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Der alte Magier: Königreich Logorien
Der alte Magier: Königreich Logorien
Der alte Magier: Königreich Logorien
eBook859 Seiten11 Stunden

Der alte Magier: Königreich Logorien

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Über dieses E-Book

Alihadzi, seines Zeichens Erster Magier des Großfürstentums Xandoria, steht vor einem großen Problem: Ogger, gefährliche, krokodilähnliche Kreaturen, die seit den Oggerkriegen längst vergessener Zeiten in abgelegenen Sumpfgebieten des Landes eingepfercht sind, drohen aus ihren Gefängnissen auszubrechen - die magischen Schutzbarrieren um die Sümpfe werden schwächer. Eine Katastrophe für die Menschheit bahnt sich an. Während der alte Magier Alihadzi händeringend nach Lösungen sucht, fällt sein Freund und Gebieter, Großfürst Karim, einem Putsch zum Opfer und wartet im Verlies seiner Festung auf seine Hinrichtung. Doch Alihadzi sind die Hände gebunden, er muss unverzüglich fliehen.
Fernab, im Königreich Logorien, bringt das Schicksal vier Jugendliche zusammen, die unter Einsatz ihres Lebens dem alten Magier Alihadzi bei seiner gefährlichen Mission beistehen...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Sept. 2015
ISBN9783732358106
Der alte Magier: Königreich Logorien

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    Buchvorschau

    Der alte Magier - Jürgen Schaaf

    Fang

    Er kniete auf einem alten, abgewetzten Holzstuhl, die Ellenbogen auf das schmale Fensterbrett gestützt, und starrte hinaus in die dunkle Nacht. Sie war nicht sternenklar, wie die vielen Nächte zuvor. Nur die hellsten Sterne hatten noch eine geringe Chance, durch die vom Wind zerrissenen Dunstschleier gesehen zu werden. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die aufziehenden Wolken das schwache, silbrige Licht der noch sichtbaren Sterne restlos verschluckt haben würden. David hätte wegen des drohenden Wetterumschwungs beunruhigt sein müssen, doch er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Er hatte sich geärgert, war enttäuscht, in seinem Stolz tief verletzt. Seine Eltern hatten ihn unter fadenscheinigen Gründen zurückgelassen. Es war das erste Mal, seit er seine Eltern auf den nächtlichen Fischfängen begleiten durfte, dass er in ihrer bescheidenen Holzhütte zurückbleiben musste. Es fühlte sich an wie eine Bestrafung. Aber wofür? War er sich doch keiner Schuld bewusst. Warum nur? Warum hatten sich seine Eltern vor dem Auslaufen so merkwürdig, so abweisend verhalten, fragte er sich. Sie waren seit Jahren ein eingeschworenes Team, aber jetzt fühlte er sich ausgeschlossen und alleine. Je länger er darüber grübelte, desto weniger verstand er die Absicht seiner Eltern. Ja, er würde sie nach ihrer Heimkehr nach dem Grund ihrer Zurückweisung fragen. Nachdenklich sah er durch die trübe Glasscheibe des kleinen Fensters hinunter zum Ufer des Unendlichen Meeres, wo er bald die Ankunft seiner Eltern mit dem großen, hölzernen Boot erwartete. Der alte Stuhl knarrte, als er sein Gewicht von einem Knie auf das andere verlagerte.

    Er konnte sich noch gut an die Nacht erinnern, in der er zum ersten Mal in seinem Leben mit seinen Eltern zum nächtlichen Fischfang auf das offene Meer rudern durfte. Mehr als fünf Jahre war es her, doch die Erinnerung würde wohl nie verblassen. Es war an seinem zwölften Geburtstag…

    David hatte diesem besonderen Tag voller Ungeduld entgegengefiebert. Nein, nicht dass ihn der Geburtstagskuchen oder die kleinen Aufmerksamkeiten besonders interessiert hätten. Er träumte schon lange davon , mit seinen Eltern auf nächtlichen Fischfang zu gehen. Und an diesem Geburtstag sollte es der erste Fang in seinem jungen Leben werden.

    „Los, David, pack mal mit an!" In seiner Erinnerung klangen die Worte seines Vaters so klar und deutlich, als wäre es erst gestern gewesen. Mit vereinten Kräften hatten sie das Boot über den knirschenden Kies ins Wasser gezogen. Seine Mutter war stolz auf ihn gewesen. Mit dem Gezeitenwechsel, kurz nach der Abenddämmerung, brachte sie die ablandige Strömung mit ihrem kleinen Boot zu den Fanggründen weit draußen auf dem Meer, ohne dass sein Vater sich an den Rudern kräftezehrend verausgaben musste. Es herrschte absolute Windstille und das Meer gab sich ruhig. Dunkelheit brach herein und am wolkenlosen Himmel schimmerten und glitzerten immer mehr Sterne. Der Mond stand tief am Himmel, zunehmend, aber noch nicht ganz voll. Sein silbriges Licht spiegelte sich leicht verzerrt im Wasser, das in der Nacht schwarz wie Tinte wirkte. David saß dicht vor seiner Mutter, eingehüllt in einer kuscheligen Wolldecke, und lehnte sich an sie zurück, genoss ihre Wärme und ihre Nähe. Seine Mutter wiegte ihn sanft und sang leise Lieder in einer längst vergessenen Sprache. Vater bediente langsam und gleichmäßig die Ruder und beobachtete dabei das Leuchtfeuer am Ufer, das unaufhaltsam zu schrumpfen schien. Erst als er sich sicher war, weit genug von der Küste entfernt zu sein, zog er die Ruder ein und legte sie sorgfältig ins Boot. Ruhig und besonnen warf er das Netz aus, ließ es in die Tiefe sinken und beobachtete das Tau, mit dem das Netz am Boot befestigt war, bis es sich leicht straffte. In seiner Erinnerung sah David seinen Vater das schwere Kappmesser in die Hand nehmen, um bereit zu sein, jederzeit das Tau zu durchtrennen, sollte sich irgendein größeres Tiefseewesen im Netz verheddern oder sogar mit Absicht versuchen wollen, das Boot mit dem Netz in die Tiefe zu ziehen. Schon wenige Augenblicken später zeigte sich die Wasseroberfläche wieder ruhig und der auf dem Wasser gespiegelte Mond hatte seine verzerrten Konturen schon fast wieder verloren. Nach dem Auslegen des Netzes begann die Zeit des Wartens. Vater erklärte ihm die wichtigsten Sternbilder am Himmel, die er zur Orientierung auf dem Meer nutzen konnte: Der Fisch, der Igel, das Krokodil mit dem langen, gebogenen Schwanz, die Muschel, das Seepferd. „Warum heißt das Meer eigentlich Endloses Meer?, hatte David damals wissen wollen, doch es war das erste Mal, dass er von seinen Eltern keine befriedigende Antwort bekam. Das Meer trage schon immer diesen Namen, meinten sie, wahrscheinlich weil es noch keinem bislang gelungen war, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Alle bisherigen Versuche waren gescheitert und die wenigen Überlebenden, die nach Abbruch ihrer Expedition die Rückkehr geschafft hatten, brabbelten von riesigen Bestien, die im tiefen Wasser auf Boote und Schiffe lauerten, mit Fangarmen so groß und gewaltig, dass ein Tentakel genüge, um ein ganzes Boot zu umfassen und in die Tiefe zu ziehen. Man glaubte, dass die Herrscher der Meere, wie man diese Ungeheuer gerne nannte, einen Ausgleich forderten für das Leben, das ihnen aus dem Meer entrissen wurde. Dieser Glaube hatte sich tief in die Herzen der Fischer gebrannt und keiner hätte es je gewagt, auch nur eine Meile weiter auf das offene Meer zu rudern, als es für die Fischerei unbedingt nötig gewesen war.

    David war glücklich in jener Nacht. Er genoss die erste Ausfahrt auf das Meer, das Gefühl der Geborgenheit in den Armen seiner Mutter und die lehrreichen Gespräche mit seinem Vater. Es war das erste große Abenteuer für ihn, aber er verspürte keine Angst, denn er hegte unendliches Vertrauen in die langjährige Erfahrung seiner Eltern. In der Zeit des Wartens gaben sie sich in ihrem kleinen Boot der Ruhe hin bis der Zeitpunkt gekommen war, das Netz wieder einzuziehen. David betrachtete verträumt den Himmel mit den vielen ihm noch unbekannten Sternbildern. Er träumte davon, seine Eltern ab dieser Nacht bei jedem Fang begleiten zu dürfen und das Fischereihandwerk so gut zu erlernen, dass Vater und Mutter stolz auf ihn sein konnten. Doch dann wurde David jäh aus seinen friedlichen Gedanken gerissen, als seine Mutter erschrocken hochfuhr und David fest an sich drückte.

    „Mama, was ist denn los?"

    „Sei ganz ruhig und hab’ keine Angst, flüsterte seine Mutter ihm ins Ohr. „Es wird uns schon nichts passieren! Sie strich ihm eine widerspenstige Locke seines blonden Haares aus der Stirn. Und dann sah er es auch! Wo eben noch eine spiegelglatte Oberfläche war, kräuselte sich das Wasser an mehreren Stellen rings um das kleine Boot. Und langsam tauchten sie auf, Rückenflossen, riesige Rückenflossen, hellgrau im fahlen Mondlicht schimmernd. Haie! Drei Haie umkreisten langsam und bedrohlich, sich ihrer Beute sicher, das kleine Fischerboot. David hatte mächtige Angst bei dem Anblick der riesigen Bestien, die sich bis auf drei Armlängen geräuschlos dem Boot genähert hatten. Vater hielt das Kappmesser so fest im Griff, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Nach einigen endlos erscheinenden Minuten verschwanden die hungrigen Bestien wieder hinunter in die schwarze, unheimliche Tiefe und Vater atmete geräuschvoll aus. Er musste lange den Atem angehalten haben, dachte David. Sein eigenes Herz klopfte noch immer wild und sein Atem ging schnell, doch Mutter drückte ihn an sich, beruhigte ihn und wiegte ihn leise singend in den Schlaf.

    Einige Stunden später wurde er von seiner Mutter sanft geweckt, weil jede Hand gebraucht wurde, um das Netz in das Boot zu ziehen. Doch der Fang war enttäuschend, reichte kaum für den Eigenbedarf. In den nächsten Nächten würden sie noch weiter hinaus auf das offene Meer rudern müssen…

    Mehr als fünf Jahre waren seit diesem einschneidenden Erlebnis vergangen, Jahre, die ihn verändert hatten. Er war nicht mehr der kleine, schmächtige Junge von damals. Die unzähligen Stunden an den Rudern und Netzen hatten seinen schlanken Körper gestählt. An Körpergröße übertraf David seinen Vater um fast einen Zoll, zählte aber dennoch nicht zu den Großen der Gemeinde. In diesen vergangenen Jahren hatten sie viel erlebt, doch Davids erste Nacht auf dem Meer, sein erster Fang, das war etwas ganz Besonderes in seinem Leben, etwas, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, woran er sich bis zum Ende seiner Tage würde erinnern können.

    Ein lautes Krachen riss ihn aus seinen Gedanken, als ein Windstoß den Laden eines Fensters heftig zuschlug. Erschrocken sah er hinaus. Keinen einzigen Stern konnte er am nächtlichen Himmel entdecken. Der Wind hatte zwischenzeitlich eine dichte Wolkendecke vor die vielen Sternbilder geschoben. Irgendwo, in weiter Ferne, zuckte ein Blitz am Himmel. Am Ufer flackerten die Leuchtfeuer, die den Fischern draußen auf dem Meer zur Orientierung dienen sollten. Doch David wusste aus eigener Erfahrung, dass bereits leichter Seegang den Blickkontakt zu den Leuchtfeuern am Ufer durch die ständigen Wellenbewegungen immer wieder unterbrach und die Orientierung fast unmöglich machte. Er hatte es in den letzten Jahren selbst erlebt. Wenn plötzlich und unerwartet das Wetter umschlug, stürmischer Wind das Wasser aufpeitschte und das Boot wie eine kleine Walnussschale auf Wellenbergen ritt, um im nächsten Moment wieder in Wellentälern zu verschwinden, wenn die ölgetränkten Umhänge mit ihren angenähten Kapuzen dem Spritzwasser nicht lange Einhalt gebieten konnten und man binnen kürzester Zeit das eisige Wasser an jeder Stelle seiner Haut spürte, wenn das Einholen der Netze in dem kleinen, schaukelnden Boot zu einem lebensgefährlichen Unterfangen wurde, wenn man stundenlang verzweifelt und bis zur Erschöpfung zurück zur Küste ruderte und unentwegt das eingedrungene Wasser aus dem Boot heraus schöpfte, wenn beim Näherkommen der Leuchtfeuer die Angst der Hoffnung wich, und wenn man endlich beim Anlanden den Ruck und das ersehnte Knirschen von Kies unter dem Bug verspürte. War heute Nacht wieder einer dieser heftigen, gefahrvollen Wetterumschwünge? David machte sich jetzt ernsthafte Sorgen um seine Eltern. War das vielleicht der Grund, dass er zu Hause bleiben sollte? Hatten sie das Unwetter bereits geahnt? David nickte unmerklich mit dem Kopf, als ihm die Erkenntnis kam. Ja, seine Eltern mussten wohl gewusst haben, wie riskant die heutige Nacht werden würde, wollten ihn im sicheren Schutz der Hütte wähnen. Ja, jetzt verstand er. Sie hatten ihn nicht zurückgewiesen, wie er befürchtete, sondern ihre Liebe und Fürsorge hatten sie veranlasst, ihn in der Sicherheit der kleinen Hütte zurückzulassen. Er schämte sich seiner zornigen und zweifelnden Gedanken. Hoffentlich ist ihnen nicht passiert, ging es ihm durch den Kopf. Hilflos starrte er aus dem kleinen Fenster in die stürmische Dunkelheit, während eine kleine Träne ihren Weg über seine Wange suchte. Immer wieder erleuchtete ein ferner Blitz den nächtlichen Himmel für einen kurzen Augenblick, bevor sich das tiefe Grollen des Donners durch die heftigen Windgeräusche Gehör verschaffte. Das Holz der kleinen Fischerhütte knarrte und ächzte, wenn der Wind unaufhörlich an ihr rüttelte und zerrte. Warum mussten sie auch bei jedem Wetter auf Fang gehen, fragte er sich. Aber was blieb ihnen sonst übrig?

    Sie lebten in einem kleinen Fischerdorf am Rande des Unendlichen Meeres. Der Legende nach sollen die ersten Siedler dieser Gemeinde eine alte, halb verfallene Holzhütte entdeckt haben, in der sie die Gebeine eines Menschen auf dem grob gezimmerten Bettgestell fanden. Einer der Siedler, der des Schreibens und Lesens kundig war, wollte auf dem zerkratzten Holztisch Buchstaben erkannt haben, die zusammen das Wort Simon ergaben. So gaben sie dem Toten den Namen Simon und begruben seine bleichen Knochen. Zu Ehren des ersten Siedlers an diesem Ort nannten sie ihre kleine Ansammlung von Hütten Simonshütte. Aus dem ursprünglichen Simonshütte erwuchs über viele Generationen hinweg eine Zweihundert-Seelen Gemeinde, die ausschließlich vom Fischfang lebte, von dem ein Großteil gegen Obst, Getreide und Gemüse benachbarter Orte im Landesinneren eingetauscht wurde. Doch der Handel wurde zusehends schwieriger, da sich die Preise für Getreide Jahr für Jahr erhöhten, aber der ersehnte Fischertrag in gleichem Maße ausblieb. Zudem verlangte das neue Handelsgesetz die Abgabe eines Zehnten an die königliche Kasse, was die Gesamtsituation der Fischergemeinde deutlich verschlechterte. Weil die Fangquote mit jedem Jahr geringer wurde, wagte man sich immer weiter auf das offene Meer hinaus und ging nicht unerhebliche Risiken ein. Man lebte zwar äußerst bescheiden, aber weitestgehend zufrieden, denn die Gemeinde hielt zusammen. Die Alten und Schwachen passten in der Nacht auf die Jüngsten des Dorfes auf. Jeden Abend, wenn es für die Fischer Zeit zum Auslaufen wurde, schwärmten sie zu den Hütten aus, in denen Familien mit kleinen Kindern lebten, um den Kleinsten das Händchen zu halten oder sie in den Schlaf zu wiegen. Den etwas älteren Kindern erzählte man Geschichten oder sang ihnen Lieder vor, so wie es bereits Generationen davor getan hatten. Noch älteren Kindern erlaubte man mit den Alten zu spielen, bis es Zeit für die Nachtruhe war. David erinnerte sich gerne an seine früheste Kindheit, an seine Mama, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablas und ihn mit Fürsorge und Liebe überschüttete, und seinen Vater, der zwar streng, aber nie ungerecht war und ihm oft Geschichten erzählte, wenn sie abends nach dem Nachtmahl noch zusammensaßen, bis sie zu ihrer nächtlichen Bootsfahrt aufbrechen mussten. Gruselige und geheimnisvolle Geschichten von Seeungeheuern, Dämonen und Hexen waren ihm in seiner Kindheit die Liebsten. Und die Phantasie seines Vaters schien unerschöpflich, seine Erzählkunst unübertroffen. Ein kleines Lächeln spielte um seinen Mund, als David an all diese unvergessenen Märchen zurückdachte. Mit seinem abgewetzten Hemdärmel wischte er über seine tränennassen, blauen Augen. Draußen heulte und tobte der Wind unablässig und rüttelte unerbittlich an den Fensterläden. David hatte sie alle sorgfältig verriegelt, bis auf den Laden des kleinen Fensters, vor dem er im Inneren der bescheidenen Hütte auf dem alten Stuhl kniete und in die Nacht hinaus starrte. Seine Knie schmerzten bereits, aber er würde wachen, bis zur Rückkehr seiner Eltern!

    Und das konnte bei diesem Unwetter noch viele Stunden, sogar Tage dauern…

    Entscheidung

    „Platz da! Macht den Weg frei! Macht Platz für den Gefangenen! Aus dem Weg!" Auf dem Stadtplatz herrschte geschäftiges Markttreiben. Zwei berittene Soldaten der Palastgarde schritten langsam darauf zu, einen Gefangenen in Ketten hinter sich her zerrend. Ihnen folgte der königliche Henkersmeister in seinem schwarzen Umhang, die Kapuze tief über das finstere Gesicht gezogen. Mit seinen schwarz behandschuhten Händen trug er das große Henkersbeil wie eine Trophäe vor seiner breiten Brust, stellte es zur Schau, war sich der Wirkung dieses Werkzeugs auf die versammelten Menschen sicher. Hinter ihm schritt würdevoll der Richter in seiner schwarzen Amtstracht. Ein in braunes Leder gebundenes Buch trug er wie eine Kostbarkeit vor seiner Brust. Das Ende bildete eine Einheit der königlichen Garde, die sich rings um den Stadtplatz postierte, während die beiden Berittenen den Gefangenen zur Ostseite des Platzes führten. Dort stiegen sie ab und zerrten den Häftling auf das Podest mit den drei Galgen und dem Richtblock, neben dem bereits der Richter und sein Henker Aufstellung genommen hatten.

    „Ruhe! Bürger von Logorien! Ruhe! Hört den Richterspruch!", rief einer der beiden Soldaten, die den Gefangenen bewachten.

    Ein Raunen ging über den Platz, dann herrschte tiefe Stille. Niemand hatte den Mut, gegen die Anordnungen der Obrigkeit zu verstoßen.

    „Schäfer Jan, Du wirst hier und heute angeklagt, die Abgaben an die Krone unterschlagen zu haben. Gibst Du Dein Vergehen zu?", sprach der Richter so laut und deutlich, dass auch die am Rande des Stadtplatzes Stehenden jedes Wort verstehen konnten. Der Angeklagte winselte um Gnade.

    „Ich frage Dich noch einmal, Schäfer Jan, hast Du die Krone bestohlen?"

    „Nein!, schrie der Gefangene. „Ich habe immer alle Abgaben gezahlt!

    „Nun gut! Wie kommt es dann, dass Deine Rocktasche voller Silber war, aber in unseren Büchern nur eine unbedeutende Abgabezahlung in Kupfer vermerkt ist?"

    „Ich weiß es nicht!, schrie der Angeklagte verzweifelt. „Ich, ich habe noch nie so viel Silber besessen. Irgendjemand muss es mir untergeschoben haben! Bitte, so glaubt mir doch!

    „Hört, Bürger von Logorien! Dieser Angeklagte verbreitet Lügen, um seiner gerechten Strafe zu entgehen. Tatsache ist, dass das Silber bei ihm gefunden wurde. Tatsache ist, dass er zu wenig Abgaben an die Krone geleistet hat. Tatsache ist auch, dass er nicht beweisen kann, dass ihm jemand die Silbermünzen zugesteckt oder gar geliehen hat. Das kann nur eines bedeuten!" Der Richter fügte geschickt eine Redepause ein, ließ seinen Blick langsam über den Stadtplatz schweifen und genoss sichtlich den Anblick der verschreckten Bürger.

    „Schuldig, im Namen des Königs! Der Richter deutete auf den Richtblock und rief in die Menge: „Beide Hände!

    Die beiden Soldaten schleiften den Gefangenen, der um Gnade bettelnd und weinend sich mit aller Kraft zur Wehr setzen versuchte, zum Richtblock, zwangen ihn auf die Knie und drückten ihm beide Arme auf den Block. Der Richter nickte dem Scharfrichter kurz zu.

    „Walte Deines Amtes und vollziehe das Urteil im Namen des Königs!"

    Der schwarz gewandte Henker hob das mächtige Beil, hielt an der höchsten Stelle kurz inne, blickte in die auf dem Platz versammelte Menge, als wolle er sich deren Aufmerksamkeit versichern, schlug dann mit kräftigem Schwung zu und trennte mühelos beide Hände des Verurteilten ab, die in den bereitstehenden Korb fielen. Ein entsetztes Raunen ging durch die Menschenmenge, als das Blut pulsierend aus den Armstümpfen spritzte, während der Verstümmelte vor Schmerzen schrie.

    „Du bist jetzt frei und kannst gehen, Schäfer Jan!", rief der Richter dem Gefangenen zu und schritt wieder würdevoll zurück zum Palasttor, gefolgt von seinem Henker und den Soldaten.

    Tonia war gerade fünfzehn, als sie widerstrebend Zeuge dieser grausamen Urteilsvollstreckung wurde. Die Ordensschwestern des Waisenhauses hatten ihr Silbermünzen in die Hand gedrückt, um ein paar eilige Einkäufe auf dem Markt zu erledigen. Tonia genoss das Vertrauen, das man ihr entgegenbrachte. Wie immer, wenn sie zum Einkaufen geschickt wurde, war sie so aufgeregt, dass sie an alles Erdenkliche dachte, aber nicht mit der Möglichkeit eines öffentlichen Schuldspruches mit sofortiger Vollstreckung des gefällten Urteils am Ostrand des Stadtplatzes rechnete, dort, wo ein blutbefleckter Richtblock und drei Galgen den Anblick des schönen Platzes mit seinem Zierbrunnen im Zentrum und den in kreisenden Mustern verlegten Pflastersteinen verschandelten. Als sie die berittenen Soldaten mit dem gefesselten Gefangenen im Schlepptau gewahr wurde, wollte sie nur weg, schnell weg, weit weg. Sie wollte nicht Zeuge einer Urteilsvollstreckung werden, nicht sehen, wie ein Mensch verstümmelt oder getötet wurde. Doch die Soldaten hatten den Stadtplatz bereits ringsum abgeriegelt, damit alle Bürger, die sich hier zum Einkauf oder Handel eingefunden hatten, gezwungen waren, das blutige Spektakel mit ansehen zu müssen. Die meisten der Versammelten verharrten in regungsloser Starre. Entsetzen spiegelte sich in ihren Gesichtern. Einige der Anwesenden kniffen die Augen zu und hielten siech die Hände vor ihre Ohren, um nicht Zeuge einer Verstümmelung oder Exekution zu werden, um nicht wieder nächtelang unter diesen blutigen, entsetzlichen Albträumen leiden zu müssen. Wieder andere waren schon so abgestumpft von den öffentlichen Urteilsverkündungen, die mit sofortiger Vollstreckung endeten, dass sie teilnahmslos und ohne erkennbare Gefühlsregung ausharrten, bis der Richter mit dem Scharfrichter und den Soldaten wieder zum Palast abzogen. Wurden Verurteilte gehängt, ließ man sie noch ein paar Tage zur Abschreckung an den Galgen baumeln, sofern man nicht schon eher eine freie Schlinge zum Urteilsvollzug benötigte.

    Bisher hatte Tonia sich diesem grausigen Spektakel stets entziehen können. Sie versuchte auch diesmal, sich zwischen den Beinen der Menschen durchzumogeln, doch ein aufmerksamer Soldat am Rande des Platzes hatte sie mit seiner kräftigen Hand blitzschnell am Arm gepackt und hämisch grinsend in die Höhe gehoben.

    „Damit Du besser sehen kannst, Kleine!", hatte er dabei gesagt. Diese Worte hatte sie nie vergessen und auch nicht, wie ihr beim Anblick der blutigen Armstümpfe schlecht wurde und sie sich dem Soldaten auf die Rüstung erbrach. Sie rannte sofort los, so schnell und solange sie konnte, kaum dass der Soldat sie angewidert fallen ließ. Nachdem sie sich halbwegs beruhigt hatte, kehrte sie widerwillig zum Stadtplatz zurück. Sie wollte unbedingt ihre Einkäufe auf dem Markt erledigen, um nicht zu riskieren, dass die Ordensschwestern zukünftig andere Kinder zum Einkaufen schickten.

    Das Waisenhaus war eine Einrichtung des auf mysteriöse Weise verschwundenen Königs Peter II. Sein damaliger Beraterstab hatte ihm zwar dringend davon abgeraten, da dies aus ihrer Sicht ein nicht unerheblicher Kostenfaktor für den königlichen Haushalt darstellte, doch Peter II hatte sich nicht beirren lassen. Er war es leid, elternlose Kinder an den Straßenecken betteln zu sehen oder Kinder, die beim Diebstahl erwischt wurden, ihrer Bestrafung übergeben zu müssen. Und in nicht wenigen Fällen mutierten diese kleinen Bettler und Diebe zu Verbrechern, die auch nicht vor Mord und Totschlag zurückschreckten. Mit der Einrichtung des Waisenhauses erhoffte er sich, dass diese Kinder zu rechtschaffenen Bürgen der Stadt herangezogen werden könnten. Dazu hatte er mit dem Orden der Gnädigen Schwestern eine Abmachung getroffen. Er erwies sich ihrem Orden gegenüber als recht großzügig, versorgte das Waisenhaus mit den nötigen Mitteln und bezahlte die erforderlichen Lebensmittel aus dem königlichen Etat. Im Gegenzug sollten Ordensschwestern für das Waisenhaus abgestellt werden, die sich um die Erziehung, den Unterricht in Grundzügen von Lesen, Schreiben und Rechnen und den gesamten Haushalt kümmerten. Die Abmachung wurde besiegelt. Die Waisenkinder bekamen nicht nur den geforderten Grundunterricht, sondern lernten auch Verantwortung zu übernehmen. So mussten Kinder ab dem sechsten Lebensjahr leichte Küchendienste übernehmen, den Gemeinschaftstisch decken oder das Geschirr abräumen. Mit zunehmendem Alter kamen weitere Dienste hinzu: Mitarbeit in der Küche, beim Spülen, beim Kochen, bei der Pflege der Kräutergärten, sowie Erledigungen von Einkaufsgängen. Auch Arbeiten in der Wäscherei und Putzdienste wurden eingeteilt. Den älteren Mädchen wurden die Kleinsten zur Aufsicht anvertraut. Nicht nur Füttern, Wechseln der Windeln und Baden der Säuglinge wurde ihnen beigebracht, sondern auch das Wiegen und Singen in den Schlaf, das Erzählen von Märchen, das Trösten bei Kummer und vieles mehr. Den älteren Jungen wurde die Verantwortung für Brennholz zum Kochen und Heizen übertragen. Außerdem erledigten sie den anstrengenden Teil der Gartenarbeiten, wurden für kleinere Reparaturaufgaben eingeteilt und waren für die schweißtreibende Pflege der Böden mit den Dielenbrettern aus Eiche zuständig, die regelmäßig gereinigt und mit Hartöl versiegelt werden mussten.

    Seit Gründung des Waisenhauses änderte sich in zunehmendem Maße das Ansehen der dort lebenden Kinder. Ehepaare, denen das Schicksal ihren lang ersehnten Kinderwunsch versagte, trugen den Ordensschwestern ihre Bitte vor, mit einem der verwaisten Kinder eine neue Familie gründen zu wollen. Auch Tonia hatte schon mehrfach die Gelegenheit bekommen, in eine Familie aufgenommen zu werden - und immer wurde sie binnen weniger Tage wieder zurückgebracht. „Zu aufsässig, „zu eigensinnig, „zu stur", das waren nur einige der Begründungen. Obwohl sie sich jedes Mal freute, wenn ein Ehepaar sie als Ziehtochter aufnehmen wollte, so kam doch kurze Zeit später die Ernüchterung, wenn sie gedrängt wurde, ihre langen, braunen Haare zu flechten und mit bunten Schleifchen zu binden, wenn sie bunte Kleidchen anprobieren sollte, wenn ihr richtiges Benehmen am Tisch beigebracht wurde, wenn sie Nachbarn und Freunden wie ein dressierter Affe vorgeführt wurde, dann musste sie handeln, um aus diesen goldenen Käfigen zu entfliehen. Sie stellte sich dann trotzig, aufsässig und stur, bis die entnervten Pflegeeltern sie wieder ins Waisenhaus zurückbrachten. Dafür schämte sie sich, hatte ein schlechtes Gewissen den Ehepaaren gegenüber, die es doch nur gut mit ihr gemeint hatten, aber sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut. Und jedes Mal musste sie Mutter Oberin Rede und Antwort stehen. Es war ihr unangenehm, vor dem großen, dunkelbraunen Schreibtisch zu stehen und ihrem prüfenden Blick standzuhalten. Es schien eine Angewohnheit der Ordensleiterin zu sein, ihre Handflächen aneinanderzulegen und ihr Kinn mit den Fingerspitzen zu stützen, wenn sie nachdachte. Die Haut ihrer Hände war faltig und altersfleckig, doch ihr schmales Gesicht schien deutlich jünger, trotz ihrer weißgrauen Haare, die sie stets streng nach hinten zu einem Knoten frisierte, die aber an ihrer Stirn unter der schwarzen Kopfbedeckung des Ordens noch deutlich erkennbar waren. Tonia hasste dieses Theaterspielen. Lieber blieb sie hier im Waisenhaus, als von übereifrigen Pflegeeltern verwöhnt und verhätschelt zu werden. Aber das durfte und wollte sie nicht offen zugeben. Vor Mutter Oberin heuchelte sie dann, wie leid es ihr tat, dass sie sich so unmöglich bei den Pflegeeltern verhalten hatte und dass sie sich bessern wolle. Und jedes mal sah sie Mutter Oberin lange schweigend aus ihren klaren, blauen Augen an, als wolle sie ihre Absicht durchschauen, als versuche sie, in ihre Gedanken einzudringen. Tonia stand dann dort und mimte die reuige Sünderin, weil sie überzeugt war, dass es von ihr erwartet wurde. Sie wechselte dann von einem Standbein auf das andere, senkte beschämt ihren Kopf, betrachtete den seidigen Schimmer der geölten Eichendielen, die unter ihrer Gewichtsverlagerung leise knarzten, und erwartete einen angemessenen Tadel. Aber nichts dergleichen geschah. Es war fast, als würde Mutter Oberin sie gar nicht bemerken oder einfach durch sie hindurchsehen. Es vergingen oft endlos erscheinende Minuten des Schweigens, und es schien, als würde Mutter Oberin in einem gedanklichen Zwiegespräch nach einer geeigneten Problemlösung oder Bestrafung suchen. Und dann wurde ihr Blick plötzlich weich und die Andeutung eines Lächelns spielte auf ihrem Gesicht. Zumindest kam es Tonia so vor. Mit Worten wie: „Es ist gut, dass Du Deine Fehler einsiehst, Tochter. Arbeite an Dir! Du kannst jetzt gehen!, oder „Du hattest Deine Chance, Tonia. Offensichtlich bist Du nicht willig, diese zu nutzen. Denk’ darüber nach! Geh jetzt!, wurde sie dann entlassen. Tonia konnte es dann kaum erwarten, die Arbeitsstube der Mutter Oberin wieder verlassen zu dürfen. Die dunklen Möbel, die strenge Würde der Ordensleiterin, die vielen in feinem Leder mit goldenen Lettern eingebundenen Bücher, die einen Großteil des wandhohen Bücherschranks an der Seitenwand belegten, Dutzende von Schriftrollen und unzählige alte, abgegriffene, in einfaches Leinen gebundene Bücher, flößten ihr gebührlichen Respekt ein. Da halfen auch nicht die hellen Fenstervorhänge, die dem Raum ein wenig Freundlichkeit verliehen. Wenn sie dann wieder auf dem Gang stand und die Tür der Arbeitsstube endlich hinter sich schließen durfte, musste sie erst einmal durchatmen und sich beruhigen. Und jedes mal fragte sie sich, warum sie sich vor Mutter Oberin fürchtete, obwohl diese sich noch nie ungerecht oder ausfallend ihr gegenüber verhalten hatte. Sie konnte es sich nicht erklären.

    Zu gerne hätte sie ihre leiblichen Eltern kennengelernt, hätte sie sicher sehr lieb gehabt und wäre eine ganz passable Tochter gewesen. Aber niemand konnte ihr mit Gewissheit sagen, ob ihre Eltern noch lebten oder was mit ihnen geschehen sein mochte. Man hatte Tonia als Säugling in einer Decke eingewickelt vor der Tür des Waisenhauses gefunden. Immer wieder hatte sie davon geträumt, in eine nette Familie aufgenommen zu werden, Eltern, vielleicht sogar Geschwister zu haben. Kaum ergab sich hierfür eine Chance, schon hatte sie es binnen weniger Tage vermasselt. Vielleicht bin ich schon zu alt, um mich in eine Familie einzufügen, überlegte sie. Gedankenversunken stand sie am Fenster des Aufenthaltsraumes und sah hinunter in den Hinterhof, wo die älteren Jungen mit einem Lederball spielten, angespornt von ein paar gleichaltrigen Mädchen, die das Spiel von ihrem Platz auf der niedrigen Steinmauer des Hofes beobachteten und bei guten Spielzügen in die Hände klatschten oder bei Patzern hinter vorgehaltenen Händen kicherten. Sie sah zu den Mädchen auf der Hofmauer hinüber und versuchte sich vorzustellen, eine von ihnen zu sein. Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Nein, dazu verspürte sie kein Verlangen. Niemals würde sie sich den anderen Mädchen aufdrängen, um zusammen mit ihnen das Aussehen der jungen Burschen oder irgendwelche neue Modeerscheinungen zu erörtern, nein, lieber war sie alleine und ging ihren Gedanken nach. Doch die plötzliche Ruhe im Hinterhof erregte ihre Aufmerksamkeit. Die Jungen hatten ihr Spiel unterbrochen und sahen gebannt in eine Richtung. Natürlich! Ulla! Ja, Ulla hatte alle Jungs im Griff. Sie war fast siebzehn, hatte lange, rotblonde Haare, grüne Augen und eine aufreizende, sehr weibliche Figur. Sie schritt langsam und gemächlich durch den Hinterhof auf die Gruppe der Mädchen zu, während die Jungen Ulla unverhohlen mit offenen Mündern hinterherblickten. Sich vollkommen bewusst über ihre Wirkung bei den Jungen wurde ihr Gang noch aufreizender, die Bewegung ihrer Hüften bei jedem Schritt noch ausladender. Die Mutigeren unter den Jungen pfiffen ihr anerkennend hinterher, während Ulla langsam weiter zu den Mädchen schlenderte. Diese waren bereits von der Mauerkrone heruntergesprungen und liefen Ulla entgegen. Tonia schüttelte angewidert den Kopf. Es war ihr schleierhaft, wie Ulla mit ihrem Getue solch eine Macht auf Jungen und Mädchen gleichermaßen ausüben konnte. Ein Grund mehr, sich nicht in die Gruppe der Mädchen integrieren zu wollen, überlegte sie.

    Eine Bewegung am Rande ihres Blickfeldes erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine große, fette Gartenspinne krabbelte langsam an der inneren Fensterlaibung hinauf. Kohlrabenschwarz und mit langen, behaarten Beinen, war sie ein richtiges Prachtexemplar. Das brachte Tonia auf eine Idee…

    Die Spinne in ihrer hohlen Hand gefangen, eilte sie unbemerkt in die Küche und nahm sich einen leeren Becher, in den sie das kleine Tier vorsichtig hineinsetzte. Mit einer Hand deckte sie das Gefäß ab, um der Gefangenen keine Möglichkeit zur Flucht zu bieten. Dann schlich sie leise und unbemerkt die Treppe hinauf und stahl sich auf Zehenspitzen weiter den langen Flur entlang zum Mädchenschlafsaal. Vorsichtig und jedes Geräusch vermeidend, öffnete sie die Tür einen kleinen Spalt und vergewisserte sich, dass sich niemand im Schlafsaal aufhielt. Dann schritt sie rasch zu Ullas Bett, kippte die Spinne aus ihrem Gefängnis in ihre hohle Hand, schloss sie flink zu einer Faust, ohne dabei die Spinne zu verletzen, und schob sie unter die Wolldecke. In der Mitte öffnete sie flugs die Hand, drehte sie um und ließ die Spinne auf das Bettlaken fallen. Blitzschnell zog sie die Hand zurück und drückte am Bettrand die Decke wieder glatt. Dann nahm sie den Becher und schlich wieder aus dem Schlafsaal, schloss die Türe leise hinter sich und lief unbemerkt den Gang entlang zur Treppe, dann hinunter zur Küche, wo sie heimlich den Becher wieder an seinen ursprünglichen Platz stellte.

    Als am Abend die älteren Mädchen zu Bett gingen, lag Tonia bereits unter ihrer Decke und bemühte sich, voller Vorfreude auf Ullas Reaktion, das Kichern zu verbeißen. Ulla gehörte zu den ältesten Mädchen. Sie kam spät, stellte ihre Kerze auf ihren Nachttisch, schüttelte ihr Kopfkissen auf und schlug die Decke zurück. Der panische Schrei weckte nicht nur alle bereits schlafenden Mädchen, sondern alarmierte auch ein paar Ordensschwestern, die sofort hereinplatzten, um nach dem Rechten zu sehen. Ulla zeigte mit zitterndem Finger auf die Spinne in ihrem Bett, die dort reglos verharrte. Schwester Hildegard ließ sich von dem Anblick nicht beeindrucken . Sie packte die Spinne mit ihrer rechten Hand, zerdrückte sie und ließ das tote Tier auf den Boden fallen.

    „Ist das etwa ein Grund, das ganze Haus zu wecken? Ulla, Du meldest Dich morgen früh bei mir zum Sonderdienst, ist das klar? Und jetzt alle wieder ins Bett! Höre ich auch nur einen einzigen Mucks, gibt es Ärger, aber reichlich!", und damit gingen die Schwestern großen Schrittes wieder aus dem Saal und schlugen die Türe hinter sich zu. Es herrschte Totenstille. Tonia biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszuprusten.

    „Ich kriege raus, wer das war", sagte Ulla leise mit drohendem Unterton.

    Schon am nächsten Tag bereute Tonia ihren Streich, war es doch ein Leichtes für Ulla, sie als Hauptverdächtige der Tat zu bezichtigen. Sie hätte damit rechnen müssen, war sie doch das einzige der in Frage kommenden Mädchen, das nicht ständig um die Gunst und Freundschaft Ullas buhlte und wetteiferte. Tonia stritt zwar die Tat ab, doch Ulla glaubte ihr kein einziges Wort. Seit diesem Tag an wurde Tonia von allen Mädchen ihrer Altersklasse schikaniert, gehänselt oder einfach ignoriert, als sei sie aus Luft. So wurde sie beim Abräumen des Küchengeschirrs angerempelt und musste für die Scherben Sonderdienste leisten. Man spuckte ihr heimlich ins Essen und versteckte ihre Bettwäsche.

    Tonia ärgerte sich über sich selbst, über ihre kindische Idee, Ulla mit dem Spinnenstreich zu provozieren. Das hatte ja nur schiefgehen können, schalt sie sich. Ihr Streich war zwar einem spontanen Einfall entsprungen, aber dafür musste es doch einen Grund gegeben haben, überlegte sie. War sie vielleicht insgeheim neidisch auf Ulla? Auf ihr Äußeres? Ihr Selbstbewusstsein? Ihre Ausstrahlung? Ihre Wirkung auf Jungen? Oder war es pure Schadenfreude, die sie angetrieben hatte? Und warum hatte sie ihren Einfall gleich in die Tat umgesetzt, ohne sich Gedanken über mögliche Konsequenzen zu machen? Sie fand keine Antwort darauf, kam sich ziemlich töricht und dumm vor. Sie hätte sich bei Ulla entschuldigen und sich mit ihr aussöhnen können, aber ihr Stolz ließ es nicht zu. Unter den Mädchen blieb sie weiterhin die Außenseiterin. Und mit den Jungs aus dem Jungentrakt des Waisenhauses hatte sie erst recht nichts gemein. Wenn Ulla nicht in der Nähe war, hatten die älteren Jungen nur Raufen, Wettkämpfe und ihre Steinschleudern im Sinn, mit denen sie versuchten, mittelgroße Kieselsteine auf der Mauer des Innenhofes zu treffen. Von dem Fenster ihres Schlafsaales im Obergeschoss aus beobachtete sie oft staunend die Schießübungen der Jungen. Sie faszinierte die Möglichkeit, mit solch einfachen Mitteln eine, wenn auch primitive, Waffe herzustellen. Hierzu genügte eine lange Lederschnur mit einer Lederschnalle in der Mitte, um den Wurfstein aufzunehmen. Ein Ende der Schnur wurde um das Handgelenk gebunden, das andere Ende zwischen den Fingern gehalten. Dann legte man den Wurfstein in die Schnalle und wirbelte ihn ein paar Mal herum, so schnell, dass ein deutliches Surren zu vernehmen war. Die Kunst bestand darin, zum richtigen Zeitpunkt das eine Ende der Lederschnur loszulassen. Es sah nicht besonders schwierig aus, und wenn man lange genug übte, konnte man sogar kleine Ziele treffen. Das bewiesen die Jungen jeden Tag aufs Neue. Sie würde es auch einmal ausprobieren, überlegte sie, und vielleicht regelmäßig damit üben, aber bestimmt nicht unter dem Hohngelächter der Jungen.

    An den freien Nachmittagen, wenn die anderen Mädchen ihre Köpfe tuschelnd zusammensteckten, zog Tonia es vor, Königsstadt auf eigene Faust zu erkunden. Jeden Tag ein anderes Viertel, andere Straßen und Gässchen. Die Stadtmauer war angelegt wie ein riesiges Hufeisen, wobei die beiden Enden direkt an die Schwarze Wand, eine hohe Steilwand aus schwarzem Granit, des Gebirgszuges im Norden anschlossen. An der gegenüberliegenden Seite befand sich das Südtor in der Stadtmauer. Tonia hatte sich gewundert, als sie zum ersten Mal über diesen Namen nachdachte, denn die Bezeichnung Südtor gaukelte das Vorhandensein weiterer Tore im Osten und Westen der Stadtmauer vor, doch weit gefehlt. Das Südtor bot die einzige Möglichkeit, die Mauer zu passieren. Es handelte sich um einen tunnelähnlichen Durchgang durch den hohen, quadratischen Wachturm, der die Eintönigkeit der langen, aus groben Bruchsteinen hochgezogenen, grau-schwarzen Mauer unterbrach. Der Durchgang war so bemessen, dass Reiter und Pferdefuhrwerke, sogar große Kutschen, ungehindert passieren konnten. Von der Wachstube im Obergeschoss des Turms ließen sich Fallgitter sowohl auf der Innenseite, als auch an der Außenseite des Tores bedienen. Auf halber Strecke zwischen Südtor und der Schwarzen Wand im Norden erhoben sich beiderseits der Stadt Wachtürme gen Himmel, der West- und der Ostturm. Bei Gefahr konnten Leuchtfeuer auf den Wachtürmen entzündet werden, um die Stadtbevölkerung zu warnen.

    Vom Südtor führte die Innere Hauptstraße geradlinig nach Norden über den Stadtplatz zum Palastgelände vor der Schwarzen Wand. Die dreigeschossigen Fachwerkhäuser, die beide Seiten der Inneren Hauptstraße flankierten und den Stadtplatz vor dem Palastgelände umrahmten, bildeten zwei durchgehende Reihe schmucker, weiß getünchter Häuser, die nur unterbrochen wurden, wenn eine Gasse von der Inneren Hauptstraße abzweigte. Die Fachwerkhäuser waren schmal gebaut, mit steilen Dächern und vielen, kleinen Fenstern. Rote Dachziegel und schmale Schornsteine prägten das Bild der Häuserzeilen. Hier und dort waren größere Tore in die Häuserfronten eingelassen. Wenn eines dieser Tore offenstand, konnte Tonia ihre Neugier nicht lange zügeln. Wie Tunnel führten Durchgänge durch die Häuser und endeten in Hinterhöfen. Nicht selten staunte sie über schön angelegte Gärten, Blumenbeete oder gar große Laubbäume, unter denen Bänke im Schatten ausladender Äste die Bewohner zum Verweilen einluden. Sogar Pferdeställe und Unterstände mit prächtigen Kutschen hatte sie schon bei ihren Ausflügen in den Hinterhöfen erspäht. In diesem Teil der Stadt wohnten die Vornehmen und Reichen. Nicht selten fand man unter dem Dachgiebel auf der Außenwand sogar das Familienwappen der Besitzer oder das Zeichen der Zunft, der sie angehörten.

    Die Häuser wurden zunehmend schäbiger und schmutziger, je weiter man sich durch die kleinen Gassen von der Inneren Hauptstraße. Die Gassen wurden zur Stadtmauer hin enger und dreckiger. Fehlende Pflastersteine hatte man zum Teil nicht mehr ersetzt, sondern die entstandenen Löcher nur notdürftig mit Sand und Erde gefüllt. Aber auch diese Gegend hatte ihren Flair. Über die engen Gässchen spannten sich von Haus zu Haus Wäscheleinen, an denen bunte Kleider zum Trocknen hingen. Viele Fensterbretter schmückten kleine Kübel mit üppigen Küchenkräutern oder gar blühende Pflanzen. Das alles bot einen farbigen Kontrast zu den grauen, rußigen Fassaden der Häuser. Die Menschen kannten sich hier, vertrauten sich, wirkten zufrieden. Ihre Kinder tollten ausgelassen in den schmalen Gassen. Tonia hatte nicht das Gefühl, dass die Menschen unglücklich waren.

    Im Außenbezirk, am Rande der Stadtmauer, hatten sich auch eine Vielzahl von Handwerksbetrieben angesiedelt. In den meist eingeschossigen, oft gar schäbigen Wohnhäusern und den vielen notdürftig instandgehaltenen Hütten zwischen den Betrieben wohnte die ärmere Bevölkerung von Königsstadt. Trotz einiger Missstände, die Tonia bei ihren Stadtausflügen feststellte, liebte sie ihre Stadt mit all ihren Gegensätzen, ihrer Pracht und ihrem Verfall, ihrem Duft und ihrem Gestank, ihrem Reichtum und ihrer Armut. Es war eine Stadt mit Ecken und Kanten. Es war ihre Stadt.

    Der Königspalast lehnte sich direkt an die Schwarze Wand im Norden an. Die Innere Mauer diente zum Schutz des Palastgeländes. Innerhalb dieser ebenfalls hufeisenförmig angelegten Palastmauer befanden sich auf der Westseite die Unterkünfte der Soldaten, die Ställe, die Waffenschmiede, die Wäscherei und die Großküche mit dem Speisesaal. Auf der Ostseite lag die große Bibliothek, zweigeschossig und mit direkter Verbindung zum Palast, daneben fand man die Unterkünfte des gehobenen Personals, meist kleine, bescheidene Wohnungen für die königlichen Berater, den Bibliotheksmeister, den Richter, den Kommandanten, sowie Gebäude für das Gesinde mit kleinen, bescheidenen Wohnkammern. Hier lebten Köche, Küchenhilfen, Stallknechte, Wäscherinnen, Schmiede und sonstige Bedienstete und Handwerker.

    Fielen Bedienstete wegen Krankheit oder eines Unfalls kurzfristig aus, wurden ältere Kinder aus dem Waisenhaus zur Aushilfe angefordert – auch das war Teil der Abmachung zwischen König Peter II und den Ordensschwestern. Vier- oder fünfmal wurde auch Tonia in den Palastbereich beordert, um in der Küche oder der Wäscherei einzuspringen. Sie genoss die Abwechslung, trotz der schweißtreibenden Arbeit, die kaum Zeit zum Verschnaufen ließ. Ihr Weg zum Palast führte quer durch die Stadt. Vom Waisenhaus durch eine kleine Gasse in östlicher Richtung bis zur Inneren Hauptstraße in der Nähe des Südtores, dann der Inneren Hauptstraße nach Norden folgend, über den großen Stadtplatz mit seinem schönen Zierbrunnen bis zum Tor der Palastmauer, wo die Palastwache ihren Dienst verrichtete.

    An Werktagen diente der Stadtplatz den Märkten, bei denen die Händler ihre Waren lauthals feilboten. Tonia gefiel das bunte Treiben, das Feilschen, das Anpreisen der Waren, die Gerüche der Gewürzstände, der Duft von frisch gebackenem Brot, der herzhafte Geruch der Lederwaren, die bunten Auslagen der Obst- und Gemüsehändler, sogar das Geschiebe und Gedränge machte ihr nichts aus. Es gab ihr das Gefühl, ein Teil dieses pulsierenden Lebens zu sein. Doch seitdem am östlichen Rand des Platzes das Podest mit dem Richtblock und den Galgen seine Schatten warf, war die Stimmung auf dem Markt gedämpft. Die Richtstätte war ein Werk König Karl III, dem Nachfolger seines Halbbruders Peter II, dessen plötzliches Verschwinden niemals aufgeklärt worden war. König Karl III ließ kurz nach seiner Amtseinführung die Steuern drastisch erhöhen. Missachtungen der neuen Abgabebestimmungen wurden hart bestraft, in den meisten Fällen am Richtblock oder Galgen. Die Anzahl der Verurteilungen und blutigen Einsätze des Henkersbeils war sprunghaft gestiegen. Seit der Verstümmelung von Schäfer Jan hatte Tonia mehrmals das Pech, Zeuge einer öffentlichen Verhandlung zu werden. Sie hatte stets versucht, den Stadtplatz noch rechtzeitig zu verlassen, wenn sich eine öffentliche Verhandlung ankündigte, doch manchmal schaffte sie es nicht, an den Soldaten, die den Platz abriegelten, vorbeizukommen. Die anwesenden Bürger wurden gezwungen, der Anklage, dem Schuldspruch und der Bestrafung beizuwohnen. Tonia hatte mittlerweile ihre eigene Methode entwickelt, sich von diesen grauenvollen Spektakeln abzulenken. Sie konzentrierte sich auf andere Dinge, eine Taube auf dem gegenüberliegenden Dach oder eine langsam vorbeiziehende Wolke, die immer wieder ihre Form veränderte. Und während sie dabei ganz leise eine Melodie summte, konnte sie sich mental den unmenschlichen Schauspiel am Rande des Platzes entziehen.

    In ihrer Freizeit saß Tonia oft auf der steinernen Einfassung des Stadtbrunnens, sah dem bunten Treiben der Händler und ihrer Kundschaft zu und träumte ihren Lieblingstraum: Von einem Jungen, groß, stark und klug, der sie so liebte, wie sie war. Sie träumte von eigenen Kindern und einem gemütlichen Zuhause für ihre Familie. Es waren immer die gleichen Träume, geprägt von Sehnsucht nach Liebe, Zärtlichkeit, Familie, aber auch Achtung und Anerkennung. Das waren Wünsche, die das Waisenhaus kaum erfüllen konnte, Wünsche, um die sie sich selbst, und nur sie ganz alleine, würde kümmern müssen.

    Und eines Nachmittags fällte sie eine Entscheidung…

    Zirkel

    „Hört mich an, Erster!"

    Ein hagerer Mann mittleren Alters erhob sich, während die anderen elf Mitglieder des Magischen Zirkels auf ihren Stühlen an dem großen, runden Tisch aus Eichenholz Platz behielten und neugierig abwarteten. Die weiten Ärmel seines grauen Umhangs entfalteten sich auf dem Tisch, während er sich mit seinen Händen auf der polierten Tischplatte abstützte. Der vorsitzende Magier zupfte an seinem langen, grauen Bart und gab schließlich mit einem kurzen Kopfnicken das Zeichen für den Sprecher, fortzufahren.

    „Ich würde gerne, bevor wir uns mit unserem eigentlichen Problem befassen, eine kurze Zusammenfassung der Berichte unserer Agenten in den Fürstentümern geben. Unsere Vermutung scheint sich zu bestätigen. Es gibt Anzeichen dafür, dass ein Komplott geschmiedet wird, um Großfürst Karim abzusetzen. Wir wissen leider noch nicht, wer der Drahtzieher hinter diesen Plänen ist und wir wissen ebenso wenig, wann eine Machtübernahme stattfinden soll. Aber Euch, Graubart, möchte ich dringend warnen. Seid vorsichtig!" Der Sprecher nahm wieder Platz.

    Der Angesprochene, Alihadzi, Erster Magier des Großfürsten Karim und Leiter des Magischen Zirkels, saß schweigend und nachdenklich an seinem Platz und starrte auf seinen alten, schwarzen Spitzhut mit der abgeknickten Spitze, der vor ihm auf dem Tisch lag. Dann ergriff der alte Magier das Wort.

    „Ich danke Euch, Carrazax, für die wertvolle Information und die gut gemeinte Warnung. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich mich selber in Gefahr gebracht habe. Es ist leider kein Geheimnis, dass ich mit Großfürst Karim seit vielen Jahren ein freundschaftliches Verhältnis pflege, neben meinem Amt als sein Erster Berater." Er zögerte einen Moment. „Es war wohl ein Fehler. Ich hätte schon vor vielen Jahren mehr Einfluss nehmen müssen. Karim ist schon viel zu lange an der Macht und aufgrund seines hohen Alters habe ich ihm nicht nur einmal angeraten, einen Nachfolger für ihn zu benennen. Aber er war stets stur und winkte ab. Und ich wollte meinen Freund nicht weiter drängen, zumal er seine Regierungsgeschäfte noch gut im Griff hat." Er hielt kurz inne. „Wenn man Karim stürzt, wird man mich ebenso beseitigen wollen, dessen bin ich mir bewusst. Der neue Regent, wer auch immer sich den Thron erzwingen will, wird sich seinen eigenen Ersten Magier zum persönlichen Berater ernennen, einen, zu dem er absolutes Vertrauen hat. Ein leichtes Kopfnicken ging durch die Reihen der Anwesenden als Zeichen ihrer Zustimmung. „Ich werde wohl Vorkehrungen treffen müssen, um jederzeit zur Flucht bereit zu sein, sinnierte er.

    „Aber wie wollt Ihr denn fliehen, Graubart?, fragte ein Mitglied der Runde. „Sollte die Festung erobert werden, sehe ich für Euch keine Chance, den Besetzern zu entkommen.

    „Ich werde darüber nachdenken. Der Erste Magier zupfte wieder an seinem langen, grauen Bart. „Vielleicht wäre der Stollen eine Möglichkeit, sprach er leise. Ein Raunen ging durch den Raum. „Ich kenne Eure Bedenken, winkte er ab. „Wir wissen kaum etwas über diesen Stollen, aber die Runen über seinem Eingang geben gewisse Andeutungen preis. Doch seid versichert, nur wenn es keinen anderen Ausweg gibt, werde ich versuchen, über diesen Weg zu fliehen. Es ist wohl die einzige Chance, die mir bleibt.

    Betretenes Schweigen machte sich in dem kleinen Versammlungsraum breit.

    „Gut, unterbrach der vorsitzende Magier die Stille und fuhr fort: „Wenden wir uns jetzt unserem eigentlichen Problem zu. Habt Ihr irgendwelche Hinweise in alten Berichten oder Überlieferungen gefunden, die uns weiterbringen könnten?

    Ein jüngerer Magier erhob sich von seinem Stuhl.

    „Ich bin noch immer der Meinung, Erster, dass der Grund für die stetig schwindende Magische Energie einzig ihr Verbrauch ist. Vielleicht hat man es früher nicht so stark bemerkt, weil es Energie im Überfluss gab und daher auch keine diesbezüglichen Beobachtungen niedergeschrieben wurden."

    „Nun ja, Ihr könntet recht haben, aber ich hege trotzdem noch meine Zweifel daran. Dieser Energieschwund ist erst in den letzten Jahren bemerkt worden. Warum nicht schon früher? Zumindest finden wir keine Hinweise darauf. Und stellt Euch vor, Ihr hättet Recht, dann müssten wir tatenlos zusehen, wie die magischen Barrieren um die Brutstätten der Ogger in den Sumpfgebieten langsam zusammenbrechen und die Bestien wieder ihr Unwesen treiben könnten. Daran möchte ich gar nicht denken. Wenn die zweite Theorie stimmt, dass es irgendwelche, hm, sagen wir undichte Stellen im Energiegefüge gäbe, dann hätten wir zumindest noch eine Chance, sei sie auch noch so gering, diese Lecks aufzuspüren und möglicherweise in den alten Zustand zu versetzen. Gibt es zu dieser Theorie neue Erkenntnisse?" Der Erste Magier blickte fragend in die Runde, doch er erntete nur betretenes Schweigen.

    „Vielleicht hat das mit diesen Portalen zu tun, überlegte ein Mitglied des Zirkels laut. „In älteren Schriftrollen findet man hier und da andeutungsweise Texte und Symbole, die man zumindest so auslegen könnte. Aber das ist zu weit hergeholt, Verzeihung, entschuldigte sich der Sprecher.

    „Nicht doch, nicht doch! Jede Idee, jeder Gedanke kann uns in unseren Bemühungen weiterführen. Bitte fahrt fort, jede nur erdenkliche Quelle an Informationen aufzuspüren und zu untersuchen, besänftigte der Erste Magier. „Und meine persönliche Bitte an Euch alle: Sollte mir in nächster Zeit aufgrund der unruhigen politischen Situation etwas zustoßen oder ich genötigt werden, die Flucht zu ergreifen, dann bitte ich Euch, Barbarossa, bis auf Weiteres den Zirkel an meiner statt zu leiten.

    „Ich Danke Euch für Euer Vertrauen, Erster", bedankte sich sein Freund mit einer leichten Verbeugung.

    Der Erste Magier lachte. „Ach, mein Freund, seid doch nicht so förmlich! Nennt mich ruhig bei meinem Spitznamen, so wie es andere Anwesenden auch tun."

    Barbarossa lächelte. „So sei es denn, Graubart!"

    Damit löste sich der Zirkel wieder auf und die Magier eilten zurück, um sich ihren Studien zu widmen…

    Lehre

    Er hatte durchgehalten, hatte bis zur Morgendämmerung durch das kleine Fenster in die stürmische Nacht gestarrt und inständig auf die Rückkehr seiner Eltern gehofft. Als er im ersten Tageslicht die Boote der anderen Fischerfamilien auf dem kiesigen Strand liegen sah, konnte er sich seiner Tränen nicht mehr erwehren. Einen kleinen Hoffnungsschimmer gab es noch, denn es war schon vorgekommen, dass man in solch einer stürmischen Nacht orientierungslos auf dem aufgepeitschten Wasser draußen auf See umherwirbelte oder gar Ruder gebrochen waren. Dann konnte es mehrere Tage dauern, bis die betroffenen Fischer wieder an ihrem Kiesstrand anlandeten, schwach und erschöpft, aber lebend. Es war für David unvorstellbar, dass sein Vater jemals die Orientierung auf See verlieren könnte. Und ein gebrochenes Ruder passierte nur einem unerfahrenen, leichtsinnigen Fischer, aber nicht seinen Eltern! David wischte sich die Tränen aus den Augen und massierte seine geschundenen Knie. Nein, er durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Er musste jetzt stark bleiben. Er wartete den Sonnenaufgang ab, dann lief er hinunter zum Kiesstrand, wo die Boote der anderen Fischer in leichter Seitenlage bereits wieder auf ihren nächsten Einsatz zu warten schienen. Sein Blick schweifte über das Unendliche Meer, das sich wieder ruhig und glatt zeigte, als wäre die Nacht zuvor sturmfrei gewesen. Jeden Zoll des Ozeans suchte er mit den Augen ab, vom Strand bis zum Horizont, suchte nach einem kleinen, hölzernen Boot, nach verdächtigen Gegenständen, nach irgendetwas, das nicht ins Bild des Meeres passte. Immer und immer wieder, bis ihm die Augen vor Anstrengung und Erschöpfung tränten. Er kauerte sich nieder auf den groben Kies und lehnte sich an eines der zurückgekehrten Boote. Seine Augenlider zuckten, schienen ihm nicht mehr zu gehorchen. Nach durchwachter Nacht übermannte ihn erbarmungslose Müdigkeit, die nun ihren Tribut forderte.

    Ein sanftes Rütteln an seiner Schulter holte ihn aus seinem Schlaf.

    „David, hörst Du? David, wach auf, bitte!"

    Er erkannte den Sprecher an seiner Stimme: Gunter, einer der Dorfältesten in Simonshütte, groß und schlank, mit weißem, schütterem Haar und klaren, blauen Augen in dem ausgemergelten, faltigen Gesicht. Er war es, der sich in Davids Kindheit liebevoll um ihn gekümmert hatte, wenn seine Eltern auf nächtlichem Fang weit draußen auf dem Meer ihrem Handwerk nachgingen. Für David war er ein Freund und so vertraut wie ein Großvater.

    David blinzelte mit den Augen und sah Gunter fragend an.

    „Hat man meine Eltern gefunden?"

    „Nein, mein Junge, tut mir leid." Tröstend legte der Alte seine faltige Hand auf Davids Schulter.

    „Was ist mit den anderen? Sind sie unbeschadet zurückgekommen?"

    „Ja, David. Alle haben die Rückkehr geschafft. Sie waren durchnässt und unterkühlt und an der Grenze der Erschöpfung. Aber sie hatten Glück, denn sie waren im Küstenbereich geblieben, erklärte der alte Fischer. „Ich weiß, was Du heute Nacht durchgemacht hast, mein Junge. Du solltest Dich besser ins Bett legen, als hier auf dem feuchten Kies zu sitzen. Komm mit, ich koche Dir einen Tee und dann legst Du Dich ein paar Stunden aufs Ohr. Ich werde solange bei Dir bleiben und wachen. Und ich verspreche Dir, Dich sofort zu wecken, wenn ich etwas entdecke. Ich bin zwar alt und tattrig, aber meine Augen sind noch immer klar.

    „Danke, Gunter, sagte David kleinlaut. „Du hast ja recht. Ich kann sowieso nichts tun, außer warten und hoffen.

    Gunter nickte ihm aufmunternd zu.

    „Und was wird sein, wenn sie nie mehr zurückkehren?", fragte David mit banger Stimme.

    „Daran solltest Du jetzt nicht denken, mein Junge", antwortete der Alte.

    „Bitte sag es mir, Gunter. Ich bin alt genug!"

    „Nun gut, wenn Du es unbedingt wissen willst." Der Alte setzte sich umständlich zu dem Jungen auf den Kies des Strandes und sah in ernst an. „Die Regeln unserer Gemeinde lauten folgendermaßen: Wenn ein Boot in der Früh noch nicht vom Fang zurückgekehrt ist, gilt die Besatzung zunächst als vermisst. Es werden Posten aufgestellt, die den ganzen Tag das Meer beobachten. Die Fischer werden angehalten, bei ihren nächtlichen Fahrten auf alles Ungewöhnliche zu achten, zum Beispiel auf Treibholz oder auf ungewöhnliche Geräusche. Nach drei Tagen werden die Beobachtungsposten am Ufer wieder abgezogen und die vermisste Besatzung als verschollen erklärt. Sag mal, kannst Du Dich an die Geschichte von Fischer Johann erinnern?", fragte der Alte unvermittelt. David schüttelte den Kopf.

    „Na ja, da warst Du noch nicht geboren, aber man erzählt sich die Geschichte heute noch. Fischer Johann geriet auch in einen furchtbaren Sturm und bekam es mit der Angst zu tun. Vor lauter Panik ruderte er mit all seinen Kräften zurück zum Ufer. Weißt Du, seit dem Tod seiner Frau war Johann immer alleine draußen auf Fang. Das machte ihn stark, sehr stark sogar. So stark, dass ihm in jener Nacht beide Ruder brachen und die Strömung sein Boot weit hinaus auf das offene Meer treiben konnte. Johann war hilflos, verlor schließlich noch die Orientierung und ließ sich in seiner Verzweiflung einfach treiben. Aber er hatte damals Glück im Unglück. Nach dem tragischen Tod seiner Frau ertränkte er die einsamen Nächte auf seinem Boot regelmäßig in Alkohol. Er hatte stets einen gefüllten Weinschlauch dabei, wenn er abends auslief. Und in jener stürmischen Nacht hat ihm das vielleicht das Leben gerettet. Denn er betrank sich bis zur Bewusstlosigkeit, um das Ende nicht erleben zu müssen. Doch er wachte wieder auf, ohne Zeitgefühl, wusste nicht, wie lange er in seinem Boot dahingetrieben war. Das Meer hatte sich wieder beruhigt und die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt. Er konnte keine Himmelsrichtung bestimmen und wohin er auch blickte, er sah nur den leicht gekrümmten Horizont über der unendlichen Weite des Meeres. Das Boot dümpelte ruhig vor sich hin. Als die Sonne ein wenig weiter gezogen war, konnte er anhand der Schatten die Himmelsrichtung feststellen und schöpfte wieder ein wenig Hoffnung. Er hatte den Deckel seiner großen, hölzernen Werkzeugkiste heruntergerissen und ihn als Paddel benutzt. Drei Tage und Nächte musste er sich wohl auf diese Weise dem Festland wieder genähert haben. Er hatte sich in diesen Tagen den Rest seines Weins gut eingeteilt, um nicht verdursten zu müssen. Die Stelle, an der er dann nach Tagen das Ufer erreicht hatte, lag meilenweit von unserem Dorf entfernt. Er versteckte sein Boot im Ufergestrüpp und machte sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Er hatte gehofft, eine Siedlung zu finden oder abgelegene Bauernhöfe, aber er hatte Pech. Mehrere Tage hatte er benötigt, um wieder nach Simonshütte zurückzufinden. Insgesamt war er mehr als zwei Wochen verschwunden. Er konnte sich kaum noch an Einzelheiten erinnern. Vielleicht wollte er es auch nicht mehr. Seit diesem Ereignis hat er sich zurückgezogen und ist vollkommen dem Alkohol verfallen. Aber was ich eigentlich damit sagen wollte: Es gibt immer noch Hoffnung, David, auch wenn man möglicherweise Deine Eltern in drei Tagen als verschollen erklären wird."

    David hörte aufmerksam zu, während er nachdenklich zum fernen Horizont blickte.

    „Und was geschieht, wenn meine Eltern nicht mehr zurückkehren?", fragte er mit belegter Stimme.

    „Dann, mein Junge, musst Du tapfer sein. Nach Ablauf der dreiwöchigen Frist werden Deine Eltern offiziell als tot erklärt. Alles, was sie an Besitz zurückgelassen haben, wird dann Dir zugesprochen."

    David nickte. Seine Unterlippe zitterte, als er gegen die aufkommenden Tränen ankämpfte.

    „Und für Dich ist in dieser Zeit des Wartens und Bangens gesorgt, fuhr Gunter fort. „Die Gemeinde kümmert sich drei Wochen lang um die Verpflegung der minderjährigen Nachkommen von Verschollenen. Nach Ablauf dieser Frist und Übertragung des Besitzes an die Nachkommen entscheidet der Ältestenrat über die nächsten Schritte.

    Der Alte stand mühsam auf und hielt dem Jungen seine rechte Hand hin.

    „Komm jetzt, mein Junge, lass uns zurück zu Deiner Hütte gehen!" David ließ sich gerne überreden. Er war müde und erschöpft. Und Gunter würde ihn schon rechtzeitig wecken, wenn es Neuigkeiten gäbe.

    Zwei Tage, nachdem seine Eltern vom Ältestenrat als verschollen erklärt wurden, fanden Kinder drei Meilen östlich von Simonshütte ein zerbrochenes Ruder und nahmen es mit. David hatte das zerbrochene Ruder sofort wiedererkannt. Es gab keinen Zweifel. Die Ruderstange wies komplizierte Ornamente auf, die offensichtlich mit einem spitzen Messer eingeritzt worden waren. Das war typisch für seine Eltern, dachte David, denn oft hatten sie sich die nächtliche Wartezeit bei hellem Mondlicht mit Schnitzereien vertrieben. Er konnte sich sogar noch an die Nacht erinnern, als seine Eltern die Ruderstangen verziert hatten. Mutter hatte leise eine Melodie gesummt, während sie beide um die schönsten Verzierungen wetteiferten. Nachdenklich betrachtete David die gebrochene Ruderstange. Was war wohl in dieser Nacht passiert, fragte er sich. Waren es die mächtigen Wellen in dieser stürmischen Nacht, der dieses Ruder zum Opfer fiel? Waren seine Eltern in ihrem Boot mit der Strömung abgetrieben worden? Wohin? Waren sie vielleicht noch am Leben? Oder wurde nicht nur dieses Ruder, sondern das ganze Boot im Sturm zerschmettert? Dann würde es für seine Eltern keine Hoffnung mehr geben. Er seufzte.

    Die folgenden Tage lief David den Strand in östlicher Richtung ab, dort, wo die Kinder das Ruder gefunden hatten, in der Hoffnung, doch noch irgendetwas zu finden, irgendetwas, das Grund zur Hoffnung geben konnte. Oder irgendetwas, dass ihm die Gewissheit gab, dass seine Eltern dem Unendlichen Meer zum Opfer gefallen waren. Die ständige Ungewissheit war eine furchtbare Last für David, die er kaum ertragen konnte. Doch seine Suche blieb erfolglos und die Ungewissheit nagte weiter an ihm. Verzweifelt dehnte er seine Suche aus, ging viele Meilen in beiden Richtungen die Küste entlang, doch er konnte keinen einzigen Hinweis entdecken. Schließlich gab er die Suche ergebnislos und niedergeschlagen auf.

    Drei bange Wochen später kam die Abordnung des Ältestenrates und überbrachte David offiziell die Todesnachricht. Seine Eltern, so die Stellungnahme, seien mit großer Gewissheit Opfer der Meeresbestien geworden. David nahm tapfer die Botschaft entgegen. Er hatte es geahnt, ja, er wusste Bescheid. Seine Eltern würden niemals mehr zurückkehren, er hatte sie endgültig und unwiederbringlich verloren. Dieses mal dienten sie beide den Herrschern des Meeres als Tribut für das Leben, das sie dem Meer Nacht für Nacht entrissen hatten. Er nahm tapfer und ohne erkennbare Gefühlsregung die traurige Botschaft und die tröstenden Worte der Abordnung entgegen. Er hatte das Gefühl, nie wieder weinen zu können, hatte er doch in den letzten Wochen viele schlaflose Nächte schluchzend am Fenster der kleinen Hütte verbracht. Tagsüber konnte er sich bei den anderen Fischern beim Flicken ihrer Netze oder beim Ausbessern der Boote nützlich machen, um sich vom Gedanken an seine verunglückten Eltern abzulenken, doch am Abend, wenn er wieder alleine in der Hütte saß, holte ihn der Kummer wieder erbarmungslos ein. Er vermisste seine Eltern schmerzlich.

    David fühlte sich allein, alleingelassen. Er trauerte um seine Eltern und er bangte um seine Zukunft, die er sich so schön erträumt hatte. Aber ganz alleine auf sich gestellt, ohne Boot, ohne Netz, würde es ihm nicht gelingen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Er würde bei anderen Fischern anheuern müssen, um sich sein bisschen Lebensunterhalt verdienen zu können. Aber wer würde ihn denn nehmen wollen, wenn die eingeholten Netze nur noch selten einen nennenswerten Fang aufwiesen? Es war zum Verzweifeln. Seine Großeltern hatte er nie kennengelernt. Sie starben viele Jahre vor seiner Geburt an einer Seuche, die fast ein Drittel der kleinen Gemeinde das Leben kostete. Seine einzige Verwandtschaft bestand aus Onkel Theo, dem Bruder seines Vaters, und dessen Gattin, Tante Annerose. Sie lebten beide am nördlichen Ende des Schlangenbachtals in Königsstadt. Sie wussten noch nichts vom Unglück seiner Eltern. Er musste ihnen unverzüglich Bescheid geben, das war er ihnen schuldig. Und vielleicht würden sie sich um ihn kümmern können, bis er auf eigenen Beinen stehen und seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten konnte. Vielleicht würden sie ihn ja sogar bei sich aufnehmen, überlegte er mit einem leichten Hoffnungsschimmer.

    David konnte zwar ein wenig rechnen, hatte das Schreiben aber nie gelernt. Aus diesem Grund ließ er einen Brief an seinen Onkel verfassen, in dem er vom Unglück seiner Eltern berichtete und vorsichtig anfragte, ob Onkel Theo sich seiner annehmen wolle. Nach zwei Wochen bereits kam ein Antwortschreiben. Onkel Theo und Tante Annerose sprachen darin ihr tiefstes Mitgefühl aus. Sie waren sehr betroffen vom Tod seiner Eltern. Sie standen sich sehr nahe, obwohl sie sich nur selten aufgrund der großen Entfernung besucht hatten. Es war für sie selbstverständlich und stand außer Frage, David bei sich aufzunehmen. Sie schrieben, dass sie sich sehr darauf freuten, sich um David kümmern zu dürfen. David wusste, dass die beiden sich nach einem eigenen Kind gesehnt hatten, aber schon lange ihre Hoffnung aufgegeben hatten. Vielleicht, so überlegte David, machte er ihnen sogar eine Freude, wenn er zu ihnen zog. Und ihm selbst würde es gut tun, wieder im Kreis vertrauter Menschen zu leben, sich neuen Aufgaben und Herausforderungen zu stellen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Er trauerte noch immer um seine Eltern, aber insgeheim fühlte er sich erleichtert, das kleine Fischerdorf mit den unzähligen Erinnerungen an sie verlassen zu können. Eine Postkutsche, die zweimal pro Monat auf ihrer Tour Simonshütte mit Briefen, Päckchen und Neuigkeiten versorgte, nahm David mit nach Königsstadt zum königlichen Palast, wo sein Onkel Theo als Verwalter der königlichen Bibliothek in hohem Ansehen stand. Die Reise dauerte eine Woche und kostete ihn Dreiviertel dessen, was er für den Verkauf der Fischerhütte und des Hausrats bekommen hatte. Er hatte alles zurückgelassen und was sich nicht verkaufen ließ, verschenkte er an seine Nachbarn und Freunde. Nur einige der wenigen passablen Kleidungsstücke und ein paar Erinnerungsstücke an seine Kindheit und an seine Eltern hatte er in seinem Bündel verstaut. Darunter waren zwei kleine Schnitzereien aus Treibholz, die Delfine beim Sprung aus dem Wasser darstellten. Lediglich die Schwanzflossen der Tiere waren noch unter der Wasseroberfläche, die bei beiden Figuren als Standfuß ausgearbeitet war. Er konnte sich noch gut an die helle Vollmondnacht auf dem Boot erinnern. Seine Mutter und sein Vater waren sehr geschickt mit dem Messer und wetteiferten, wer

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