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Das Theater in mir: Ein außergewöhnlicher Blick hinter die Kulissen des Lebens
Das Theater in mir: Ein außergewöhnlicher Blick hinter die Kulissen des Lebens
Das Theater in mir: Ein außergewöhnlicher Blick hinter die Kulissen des Lebens
eBook274 Seiten3 Stunden

Das Theater in mir: Ein außergewöhnlicher Blick hinter die Kulissen des Lebens

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Über dieses E-Book

Das Bühnenstück »das Theater in mir« wird in allen Menschen aufgeführt, nur ist es den meisten Menschen nicht bewusst. Die Charaktere und Handlungen aus diesem Buch basieren auf wahren Begebenheiten und Beobachtungen. Bei Jakob wagen wir einen außergewöhnlichen Blick auf die »innere Bühne« und die einzelnen Darsteller. Wir verfolgen seine Entwicklung, als er nach einer Krebs-Diagnose damit beginnt, sich seinem »inneren Theater« mehr und mehr zuzuwenden. Die anderen Charaktere in diesem Buch beobachten wir in der realen Welt, wie sie sich durchs Leben schlagen, funktionieren, sich nach Liebe sehnen, manchmal auch nach einem Sinn fragen, ohne sich der Hintergründe dafür bewusst zu sein. Dazu ist mir folgender Spruch im Internet begegnet:
»Unsere Welt ist voller kleiner verletzter Kinder in erwachsenen Körpern.«
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Juni 2021
ISBN9783347331853

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    Buchvorschau

    Das Theater in mir - Ralf Michael Pape

    Des Himmelreichs Schlüssel

    Unaufgeregt wartet der alte, rostrote Theatervorhang auf seinen nächsten Einsatz. Er muss bereit sein, denn jeden Moment kann die neue Szene beginnen, und dann wird er wieder einmal majestätisch und wie von Geisterhand gezogen nach oben schweben, um auch diesen neuen Akt zu eröffnen, so wie er es schon hunderttausende Male gemacht hatte.

    Die Darsteller des Improvisations-Theaters sind mucksmäuschenstill. Unbekannte Musik dringt durch den Vorhang von außen auf die Bühne. Ansonsten geschieht momentan rein gar nichts auf diesen Brettern, die doch angeblich die Welt bedeuten.

    Normalerweise können sich die Darsteller entspannen, solange der Vorhang geschlossen ist. Aber jetzt ist alles anders. Sie haben eine Aufgabe zu bewältigen und keine Ahnung, wie sie das anstellen sollen. Ratlose Sekunden verrinnen, bis plötzlich eine merkwürdige Gestalt auf der Bühne erscheint.

    Ein Mantel aus goldenem Licht scheint sie zu umgeben, wobei das Licht ständig in Bewegung ist. Es ist kein Gesicht zu erkennen, und doch ist alles an ihr irgendwie vertraut. Diese strahlende Erscheinung steht auf einmal mitten unter den Darstellern und lässt einen merkwürdigen Satz auf die Bretter des Theaterbodens fallen:

    „Ich möchte Dir des Himmelsreichs Schlüssel geben."

    Jakob ist einer der Darsteller, der in diesem Moment mitten auf der Bühne steht. Seine Gesichtszüge erfrieren geradezu, sein Kopf fährt herum, und seine Augen blicken in die Richtung dieser Licht-Gestalt, die ihm direkt gegenübersteht, nur wenige Meter entfernt.

    Jakob ist knapp eins achtzig groß, hat dunkelbraune Augen, und sein kurzes, blondes Haar zeigt erste graue Ansätze an den Schläfen. Nun erstarrt sein ganzer Körper. Er kann sich keinen Millimeter mehr rühren.

    In seinem Kopf zieht für einige Sekunden eine wohltuende Leere ein, die bald dem ersten neuen Gedanken weicht.

    „Dieser Satz passt überhaupt nicht auf diese Bühne, passt so gar nicht in dieses Theaterstück."

    Er muss es wissen, denn er ist schon sehr lange Teil dieser Truppe. Im nächsten Januar wird er seinen 50. Geburtstag feiern. Damit ist er der Älteste im Ensemble. Seine Augen wurden allmählich schlechter, aber er ist stolz darauf, dass er vom Kopf her immer noch spielend mit den Jüngeren mithalten kann. Im Laufe der Jahre hatte er immer mehr Verantwortung und eine Führungsrolle im Team übernommen.

    Das war ihm wichtig.

    Inzwischen stellen alle auf der Bühne anwesenden Akteure das Atmen ein. Eine unheimliche Stille kriecht über den Boden in alle Richtungen und scheint jeden möglichen Ton zu schlucken. Obwohl von außen immer noch Musik auf die Bühne dringt, herrscht hier absolute Stille.

    Das Ensemble hatte schon sehr viel gemeinsam erlebt, aber nun war eine völlig neue Situation entstanden.

    „Wer ist dieses Wesen, wie kommt es überhaupt hierher, und was soll der merkwürdige Satz?"

    Dieser Gedanke scheint bei allen gleichzeitig in den Köpfen zu kreisen oder springt von einem auf den anderen über und wieder zurück, um dann noch eine weitere Runde zu drehen, wie auf einem Karussell. Niemand von ihnen hatte sich jemals gefragt, wer die Darsteller ausgesucht hatte, die in diesem Theater mitwirken. Aber auch ohne eine Antwort auf diese nie gestellte Frage ist die Anwesenheit einer fremden Gestalt ein völlig neues, rätselhaftes und verwirrendes Ereignis.

    Und dazu auch noch diese Botschaft.

    Vorne auf der Bühne steht Jack, der sich noch vor einigen Minuten mit Jakob über den recht ungewöhnlichen Tag unterhalten hatte. Jack kann sich als erster wieder regen. Er ist deutlich jünger als Jakob, und oft ist er es, der schnell improvisieren kann, der eine gute Idee hat, um das Stück fortzusetzen, auch wenn unvorhergesehene Dinge passieren. Doch nun steht dieses Wesen auf der inneren Bühne, mitten in dem normalerweise von der Außenwelt hermetisch abgeschotteten Bereich.

    „Wie konnte das nur passieren", denkt Jack bestürzt.

    Aus den Augenwinkeln bemerkt er eine Bewegung an der Tür, die sich im hinteren Bereich der Bühne befindet. Von dort führt eine Treppe nach unten in den Keller. Es ist für alle Darsteller ein ungeschriebenes Gesetz, diese Tür immer gut verschlossen zu halten. Irgendetwas musste dort existieren, das für das Theater und seine Darsteller nicht gut war. Doch nun sieht er, dass diese Tür einen Spalt weit offensteht. Er kann die Umrisse einer zierlichen Gestalt erkennen. Seine Nackenhaare stellen sich auf.

    Die kleine Gestalt an der Tür bewegt sich leicht und scheint aufgeregt zu sein. Jack spürt Unruhe, aber auch Neugier.

    „Merkwürdig, wo kommen denn diese Gefühle auf einmal her?", wundert er sich.

    „Wie ein Kind, das am Heiligen Abend darauf wartet, endlich zur Bescherung gerufen zu werden", kommt es ihm in den Sinn.

    Er hat keine Ahnung, wie er auf diesen merkwürdigen Vergleich kommt, aber sofort zeigen sich einige alte Bilder vor seinem inneren Auge, die ein wohliges Gefühl in ihm auslösen. Er sieht die Szenerie wieder vor sich, als er zusammen mit seinen Geschwistern den ganzen Tag im Kinderzimmer bleiben musste, weil Mama den Tannenbaum schmückte, die Geschenke einpackte und das Essen vorbereitete. Der Fernseher im Kinderzimmer machte die Wartezeit einigermaßen erträglich.

    „Ob Papa wohl heute bei der Bescherung dabei sein wird", flogen alte Gedanken in ihm vorbei, so wie Sprechblasen in Comic-Heften.

    Sein Vater hasste Familienfeiern.

    „Weil solche Feste immer so viele Gefühle in mir auslösen", hatte er später einmal gesagt, in einem der wenigen Gespräche, die sein Vater überhaupt mit ihm geführt hatte.

    „Damit kann ich einfach nicht umgehen".

    Es waren keine einfachen Kindheitsjahre, aber Jack und seine Geschwister hatten sich im Laufe der Zeit an diese Situation gewöhnt und freuten sich trotzdem jedes Jahr wieder auf Weihnachten, auf ein wenig heile Welt, besonders auf den Moment, wenn es draußen langsam dunkel wurde und endlich das Glöckchen läutete. Dann durften sie ins Wohnzimmer, zu Tannenbaum, Krippe und einem Geschenke-Meer, das Mama herbeigezaubert hatte. Es war wie ein Wunder, und ihre Kinderherzen hüpften vor Freude.

    „Fast wie eine richtige Familie", denkt Jack gerührt an diese Augenblicke zurück.

    Sein Vater war endgültig gegangen, als er zehn Jahre alt war. Jack wischt sich ein paar Tränen aus seinen Augen und versucht nicht in den aufkommenden Gefühlen zu versinken.

    Das alles hatte nur wenige Sekunden gedauert, als sich der ungebetene Gast auf der inneren Bühne in Bewegung setzt und langsam auf Jakob zugeht. Sofort wendet sich Jacks Aufmerksamkeit zu Jakob, dem förmlich anzusehen ist, dass er sich am liebsten in Luft auflösen würde. Doch es sieht so aus, als könnte Jakob sich immer noch keinen Millimeter bewegen, und damit ist Flucht keine Option.

    Zwölf Monate zuvor

    „Ihre Zahlen aus den letzten Monaten sind miserabel, Herr Pracht. Wir sind eine Bank und kein Altersruhesitz".

    Die Stimme von Klaus Bechtle sollte genauso hart und eindringlich klingen. Er war es endgültig leid, dass er sich für seinen Mitarbeiter wieder und wieder bei der Geschäftsleitung rechtfertigen musste. Er stand selbst unter großem Druck und hatte mit seiner Abteilung die geforderten Zahlen zu bringen.

    Jakob stand alleine auf der inneren Bühne in der Nähe der Kontaktlinie und sah hinüber auf die Außenwelt. Er hatte damit gerechnet, dass es kein einfaches Gespräch werden würde, aber nun fühlte er sich klein und überfordert.

    „Mann, ist dieser Typ ätzend", dachte er.

    Wie gerne hätte er einem anderen Darsteller diese Aufgabe übertragen, aber er war nun mal der „Verantwortliche" in dem Ensemble. Es war seine verdammte Aufgabe in dieser Situation der Kapitän zu sein, der auf der Kommandobrücke das Schiff in diesem schweren Sturm auf Kurs halten musste.

    „Wo ist eigentlich Janos, unsere Kämpfer-Natur?, fluchte Jakob innerlich. „Sonst hat er eine große Klappe, aber immer, wenn man ihn braucht, ist er nicht da, so eine Scheiße.

    Janos bekam natürlich mit, was Jakob über ihn gedacht hatte, doch er hielt sich weiter im Hintergrund. Er wusste wirklich nicht, was er hätte tun sollen und hatte sich deshalb ganz nach hinten zurückgezogen.

    Die Situation war kompliziert. Die Abhängigkeit von diesem Scheiß-Laden ließ sich nicht leugnen, denn sie mussten die Kohle für ihren Lebensunterhalt verdienen, obwohl niemand von ihnen diese Art von Arbeit mochte.

    „Für was sollte ich kämpfen? Oder gegen wen? Mein Chef sitzt eindeutig am längeren Hebel, das hat alles keinen Sinn".

    In der Ausbildung zum Bankkaufmann hatte es noch Spaß gemacht, die Kunden zu beraten. Doch in den letzten Jahren wurde der Druck für Neuabschlüsse immer höher, und sie mussten unzählige Überstunden machen, um die Vorgaben irgendwie zu erreichen. Für seinen Geschmack war es auch keine wirkliche Beratung mehr, sondern eher ein Aufschwatzen von Versicherungen und Finanzprodukten, die kein Mensch wirklich brauchte.

    „Es tut mir leid, Herr Bechtle, aber sie wissen ja, dass ich einige Tage krank war. Das habe ich noch nicht aufholen können, aber ich bin dran."

    Jakob hatte in letzter Zeit auch schon verschiedene Stellenbörsen durchforstet und feststellen müssen, dass er es schwer haben würde, einen neuen Job zu finden.

    „Augen zu und durch" war die Überlebensstrategie, der sich die meisten Bühnenkollegen gebeugt hatten.

    „Sie haben sicherlich gehört, dass nächstes Jahr wieder Umstrukturierungen und vermutlich auch Entlassungen anstehen", machte Bechtle zusätzlichen Druck.

    „Überzeugen sie mich, dass sie ihre Zahlen schaffen, dann werde ich mich für sie einsetzen, Herr Pracht".

    Damit war das qualvolle Personalgespräch endlich beendet, der Vorhang schloss sich nach dieser Szene, so dass Jakob mit Gefühlen von Erleichterung, aber auch der Resignation wieder in sein Büro gehen konnte.

    Es war bereits nach 16:00 Uhr, aber er musste noch einige wichtige Telefonate führen.

    „Ey Leute, und wann kommen wir endlich mal wieder auf unsere Kosten?", fragte Jay, der Playboy im Ensemble, der Spaß und am besten auch Sex haben wollte.

    „Lasst uns Feierabend machen und in unsere Stammkneipe gehen. Nach ein paar Bier und einer Pizza können wir auch abchecken, ob nette Frauen da sind", grinste er.

    „Ja, wir müssen auch an uns denken", unterstützte Jack den Vorschlag, was durchaus ungewöhnlich war, weil er Jay eigentlich nicht sonderlich mochte.

    Jetzt war sie wieder spürbar, diese tiefe Zerrissenheit im inneren System. Es gab diese äußeren Abhängigkeiten, um ihre materielle Existenz zu sichern und die vielen individuellen Bedürfnisse der Darsteller. Alles zusammen fühlte sich Scheiße an, aber der Job musste gemacht werden.

    „Ich kann euch den Deal anbieten, dass wir jetzt konzentriert bis 19:00 Uhr unsere Arbeit so weit wie möglich erledigen, und dann gehen wir in unsere Stammkneipe", gab Jakob die Richtung für die nächsten Stunden vor.

    Allgemeines Gemurre auf der Bühne, aber alle wussten, dass es sein musste. Miete, Auto, Lebensunterhalt, das Ansehen bei Anderen, das alles war abhängig von einem gewissen Einkommen, und dafür musste man sich eben auch mal „durchbeißen", hatten ihm seine Eltern eingetrichtert.

    Jakob nahm den Telefonhörer und wählte die Nummer des nächsten Kunden von seiner Liste, während die gesamte Mannschaft frustriert und gelangweilt auf den Feierabend wartete.

    Es war schon nach 20:00 Uhr, als sie endlich ihre Pizza bekamen.

    „Und, alles gut?", fragte die Bedienung.

    „Muss", presste Jakob zwischen den Zähnen hervor.

    Nach dem fünften Bier und dem zweiten Cognac wurden die Darsteller endlich lockerer und fühlten sich besser.

    „So schlimm ist das alles doch gar nicht", kam ein Grüppchen von Darstellern überein, das in einer Ecke zusammenstand und versuchte, sich an einen Witz zu erinnern, den man bei passender Gelegenheit erzählen wollte.

    Jakob hatte sich zurückgezogen und Jack die vordere Bühne überlassen, denn er wurde langsam müde. Er wusste, dass mit zunehmendem Alkoholspiegel die jüngeren Darsteller das Kommando auf der Bühne übernehmen würden.

    „Ich muss aufpassen, dachte Jack vernebelt, „dass wir hier nicht versacken. Wir können morgen nicht schon wieder krankfeiern, wurden seine Gedanken langsam schwerer.

    „Noch eins, bitte".

    Das selig berauschte Ensemble spürte, dass irgendwo tief im Innern ein Wesen mehr und mehr erwachte und bereit war sich auf die Bühne zu schleichen, sobald die meisten Darsteller betrunken genug waren.

    „Das darf heute nicht schon wieder passieren", dachte Jack, der kurz davor war, Jakob zu folgen und die Segel auf der Bühne zu streichen, um das Feld den Jüngeren zu überlassen. Er war müde, aber ein letzter Rest von Verantwortungsbewusstsein trieb ihn an, zu bezahlen und nach Hause zu gehen.

    „Zahlen bitte", sagte er zum Kellner.

    Das bedeutete für ihn eine große innere Anstrengung, auch weil jüngere Darsteller protestierten, die gerade „Highway to Hell"¹ mitsangen, während die Hände des Körpers Luftgitarre spielten und auf der inneren Bühne einige Köpfe im Takt der Rockmusik nickten, um die imaginären langen Haare fliegen zu lassen.

    Der jugendliche Jake war ganz in seinem Element, und der Körper strahlte durch seine Energie eine Lebensfreude aus, die man am Beginn des Abends nicht für möglich gehalten hätte.

    ¹ AC/DC – Highway to Hell. Musik, Text: Angus Young, Malcom Young; Bon Scott, Produzent: Robert John Mutt Lange. Atlantic Records, 1979

    Die Burg

    Es war schon Zwölf Uhr mittags, als sie aufstand, um ihre tröstende Burg zu verlassen, die ihr wie jedes Wochenende ein trügerisches Gefühl von Sicherheit gab. Im Badezimmerspiegel sah sie in meerblaue Augen. Das »Meer« verbindet man mit Lebendigkeit und Schönheit, aber aus ihren traurigen Augen schien jedes Leben gewichen zu sein. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass sich das Wasser an den Ufern rötlich eingefärbt hatte. Ein kurzes Gefühl der Hoffnung keimte in ihr auf, dass ein wunderschönes Morgenrot dieses Farbenspiel auf Ihre innere Wasseroberfläche gezaubert hätte, aber je länger sie hinschaute, desto deutlicher glaubte sie einen blutig eingefärbten Strand an den Rändern eines toten Meeres zu erkennen.

    „Ekelhaft, wie in einem Horrorfilm", schoss es ihr in den Sinn.

    Fast hätte sie sich übergeben müssen. Ihr Gesicht verschwamm vor ihren Augen, und das Meer, das Blut und die Abwesenheit von Leben wandelten sich zu einem mulmigen Gefühl, das ihren Atem immer schneller werden ließ.

    Als in diesem Moment das Telefon klingelte, kam Nancy aus ihrem Badezimmer-Alptraum zurück.

    „Was ist das wieder für ein Scheiß-Tag", fluchte sie und ging in den Flur.

    Für ihre 42 Jahre hatte Nancy eine erstklassige Figur. Die hatte sie ihrer eisernen Disziplin bei der Ernährung und dem harten Fitness-Training zu verdanken, das sie an Wochentagen nach der Arbeit durchzog, egal wie spät es im Büro wurde. Sie selbst hatte trotzdem immer etwas an ihrem Körper auszusetzen. Ihre Waden fand sie zu dick, ihre Brüste ließen sich Jahr für Jahr mehr hängen und überhaupt hätten ihre Eltern, oder wer auch immer dafür verantwortlich war, ihr doch bitte einen schöneren Körper schenken können. Dann würde es ihr bestimmt bessergehen.

    Das andere Geschlecht hingegen war immer sehr angetan von ihrem Aussehen, und Nancy genoss durchaus die Blicke und Komplimente der Männer, aber nachvollziehen, nein, nachvollziehen konnte sie das beim besten Willen nicht.

    Sie selbst wusste ja, was sie alles zu verbergen hatte und was sie kaschieren musste, um einigermaßen mithalten zu können, mit den Schönheitsnormen und Idealen dieser Gesellschaft.

    Vor die Tür ging sie grundsätzlich nur mit einem guten Makeup und schicker Kleidung, denn damit fühlte sie sich einigermaßen geschützt und sicher.

    Das war allerdings nicht die ganze Wahrheit, denn tief im Inneren, versteckt hinter der perfekten Maske, blieb die Unsicherheit, aber das wusste nur sie selbst.

    Heute war Sonntag, und an den Wochenenden schlief sie möglichst lange und verließ ihre Wohnung nur selten. So hatte es sich seit einigen Monaten eingeschlichen, als sie merkte, dass sie dem Druck und den Anstrengungen der Woche nur standhalten konnte, wenn sie das ganze Wochenende für sich und ihre Regeneration hatte.

    In diesen Stunden des Alleinseins bedauerte sie sich und ihr verkorkstes Leben.

    Mit Anfang Zwanzig hatte sie sich ihr künftiges Leben anders vorgestellt. Eine gute Ausbildung, ein interessanter Job und ein toller Mann an ihrer Seite, mit dem sie das Leben genießen konnte.

    „Wann haben sich meine Träume in Luft aufgelöst? Was habe ich falsch gemacht?"

    Als sie am Morgen aufwachte, war ihr Freund Christoph, wie in letzter Zeit üblich, schon gegangen. Sie hatten am Samstagabend zusammen einen Film angeschaut, ein paar Gläser Rotwein getrunken, und irgendwann war sie endlich locker genug, um seinem Begehren nachzugeben und Sex mit ihm zu haben. Wenn er nicht die Initiative ergriff, schliefen sie gar nicht mehr miteinander. Sie hatte keine Erklärung dafür, warum sich ihre Lust verabschiedet hatte, war sie doch zu Beginn der Beziehung eine experimentierfreudige Verführerin.

    „Der gelegentliche Sex ist wahrscheinlich der einzige Grund, warum er noch nicht gegangen ist", dachte sie immer wieder mal.

    Als sie nach dem Aufwachen realisiert hatte, dass Christoph nicht mehr neben ihr lag, war sie traurig. Das Gefühl von Einsamkeit war langsam ihren Rücken heraufgekrochen, wie die Raupe eines Prozessionsspinners, besetzt mit kleinen giftigen Härchen, unterwegs sich häuslich niederzulassen und den Wirt endgültig einzuspinnen.

    Auf der anderen Seite war sie froh, sich endlich entspannen zu können. Selbst im Schlaf, wenn er neben ihr lag, versuchte sie ihre Haare immer so auf dem Kissen zu drapieren und ihre Körperhaltung so zu inszenieren, dass sie hübsch anzuschauen war.

    Erst wenn sie allein war, konnte sie sich fallen

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