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Ostvorstellung: Band 1: Matinee
Ostvorstellung: Band 1: Matinee
Ostvorstellung: Band 1: Matinee
eBook779 Seiten10 Stunden

Ostvorstellung: Band 1: Matinee

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Über dieses E-Book

Was in der Matinee, dem 1. Band der "Ostvorstellung", frech, humorvoll und ironisch über jenen Winfried erzählt wird, ist Teil eines ungewöhnlichen Lebensweges, ist dessen Kindheit und Jugend, gewissermaßen die Vormittagsvorstellung eines langen Lebens. Indem persönliche, teilweise sehr originelle Erlebnisse in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext eingebettet und mit Fakten anreichert werden, entsteht ein bemerkenswertes Stück Zeitgeschichte - erzählt aus dem Blickwinkel eines Ostdeutschen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Feb. 2021
ISBN9783347221017
Ostvorstellung: Band 1: Matinee

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    Buchvorschau

    Ostvorstellung - Gerd W. Wähner

    Kriegskind

    „Alt ist, was man vergessen hat. Und das Unvergessliche war gestern. Der Maßstab ist nicht die Uhr, sondern der Wert. Und das Wertvollste, ob lustig oder traurig, ist die Kindheit. Vergeßt das Unvergessliche nicht."

    (Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war)

    Ein Mensch erblickt das Licht der Welt

    Winfried ist ein Kriegskind. Eine vergilbte Urkunde, ausgestellt vom Standesamt Berlin-Schöneberg und mit einem schönen runden Stempel versehen (Adler mit Hakenkreuz in der Mitte), bescheinigt seine Geburt am 2. November 1941 in Berlin-Schöneberg, Kalkreuthstraße.

    Weiter steht da:

    „Vater: Technischer Angestellter Wilfried Gerhard W., gottgläubig, wohnhaft in Berlin.

    Mutter: Margarete Berta Gertrud W., geborene Meißner, gottgläubig, wohnhaft beim Ehemanne."

    Am Abend jenes 2. November hatte er besseres zu tun, der technische Angestellte Wilfried Gerhard W., als Frau und Sohn in der Klinik zu besuchen. Er zog es vor, die freien Stunden in seiner Volkstanzgruppe zu verbringen, die, wie er sagte, nicht ohne ihren Gitarrenspieler auskam.

    Mutter hat ihm das nie verzeihen können.

    Die frühesten Erinnerungen des Jungen an Vater und Mutter stützen sich auf Fotos des Vaters, die dieser im August 1942 im Ostseebad Misdroy und Umgebung gemacht hat. Die Familie aus Berlin war dort zeitweilig bei dessen Eltern und Großeltern untergekommen.

    Willi W. und Frieda W., seine Großeltern väterlicherseits, lebten in Heidebrink, einem kleineren Ferienort an der Ostsee, ein paar Kilometer östlich von Misdroy. Sie kamen irgendwann in den frühen dreißiger Jahren aus Berlin nach Vorpommern, wohl auch, weil die Eltern von Großmutter Frieda dort ein Anwesen besaßen.

    Auf einem alten Foto sind Großmutter Frieda (Elfriede Bertha Anna, geb. Brinkmann) und Urgroßmutter Brinkmann abgebildet. Sie promenieren zusammen auf einer Seebrücke, wahrscheinlich der von Misdroy. Die ist mit breiten Bohlen beplankt und seitlich begrenzt durch ein hölzernes, weißlackiertes Geländer. Großmutter Frieda dominiert das Foto: Rundes Gesicht, lächelnd, die Hände über dem Bauch gefaltet. Die Urgroßmutter, klein hager, mit dünnem Haar und abstehenden Ohren, hat sich bei ihrer Tochter eingehakt.

    Mehr weiß er von seiner Urgroßmutter nicht, und nicht viel mehr von seiner Großmutter Frieda, die wenige Jahre nach Kriegsende in Berlin verstarb.

    Als sicher gilt, dass Vater Winfried und dessen jüngerer Bruder Willibald einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend bei den Eltern und Großeltern in Heidebrink und Misdroy verbracht haben.

    Misdroy hatte von je her eine besondere Anziehungskraft für den Berliner. Ende des 19. Jahrhunderts schreibt Edwin Müller, gleichfalls ein Berliner, in seinem Fremdenführer folgendes über den Ort:

    „Misdroy liegt an der Westküste der Insel Wollin, umschlossen von den Abhängen einer bewaldeten Hügelkette, die bei den Lebbiner Bergen am Haff beginnt, und sich über Misdroy hinaus am ganzen nördlichen Küstensaume der Insel hart am Meeresstrande hinzieht (…) Als Seebad bekannt wurde es etwa seit 1830 (…) Seit jener Zeit hat sich Misdroy, unterstützt durch thätige Mitwirkung der Badedirection, von Jahr zu Jahr weiter ausgedehnt, und zu einem der bedeutendsten Ostseebäder emporgeschwungen."

    Jene Fotos vom August 1942 zeigen einen blonden Jungen, klein und fein, in einem Körbchen sitzend, welches vorn, am Lenker, von Vaters Fahrrad befestigt ist. Der radelt mit ihm durch die tiefgestaffelten Dünen des Ostseestrandes.

    Auf einem anderen dieser Fotos chauffiert ihn die Mutter im Cabriolet (Kinderwagen, weiß und mit offenem Verdeck) den Strand entlang.

    In Misdroy, nahe dem Bahnhof, besaßen Mutters Schwiegereltern zu jener Zeit eine Kohlenhandlung und ein Lebensmittelgeschäft. Auf einem kleinformatigen Foto ist dieses Geschäft abgebildet: Es befindet sich im Parterre eines zweigeschossigen Eckhauses. Eine der Straßen, die es abschließt, heißt „Capenz Straße", sofern der Straßenname auf dem Foto mit der Lupe richtig entziffert wurde. Das Haus liegt durch seine Ecklage sehr günstig, vorn der Eingang, die Schaufenster entlang zweier Straßenseiten. Das dürfte dem Umsatz förderlich gewesen sein.

    Über dem Eingang steht in großen Lettern „Kaufhaus für Lebensmittel. Oberhalb des Schaufensters, an der rechten Straßenseite, weist ein Schild auf Spezielles hin: „Feinkost Aufschnitt Schokolade.

    Das Eckhaus wird nach oben hin durch ein Türmchen mit einer runden Haube abgeschlossen. Eine metallische Spitze krönt diese. Alles recht repräsentativ, gut bürgerlich.

    Es ist Winter. Auf dem Foto ist ein Berg Schnee zu sehen, rund um eine kahle Platane angehäuft. Weiterhin erkennt man darauf schneegeräumte Gehwege zu beiden Seiten des Einganges.

    Ein zweites, größeres Foto, gestattet einen Blick in das Innere des Geschäftes:

    Hinter dem breiten, weiß gestrichenen, mit gründerzeitlichem Schnitzwerk verzierten Verkaufstresen steht Großmutter Frieda. Sie trägt einen weißen, ärmellosen Kittel, beugt sich gerade ein wenig vor und stützt dabei die Hände auf den Tresen. Rechts von ihr steht die weißlackierte Verkaufswaage. Dahinter, über die gesamte Breite des Geschäftsraumes gehend, sieht man ein großes Wandregal voller Gläser, Flaschen, Dosen und Konservenbüchsen. Ganz oben, ohne Leiter nicht zu erreichen, sind kunstvoll Konservenbüchsen gestapelt, jeweils eine Sorte zu einer vierstufigen Pyramide aufgebaut, ganz so, wie auf dem Jahrmarkt die Pyramiden aus leeren Dosen, nach denen man mit einem Stoffball wirft: Drei Würfe für 10 Pfennig.

    Ob die Großeltern auch Eigentümer der Geschäftsräume oder nur Mieter waren, ist nicht mehr mit Sicherheit festzustellen. Eher nur Mieter, denn sie wohnten im Nachbarort Heidebrink. Das ist durch ein Foto belegt, auf dem die väterliche Familie abgebildet ist, um einen Gartentisch herum gruppiert. Auf der Rückseite steht „Heidebrink 1938".

    Dem Baedecker aus jenem Jahr kann man folgende treffliche Beschreibung des Ortes entnehmen:

    „Heidebrink liegt auf einer kleinen Nehrung (,Trendel‘) zwischen dem Camminer Bodden und der offenen See. Schöne Birken- und Kiefernwälder im N., O. und W., im S. Wiesen. Der feinsandige Strand mit hoher Düne 2 – 5 Min. vom Ort entfernt."

    Aus diesem reizenden Ort also stammen seine Oma Frieda und seine Urgroßoma. Wann Opa Willi Oma Frieda ehelichte ist nicht mehr zu ermitteln, auch nicht, wann er aus diesem Anlass von Berlin nach Heidebrink zog. Jedenfalls war er damit gut beraten; zog doch gewissermaßen (siehe Lebensmittelladen und Kohlenhandlung) ins gemachte Nest.

    Opa Willi ist nach einer schriftlichen Auskunft aus dem Melderegister beim Polizeipräsidenten von Berlin, datiert vom 1.4.1949, als Willi Ernst Franz W. am 8.10.1888 in Berlin geboren. Zu dessen Eltern heißt es in selbigem Dokument:

    „Tischler Paul W., am 14.2.1863 in Kalau geboren, ist am 25.6.1910 in Berlin verstorben. Er war verheiratet mit Gulda W., geb. Heinrich, am 9.12.1870 in Kankolovo, Kreis Buk."

    (Das also sind väterlicherseits die Wurzeln des Jungen. Er selbst, sein Vater und sein Großvater sind in Berlin geboren. Beim Urgroßvater ist das nicht sicher, wohl aber, dass der in Berlin verstorben ist. Darf sich W. mit Blick auf diese Genealogie „Urberliner" nennen?)

    Das älteste vorhandene Foto zeigt Großvater Willi Ernst Franz als jungen Mann mit kurzem Haar, Anzug und Weste. Er trägt ein weißes Hemd mit einem hohen, steifen Kragen. Den hellen Sommerhut hält er lässig in der rechten Hand, die linke ist auf einen Stuhl mit geschnitzter Lehne gestützt. Da mag er neunzehn oder zwanzig Jahre alt gewesen sein.

    Auf der Rückseite eines weiteren Fotos von ihm steht „Andenken aus der Sächsischen Schweiz". Es ist ein klassisches Familienbild, auf dem sich die Familie pyramidal auf einigen Felsbrocken gruppiert hat. Von oben nach unten sind zu sehen: Opa Willi, das rechte Bein wie ein Eroberer auf einen Felsvorsprung gestützt, in der Hand einen langen Knüppel. Darunter Oma Frieda, mit Spazierstock, weißer Bluse und langem engen Rock. Rechts neben ihr die kleine Uroma Brinkmann und, etwas tiefer angeordnet, ein etwa zweijähriger Bube im Matrosenanzug. Unter der bebänderten Mütze schaut ein Pony hervor. Er trägt kurze Hosen und dicke, wollene Strümpfe. Auch der kleine Matrose hat einen Stock in der Hand und ist trotz seiner Verkleidung unschwer als Vater Winfried zu erkennen. Ein Studiofoto aus dieser Zeit zeigt ihn im gleichen Outfit zwischen seinen gutbürgerlich gekleideten Eltern. Die Mutter sitzt in einem überdimensionalen Sessel, der Junge auf dessen Lehne; beide Kopf an Kopf. Die hohe Lehne des Sessels ist im oberen Teil mit schönem floralem Schnitzwerk versehen: Jugendstil, was eine Datierung des Fotos auf etwa 1909 bzw. 1910 erleichtert.

    Großvater Willi, der gelernte Motorenschlosser, hat offensichtlich Höheres im Sinn, wie die weiteren Fotos nahelegen:

    Eines dieser Fotos zeigt ihn in preußischer Uniform, im langen, streng bis oben zugeknöpften Mantel und mit einer kleidsamen Pickelhaube auf dem Kopf. Er trägt, soweit erkennbar, noch die Schulterstücke eines gemeinen Soldaten. Das Foto ist als Postkarte gefertigt, die an den „Musketier Max H., Schildberg in Posen, 1. Infanterieregiment 47" gerichtet wurde. Darin beschwert sich Willi bei Max:

    „Du läßt ja gar nichts mehr von Dir hören!"

    Ein anderes Foto zeigt ihn mit seinem Bruder Paul, beide in Uniform. Der kleinere und wohl jüngere Bruder versteckt seine rechte Hand hinter dem Gesäß, die linke stützt sich auf eine hölzerne Parkbank, auf der Willi sitzt: Gerade und selbstbewusst, einen Schnurrbart unter der Nase (einer „Rotzbremse", wie sie später sein Führer trug), die Hände im Schoß, das linke über das rechte Bein geschlagen, in kniehohen, blank gewichsten Stiefeln. Seine Rangabzeichen sind leider nicht zu erkennen.

    Schließlich, wir müssen zum Ende kommen, ein Foto, dass ihn ebenfalls in Uniform darstellt, diesmal am Lenkrad eines Kabrioletts, eines prächtigen Gefährts, mit großen Speichenrädern, mächtiger, runder Motorhaube, das Reserverad an der rechten Wagenseite, und einer großen Außenhupe aus Messing auf der Fahrerseite. Die Scheibe der Fahrertür ist heruntergekurbelt.

    Hinter dem Steuer sitzt Großvater Willi. Die rechte Hand lässig am Lenkrad, den linken Arm auf der Kante der Tür. „G. G. W. 7" steht auf der Motorhaube, was das auch immer heißen mag. An der linken Hintertür prangt der preußische Adler. Einiges deutet darauf hin, dass Opa Willi mit dem Gefährt nicht nur renommieren wollte, sondern es tatsächlich auch fuhr. Den Nachweis seiner Tätigkeit als Kraftfahrer im Dienst für Kaiser und Vaterland liefert folgendes, mit Wasserflecken und ausgefransten Rändern versehene Dokument:

    „Bescheinigung (gebührenfrei)

    Der Kraftfahrer Willi W. aus Szczuczyn,

    Passnummer (unleserlich),

    bedarf einer Entlausung nicht.

    Gültig bis 28ten Juni einschl. (3 Tage).

    Grenzübergang gestattet.

    Szczuczyn, den 26ten Juni 1917

    (Stempel und Unterschrift des Kreisarztes Dr. Selim)"

    Die Schwäche für Autos hat er seinem Sohn Willibald vererbt, des Vaters jüngerem Bruder. Willibald fuhr nicht nur vor dem Kriege den Lastwagen des Alten, nachdem dieser sich in Vorpommern zum Fuhrunternehmer hinaufgearbeitet hatte, sondern auch noch bei der Flucht der Familie aus dem von den „Russen" bedrängten Vorpommern nach Berlin.

    Unglücklicher Weise geriet er, zum Ende des Krieges hin, noch in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Die dauerte fast 10 Jahre. Er durchlitt sie, schlimmer hätte es ihn nicht treffen können, in einem Bergwerk in Sibirien. Dort war es eine seiner größten Sorgen, erzählte er einmal, seinen Ehering vor Dieben zu verbergen, zuerst vor Dieben unter seinen Mitgefangenen, dann erst vor welchen unter seinen Bewachern.

    Willibald W. gehörte zu jenen 9626 Kriegsgefangenen, die 1955, im Ergebnis der spektakulären Verhandlungen zwischen Konrad Adenauer und Nikita Chruschtschow, aus der Sowjetunion in die BRD entlassen wurden.

    Zurück in Berlin, und in der Laube seines Vaters Willi, fuhr er zunächst wieder dessen LKW. Dieses Vehikel benutzte er ein Jahr später ein zweites Mal zur Flucht, auch diesmal von Ost nach West, aus der sowjetischen Besatzungszone in den amerikanischen Sektor Berlins.

    Im Westteil der Stadt versuchte er sich als Fahrlehrer; bei einem derartigen Autonarren lag das nahe. Mit dem Fahrlehrer hatte er Beruf und Berufung für den Rest seines Arbeitslebens gefunden. Er übernahm Mitte der fünfziger Jahre die Fahrschule seines Arbeitgebers, gelegen in der Berliner Brunnenstraße, und führte sie fort bis zu seinem Eintritt ins Rentenalter.

    Zu seiner Schwägerin Margarete und zu seinem Neffen W. im Ostteil der Stadt hielt er keinen Kontakt. So kam es zu jenem typischen Ost-West-West-Ost-Paradoxon:

    Onkel Willibald hatte Mitte der sechziger Jahre seine Fahrschule in der Brunnenstraße, im Westteil der Stadt, nicht weit von der Sektorengrenze zum Ostteil entfernt. Sein Neffe hatte zur gleichen Zeit seinen Arbeitsplatz ebenfalls in der Brunnenstraße, aber im Ostteil der Stadt, nicht weit von der Sektorengrenze zum Westteil.

    Vielleicht hätten sie sich von hüben nach drüben auch einmal zuwinken können, wenn zu jener Zeit der Eine bewusst die Existenz des Anderen zur Kenntnis genommen hätte. So aber wird die willkürliche Teilung der Brunnenstraße durch eine Sektorengrenze beide nicht mehr betrübt haben, als die Teilung der Stadt an jeder beliebigen anderen Stelle.

    Wie gesagt, Willibald blieb Fahrlehrer, sein ganzes Berufsleben lang. Er hatte, nach einer ersten, während des Krieges geschlossenen und bald nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft geschiedenen Ehe, noch einmal geheiratet, nunmehr glücklicher. Wer seine Frau Annemarie kennengelernt hat, wird bestätigen können, dass er beim zweiten Mal sogar großes Glück hatte. Attraktiv, wenn nötig auch energisch und immer fürsorglich, war Annemarie für den weichen und etwas verträumten Willibald genau die Richtige.

    Was W. heute über seinen Großvater Willi und über seinen Onkel Willibald weiß, konnte ihn Anfang der vierziger Jahre noch nicht belasten. Da saß er in Vaters Fahrrad-Körbchen oder in Mutters Cabriolet und strahlte. Auch noch einige Jahre danach reduzierten sich seine Erinnerung an Opa Willi und Oma Frieda, nebst Kohlenhandlung und Lebensmittelgeschäft, auf die Frage, wie das wohl zusammen ging: Aus der Kohlenhandlung mit kohlrabenschwarzen Händen schnell mal rüber zur Kundschaft ins Lebensmittelgeschäft, dort rein mit der Hand ins hölzerne Butterfass und anschließend schnell wieder zurück in die Kohlenhandlung, oder umgekehrt?

    Der Familie W. blieb nur die Erinnerung an Misdroy. Die neu gezogene Grenze zwischen Deutschland und Polen blieb für sie geschlossen, an eine Rückkehr war nicht zu denken. Bis auf zwei, Onkel Willibald und W., verstarben alle, bevor die Grenze für Deutsche besuchsweise wieder geöffnet wurde.

    Flüchtlinge

    „Und als ich grad‘ vier Jahr alt war, vergaß ich alles was schade war."

    Das soll er zum Vergnügen seiner Eltern von sich gegeben haben, als er grad‘ vier Jahr alt war. Wer weiß, wo er es aufgeschnappt hatte. Allein ist er sicher nicht darauf gekommen. Aber Sinn würde es ergeben, denn seine ersten drei Lebensjahre waren Kriegsjahre und die Erinnerungen daran hat er verdrängt. Sie setzen ein, als er grad‘ vier Jahr alt war, nämlich im Sommer des Jahres 1944.

    Dieser Sommer muss im Brandenburgischen zumindest zeitweise mild und sonnig gewesen sein. Fotos aus Vaters Hand zeigen den Jungen auf dem Balkon eines Einfamilienhauses in Mühlenbeck, nahe Berlin. Auf einem schaukelt er nackt auf einem Holzpferd. Das ist weiß, bis auf Mähne und Schwanz; die schwarz lackiert sind.

    Auf einem anderen Foto hält der Vater den Bengel hoch, hoch über seinen Kopf und über die Balkonbrüstung. Tut so, als wolle er ihn hinunterwerfen. Und der Bub jauchzt auch noch vor Vergnügen.

    Die nächsten Fotos sind weihnachtlich. Es sind die letzten Kriegsweihnachten. Opa Karl und Oma Johanna, die Großeltern mütterlicherseits, sind mit im Bilde. Der Junge steht vor dem Gabentisch. Darauf befinden sich ein großer Teller mit Keksen und Äpfeln, Strickstrümpfe und ein Äffchen aus Stoff.

    Kriegsweihnachten. Was hat der Kleine von Krieg, Bomben, Luftschutzbunker, Angst und Tod mitbekommen? Er war doch nicht die ganze Zeit im sicheren Mühlenbeck, wohnte doch zeitweilig mit der Mutter auch bei den Großeltern im Berliner Stadtbezirk Wedding, einem häufigen Angriffsziel der anglo-amerikanischen Bombergeschwader.

    Hat das Grauen ihn irgendwie erreicht, etwas in ihm hinterlassen, wie man das von Kriegskindern annimmt? Vermutlich ja. Aber, wenn ja, was, und wie äußerte sich das bei ihm? Vielleicht haben seine Nervosität, gelegentliche Gereiztheit und Unstetigkeit darin ihre Ursachen?

    Zumindest zeigen ihn jene Fotos aus Mühlenbeck überwiegend noch als lächelndes Kind.

    Zu seiner guten Laune mögen die infolge des Bombeninfernos und dessen Folgen leider immer seltener gewordenen Besuche von Opa und Oma beigetragen haben. Die mochte er sehr und nicht nur deshalb, weil Oma Johanna, trotz extremer Knappheit, jedes Mal in Berlin noch etwas Süßes für ihren Liebling aufgetrieben hatte.

    Auch Opa Karl trug anlässlich dieser Besuche regelmäßig das Seine zur Erheiterung des Jungen bei. Gern ging er mit dem Buben an der Hand im Mühlenbecker Wald spazieren. Dabei erzählte er ihm immer so komische Geschichten. Eine davon hat W. in Erinnerung behalten:

    „Pup und Spinne ging‘n in Wald,

    da wurd‘n dem Pup die Beene kalt,

    da macht die Spinne n‘n Feuer an,

    damit der Pup sich wärmen kann."

    Heute muss er sogleich lachen, wenn ihm das einfällt, denn Opa hat, vermutet er, nicht „Pup, sondern „Bub gesagt. Bei denn bei jenem Sprüchlein handelt es sich um eine, vom Buben arg missverstandene erste Strophe eines der Johannilieder, wie sie in einigen Gegenden Deutschlands – mit voneinander abweichenden Texten - alljährlich zum Johannisfest gesungen wurden. Eines davon geht etwa so:

    „Bub und Spinne

    Bub und Spinne gingen in den Wald,

    da ward dem Bub die Füße kalt.

    Dihollahi dihollahidio dihollahidiho!

    Da macht die Spinne Feuer an,

    damit der Bub sich wärmen kann.

    Da kam ein böser Wirbelwind,

    der macht das Feuer aus geschwind.

    Da ward die Spinne ärgerlich

    Und haut dem Bub ins Angesicht.

    Da kam ein guter Wandersmann

    und macht das Feuer wieder an.

    Da ward die Spinne wieder gut –

    Da kann man sehn, was Liebe tut!"

    Aber Kinder verstehen ja bekanntermaßen oft Sprüche, Gedichte und Lieder auf ihre ganz eigene Weise falsch, sehr zum Vergnügen der Erwachsenen.

    Unklar bleibt, woher der Opa das Lied hatte. Wurde es auch in Schlesien gesungen und hat er es von dort mit nach Berlin gebracht, oder hat er es von Oma, die aus Ostpreußen stammt?

    Kommen wir zunächst noch einmal zurück auf das Frühjahr 1945:

    Lange währte das Asyl im kriegsverschonten Mühlenbeck nicht. Im April war die Front im Osten gefährlich nah an Mühlenbeck und das dahinter liegende Berlin herangerückt. Wie nah, wusste die Mutter sicher nicht genau. Vielleicht war auf den nicht weit entfernten Seelower Höhen der Kampf um Berlin schon entbrannt. Der dauerte, wie wir wissen, vier lange Tage, vom 16. bis zum 19. April 1945.

    Die „Erste Weißrussische Front" mit etwa einer Million Soldaten unter dem Kommando Marschall Schukows, durchbrach im Ausgang dieser Schlacht den durch die Heeresgruppe Weichsel dort gebildeten Verteidigungsring. Damit war für die sowjetischen Truppen der Weg nach Berlin frei.

    Mutter begab sich noch rechtzeitig mit ihrem Sohn auf einen Flüchtlingstreck.

    Was sie im Nachhinein über die Zeit in Mühlenbeck und über ihre dortigen Gastgeber erzählte, zeugt von einer kleinen Charakterschwäche der ansonsten freundlichen Vermieter, die diese allerdings mit einer ganzen Reihe anderer Volksgenossen teilten: Da nunmehr wegen Abwesenheit der Mieter (Vater zum Arbeitsdienst zwangsverpflichtet, Mutter auf der Flucht) zunächst weitere Mietzahlungen ausblieben, hielten sich die Vermieter an den wenigen Habseligkeiten schadlos, die Mutter vor der Abreise noch eilig irgendwo auf deren Grundstück vergraben hatte. De jure waren sie vielleicht sogar im Recht; de facto hat es sich kaum gelohnt: Ein wenig Porzellan, ein versilbertes Essbesteck für sechs Personen sowie einige persönliche Gegenstände waren die schmale Beute.

    Allerdings ist auch der Verbleib von Omas mit einem „M" gekennzeichneter Weißwäsche ungewiss. Die blieb unauffindbar, obwohl Oma wiederholt beteuerte, ihrem Schwiegersohn das dicke Wäschepaket beim Umzug mit nach Mühlenbeck gegeben zu haben, als Vorausgepäck gewissermaßen für die eigene Flucht dorthin.

    (Opa Karl drängte sie noch im zeitigen Frühjahr, sich mit ihm aus dem brandgefährlichen Berlin zur Tochter ins sichere Mühlenbeck zu begeben. Oma wollte das wohl auch sehr gern, konnte es aber letztlich nicht mehr. Ihre Angina Pectoris war fortgeschritten, es fehlte an der für einen Umzug erforderlichen Kraft, physisch und psychisch.)

    Am 3. März 1945 schreibt Opa einen seiner wenigen Briefe. In Sütterlin berichtet er darin seiner Tochter vom schlechten Gesundheitszustand der Mutter. Auch dass sie beide jeden Tag mehrere Male wegen der sich ständig verstärkenden Fliegerangriffe den Keller ihres Hauses aufsuchen müssten und manchmal, zwischen mehreren Angriffen kurz hintereinander, gar nicht mehr verlassen könnten. Und, dass sie während ihrer Aufenthalte im Hauskeller ständig Angst vor den Fliegerbomben gehabt hätten, der nächste, sicherere Luftschutzbunker aber zu weit von ihrer Wohnung entfernt gewesen wäre, als dass sie ihn rechtzeitig hätten aufsuchen können.

    Weiter schreibt Opa Karl, dass in Berlin so gut wie keine Straßenbahnen mehr fahren und die Menschen, wenn sie unbedingt das Haus oder den Bunker verlassen mussten, lange Fußmärsche zu absolvieren hätten. Er bemerkt dazu verwundert: „Nur die Gleise liegen noch, keine einzige Straßenbahn ist mehr zu sehen…"

    Wie gesagt, im April 1945, veranlasst durch die aus dem Osten bedrohlich näher rückende Front, schloss sich die Mutter mit ihrem Sohn einem Flüchtlingstreck an. Sie notierte diesbezüglich auf einem Blatt Papier: „Nach Waren/Mecklenburg, bin ich mit W. zu Tante Liesbeth geflüchtet."

    Der Treck wurde geführt von einem entfernten Verwandten, einem „Onkel Gustav", der ebenfalls Angehörige in Waren an der Müritz gehabt haben soll. Mit dem Vater war zuvor verabredet worden, sich - für den Fall aller Fälle - irgendwann bei diesen Verwandten in Waren zu treffen. Noch saß der allerdings in Lübeck fest, wohin er in den letzten Kriegstagen (als qualifizierter Werkzeugmacher) zur Produktion von Waffen und Munition zwangsverpflichtet worden war.

    Davor muss er auf unbestimmte Zeit in Dresden stationiert gewesen sein und dort auch den 13. Februar 1945, den „Tag des Feuersturms, miterlebt haben, den Höhepunkt jener schrecklichen und unnötigen Bombenangriffe, dem so viele Menschen zum Opfer fielen und die „Elbflorenz in Schutt und Asche legten.

    Mutter vermerkte auf der leeren Seite eines Briefes des Vaters, datiert vom 24.2.45 - also schon aus Lübeck - mit rotem Kugelschreiber: „Vorher war er in Dresden als Soldat und hat die schwere Bombennacht dort lebend überstanden."

    In jenem Brief aus Lübeck steht unter anderem: „Im Großen und Ganzen bin ich jetzt eigentlich immer sehr unzufrieden und immer schlechter Laune. Na, das kommt aber in der Hauptsache aus der langen Arbeitszeit und der Art, wie die Menschen hier behandelt werden."

    Vom Treck berichtete Mutter später über zwei, in Bedeutung und möglichen Folgen sehr unterschiedliche Begebenheiten:

    Erstens erwies sich ihr Sohn als ein sehr geschickter Eier-Dieb. Wenn der Treck in der Nähe eines Bauernhofes hielt, kundschaftete der im Auftrage des Treckführers dort alsbald die Gegebenheiten aus. Schnell fand er wohl auch den Hühnerstall, zwängte sich unbemerkt durch den kleinen Schlupf in dessen Tür, nahm im Stall an Eiern, was er finden und tragen konnte, drückte sich geschickt am Hofgesinde vorbei und brachte die Eier stolz seiner Mutter. Auf die Hälfte davon erhob Onkel Gustav, als Führer des Trecks, sogleich Anspruch.

    Zweitens erinnerte sich die Mutter an eine Begegnung mit amerikanischen Soldaten: Eine Militärpatrouille in einem Jeep, woher zu jener Zeit auch immer die kam, näherte sich unvermutet dem Treck. Der auf dem Bock des Pferdewagens sitzende Gustav wurde genötigt, den Wagen anzuhalten. Der ranghöchste Soldat forderte ihn mit gezogener Pistole auf, sich auszuweisen und fragte nach dem woher und wohin. Die gegebenen Auskünfte stellten ihn wohl nicht zufrieden. Der Typ auf dem Bock war ihm nicht suspekt; zurecht, wie sich später herausstellen sollte. Die Pistole weiter drohend auf den Treckführer gerichtet, fragte der Soldat ihn irgendetwas auf Englisch. Gustav verstand nicht, glaubte aber, den Amerikanern etwas anbieten zu müssen und wies mit der Hand auf die hübsche junge Frau, die mit ihrem Sohn im Arm, hinter ihm auf dem Wagen saß. Der Soldat ging auf Margarete zu, schaute zu ihr hinauf und richtete die Waffe nunmehr auf sie. Margarete lächelte ihn entwaffnend an und hob ihm ihren kleinen blonden Jungen entgegen. Der Mann stutzte, zögerte, und senkte schließlich die Pistole. Sein Gesicht hellte sich auf. Er griff in eine Seitentasche seiner Uniformjacke, holte daraus eine Tafel Schokolade hervor und reichte sie dem Jungen hinauf auf den Leiterwagen. Ein Wink von ihm und der Treck durfte weiterfahren.

    Kurz vor Waren warf Onkel Gustav Mutter mitsamt Sohn vom Wagen, weil er eine zufällige Begegnung mit deren Mann fürchtete, der ja schon vor Ort sein könnte.

    In jenem schicksalshaften Frühjahr, erzählte ihm die Mutter, machte sich auch Großvater Willi zwangsweise von Misdroy nach Berlin auf, zusammen mit Ehefrau Frieda und Sohn Willibald. Er besaß ja dort, in der Axenstraße in Pankow-Heinersdorf, aus seiner Berliner Zeit noch das Gartengrundstück. Darauf standen eine vom Krieg verschonte Laube sowie einige alte Obstbäume und viele Stachel- und Johannisbeersträucher.

    Offensichtlich konnten die Großeltern Heidebrink und Misdroy noch rechtzeitig verlassen. Der nicht von der Wehrmacht requirierte, weil recht altersschwache LKW, und die aller Wahrscheinlichkeit nach auf diesem mitgeführten Vorräte aus der Lebensmittelhandlung, stellten sie vermutlich sehr viel besser, als ihre Landsleute, die aus Pommern, Ostpreußen, Schlesien oder sonst wo her im Osten, vor den anrückenden sowjetischen Truppen in Richtung Westen flüchteten. Sicher waren sie damit auch im Vorteil gegenüber vielen der ausgebombten, ausgehungerten, und verzweifelten Berliner

    Wenn man weiterhin den seinem Großvater Willi nachgesagten Geiz berücksichtigt - er teilte nicht einmal gern mit seinem eigenen, zeitweise ebenfalls in der Laube untergekommenen Sohn Fred, geschweige denn mit seiner Schwiegertochter Margarete und deren Sohn - ist zu vermuten, dass dieser „Laubenpiper mit LKW" recht gut über die schwere Zeit kam.

    In einem Brief an ihren Sohn, in dem sie auf die schwere Nachkriegszeit zurückblickte, schrieb die Mutter über ihren Schwiegervater: „Der hatte auch nur sein Geschäft und sein Geld im Kopf!"

    Zwei Foto aus der Nachkriegszeit in Pankow-Heinersdorf sind erhalten:

    Das eine zeigt die Familie W. im Garten am gedeckten Kaffeetisch. An der Längsseite, hinten, der Großvater, die Zigarre unter dem Schnauzer. Links neben ihm, im Schatten, Großmutter Frieda, rechts neben ihm Sohn Willibald, schütteres Haar, weiches Antlitz mit vollen Lippen.

    An der rechten Stirnseite sitzt der ältere Sohn, Fred. Dessen Gesicht erscheint auf dem Foto schmaler, markanter, als die Gesichter von Vater und Bruder. Er ist auf dem Foto der Einzige von den Vieren, der lächelt.

    Auf dem anderen Foto, sitzt er in der Laube auf einem Stuhl, ein Buch lesend. Der Stuhl steht auf dem Küchentisch. Wenige Zentimeter über seinem Kopf hängt eine nackte Glühbirne von der Decke herab. Mutter lächelte, als er ihr irgendwann, viel später, das Foto zeigte und sagte: „Ja, das ist er, dein Vater! Und einmal ist er beim Lesen vor Ermüdung eingeschlafen und samt Buch und Stuhl vom Küchentisch gefallen."

    Der Rote Wedding

    An Großvater Karl und Großmutter Johanna denkt W. in Liebe zurück. Er sieht sie in ihrer kleinen Wohnung in der Hochstädter Straße, Hinterhof, Quergebäude, gelegen im Berliner Arbeiterbezirk Wedding, dem „Roten Wedding", wie man ihn vor der Machergreifung Hitlers nannte.

    „Karl August Franz M., geboren am 20.11.1882 in Greifenhagen, Pommern", so steht es in Opas Geburtsurkunde. Der kam irgendwann nach Berlin und fand dort seine Johanna:

    Johanna M., geborene Quint, stammt aus Ostpreußen. Sie wurde am 9.11.1880 in Allenstein geboren. Wie und wann sie nach Berlin kam, ist nicht belegt.

    (Jetzt könnte die Frage endgültig beantwortet werden, ob W. sich „Urberliner" nennen darf. Wenn es nach der Herkunft der Eltern und eines der Großelternpaare ginge, ja. Wenn aber beide Großelternpaare in Berlin geboren sein müssen, nein, denn die seitens der Mutter kamen aus Pommern und Ostpreußen. Aber wer wird denn so pingelig sein!)

    Oma Johanna war eine zarte Person, liebe- und aufopferungsvoll ihrem Mann gegenüber und ihren Kindern. Dabei nur eine ungelernte Arbeiterin, wie Mutter rückblickend erzählte, die bei der IG Farben in Berlin-Spindlersfeld am Fließband stand, für sehr wenig Geld und ohne jemals über die schwere, ungesunde Arbeit und ihre Erkrankung zu klagen. Sie litt unter Angina Pectoris. Ihre Arbeit und die fortschreitende Krankheit zehrten ihre Lebenskraft früh auf.

    Und Johanna hatte eine große Familie zu versorgen: ihren Karl und drei Töchter: Lotte, die älteste, Gretel, die mittlere und Elli, die jüngste. Und dazu kamen zeitweise noch die, bei ihnen Unterschlupf suchenden Schwiegersöhne.

    Lotte war nicht ihr leibliches Kind. Johanna und Karl hatten es zu sich genommen, weil die Ehe deren Eltern, mit denen Johanna entfernt verwandt war, zerrüttet war und die ihr Kind vernachlässigten. Sie zogen es auf wie ihre beiden leiblichen Töchter. „Lottchen" heirate irgendwann nach dem Kriege nach Holland ein und lebte fortan mit ihrem Mann Leo und dessen Verwandten in Den Haag.

    (Nach 1989, nach dem Mauerfall, als W. erstmals Gelegenheit hatte nach Holland zu reisen, lebte keiner mehr von seinen holländischen Verwandten.)

    Eng muss es in der Hochstädter Straße für die Familie gewesen sein: Ein mittelgroßes Wohnzimmer, ein kleines Schlafzimmer und eine Küche, letztere ausgestattet mit weißlackiertem Buffet, eisernem Herd, Kohlenkiste, rechteckigem Tisch und vier einfachen, ebenfalls weißlackierten Stühlen daran. Und welch ein Luxus: Unter dem Fenster befand sich ein Kühlschrank - ein Einbauschrank, dessen Rückwand aus Gaze für die Zufuhr frischer Luft sorgte.

    Das Schlafzimmer war immer belegt. Nicht von den Großeltern, deren Bett befand sich im Wohnzimmer. Anfangs schliefen die drei Töchter zusammen in diesem recht kleinen Zimmer, später, abwechselnd, immer mal Tochter Elli mit Ehemann Paul oder Tochter Gretel mit Sohn Winfried, wie es sich bei der Wohnungsnot im zerbombten Berlin gerade ergab.

    Immerhin, die Wohnung hatte einen Balkon. Zwar einen kleinen und ohne Grünblick, dafür konnte man aber von diesem, im 1. Stock gelegenen Balkon aus sehr gut auf die Brandmauer zur rechten sehen, die den Hof zwischen Vorderhaus und Quergebäude begrenzte.

    An dieser putzbröckligen Mauer klimperten die Kinder der Mieter von Vorder- und Hinterhaus oft. Sofern kein Einspruch von den Erwachsenen kam, war auch der kleine W. ganz schnell unten und mit von der Partie.

    Das allen Kindern bekannte Spiel geht so:

    Eines wirft aus festgelegter Entfernung eine Münze in Richtung auf die Mauer, derart, dass diese möglichst dicht an der Mauer zu liegen kommt, egal ob mit oder ohne diese vorher berührt zu haben. Nunmehr werfen die Mitspieler, einer nach dem anderen, ihre Münze, mit dem Ziel, diese so nahe wie möglich an der des Ersten zu platzieren oder gar dessen Münze zu treffen. (So zumindest klimperte die Bande von der Hochstädter Straße 19.)

    Waren alle Münzen geworfen, eilten die Spieler nach vorn zur Mauer, um festzustellen, welche ihr am nächsten lag. Der Eigentümer dieser Münze durfte sich als Sieger fühlen, alle Münzen einsammeln und in seine Tasche stecken. Wehe aber, die Sachlage war nicht eindeutig und zwei oder mehr Münzen schienen gleich entfernt von der anvisierten zu liegen. Dann ging der Streit los. Nicht objektiv, gestützt auf Zollstock oder Maßband, nein, der Größte und Lauteste unter ihnen setzte sich für gewöhnlich durch. Seine Meinung gab bei der Entscheidung den Ausschlag. Oder – noch fieser – einer der älteren Jungen behauptete wider besseres Wissen, die nächstliegende Münze sei seine, obwohl sie einem anderen Mitspieler gehörte.

    Da konnten manchem Kleineren schon mal die Tränen kommen, wenn er sich so unfair behandelt, so gemein betrogen sah. War er pfiffig genug, markierte er seine Münzen vor dem nächsten Wettkampf mit einem Farbtupfer und machte seine Farbe vor dem Spiel öffentlich bekannt.

    Der Höhepunkt des Tages jedoch war für die Kinder zweifellos der Auftritt des Leierkastenmannes.

    Leierkasten, hat sich W. belesen, ist die Bezeichnung für eine schlecht gestimmte Drehorgel. Eine Drehorgel, die leierte, weil die Drehorgelmänner ihre Instrumente in der Zeit der Wirtschaftskrise nicht mehr gut genug pflegen lassen konnten. Nützte nichts, dass sie später ihren Orgeln wieder mehr Pflege angedeihen ließen, den Spitznamen „Leierkastenmann" wurden sie in Berlin nicht mehr los.

    Bereits im langen Flur zwischen Vorderhaus und Hof der Hochstädter 19 begann unser Mann seine Leier zu drehen. Binnen zehn Sekunden lockte er derart jeden im hinteren Vorderhaus und im vorderen Hinterhaus Anwesenden ans Fenster oder auf den Balkon.

    Buntbemalt war sein Leierkasten, federnd gelagert auf einem Gestell, vier Holzräder unten dran. Der Mann war clownesk gekleidet. Auf seiner linken Schulter saß ein niedlich anzusehendes Äffchen. Doch Vorsicht! Es bleckte die Zähne, wenn man ihm zu nahekam.

    Den Auftakt zu seinem Hofkonzert bildete meist die „Berliner Luft, ein freches Lied, welches Paul Linke 1904 ursprünglich für eine Operette komponiert hatte, die im Berliner Thalia Theater zur Aufführung kam. Bald jedoch war aus dem Lied ein „Gassenhauer geworden, der schließlich zur Hymne der Berliner mutierte:

    „Das ist die Berliner Luft

    Ja, ja, ja, das ist die Berliner Luft, Luft, Luft,

    so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft,

    wo nur selten was verpufft, pufft, pufft

    in dem Duft, Duft, Duft,

    dieser Luft, Luft, Luft.

    Das macht die Berliner Luft!

    Berlin! Hör‘ ich den Namen bloß

    da muß vergnügt ich lachen!

    Wie kann man da für wenig Moos

    den dicken Wilhelm machen!

    Warum läßt man auf märk‘schem Sand

    gern alle Puppen tanzen?

    Warum ist dort das Heimatland

    der echte Berliner Pflanzen?

    Ich frug ein Kind mit jelbe Schuh:

    Wie alt bist du denn, Kleene?

    Da sagt sie schnippisch: "Du? Nanu

    ick wird‘ schon nächstens zehne!"

    Doch fährt nach Britz sie mit Mama‘n

    da sagt die kleene Hexe

    zum Schaffner von der Straßenbahn:

    Ick wird‘ erscht nächstens sechse!

    Ja ja! Ja ja ! Ja ja ja ja!

    Der richtige Berliner gibt

    sich gastfrei und bescheiden,

    Drum ist er überall beliebt,

    und jeder mag ihn leiden.

    Wenn sonst man: Mir kann keener sagt,

    so sagt in jedem Falle,

    wenn‘s dem Berliner nicht behagt

    er sanft: Mir könn‘ se alle!

    Ja ja! Ja ja! Ja ja ja!

    Ja, ja, ja, das ist die Berliner Luft, Luft, Luft,

    so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft,

    wo nur selten was verpufft, pufft, pufft,

    in dem Duft, Duft, Duft,

    dieser Luft, Luft, Luft.

    Das macht die Berliner Luft!"

    War der Leierkastenmann mit seiner Darbietung am Ende, nahm er die Mütze vom Kopf und bedankte sich artig mit Verbeugungen zum Publikum im Vorderhaus und im Hinterhaus hin. Beifallsbekundungen gab es kaum. Dafür regnete es in Zeitungspapier eingewickelte Münzen. Selbst Erwerbslose, gern auch durch ihre Kinder vertreten, hatten im proletarischen Wedding meist eine Münze für den Leierkastenmann übrig. Jetzt wissen wir es:

    Die Redewendung „Geld zum Fenster hinauswerfen" geht auf die Generosität armer Leute zurück. Die hatten meist einen Groschen für andere arme Leute übrig, darunter für Straßenmusikanten.

    Besonders amüsierte es die Kids, wenn das Äffchen von der Schulter seines Herrchens sprang, um die Päckchen mit den Münzen vom Boden aufzusammeln und ihm zu bringen. Und der kleine W. konnte sich daran nicht satt sehen. Lief dem Leierkastenmann versonnen noch über einige angrenzende Hinterhöfe nach…

    Und wie ist das heute, zu Beginn der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts? Da gibt es doch auch in Deutschland wieder arme Leute, wenn auch weniger viele und weniger arme, als in den Jahren der Weltkriege, der Inflation und der Massenarbeitslosigkeit. Sicher würden einige dieser neuen Armen auch gern mal Geld zum Fenster hinauswerfen, wenn es noch Leierkastenmänner gäbe, die sich der Mühe unterzögen, beispielsweise vor den Plattenbauten in Marzahn, Hellersdorf oder Lichtenberg ihre Leier zu drehen oder am Wedding und in Kreuzberg. Da ließe sich sogar eine neue Klientel für Leierkastenmänner erschließen, multikulti gewissermaßen.

    Ein wenig schade ist es schon, dass der Leierkasten und die noble Geste des „Geld zum Fenster Hinauswerfens" so gut wie aus der Mode gekommen sind.

    Was war sonst noch in der Hochstädter Straße 19 los, was hat man ihm erzählt, an was kann er sich selbst erinnern? Ja doch, an die Müllkästen!

    Auf der anderen Seite des gepflasterten, kahlen Hofes, der Brandmauer gegenüber, standen zwei Müllkästen, zu denen es die Kinder immer wieder hinzog. Sie schauten rein, nahmen auch mal etwas raus und spielten unbesonnen damit, solange, bis Ihnen eine der Hausfrauen vom Fenster aus zurief: „Lasst das, geht weg da!"

    Wem kommt da nicht jene traurig-lustige Zeichnung von Heinrich Zille in den Sinn: Lehnt sich die beleibte Hauswartsfrau aus dem Fenster im Parterre eben eines solchen Hinterhauses und ruft den zwei Kindern, die vor einem einsamen, gelben Blümchen knien, unwirsch zu: „Wollt ihr von die Blume weg, spielt mit‘n Müllkasten!"

    Von einer Hauswartsfrau in der Nummer 19 hat Mutter ihm nichts erzählt, wohl aber vom Hauseigentümer, der im Vorderhaus, 1. Stock, seine großzügige Wohnung hatte. Bei dem mussten die Mieter zum Anfang jeden Monats die Miete für den abgelaufenen entrichten, und zwar persönlich. Als dem Familienoberhaupt, fiel Opa Karl diese undankbare Aufgabe zu. Undankbar war sie deshalb, weil das Geld in der Haushaltskasse oft nicht für die Miete reichte.

    Karl war von Beruf Maurer. Wenn er eine neue Arbeitsstelle gefunden hatte, ging er früh aus dem Haus. Unter dem prüfenden Blick seiner Johanna überquerte er den Hof. Auf dem Rücken trug er einen alten grau-leinenen Rucksack mit Schulterriemen aus abgewetztem, braunem Leder. In diesem war seine Arbeitskleidung verstaut: Weiße Jacke, mörtelbekleckerte, halbhohe Schuhe und Maurerkelle. Oben ragte die Wasserwaage heraus.

    Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, dann mit leerem Rucksack, ohne Arbeitsbekleidung und ohne Werkzeug darin.

    So manches Mal kam er jedoch abends, gelegentlich auch schon mittags, mit vollem Rucksack und Wasserwaage (!) von der Arbeitsstelle zurück. An solchen Tagen sah ihn die feinsinnige Johanna meist schon vom Küchenfenster aus, wenn er den Hof überquerte. Dann wusste sie, dass ihr Karlchen erneut seine Arbeit verloren hatte. Sie schluckte wohl und weinte vielleicht auch. Wenn sie ihm aber auf sein Klingeln hin die Tür öffnete, hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie nahm seine Hand, zog ihn aus dem Treppenhaus in die Wohnung, schloss die Wohnungstür und ging ihm voraus in die Küche. Dort setzten sich die beiden an den mit Wachstuch bedeckten Küchentisch. Er sagte nichts, sie auch nicht. Es war nichts zu sagen…

    Passierte das mehr als einmal im Monat, reichte das Geld nicht, um die Miete pünktlich per Ultimo beim Hauseigentümer zu entrichten. Dann stand Karl mit leeren Händen vor dessen Tür und brachte eine Entschuldigung vor, so gut er eben konnte.

    Und wie reagierte der Hauseigentümer darauf? Nicht wie W. das nach bestandenem Grundschulfach „Gesellschaftskunde" von einem Bourgeois eigentlich erwartet hätte, nämlich mit Kündigung und Rausschmiss. Im Gegenteil. Dieser Bourgeois soll sinngemäß gesagt haben:

    „Nun machen Sie sich mal keine Sorgen, Herr Meißner, ich weiß, dass Sie ein ordentlicher und fleißiger Mensch sind. Wenn Sie wieder Arbeit haben, werden sie die fällige Miete gewiss nachzahlen."

    In der Wohnung des Hausbesitzers, in einem der Zimmer zum Hof hin, befand sich standesgemäß ein Klavier. Auf dem spielte die Tochter des Hauses gern und oft. Bei geöffneten Fenstern hörte man sie vom Hof und vom Hinterhaus gut; besonders gut von der schräg gegenüberliegenden Wohnung der Großeltern.

    Mutter war sehr musikalisch. Sie hatte sich zu dieser Zeit, etwa mit sechzehn Jahren, schon auf der Gitarre versucht und sang auch gern. Vermutlich beeindruckte sie das Klavierspiel der etwa Gleichaltrigen aus dem Vorderhaus.

    Die Mädchen kannten sich vom Sehen und grüßten sich. Mag sein, dass sie sich einmal im Hausflur begegneten und, über den Gruß hinaus, ein paar Worte miteinander wechselten. Vielleicht sprach Gretel ihr Gegenüber bei dieser Gelegenheit auf das Klavierspiel an. Vielleicht. Spekulation. Aber das Folgende stammt wieder aus gesicherter Quelle:

    Die junge Tochter des Eigentümers aus dem Vorderhaus, lud, ganz wie selbstverständlich, das Mädchen aus dem Hinterhaus zu sich ein, um sich mit ihm in Ruhe unterhalten zu können, wie sie gesagt haben soll, und um vielleicht auch einmal mit ihm zusammen zu musizieren.

    Musik verbindet Menschen.

    Gretel folgte bald der Einladung. Es blieb nicht bei dem einen Mal und beide, jeweils aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen stammend, wurden Freundinnen.

    Und ähnlich wie der Hauseigentümer, wenn das Geld der Großeltern mal wieder nicht reichte, reagierte der Besitzer des Lebensmittelgeschäftes in der Hochstädter Straße, schräg gegenüber der Nummer 19. Als Großmutter Johanna bei einem Einkauf mal wieder nicht genug Geld hatte, um wenigstens das Existenzielle für die große Familie einkaufen zu können, wie der Kaufmann wohl bemerkte, soll er unaufgefordert Brot, Butter und Gemüse in ihren Einkaufskorb gelegt und zu der verlegenen und abwehrenden Johanna gesagt haben:

    „Nu machen se sich doch ma keen Kopp, verehrte Frau Johanna, ik kenn se ja nu schon seit Jahren als ehrbare Frau und schreibe jerne ma wieda an. Auch soll er nie vergessen haben, ihr noch ein paar Bonbons „für die drei süßen Mädchen in den Korb zu packen.

    Sowohl das Verhältnis zwischen Hausbesitzer und Ladenbesitzer auf der einen und den armen Schluckern im Kiez auf der anderen Seite, sowie das zwischen den einfachen Leuten untereinander, erzählten sowohl Gretel, als auch Elli bei mehreren Gelegenheiten, war herzlich und solidarisch. Jeder kannte dort jeden, man grüßte sich nicht nur, man hielt auch mal einen Schwatz miteinander ab und half einander - ganz wichtig in schweren Zeiten. Man war aufeinander angewiesen.

    Das scheint allen gesicherten Erkenntnissen und Gesetzmäßigkeiten über die Unversöhnlichkeit von Bourgeoisie und Arbeiterklasse, Ausbeutern und Ausgebeuteten zu widersprechen. Nun, vielleicht herrschte im Berliner Wedding zu jener Zeit der Ausnahmezustand. Vielleicht war der Klassenkampf dort auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.

    Die Großeltern, Oma Johanna und Opa Karl, kann er sich ohnehin nur schwer als Klassenkämpfer vorstellen, so sanft, genügsam und zurückhaltend, wie die beiden waren. Aber: Die Mutter schrieb ihm im Juni 1962, nach dem Tode ihres Vaters, zu dessen Beerdigung man sie nicht fahren ließ, „ja, sie sind immer hinter der roten Fahne marschiert." Wie es sich eben für Proletarier vom roten Wedding gehörte!

    Wir sind schon wieder von der Kindheit des Jungen abgekommen, haben aber dafür seine proletarische Herkunft ein wenig beleuchtet. Überspringen wir das Kriegsende und die zwei darauffolgenden Jahre.

    Es gibt ein Buch mit Bildern, Fotos und Zeichnungen aus seiner Kindheit. Das hat einen hübschen Einband aus grobem, grau-gelbem Leinen und trägt den Titel „Unser Kind" in großen roten Lettern vorn auf dem Einband.

    Eines der Fotos darin ist mit „Im Winter 1947" untertitelt. Es zeigt einen kleinen Buben in einem Wintermäntelchen aus dunklem Stoff, an den Füßen trägt er grau-schwarze Filzschuhe. Oben rechts hat ihm die Mutti eine Spange an das Mäntelchen geheftet, an der ein kleiner Holländerschuh und ein Kasperle aus bunt bemaltem Holz an einem Bindfaden baumeln.

    Unter der Kapuze des Mantels schaut ein blonder Pony hervor. Der Gesichtsausdruck des Buben ist ernst. Das Foto ist größer als 6x6, der Hintergrund neutral; es wurde vermutlich nicht vom Vater, sondern von einem Fotografen aufgenommen.

    Ein anderes Foto im gleichen Format zeigt ihn mit lachender Mutter und lächelnder Tante; sein Gesichtsausdruck ist auch auf diesem Foto ernst. „Spatzl, mehr lachen!", steht in Vaters Handschrift unter dem Foto.

    Die folgenden Ansichten vermitteln den Eindruck einer glücklichen Familie. Auf einem von ihnen ist der Sechsjährige zu sehen, wie er mit leuchtenden Augen unter einem mit brennenden Kerzen, Lametta und Ringen aus Zucker geschmücktem Weihnachtsbaum steht. Gerade streckt er verlangend die Hand nach einem der Zuckerringe aus, die am Baum hängen. Prompt lautet die Bildunterschrift des Vaters „Das Zucker‘l möcht ich haben!" Am unteren Seitenrand kann man lesen: „Weihnachten bei Tante Elli und Onkel Paul 1947".

    Auch noch später, bis ins jugendliche Alter hinein, waren es diese Beiden, die ihn immer mal der gestressten Mutter für einige Tage abnahmen, ihn sinnvoll beschäftigten, ihm in der Kindheit viele kleine, in der Jugend auch größere Wünsche erfüllten.

    Ein Bild aus der gleichen Serie zeigt Vater, Mutter und Sohn eng aneinander geschmiegt vor dem mit brennenden Kerzen und Lametta geschmückten Baum; noch sind sie augenscheinlich eine glückliche Familie.

    Die letzten, mit Vaters Texten versehen Fotos des Albums sind datiert vom Winter 1948. Sie zeigen den Buben einmal mit einem hölzernen Roller auf einem winterlichen Waldweg, ein andermal im Geäst einer kahlen Birke sitzend und schließlich vor dieser Birke, auf dem Arm der knienden Mutter. „Draußen ist‘s schön!" lautet des Fotografen Kommentar dazu.

    Dann folgen im Band „Unser Kind" nur noch leere Seiten…

    Eine unrühmliche Schulzeit

    Nur Flausen im Kopf

    Im August des Jahres 1948 verunglückte der Vater des Jungen auf Bergfahrt in der Sächsischen Schweiz tödlich. Einen Monat später wurde Winfried eingeschult, in Potsdam, wo die Mutter zu jener Zeit einen Lehrgang besuchte, der aus ihr eine „Volksrichterin" machen sollte.

    Mangels Fotos lässt sich die Frage leider nicht beantworten, ob er noch mit Kreidetafel und Griffel im Schulranzen sowie einem daran an einer Strippe herabbaumelnden Schwamm antrat, oder schon mit Papier und Bleistiften ausgestattet war. In dem vom Vater geführten Album „Unser Kind", hören Einträge und Fotos abrupt auf.

    Wohl im Herbst des darauffolgenden Jahres zog die Mutter, nach dem unvermeidlich gewordenen Abbruch ihrer Ausbildung zur Richterin, mit ihrem Jungen nach Buchholz, an den östlichen Rand Berlins. Dort hatte ihr ein Jugendfreund, nunmehr Leiter eines Kinderheimes, eine Stelle als Erzieherin angeboten. In der sowjetischen Besatzungszone, ab Oktober machte sich zu jener Zeit Aufbruchsstimmung breit. Verhaltener Optimismus trat zunehmend an die Stelle der Nachkriegsdepression.

    Folgerichtig trug das Kinderheim den Namen „Pavel Kortschagin, des Helden aus dem damals sehr populären Erziehungsroman des sowjetischen Schriftstellers Nikolai Ostrowski, mit dem Titel „Wie der Stahl gehärtet wurde. Der Roman basiert auf der Lebensgeschichte des Autors. Wie dieser kämpft Kortschagin im Zweiten Weltkrieg in den Reihen der Roten Armee, ist aktives Mitglied des Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation der UdSSR und, danach, der Kommunistischen Partei. Er erblindet zum Ende des Romans hin und ist fortan ans Bett gefesselt. Trotz schwerer Schicksalsschläge bleibt er bis zu seinem Lebensende voller Zuversicht und Kampfesmut, heißt es in einer Rezension zu diesem Roman.

    Dessen Inhalt mutet ein wenig heroisch und propagandistisch an und war selbst zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht unumstritten. Sprichwörtlich geworden ist die Textstelle mit dem Rückblick des Helden auf sein Leben

    „Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und er muss es so nützen, daß ihn sinnlos verbrachte Jahre nicht qualvoll gereuen, die Schande einer kleinlichen, inhaltslosen Vergangenheit ihn nicht bedrückt und daß er sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft habe ich dem Herrlichsten in der Welt – dem Kampf für die Befreiung der Menschheit – geweiht. Und er muß sich beeilen, zu leben. Denn eine dumme Krankheit oder irgendein tragischer Zufall kann dem Leben jäh ein Ende setzen."

    Kaum jemand in der jungen, im Jahre 1949 gegründeten DDR, der lesen konnte, kam an diesem Roman vorbei, einige Jahre nach dessen Erscheinen auch W. nicht. Das Schicksal Pavels fesselte ihn, obiges Zitat kannte er irgendwann auswendig. (Heute hegt er allerdings den Verdacht, das Zitat nicht ganz freiwillig auswendig gelernt zu haben. Der Roman gehörte in den frühen fünfziger Jahren zur Pflichtliteratur der Achtklässler.)

    Mutter nahm die Stelle als Erzieherin im Kinderheim an. Sie konnte mit Kindern umgehen, auch mit schwierigen, auch mit Vollwaisen, von denen es seinerzeit viele gab. Ihr Sohn besuchte zwischenzeitlich bereits die zweite Klasse und nach der Schule den Schulhort. Hier setzen seine Erinnerungen ein:

    Zunächst einmal erinnert er sich daran, in den Pausen zwischen Schule und Hort mit Schulfreunden heftig geraucht zu haben, richtige Zigaretten, wie Turf und Real. Ein gängiger Spruch zu der letztgenannten Zigarettensorte aus grobkrümligem Tabak lautete wie folgt:

    „Seht Ihr die Gräber dort im Tal? Das sind die Raucher von Real!"

    Natürlich taten sie nur groß, pafften mit gewichtigen Mienen das scheußliche Kraut und konnten dabei nur schwer das Husten unterdrücken. Woher sie das Geld für die Zigaretten hatten? Vergessen. Seines stammte hoffentlich nicht aus Mutters Haushaltskasse, einer Blechdose, die versteckt im oberen Regal des Küchenschrankes stand…

    Auch sein Meerschweinchen „Mucki" fällt ihm im Rückblick ein. Es war ja so süß: Nicht wie die Mehrzahl seiner Artgenossen, mit rattenähnlichem Kopf und glattem, schwach rötlich-weißem Fell. Nein, Mucki war kräftig rot-braunweiß gescheckt, mit allerliebsten Strudeln im dichten, vom Körper abstehenden Fell und hatte einen hübschen runden Kopf und weiße Zähnchen. Und Quieken konnte Mucki, wenn Herrchen sich ihm mit einer Mohrrübe in der Hand näherte! Ob dieses selten schöne Exemplar bei einem der Ausgänge vor die Haustür ausbüchste, ob es überfahren wurde oder in seinem Käfig in der Küche der Wohnung eines natürlichen Todes gestorben ist, ist nicht gewiss. Jedenfalls bewahrt er dem Tier ein treues Andenken.

    Und dann war da noch das Trittbrettfahren:

    Die Straßenbahn der Linie 49 endete an der Ecke Hauptstraße - Bucher Straße, direkt gegenüber dem freistehenden Wohnhaus, in dem die Mutter und Sohn wohnten. Das grässliche Quietschen der Straßenbahnen, die dort ihre Wendeschleife fuhren, würde man heute als mietmindernden Grund geltend machen. Sie verlangsamten dabei ihre Fahrt soweit, dass man mit einigem Anlauf am Anfang der Schleife gut auf das Trittbrett des hinteren Wagens springen konnte und an deren Ende wieder herunter. Das taten er und seine Freunde gern, sehr zum Verdruss von Fahrer und Schaffner.

    (Wenn später von „Trittbrettfahrern" die Rede war, erinnerte er sich mit Vergnügen daran, dass er auch einmal einer war, aber immer wieder rechtzeitig abgesprungen ist.)

    Über die Schulzeit des vaterlosen Jungen gab es aus Sicht der Lehrer wenig Lobenswertes zu vermelden. Im Zeugnis der Klasse 1b der Eisenhart-Schule in Potsdam aus dem Jahre 1949 heißt es:

    „Winfried ist ein stiller, zurückhaltender Junge. Die rege Teilnahme am Unterricht fehlt oft. Winfried wird versetzt."

    Das kann man mit einigem Wohlwollen noch positiv interpretieren: uninteressiert ja, aber kein hoffnungsloser Fall!

    Die Abschlusszeugnisse der folgenden Klassen lassen keinen Interpretationsspielraum mehr. Sie sind einfach miserabel. Er schämt sich ihrer heute ein wenig, kommt aber der Ehrlichkeit halber nicht umhin, davon einen Eindruck zu vermitteln.

    Im Zeugnis der 5b, ausgefertigt an der Grundschule in Berlin Treptow, heisst es:

    „Das Betragen läßt viel zu wünschen übrig. W. muß dauernd im Unterricht ermahnt werden, aber alle Ermahnungen nützen nichts. W. ist unaufmerksam, beschäftigt sich stets mit anderen Dingen und kann deshalb dem Unterricht nicht folgen."

    Leider war das kein Ausrutscher, wie die Beurteilung zum Abschluss der 6b an der gleichen Schule in Treptow belegt:

    „W. stört den Unterricht durch sein dauerndes Schwatzen, auch hat er immer Gegenreden. W. paßt nicht auf und beschäftigt sich mit anderen Dingen, so daß er dem Unterricht nicht folgen kann."

    Die Zensuren und Beurteilungen der beiden letzten Klasse der Grundschule, der siebten und achten, sind auch nicht gerade schmeichelhaft, aber nicht mehr ganz so vernichtend. Ein Schulwechsel, von Treptow nach Lichtenberg und der damit verbundene Lehrerwechsel haben eine bescheidene Verbesserung seiner schulischen Leistungen bewirkt.

    Fazit: W. war faul, am Unterricht nicht interessiert und hatte stets Flausen im Kopf. Fragt sich, was ihn denn damals interessierte und womit er sich hauptsächlich beschäftigte, wenn nicht mit der Schule?

    Für wenige Jahre wohnten die Mutter und ihr Sohn in Berlin-Lichtenberg, an der Grenze zum Stadtbezirk Marzahn. Mächtig spannend war es für ihn, mit Schulkameraden dort auf den Rieselfeldern, zum Ende der Landsberger Allee hin, nach Munition aus dem Zweiten Weltkrieg zu suchen. Davon konnte man in den frühen fünfziger Jahren noch viel finden. Die Schüler spezialisierten sich auf Gewehrpatronen. Munition größerer Kaliber ließen sie, klug wie sie waren, liegen.

    Zu Hause konnte man mit Hilfe von zwei Zangen einigermaßen gut das Geschoss aus der Hülse brechen und die kleinen, rechteckigen, matt-silbernen Plättchen des Pulvers in ein Gefäß schütten. Aber was kann ein Schuljunge Sinnvolles damit anfangen? Sinnvolles eher nicht, wohl aber absolut Dummes:

    Die Ausbeute an jenem Tag war mager. W. hatte nur sechs bis sieben Gewehrpatronen von den Rieselfeldern mit nach Hause gebracht. Dort entfernte er die Geschosse und leerte den Inhalt der Hülsen in eine flache Dose aus Kunststoff. Diese stellte er auf das massive eichene Buffet in der Wohnstube, Mutters Anschaffung für ihre erste eigene Wohnung, eine „Loft" in der Liebenwalder Straße. Es war das einzige ohne größeren Schaden über den Krieg gerettete Möbelstück ihrer Ausstattung.

    Winfried sah auf die grauen Plättchen und fragte sich, ob die wohl brennen würden. Eine dämliche Frage, wie er wohl selbst ahnte. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, ein Streichholz zu entzünden, es auszupusten und das noch glimmende Ende in die Dose zu halten.

    Das Pulver brannte nicht. Für den Bruchteil einer Sekunde, vielleicht eine ganze Sekunde lang, geschah nichts. Er stand da, über die Dose gebeugt: Wuffffff!!!, da schoss die Stichflamme hoch und die Dose durchs Zimmer.

    Der funkelnde Unsinn! W. zuckte erschrocken zurück. Es roch nach Pulver und verbranntem Haar, seinem. Ein tüchtiges Stück vom Stirnhaar und beide Augenbrauen hatte es ihm abgesengt. Was er jedoch als Erstes wahrnahm, waren die schwarzen Punkte, die sich kreisförmig um die Stelle ausbreiteten, auf der die Dose gestanden hatte.

    „Um Gotteswillen, Mutters Buffet!" kam ihm als erstes in den Sinn. Er besah sich den Schaden gründlich, holte dann ein spitzes Messer aus der Küche und begann damit die Brandpünktchen auf

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