf. Zerbricht eine große Liebe? Kann Sylviane dem ihr zugedachten Schicksal trotzen? In einer finalen Wendung kommt es zur Entscheidung über Sieg oder Niederlage, in der nichts ist, wie es scheint, und die Wahrheit tödlicher ist als jede Lüge.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Dez. 2018
ISBN9783746991757
Feuertanz: Stirb - damit du leben kannst  (Teil 2)
Autor

Thyra Maris

Thyra Maris ist ein Pseudonym der Autorin. Geboren 1962 im Ruhrgebiet, aufgewachsen zwischen Kohle und Stahl, lebt Thyra Maris seit dreißig Jahren am Niederrhein. Nach jahrzehntelanger Berufstätigkeit kann sie sich seit dem Eintritt in den Ruhestand mit mehr Zeit und Hingabe ihrer wahren Leidenschaft widmen – dem Schreiben. Gerne vertieft sie sich in längst vergangene Epochen, um das Denken und Fühlen der Menschen von einst zu verstehen und ist stets auf der Suche nach wenig bekannten historischen Details. Jedes Zeitalter birgt seine eigenen Herausforderungen. Und so stellt sich immer wieder die spannende Frage: Woher kommen wir? Wo stehen wir heute? Wohin werden wir gehen? Aus diesen Überlegungen ist der vorliegende historische Roman »Feuertanz, stirb - damit du leben kannst« entstanden. Er besteht aus zwei Teilen; mit Teil 2 ist er abgeschlossen. Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der Neuzeit – eine Ära des Umbruchs und der Veränderung, und erleben Sie ein Abenteuer voller Intrigen, Geheimnisse und Liebe! Begleiten Sie Charaktere, die für ihre Überzeugungen alles riskieren und sich zahlreichen Gefahren stellen müssen. Hinweis: "Feuertanz" erlebt eine großartige Verjüngungskur! Die Neuauflage ist im Anmarsch: Mit einem wundervoll gestalteten Innenteil, einem überarbeiteten Text und neuen historischen Details wird die Geschichte noch fesselnder. Die Veröffentlichung gebe ich noch bekannt! (✿◠‿◠) (Okt. 2023)

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    Buchvorschau

    Feuertanz - Thyra Maris

    SIEGE UND NIEDERLAGEN

    – DRITTES BUCH –

    Die Flucht

    Sylviane …«, flüsterte jemand. Dann etwas lauter, drängender: »Sylviane – komm‘ heraus, her zu mir!«

    Zuerst war sie vor Schreck zusammengefahren, dann musste sie über sich selbst lächeln. Du Angsthase! Es gab keinerlei Grund zur Aufregung, dieser kräftige Bass war unverkennbar. Sicherheitshalber blieb sie noch hocken, spähte übers Wasser … ein paar Enten … kräuselnde Wellen … und tanzende Mücken. Weit und breit war kein Mensch, vermutlich hatten sich alle in die Kirche oder in die Wirtshäuser verzogen. Oder beides. Sie konnte es wagen!

    Leise erhob sie sich aus dem Wasser, kletterte die Böschung hinauf. Oben angelangt, sah sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Diese schneeweiße Mähne, der wirre Vollbart, die furchtlosen Augen, die aus dem wettergegerbten Gesicht leuchteten, diese breitschultrige, stämmige Gestalt in der groben Kutte …

    Sie lachte ihn an und wisperte: »Bruder Hermann, seid gegrüßt.« Er strahlte übers ganze Gesicht, legte aber den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete ihr, sich ruhig zu verhalten. Er holte aus dem mitgebrachten Sack ein Bündel Kleider heraus und überreichte es ihr. »Hier, das sollte reichen«, meinte er, »und es ist noch ein Tuch zum Abtrocknen dabei.«

    Sie war gerührt. Es waren ihre eigenen Sachen, die sie für die Reise nach Marburg eingepackt hatte. »Ausgezeichnet! Ihr habt wirklich an alles gedacht«, lobte sie. Hinter einem Busch zog sie sich um. Schade nur, dass man ihr die Männerkleider abgenommen hatte, diese wären jetzt die passende Ausrüstung gewesen. Immerhin war das taubengraue Kleid, welches Marilis eigens für sie umgenäht hatte, ziemlich schlicht gehalten und daher unauffällig, dazu hatte sie die Schuhe aus robustem Leder an den Füßen, womit sie bestimmt gut über Stock und Stein marschieren konnte, und die Leinenhaube verbarg großzügig ihren kahlen Kopf. Ihre erste Flucht zusammen mit Severin und Peter fiel ihr wieder ein, wo sie ausgerutscht war und sich erbärmlich das Knie aufgeschlagen hatte. Diesmal war sie besser gerüstet, sie konnte wirklich zufrieden sein! Zum Schluss begrub sie das tropfnasse Büßerhemd unter einem Haufen Erde.

    Dann brachen sie auf. Zielsicher führte Hermann sie über einen Trampelpfad zu einer Baumgruppe, wo zwei gesattelte Pferde angeleint standen. Er nickte zu den Tieren hinüber. »Ich helfe dir hinauf und dann machen wir, dass wir in den Wald kommen!«

    Sie stieß einen Seufzer aus. »Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass ich nicht weiterlaufen muss. Ich fühle mich ein wenig schwach auf den Beinen.«

    Er warf ihr einen bewundernden Blick zu. »Nur ein wenig? Du untertreibst. Ich habe eher damit gerechnet, dass ich dich bis hierhertragen muss.«

    »Vergesst nicht, dass ich einst Stallarbeit wie die Knechte leisten musste. Das härtet ab.«

    »Damals ging es aber nicht um Leben oder Tod.«

    »Bei Michael konnte man nie wissen.«

    Er nickte. »Das stimmt allerdings. Aber jetzt lass uns eilen!«

    Beim Näherkommen stutzte sie – dieses Pferd kannte sie doch! Hellbraunes Fell, dunkelbraune Mähne, die Blesse in Form eines kleinen Sterns auf der Stirn … es war die sanfte Stute, die ihr Heron für den Ritt nach Marburg gegeben hatte. Das Tier begrüßte sie mit einem kurzen Schnauben. Sie klopfte ihm zärtlich den Hals. »Da bist du ja wieder«, sagte sie. Und an Hermann gewandt: »Ich bin im Reiten nicht geübt. Aber auf dieser Stute traue ich mir eine längere Reise zu.«

    Er lächelte verschmitzt. »Ich weiß. Bedanke dich bei Heron, er hat dafür gesorgt.«

    Nachdem sie aufgesessen waren, trabten sie unverzüglich los. Bei der ersten Gelegenheit bogen sie in den Wald ab. Oft mussten sie hintereinander reiten, weil die Bäume dicht zusammenstanden. Nach einiger Zeit erreichten sie eine kleine Lichtung; hier gab Hermann das Zeichen zum Anhalten.

    Schnaufend rutschte Sylviane vom Pferd herunter. Sie war todmüde, aber glücklich. Entwischt … ich bin ihnen entwischt! sang es in ihr. Zumindest war die erste Etappe geschafft! In der Nähe hörte sie es plätschern. Ein kleiner Bach? Wie gut, sie wollte sich erst einmal erfrischen. Doch sie schaffte nur wenige Schritte. Plötzlich begann sie, am ganzen Leib zu zittern und zu beben, die Zähne klapperten … ihre gesamte Energie war verbraucht, floss aus ihr heraus wie Wasser. Sie sackte in sich zusammen und fiel ins Gras, unfähig, sich zu regen oder irgendetwas zu sagen. Sie bekam noch am Rande mit, wie Hermanns starke Arme sie umfingen, sie wiegten wie ein Kind und hörte sein Flüstern: »Der Schrecken ist vorbei, meine arme Tochter. Du bist in Sicherheit, ruhe dich aus.«

    RUHE DICH AUS.

    Da kam auch sie endlich zur Ruhe, das Zittern hörte langsam auf, die Augen fielen zu und sie versank in ein sanftes, tröstliches Dunkel.

    Ein lautes Knistern weckte sie. Dazu Rauch …

    RAUCH!

    Die alte Furcht ließ die inneren Alarmglocken schrillen, sie fuhr hoch, sah verwirrt um sich und versuchte, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Es war bereits Abend. Unweit von ihr saßen einige Gestalten um ein Lagerfeuer. Aha, daher also kam der Rauch! Sie kniff die Augen zusammen, um schärfer zu sehen … ihr Herz tat einen Sprung. Dort waren ja Hermann, Peter, Idisa – und wunderbarerweise auch ihre Muhme versammelt!

    Schlagartig war sie hellwach. Sie schleuderte den Mantel von sich, mit dem sie zugedeckt war, und sprang auf. Lächelnd drehten sich die anderen zu ihr um und winkten ihr zu. »Na, endlich ausgeschlafen?«, rief Peter fröhlich. »Komm herzu und stärke dich, ehe wir alles aufgegessen haben!«

    Nichts lieber als das! Sie wollte der Aufforderung folgen, doch die Schwäche überfiel sie von neuem, sie taumelte –

    … da war auch schon Helmine bei ihr und fing sie auf. Sie hielt sie fest umschlungen und wollte mit dem Drücken und Herzen gar nicht mehr aufhören. »Mein Mädchen!! Mein armes Mädchen! Was du alles ausgestanden haben musst, soviel Todesangst, Leid und jetzt die abenteuerliche Flucht! Aber du konntest ja schon als Kind gut schwimmen, Gott sei’s gelobt und gedankt.« Sie wischte sich die Freudentränen aus den Augen.

    Sylviane brachte nur ein »DU??« heraus und staunte die Muhme so entgeistert an, als sei sie direkt vom Himmel gefallen. Mit diesem Wiedersehen hatte sie überhaupt nicht gerechnet.

    Helmine lächelte verschmitzt. »Aber ja, Kleines, wirklich, ich bin’s! Vor vier Tagen war Bruder Hermann plötzlich auf dem Hof aufgetaucht und hatte uns von einem Wunder – der wiedergefundenen Idisa nämlich –, der bevorstehenden Hexenprobe und dem Plan zu deiner Rettung berichtet. Und dass wir für immer von dir Abschied nehmen müssten.«

    »Ja – ich soll ›sterben‹, damit ich weiterleben kann«, versetzte Sylviane. »Anders geht es wohl nicht.«

    Helmine nickte. »Genau. Deshalb bin ich hier, um dich ein letztes Mal zu sehen. Severin konnte nicht weg, zwei Knechte sind krank, und wir stecken mitten in der Ernte … du weißt ja, wie es ist. Er lässt dich herzlich grüßen und will dich so bald wie möglich besuchen, wo immer du dann lebst.« Mit einem anerkennenden Blick zu Hermann hinüber sagte sie laut: »Wusste bisher gar nicht, dass unser Eremit ein solch geübter Reiter ist!«

    Der so Gelobte rief launig zurück: »Ich hab’s gehört, danke sehr!«

    »Er ist geritten wie der Teufel, während mir von dem Gerüttel beinahe schlechtgeworden ist«, erzählte sie weiter. »Mein frommer Gaul wusste gar nicht, wie ihm geschah. Eine Hetzjagd war das, ein Wunder, dass ich nicht runtergefallen bin. Meine armen Knochen! Das war Gottesversuchung!« Ihr stand das blanke Entsetzen im Gesicht geschrieben.

    Auch Sylviane bekam im Nachhinein einen Schreck. Nicht auszudenken, wenn ihr etwas zugestoßen wäre! »Ich bin so froh, dass alles gutgegangen ist und du keinen Sturz vom Pferd getan hast«, sagte sie. »Aber das war keine Gottesversuchung, du hast den Ritt für mich gewagt. Gott hilft denen, die sich selber helfen, und so war das Glück mit dir gewesen.«

    »Wie wahr, wie wahr. Du bist der beste Beweis dafür! Herrgott, zweimal dem Hexengericht entkommen! Ach, mein Kind – wir sind wirklich mit Wundern gesegnet. Du lebst, und Idisa auch.«

    Idisa, die während des Gesprächs hinzugekommen war und sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, streckte stumm die Hände aus.

    »Ach Idisa …« Tiefbewegt zog Sylviane ihre Schwester an sich; beide blieben eine Zeitlang in der Umarmung versunken. Dann lösten sie sich voneinander.

    Sylviane betrachtete sie eingehend und dachte: wie zierlich sie doch ist, wie zart … wir sind nur vier Jahre auseinander … sie muss nun sechzehn Jahre alt sein, aber gegen sie fühle ich mich uralt.

    »Ach, Idisa, wir sind ein hübsches Paar, was? Rufina, die Hexe, und Idisa, der Engel«, sagte sie schließlich.

    Da lachte Idisa hell auf. »Oh Sylvelin, ich bin so froh, dass du es geschafft hast! Ich habe so für dich gebetet! Während du um dein Leben geschwommen bist, war ich mit Peter hierher geritten. Was soll ich sagen, es kommt mir alles wie ein Traum vor … dich gefunden zu haben, plötzlich eine Familie zu haben, nach all den Jahren, wo ich geglaubt hatte, eine Waise oder ein Findelkind zu sein! Und du bist mir schon ein wenig vertraut, die Muhme hat viel von dir erzählt.«

    »So? Und ich weiß über dich sehr wenig«, bedauerte Sylviane.

    Idisa seufzte. »Da geht es mir wie dir. Erst Pater Roman half mir, mich zu erinnern … längst vergessene Namen fielen mir ein … Isa-Idisa, Susanna, dann Norwig und Carol. Aber als ich dich im Turmzimmer dann leibhaftig vor mir stehen sah … da … da wusste ich wieder, wer ich war, da kam alles wieder hoch … der Brand im Haus, die sengende Hitze, der stickige Qualm … ich war nur noch gerannt, hinaus … hinaus …!« Ihre Augen waren schreckgeweitet, sie zitterte am ganzen Körper.

    Die Schwester so aufgelöst zu sehen, dazu ihr bleiches Gesicht, ging Sylviane ans Herz. Der Schock des Wiedersehens, die quälenden Erinnerungen, das war zuviel für sie! Dagegen hatte sie, Sylviane, Jahre Zeit gehabt, die Tragödie zu verarbeiten, während über Idisa alles auf einmal hereinbrach. Sie musste sie schnell ablenken, auf andere Gedanken bringen!

    »Wie war dein Leben bei Christof und seiner Frau verlaufen?«, fragte sie im leichten Plauderton. »Sie haben dich nur sehr ungern mit dem Pater ziehen lassen.«

    Das half. Idisas gehetzter Blick klärte sich … sogar ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Ach, diese beiden … es sind so liebe und gottesfürchtige Leute! Sie besaßen wenig, aber das Wenige haben sie mit mir geteilt. Mir hat es an nichts gefehlt, manchmal war es nicht leicht, oft haben meine Ziehmutter und ich nach der Tagesarbeit noch bis Mitternacht am Spinnrad gesessen, um möglichst viel Garn verkaufen zu können, und der Ziehvater verdingte sich auswärts als Tagelöhner. Wir mussten aber nie hungern. Und ich besaß sogar zwei Kleider.«

    »Du hast recht daran getan, mit Christof mitzugehen. So musstest du dich wenigstens nicht allein durchschlagen.« Sie schmatzte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ab jetzt ist die Einsamkeit vorbei, liebe Schwester, wir sind wieder vereint!«

    Idisa lächelte selig. »Ja, wir sind wieder zusammen! Ihr habt alles so fein geplant … erst stand ich ratlos am Stadttor, mit dem Freibrief in der Hand, als mich ein Mann in Begleitung einer Frau – es war die Muhme – angesprochen hat.«

    »Was – du hast sie wiedererkannt?«

    »Na, hör mal – welche Frau besitzt einen solch dicken Zopf, auch wenn er grau ist? Sie hat sofort über unsere Kindheit gesprochen, und ich erinnerte mich wieder an gemeinsame Erlebnisse.«

    »Ja, zuerst hatten wir geplaudert«, versetzte Helmine. »Als sie Vertrauen gefasst hatte, haben Bruder Hermann und ich sie nach Weidenhausen fortgebracht, zu einer Herberge. Anschließend haben wir ihr das Weitere erklärt … warum du im Turm gefangen sitzt und dir der Hexenprozess gemacht wird. Tja, und dann wurde es schwierig. Sie wollte nämlich nicht glauben, dass du unschuldig bist.«

    »WAS?« rief Sylviane aus. »Höre ich recht?« Doch ein Blick auf Idisa, die daraufhin errötete und verlegen die Augen niederschlug, sagte ihr, dass dem tatsächlich so war: ihre eigene Schwester hielt sie für eine Hexe! Das gab ihr einen Stich ins Herz. Das tat weh!

    Doch Helmine nahm Idisa in den Arm. »Das ist kein Grund, ihr deswegen böse zu sein! Du musst sie auch verstehen. Sie ist sehr fromm erzogen worden und hegt demzufolge größte Achtung vor der Kirche; Pater Roman ist für sie ein Mann Gottes und sie hält ihn für unfehlbar in dem, was Recht und Unrecht betrifft. Zuerst wusste sie gar nichts davon, dass du als Hexe verschrien worden bist, das hat ihr der Pater erst nach eurem ersten Wiedersehen offenbart. Gleichzeitig hatte er zugesichert, dass er dich freisprechen würde, sobald sich deine Unschuld herausstellen würde. Selbstverständlich hatte Idisa nicht an der Wahrheit seiner Worte gezweifelt. Warum auch? Nie würde sie sich irgendein Urteil über Glaubensdinge erlauben; zudem fürchtet sie sich sehr vor dem Teufel und den Hexen. Umso schlimmer war ihr dann die Vorstellung, dass die eigene Schwester eine Zauberische sein könnte! Zwar konnte Hermann sie ein wenig beruhigen, doch erst Heron war es gelungen, ihr begreiflich zu machen, dass du das Opfer einer bösartigen Intrige und keine Hexe bist.«

    »Wieso, was hat er mit ihr angestellt? Hat er ihr gedroht?«, fragte sie alarmiert. Unwillkürlich stand ihr das Katz- und Maus-Spiel auf seiner Burg wieder vor Augen. Heron und seine inquisitorischen Befragungen!

    Helmine und Idisa lachten beide. »Nein, hab keine Angst, schau nicht so entsetzt drein! Idisa kannte bereits seinen Ruf als unerbittlicher Hexenjäger«, versicherte Helmine. »Sie wusste auch, dass er mit Pater Roman zusammenarbeitet.«

    Sylviane hob die Brauen. »Das gehört wohl zum Dorfklatsch, wie?«

    »Im Winter sind die Abende lang, besonders in den Spinnstuben«, ergänzte Idisa lakonisch. »Man erzählt sich so Geschichten.«

    »Jedenfalls hat Idisa nicht länger mehr an dir gezweifelt«, schob Helmine nach. »Bei den Fluchtvorbereitungen hat sie so emsig mitgeholfen, als wollte sie deinem Schutzengel Konkurrenz machen.«

    Idisas Augen glänzten vor Stolz. »Um die Wahrheit zu sagen … ich glaubte zwar an deine Unschuld, aber ganz sicher war ich mir immer noch nicht. So war ich auf die Wasserprobe sehr gespannt, wollte sehen, wer nun recht oder unrecht hat, der Pater oder Heron. Doch das Hexenbad hat ja ganz klar gezeigt, dass du mit dem Teufel nichts zu schaffen hast! Dein Gewicht ist zu schwer für eine Hexe, so dass du untergehen musstest. Gott hatte gesprochen!«

    Erschrocken wehrte Sylviane ab. »Aber das hatte mit Gott doch nichts zu tun – Peter hat die Stricke angeschnitten und ich konnte einfach untertauchen.«

    »Das macht doch nichts. Gott hatte dies zugelassen, sonst wärst du oben geblieben«, erwiderte Idisa fröhlich und überaus selbstsicher.

    Sylviane wusste nicht, ob sie über Idisas Hang zum Aberglauben lachen oder weinen sollte. Bedächtig wählte sie die Worte. »Du begreifst aber, Idisa, dass ich weiterhin in Gefahr bin? Dass du niemandem – auch Pater Roman nicht – von mir erzählen darfst? Dass ich in Wahrheit nicht ertrunken bin? Ein kleiner Verdacht genügt, und die lustige Hexenjagd beginnt von neuem.«

    »Eben darum hab‘ ich den Pater gleich am Ärmel gepackt und von der Brücke weggezogen, kaum als du versunken warst«, warf Helmine ein. »Ich habe ihm angesehen, dass er liebend gerne noch eine ganze Weile ausharren und nach dir ausschauen wollte.« Sie wandte sich mit ernster Miene an Idisa. »Hör genau zu, mein Kind: dein Pater Roman ist kein Übermensch. Er ist zwar gebildeter und viel klüger als unsereins, aber gerade deshalb auch erbarmungsloser in seinem Urteil!«

    Idisa blinzelte, zog die Schultern hoch. »Erbarmungslos … ja, das Gleiche hat mir der Herr von Thyrnau auch gesagt – Pater Roman sei erbarmungslos, sobald es um Hexerei ginge. Aber hat er nicht recht damit? Man muss die Hexen ausrotten, ganz gleich, wo sie sich auch befinden, sind sie doch schuld an allem Elend auf der Welt!«

    »Ach – hätte ich doch lieber brennen sollen? Dann geh‘ hin und berichte Pater Roman, dass ich lebe und wo ich mich aufhalte! Dann ist mir wenigstens gleich der Himmel sicher, den ich mir sonst auf Erden sauer verdienen müsste – mein ewiger Dank wäre dir gewiss, liebste Schwester«, versetzte Sylviane bissig. Das war ja nicht mehr auszuhalten!

    Wie von einem Pfeil getroffen zuckte Idisa zusammen. »Aber nein, du doch nicht – du hast mit Hexerei nichts zu tun, das weiß ich doch jetzt! Der Teufel hat Pater Roman verblendet, wohingegen der Freiherr, der ja Lutheraner ist wie wir, die Wahrheit erkannt hat. Unser Glauben ist also der bessere, das beweist deine Geschichte ja ganz eindeutig.«

    Sylviane seufzte. Idisas konfusen Argumenten konnte man anmerken, dass sie ihr Leben in der Enge ihres Dorfes verbracht hatte. Erstaunlich allerdings war ihre Redegewandtheit; es gab keinen Zweifel, sie war von Norwigs Blut. Aber für heute wollte sie Frieden schließen und schon gar nicht über den Glauben streiten. Versöhnlich umarmte sie Idisa, die wiederholt beteuerte, über ihre Rettung schweigen zu wollen wie ein Grab.

    »Tu‘ das auch, sonst schaufelst du unser gemeinsames Grab«, warnte Sylviane nochmals eindringlich. »Auch dich wird man nicht mehr verschonen, glaub‘ mir das!« Sie strich sich über die Stirn. Sie war müde, ach, so müde!

    »Schsch, Sylvelin, gräme dich nicht mehr. Was vorbei ist, ist vorbei«, meinte Helmine tröstend. Dann glitt ein geheimnisvolles Lächeln über ihr Gesicht. »Außerdem hab‘ ich dir etwas mitgebracht! Warte mal, ich hole es.« Sie ging zu den Pferden hinüber, machte sich an einer Satteltasche zu schaffen und kehrte wieder zurück. In ihrer Hand hielt sie ein Päckchen und drückte es Sylviane in die Hand. »Wickel‘ es aus.«

    Verwundert gehorchte Sylviane … sie hatte das Geschenk noch nicht ganz ausgepackt, da stieg schon ein süßer Duft in ihre nicht gerade verwöhnte Nase. »Nein, das gibt es nicht – Honigkuchen?!«, juchzte sie, als sie die geliebte Nascherei erblickte. Gleichzeitig wurde ihr das Herz schwer wie Blei. Sie wusste, was es bedeutete. Das also ist der Abschied. Zum letzten Mal Honigkuchen von der Muhme. Sie seufzte.

    »Na, na!«, mahnte Helmine. »Eigentlich soll das etwas zum Freuen sein und nicht zum Weinen! Aber stehen wir nicht länger herum.« Energisch nahm sie jeweils Sylviane und Idisa bei der Hand und führte sie zum Lagerfeuer, wo sie sich niedersetzten.

    Nun kam Sylviane endlich zur Ruhe – im Kreis ihrer Lieben, genüsslich am Honigkuchen knabbernd, genoss sie so recht diesen friedlichen Augenblick. Der erste Bissen in Freiheit! Und dazu noch ihr Lieblingsgebäck! Sinnend starrte sie in die Flammen … so mochte sie das Feuer – klein und gemütlich vor sich hinflackernd, wohlig wärmend … da hörte sie einen Seufzer neben sich —Peter! Etwas stimmte nicht mit ihm. Bis jetzt verhielt er sich ganz gegen seine sonstige Gewohnheit merkwürdig still. War er darüber bekümmert, dass sie ihn zwar begrüßt, sich aber noch gar nicht richtig bei ihm bedankt hatte? Dies wollte sie sofort nachholen.

    Sie neigte sich zu ihm. »Hab innigen Dank, Peter, du hast viel für mich getan«, sagte sie. »Euer Plan war gar nicht so verrückt, wie ich anfangs dachte, es hat alles so geklappt, wie du es versprochen hast. Die Fesseln hast du wunderbar vorbereitet; ich musste gar nicht viel Kraft aufwenden, sie zu zerreißen. Das hast du wirklich gut gemacht.«

    Er verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. »Ja, nich‘ wahr? Das war doch wohl mal ein gelungener Streich!« Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu. »Ich bin recht brauchbar, eh?«

    Sie nickte lachend. »Absolut. Und dazu ein treuer Freund.«

    Sein Grinsen erlosch. »Zum Jubeln ist es jedoch zu früh. Ich fühle mich erst wohl, wenn wir Marburg möglichst weit hinter uns gelassen haben.«

    »Du hast recht, noch ist es nicht überstanden. Was ist eigentlich mit deiner Arbeit als Turmwärter – hast du dich mit deiner Flucht nicht verdächtig gemacht? Vielleicht wirst du schon vermisst oder gar gesucht?«

    Er schüttelte den Kopf. »Ach was, die haben mich doch schon längst vergessen! Niemand macht sich Gedanken um hergelaufene Burschen wie mich. Natürlich bin ich nicht heimlich verschwunden, sondern habe ganz offiziell gekündigt – mit der Begründung, dass ich wegen des ganzen Hexengedöns Schiss bekommen habe und ich lieber einer ungefährlicheren Beschäftigung nachgehen möchte. Der Oberaufseher hat mich nur kurz angeguckt und genickt, kurz darauf nahm schon ein anderer meine Stelle ein. Kein Wunder, denn es gibt regelmäßigen Lohn, Gratiskost, der Wachdienst ist kinderleicht – da ist der Posten als Turmwärter natürlich heiß begehrt! Ich jedenfalls habe diesen vermaledeiten Turm sofort verlassen und mich am Stadttor unter die fahrenden Händler gemischt. Flotter geht’s auch auf ’nem Hexenbesen nich’!«

    Sie kicherte. Den schlaksigen Peter mit seinem koboldhaften Grinsen konnte sie sich auf einem Hexenbesen sehr gut vorstellen.

    »Tja, und dann hab’ ich mich in Weidenhausen mit den anderen getroffen –«

    »… und wir sind endlich wieder alle beisammen«, ergänzte sie. Spontan streckte sie die Hand aus und drückte fest die seine. »Nochmals danke für alles, danke für deine Freundschaft!«

    Peter zuckte kurz, als wäre er von etwas Heißem berührt worden, und sah sie bedeutungsvoll an. Lichter tanzten in seinen Augen.

    Kam dies vom Feuerschein? Sie tat so, als hätte sie es nicht bemerkt und fragte leichthin: »Wusstest du, dass Lisa und Sanne mich bei Pater Roman denunziert haben?«

    Er gab ein Geräusch von sich, klappte ein paarmal den Mund auf und zu. »Wa–was?«, stammelte er. »Das ist doch … also … dass sie so weit gehen würde, hätte ich nie gedacht!«

    »Sie …? Wer denn?«

    »Lisa. Ich meine Lisa damit … ja, Lisa. Hrm!« Seine Verlegenheit schien immer größer zu werden. Dann gab er sich einen Ruck. »Irgendwie kann ich mir schon denken, warum sie das getan hat. Lisa … ähm … also Lisa ist in mich verliebt und hat wohl gehofft, dass ich sie zum Weib nehme. Beinahe wäre das auch so gekommen – aber als ich dich an jenem Tag wie eine verschreckte Maus über den Burgplatz huschen sah, mit dem verschmutzten Kleid, alles voller Erde und dann diese schönen weißen Zähne … von da an konnte ich es mir nicht mehr vorstellen, mit Lisa zusammen zu sein.«

    »Was? Du hast dich in meine Zähne verliebt?!«

    »Ach Sylvelin, du weißt doch genau, wie ich das meine! Mach‘ dich nicht lustig über mich.«

    »Aber Peter, ich mach‘ mich doch gar nicht lustig –«

    Mit einer Handbewegung wischte er ihren Einwand beiseite und sprach weiter: »Abgesehen davon hatte ich so meine Zweifel, dass ihre Liebe echt war. Sie kannte nämlich meinen Wunschtraum, eines Tages auf dem Marburger Schloss eine Stellung als Kämmerer zu finden oder sogar als Verwalter tätig zu sein … ja, das hätte ihr gut gefallen, dort zu leben, als Frau des Schlossverwalters, im direkten Umfeld des Landgrafen! Und was Sanne anbetrifft: die tut sowieso alles, was Lisa sagt. Sie begehrt selber die Stellung der ersten Magd, und wenn Lisa mit mir gegangen wäre … du verstehst?«

    Sie gab ein Zischen von sich. Nun erschien alles so klar, als steckte sie selbst in Lisas Haut. Sie hatte ihr den Traum und ihre Zukunft genommen, und dafür hatte sie, Sylviane, brennen sollen. Dann wäre der Weg für Lisa wieder frei gewesen. Moment mal … hatte nicht auch Catharina aus denselben Grund gehandelt? Aus Eifersüchtelei? Und Michael wiederum wollte sie zur Geliebten, bis er sich durch sie bedroht sah. Heron hatte recht gehabt: die wahren Hintergründe einer Denunziation beruhten meist auf Eifersucht und Neid; jeder suchte seinen eigenen Vorteil.

    Sylviane zog fröstelnd die Schultern hoch. Hinter der Maske der Frömmigkeit lauerte stets gut versteckt das Böse.

    Oh heilige Inquisition, du nährst dich von Fäulnis und Sumpf!

    Peter hüstelte. »Morgen früh kommt Heron … ganz früh.« Leise Eifersucht schwang in seiner Stimme mit. Er schluckte heftig.

    Sie merkte es ihm an, am liebsten hätte er es gar nicht erwähnt. Heron würde zu ihnen stoßen? Eher hatte sie damit gerechnet, dass er sich eine geraume Zeit von ihr fernhalten würde, um sich nicht verdächtig zu machen. »Weiß er denn, wo wir uns aufhalten?«, fragte sie besorgt. »Wird er uns überhaupt finden?«

    Er machte große Augen. »Na klar! Wir haben alles bis ins Kleinste besprochen.«

    Sinnend blickte sie an ihm vorbei ins Lagerfeuer. Die Flammen, harmlos prasselnd und gemütlich wärmend, schienen verschiedene Bilder zu formen: ein schwarzer Ritter, der sie vor dem Verbrennen rettete, daneben ein Schurke, der sie kaltlächelnd vom Turm in den Abgrund stürzte, und als letztes der feurige Geliebte, der schier vor Liebe und Zärtlichkeit überströmte. Sie schloss die Augen. HERON. Zuletzt war er zu einem dämonischen Geist geworden, der beinah ihre Seele auszulöschen drohte. Jetzt, wo ein Wiedersehen möglich wurde, kam es ihr seltsam unwirklich vor. Er war so lange von ihr ferngeblieben – ausgerechnet dann, als sie seine Gegenwart dringend nötig gehabt hätte, als sie völlig allein gegen das Hexentribunal kämpfte und beinahe zerbrochen wäre. Erst auf der Brücke waren sie sich wiederbegegnet: Schulter an Schulter hatte er neben Pater Roman gestanden, als würde er zu ihm gehören wie ein Zwillingsbruder, und sie, den Blick starr geradeaus gerichtet, war nahe an ihm vorbeigegangen. Ein einziger Blick in sein Gesicht, und sie wäre nicht mehr fähig gewesen, ihr Spiel zu spielen. Alles wäre umsonst gewesen.

    Ihre Augen tränten. War es der Rauch des Lagerfeuers, der ihr in die Augen biss? Oder die Sehnsucht? Würde sie je wieder sein zärtlich gehauchtes »Oh Sylvie« hören? Heron, der Wolf von Thyrnau. War er noch ihr Geliebter geblieben?

    »Von was oder wem träumst du?«, hörte sie plötzlich Peter fragen. Die Visionen verblassten, und sie wandte sich wieder dem Freund zu. »Ich hab‘ nur ein wenig nachgedacht … über die vergangenen Stunden. Ich kam mir so verloren vor, auf der Weidenhäusener Brücke … und dann der Stoß ins Wasser. Warum fragst du?« Etwas hielt sie davon ab, die Wahrheit zu sagen. Peter sah so traurig drein, sie wollte ihm nicht weh tun.

    Er wand sich ein wenig. Aber dann brach es aus ihm heraus. »Danach hat das aber nicht ausgesehen! Du hast von IHM geträumt, nicht wahr? Von Heron?«

    Beinahe hätte sie laut aufgestöhnt. Ihr war absolut nicht danach, ihm unbedingt jetzt Rede und Antwort stehen zu müssen. Aber sie musste es klären. »Natürlich dachte ich auch daran, dass ich ihn morgen wiedersehen werde. Ein merkwürdiges Gefühl ist das.«

    »Merkwürdig? Nur? Nun gut, er hat dich gerettet, aber das hab ich doch auch getan. Was ist so Besonderes an ihm? Macht ihn das interessant, weil er ein berühmter Hexenjäger ist? Aber vielleicht findest du mich zu hässlich – ich mit meinem roten Haar und den Pockennarben.«

    Sie sah ihn groß an. »Um Himmelswillen, was redest du da? Warum sollte ich das tun? Du bist nicht der einzige Mensch mit Pockennarben.«

    »Ja, das ist richtig, aber … «

    »Nichts aber. Ich mag dich so wie du bist.«

    »Wirklich?«, fragte er gedehnt. »Na, da hab ich Glück, denn wenn du mich damals gesehen hättest … eine rote eitrige Fratze mit tiefen Löchern in der Haut hätte dich angegrinst, und mein übler Geruch hätte selbst Pestratten vertrieben. Immerhin hab ich von den Pusteln nur Schrunden zurückbehalten.«

    »Danke Gott dafür! Manche werden blind, taub oder lahm davon. Das Leben zeichnet uns alle.«

    »Ja, das stimmt.« Er sah zu Boden, dann wieder hoch und schüttelte wie über sich selbst den Kopf. »Ach weißt du, vergiss alles, was ich gesagt habe! Ich hab Blödsinn geredet. Es ist nur deine Gegenwart, da komme ich mir wie ein Hanswurst vor. Ich sollte mich beim Landgrafen melden und um eine Stelle als Hofnarr ersuchen.«

    »Damit könntest du sogar Erfolg haben«, versetzte sie trocken. »Ein weiser Narr ist begehrt bei den Mächtigen. Er darf ungestraft alles sagen.«

    Er prustete. »Das ist keine schlechte Idee!« Und mit einem langen Seitenblick auf sie: »Du verwirrst mich immer … und ach, irgendwie hast du mich verhext.«

    Das brachte sie auf. »Ich hab mich wohl verhört«, schnaubte sie. »Verhext?! Nimm das sofort zurück! Glaubst du das jetzt ernsthaft? Weißt du noch, auf Burgfels? Als Michael mich im Schweinestall schuften ließ? Die widerlichen Nachstellungen der Knechte? Meinst du, solches lässt sich eine wirkliche Hexe gefallen? Im Gegenteil, wenn du mir nicht geholfen hättest …« Sie beendete den Satz nicht. Aber er hatte sie auch so verstanden.

    Er rutschte auf dem Boden hin und her, im Nachhinein schien ihm das Ganze ziemlich peinlich zu sein. »Bitte, lassen wir es gut sein, ja?«, bat er zerknirscht. »Bleiben wir Freunde?«

    Sie nickte nachdrücklich. »Aber ja! Wir sind Freunde!«

    Sie nickten einander zu. In völliger Einigkeit.

    Die Harmonie war wieder hergestellt, und doch blieben ihr leise Zweifel. Hoffentlich geriet der gute Peter nicht auf Abwege. Falls ja, konnte er ein sehr gefährlicher Feind werden.

    Du hast mich verhext, Sylviane Carolin! hallte es in ihr nach.

    Nie wieder wollte sie diesen Vorwurf hören. Von niemandem.

    Im Morgengrauen herrschte dichter Nebel, ein diffuses weißes Licht umhüllte jeden Baum, jeden Strauch. In dieser Unwirklichkeit schienen Gespenster und Dämonen körperliche Gestalt anzunehmen; wie zum Beweis tauchte plötzlich ein geisterhafter Schemen auf und näherte sich ihnen. Schnell verbarg sich Sylviane hinter einem dicken Baumstamm, die anderen versteckten sich im Gebüsch. Als die Spukgestalt gefährlich nahe war, zerriss der Dunst ein wenig, und der Unheimliche gewann Konturen, sehr menschliche sogar: es war ein schwarzgekleideter Reiter auf einem edlen Rappen.

    »Peter! Bruder Hermann? Wo seid ihr alle?«, rief dieser.

    Bei dem Klang seiner heiseren Stimme trauten sich die Genannten aus ihren Verstecken hervor und hießen ihn herzlich willkommen.

    Ja, er war es. Mit einem eleganten Schwung glitt Heron vom Pferd und begrüßte jeden einzelnen – mit Handschlag, Kopfnicken oder Schulterklopfen. Als er Sylviane erblickte, die zunächst abwartend an Ort und Stelle verharrte, leuchtete es in seinem Gesicht auf. Er streckte die Arme nach ihr aus. Da zuckten ihr die Füße, beschleunigte sich ihr Schritt, und sie flog an sein Herz. Aber anstatt endlich in einer leidenschaftlichen Umarmung zu versinken, fühlte sie sich schnöde von ihm weggeschoben. Sein Lächeln verschwand wie von Zauberhand. Stumm streifte er ihr die Haube vom Kopf und das Kleid bis auf das Unterhemd herunter, drehte sie rundherum und betrachtete sie mit eisiger Miene von oben bis unten, ganz wie ein misstrauischer Markthändler, der die Ware prüft.

    Fassungslos ließ sie ihn gewähren. Das hätte sie niemals von ihm erwartet!

    Will er mich nicht mehr? Bin ich so hässlich geworden? Hat er mich bloß aus Pflichtgefühl gerettet?

    Sollte sie protestieren? – Sie wusste sehr gut, dass sie einen abscheulichen Anblick bieten musste. Zwar hatte sie sich inzwischen den meisten Dreck abgewaschen, teilweise sogar abgeschabt, war nun halbwegs reinlich – aber sonst? Ihre Haut war vom rauen Marterhemd zerkratzt, von Flohstichen und Läusebissen übersät und von den Rutenstreichen verunstaltet; obendrein reihte sich ein Bluterguss an den anderen und die Flecken begannen, in den unterschiedlichsten Farben zu schillern. Ihre Haare – oder vielmehr Borsten – standen vom Kopf ab. Sie musste schlimmer aussehen als eine Vettel von der Landstraße. Sie war gezeichnet, zumindest für eine lange Zeit. Ihre Schönheit war dahin. Beklommen sah sie zu ihm hoch, lautlos um Erbarmen flehend. Doch seine funkelnden Katzenaugen zeigten kein Mitleid. Ihr Herz versank in einen See aus Schmerz. Es war aus und vorbei!

    »Ich wollte aus der Nähe sehen, was SIE dir angetan haben«, knurrte er. »Auch unsere Freunde und deine Muhme sollen das sehen, als Zeugen einer unsäglichen Hexenjustiz, und es nie mehr vergessen!« Aufgebracht streifte er seinen Mantel von den Schultern und bedeckte ihre Blöße, dann schlang er mit einer wilden Heftigkeit die Arme um sie und schloss sie ein wie in einen eisernen Ring. »Auf der Brücke habe ich deinen Rücken gesehen, diese Verletzungen, diese Striemen … ich befürchtete, man hätte dir noch Schlimmeres zugefügt! Armer Schatz! Hab keine Angst mehr, es ist vorbei! Für immer, ich versprech’s dir! Sylvie …« Seine Worte besiegelte er mit einem so heftigen Kuss auf ihren Mund, dass ihre spröden Lippen aufplatzten und zu bluten begannen. Sie jedoch störte sich nicht daran, sondern erwiderte den Kuss mit aller Leidenschaft, derer sie fähig war. Dabei schluchzte sie zwischendurch auf. Es war pure Erleichterung. Sie hatte schon befürchtet, dass —

    … aber er flüsterte es wieder und wieder: »Oh Sylvie.«

    Die Zeit stand still …

    … sie lösten sich erst aus der Umarmung, als sich Bruder Hermann einige Male kräftig räusperte. Sylvianes Gesicht glühte, und auch Heron sah aus, als hätte ihn ein heftiges Fieber befallen. Der Nebel schien um sie beide herum zu dampfen.

    »Hrm?«, fragte er verständnislos.

    »Verzeiht, Freiherr, wenn ich störe, aber darf ich daran erinnern, dass wir uns auf der Flucht befinden? Wir dürfen nicht allzu lang verweilen. Habt Ihr Euch schon überlegt, wohin wir uns wenden können?«, fragte Hermann leicht ungeduldig.

    Herons Gesicht wurde noch eine Spur röter. »Nun, äh … ich schlage vor, wir bleiben erstmal auf der Handelsstraße. Immer am Lahnufer entlang, bis zur nächsten Brücke. Bis dahin werde ich mich entschieden haben.«

    »Du weißt es nicht genau?«, flüsterte Sylviane an seinem Hals.

    »Ich bin mir nicht sicher, ich überlege noch. Von Pater Roman droht vorerst keine Gefahr; er hält sich derzeit bei Binsfeld in Trier auf, während er von mir annimmt, dass ich mich auf meine Burg zurückgezogen habe. Muss mich ja schließlich um meine Ländereien kümmern, nicht wahr?« Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund. »Das Marburger Territorium müssen wir unbedingt verlassen; hier ist der Boden zu heiß für uns geworden. Unweit von hier gibt es eine Kreuzung, von der aus mehrere Handelsstraßen in alle Himmelsrichtungen führen, und die Frage ist, wo und in welcher Stadt könnten wir unbehelligt leben? Zu welchem Fürsten uns flüchten? Vielleicht sollten wir nach Kassel fliehen, zum Landgrafen Wilhelm? Das wäre keine schlechte Wahl; wie sein Vater Philipp der Großmütige ist er ein milder Herrscher, man nennt ihn den Weisen, er neigt der Wissenschaft zu, zur Mathematik, daneben ist er ein angesehener Astronom. Was ihn in meinen Augen sehr vertrauenswürdig macht, ist die Tatsache, dass er sich zusammen mit seiner Ehefrau Sabina eingehend mit Heilpflanzen beschäftigt hat und daher wissen muss, dass Heilkräuter nichts mit schwarzer Magie zu tun haben. Sabina zeigte sich außerordentlich befähigt auf diesem Gebiet, so dass man sie bald ›die Apothekerin‹ nannte. Das finde ich sehr bemerkenswert, denn normalerweise sind die Leute schnell dabei, Frauen wie sie für eine Hexe zu halten. So wundert es mich nicht, dass Wilhelm seine Pfarrer angewiesen hat, gegen den Unsinn der Zauberei zu predigen … gegen den Unsinn wohlgemerkt, man beachte die Wortwahl! Darüber hinaus versucht er seinen Bruder Georg, in dessen Landgrafschaft Darmstadt sich gegenwärtig die Kerker mit Hexen füllen, von weiteren Verfolgungen abzuhalten. Dabei tritt er durchaus für die Feuerstrafe ein, wahrscheinlich entscheidet er das von Fall zu Fall selbst. Alles in allem wäre Kassel, so glaube ich, eine gute Wahl. Und was den Süden anbetrifft, davon würde ich abraten, dort wären wir als Protestanten von vornherein verdächtig – oder wollt ihr sonntags in der Messe zu irgendwelchen Heiligen beten?«

    »Um Gottes willen!«, entfuhr es Hermann da.

    Heron nickte schmunzelnd. »Also nein? Gut, das wäre geklärt. Wir werden die katholischen Gebiete meiden, und ganz besonders Trier. Bis vor zwei Jahren hatte es im Trierischen keine Hexenbrände gegeben; das änderte sich allerdings, als Peter Binsfeld Suffraganbischof wurde. Eine Ausnahme ist die Stadt selbst; dort hat der Doctor juris, Oberrichter und Stadtschultheiß Dietrich Flade das Sagen. Er ist ein erbitterter Gegner der Hexenjagden und hat neulich eine Maleficantin sogar freigesprochen. Wie oft hat sich Pater Roman bei mir über Flade beschwert! Tag und Nacht sinnt Binsfeld darüber nach, wie er ihn loswerden kann. Ich bin gespannt, wie lange Flade noch an der Macht bleibt, umgeben von seinen Todfeinden, die mit jedem Tag zahlreicher und mächtiger werden. Wer weiß, was Binsfeld noch alles einfallen mag? Da ist es besser, wir machen um Trier einen großen Bogen! Zu guter Letzt bleibt noch das Fürstentum Nassau-Dillenburg übrig, dort herrscht Graf Johann. Ich kenne ihn von früher her: In seinem Urteil ist er stets sehr gewissenhaft, ein Malefizprozess wie bei Sylviane würde bei ihm nicht die geringste Gnade finden, eine Anzeige hätte er erst gar nicht zugelassen. Sein Bruder Wilhelm von Oranien hasst die Inquisition und kämpft in den Niederlanden gegen die spanische Regentschaft, wobei ihm die gesamte Familie zur Seite steht. Dieser Umstand ist für uns von großem Vorteil, denn so sind die Nassauer mit anderem beschäftigt, als sich ausschließlich der Hexenjagd zu widmen. Dabei gibt es nur ein Problem …« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Nämlich dann, sobald er sich an eine gewisse Elisa von Thyrnau zu erinnern beginnt und damit an den Ärger, den er sich ihretwegen mit Philipp dem Großmütigen eingehandelt hatte. Vielleicht weist er mir, über die Dreistigkeit empört, ausgerechnet bei ihm Schutz suchen zu wollen, sofort die Tür, ich weiß es nicht!« Er breitete die Arme aus, was bei ihm seltsam hilflos wirkte. »Dann vielleicht doch lieber Kassel … von dort aus wäre mein Besitztum gut zu erreichen, falls sich Wilhelm eines Tages anders besinnen sollte und sich auch an der Hexenverfolgung beteiligt.«

    »Warum sollte er das tun?«, fragte Hermann. »Dazu hat er keinen Grund.«

    »Oh doch, Hermann, oh doch! Bei meinem letzten Besuch in der Kanzlei habe ich aus einer Unterhaltung zwischen Amtmännern zufällig mitbekommen, dass sich Landgraf Ludwig mit seinen Brüdern Philipp und Georg nun zusammengetan hat; sie wollen sogenannte Hexenausschüsse gründen, was bedeutet, dass die Verfolgungen zunehmen werden. Möglich, dass Wilhelm dem irgendwann nachgibt, wir müssen ihn da im Auge behalten, sonst zieht sich die Schlinge zu, und geschwind wären uns die Hexenjäger auf den Fersen, darauf könnt ihr wetten.«

    Sein letzter Satz sorgte für Unruhe; alle machten dermaßen besorgte Mienen, als hätte er ihnen soeben das Todesurteil verkündet.

    »Liebe Freunde«, sagte Heron, »verzeiht meine schonungslose Offenheit, aber so ist nun mal unsere Lage. Doch lasst den Mut nicht sinken! Wir müssen vorsichtig bleiben und dürfen nicht jedem trauen. Reiten wir zunächst einmal drauflos, auch wenn dies ein Umweg bedeutet, wenn wir nach Kassel wollen. Gott wird uns bestimmt irgendeinen Fingerzeig geben.« Er stieß einen lauten Stoßseufzer aus. „Ach ja, manchmal wünsche ich mir, in die Zukunft blicken zu können!"

    »Vielleicht gibt es eine Hex‘ im tiefen Tann, die das kann?«, rief Peter launig. Er schien als erster seinen Optimismus wiedergefunden zu haben und grinste.

    Damit kam er bei Heron aber schön an. »Hör auf damit! Mit dem Bösen scherzt man nicht!« Er zeigte auf seine gezackte Narbe über der Augenbraue. »Schau genau hin, und dann lach nochmal darüber.« Er machte eine Bewegung, als wollte er sich auf Peter stürzen, seine Augen sprühten Funken. Peter verging prompt das Lachen, seine Miene zeigte Erschrecken, sogar Furcht.

    Auch Sylviane war zusammengezuckt, doch dann begriff sie.

    Es ist die Erinnerung an Elisa. Seine teuflische Mutter. Das Glas. Beinahe hätte er das Auge verloren.

    Sie wollte Heron beschwichtigen, berührte ihn am Arm. Vergiss Elisa, wollte sie ihm zuflüstern. Sie kann dir nichts mehr anhaben!

    Doch in dem Moment rutschte ihr der Mantel von den Schultern. Sie hatte ihn versehentlich losgelassen und stand nun im bloßen Unterhemd da. Sie musste ein ziemlich verdutztes Gesicht gemacht haben, im Nu löste sich die gedrückte Stimmung in schallendes Gelächter auf. Selbst Heron stimmte mit ein. Sein Zorn war so schnell vergangen wie ein Sommergewitter.

    Ihre Wangen flammten. Splitternackend vor dem Scharfrichter samt seinen Schergen zu stehen, hatte ihr zuletzt nichts ausgemacht, für sie waren das keine Menschen mehr, sondern Ungeheuer. Aber bei Peter und Hermann war das etwas völlig anderes! Hastig hob sie den Mantel wieder auf, hüllte sich darin ein, sammelte ihre Kleidungsstücke zusammen und verschwand hinter einem Gebüsch. Als sie binnen kurzer Zeit herauskam, sah sie wieder aus, wie es sich für eine brave Bürgersfrau gehörte – mit hochgeschlossenem Kleid und ordentlich sitzender Haube auf dem Kopf. So fühlte sie sich gleich viel besser. Würdevoll sah sie in die belustigten Gesichter. »Gewaschen bin ich ja schon, das Hexenbad war recht ausgiebig«, sagte sie lakonisch. »Von mir aus kann es losgehen, worauf wartet ihr noch?«

    Heron nickte. »Ja, machen wir uns schleunigst auf den Weg. Aber vorher …« Er knöpfte sein Wams auf. Aus der Innentasche nahm er einen kleinen Samtbeutel heraus und überreichte ihn augenzwinkernd. »Hier.«

    Strahlend nahm Sylviane den Beutel in Empfang, öffnete ihn, griff hinein und schon im nächsten Augenblick schmückte vor den erstaunten Augen der anderen eine lange schwarze Kette ihren Hals. Der daran befindliche Anhänger war bereits – husch! – in ihrem Mieder verschwunden.

    Peter war baff. »Hui! Macht dich Schmuck so glücklich?«

    »Es ist ein altes Erbstück. Das Einzige, was mir vom Familienbesitz geblieben ist», gab sie zur Antwort.

    Der geringschätzige Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. »Ach so. Na, das verstehe ich. Sowas ist sehr kostbar, verliere es bloß nicht. Ich achte mit drauf, ja?«, bot er an.

    »Das wäre mir ein guter Freundschaftsdienst.«

    »Abgemacht!«, sagte er und blinzelte ihr zu. »Freunde

    Sie blinzelte zurück. Freunde.

    »Verabschiedet euch«, rief Heron da. »Wir müssen die Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit nutzen!«

    Ihre Freude erlosch. Es wurde ernst. Sie musste von der Muhme Abschied nehmen. Wahrscheinlich würden sie einander nie mehr wiedersehen. Zumindest nicht für eine lange Zeit. Aber es war nun mal nicht zu ändern.

    Helmine trat auf sie zu, mit Idisa an der Hand.

    »Heron hat recht. Ihr dürft nicht länger säumen«, sagte sie mit fester Stimme. »Möge Gott euch segnen, meine innigen Wünsche und Gedanken werden euch stets begleiten.« Sie gab jeder von ihnen einen Kuss auf die Wange. »Es wäre so schön gewesen, mit euch beiden auf dem Hof zu leben, aber es hat nicht sollen sein. Gott der Herr will es anders.«

    Sylviane betrachtete die Muhme eindringlich. Ihre lieben Gesichtszüge wollte sie sich für immer einprägen! Nie mehr würde sie ihre Herzenswärme spüren, nie mehr ihre warme Stimme hören … Sie schluckte.

    NIE MEHR.

    Helmine musterte sie mit derselben Intensität. »Meine Sylvelin«, flüsterte sie wehmütig. Unvermittelt streckte sie die Hand aus und griff nach Sylvianes Kette, holte vorsichtig den Anhänger hervor. Idisa reckte neugierig den Kopf. Helmine bemerkte es und verdeckte die Drachenfigur rasch mit der Hand. Sanft bat sie: »Meine liebe Idisa, bitte … ich habe mit Sylviane etwas zu besprechen, was für sie allein bestimmt ist. Sie ist die Ältere. Du wirst es später erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«

    Idisa schien keinesfalls darüber gekränkt zu sein; sie nickte nur und entfernte sich.

    Helmine verzog das Gesicht. »Ich wollte damit verhindern, dass sie sofort zu Pater Roman rennt und ihm von einem Teufelsamulett erzählt!«

    »Und dann wäre alles umsonst gewesen. Idisa ist noch nicht soweit«, stimmte Sylviane zu. »Die Flucht kann an den geringsten Kleinigkeiten scheitern.«

    »Genau das meine ich.« Andächtig fuhr Helmine mit den Fingerspitzen über das Amulett. »Du mächtiger Drache, schütze Sylviane gut auf ihrer gefahrvollen Reise und darüber hinaus! Auch sie ist jetzt wie einst Carol auf der Flucht. Steh‘ ihr bei, Drache, ich beschwöre dich!«

    »Wie? Carol musste gleichfalls fliehen?«, fragte Sylviane erstaunt. »So wie ich? Warum? Ihr habt mir nie den Grund seiner Reise genannt. Oder … wurde er gar als Hexenmeister gejagt? Wegen des Amuletts? Hatte er etwa seine Seele dem Teufel verkauft, um es zu besitzen?« Was für ein entsetzlicher Gedanke!

    Helmine schüttelte entschieden den Kopf. »Beruhige dich! Nichts dergleichen war geschehen! Deine Familie war nie dem Bösen zugeneigt und interessierte sich nicht für Schwarze Magie. Soviel ich weiß, wurde Carol – er soll ein hervorragender Heerführer gewesen sein – von mächtigen Feinden verfolgt und musste untertauchen. Sämtliche Spuren galt es sorgfältig zu verwischen, und es ging nicht nur um sein Leben und das seiner Familie allein, sondern auch die Königsfamilie war in Gefahr. Der Bauernstand war unauffällig, und Heinrichs Vater ließ ihm alle Freiheiten, was ihm die Eingewöhnung natürlich erleichterte. Schließlich hatte Carol den Erben von Burgfels gerettet, somit stand der Herr in seiner Schuld. Man munkelt von einem Testament, in dem dokumentiert sein soll, dass kein Carol je in Leibeigenschaft zu halten ist. Erst Michael wollte damit brechen! Aber er ist nun tot und begraben, und Severin kann wieder tun und lassen, was er will. Gottesfügung, sag‘ ich nur. Außerdem gibt es da noch etwas … bevor Carol starb, soll er zu Nikolas gesagt haben ›Lerne, den Drachen zu reiten und du gewinnst Weisheit … den SIEG!‹ Das wird wohl deine Aufgabe sein, und du musst herausfinden, was das bedeutet. Der Drache verstärkt nämlich deine angeborene Kraft, und deshalb kannst du seine Energie ertragen, während sie andere tötet. Vertraue immer auf dich selbst und auf Gott! Und nun geh‘, Silvana aus den großen Wäldern, tapfere Nachfahrin von Carol, suche dir eine neue Heimat und finde dein Schicksal.«

    »Silvana?«

    »Ja. Ursprünglich wollte dich dein Vater auf diesen Namen taufen lassen, doch Susanna war dagegen. Er klinge zu fremd.«

    »Sie hatte recht. Kaum hatte Pater Roman seine wahre Bedeutung entdeckt, wurde es für mich prompt gefährlich; damit war ein weiteres Hexenindiz gefunden. Ich sah mich schon den Scheiterhaufen besteigen.«

    »Dennoch hat der Pater dir nicht schaden können, Silvana Carolin!«

    »Nein.« Sylviane blickte an ihr vorbei, von etwas Unbekanntem abgelenkt. Etwas in ihr zerrte und zog, ein geisterhaftes Raunen erfüllte ihre Gedanken …

    Sylviane … Sylvelin … Silvana …

    Der Name Silvana klang wie ein Ruf nach grenzenloser Freiheit. Etwas rief mit großer Macht nach ihr. Oder – ER?

    ER, der niemals schläft. Reite den Drachen. Sie ballte die Fäuste. Diesem Ruf würde sie folgen. Es war gegen alle Vernunft, und doch hatte sie ein gutes Gefühl dabei.

    Es war entschieden.

    Ein letztes Mal noch umarmte sie Helmine, drückte sie fest an sich. »Danke, danke für alles, meine liebe Ziehmutter!« Ein letzter Kuss noch auf ihre Wange, dann wandte sie sich mit einem Ruck ab und stieg aufs Pferd. Idisa saß schon auf. Beide hoben die Hand zum Gruß »Lebewohl!« Helmine winkte unter Tränen zurück. Dann war es vorbei. Das Schicksal hatte sie für immer voneinander getrennt.

    Obwohl Sylviane und Heron nebeneinander ritten, konnten sie kaum die Augen voneinander lassen. Peter und Hermann blieben im großen Abstand hinter ihnen zurück, um ihre stille Zweisamkeit nicht zu stören. Mit Idisa im Schlepptau waren sie ohnehin durch ihre viele Fragen abgelenkt, die sie geduldig beantworteten.

    Bald jedoch konnte Sylviane ihre Neugier nicht länger mehr bezähmen und fragte ihrerseits Heron aus. »Bitte, erzähle doch … was ist während unserer Trennung alles vorgefallen? Ich weiß nur, wieso plötzlich Peter im Hexenturm auftauchte, und nicht viel mehr.«

    Darauf schien er nur gewartet zu haben; als hätten sich Schleusen geöffnet, schilderte er ausführlich die vergangenen Ereignisse. So erfuhr sie von Gerolds schmählichem Verrat – es wäre aus Rache geschehen, weil er sie für den Tod seines Bruders verantwortlich machte –, von dem blinden Jagdeifer des Landgrafen auf alles,

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