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Auf getrennten Wegen: Die sieben Siegel der Dakyr - Band 4
Auf getrennten Wegen: Die sieben Siegel der Dakyr - Band 4
Auf getrennten Wegen: Die sieben Siegel der Dakyr - Band 4
eBook772 Seiten9 Stunden

Auf getrennten Wegen: Die sieben Siegel der Dakyr - Band 4

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Über dieses E-Book

Narfahel ist untergegangen, doch der Grund für den Untergang ist noch sehr lebendig. Von einer gewaltigen Flutwelle weggespült und in alle Himmelsrichtungen verstreut müssen sich die Eindringlinge in der tödlichen Umgebung der ehemaligen Provinz des Imperiums schnell zurechtfinden, um zu überleben. Niemand will sie hier, die Pflanzen und Tiere sind giftig und gefährlich und sogar das Land selbst droht, sie zu verschlingen. Und dann ist da noch Attravals Kompass. Die Flucht aus Kalteon mit dem uralten Artefakt war alles andere als einfach, doch ihn durch ein feindliches Sumpfland zu manövrieren erscheint praktisch unmöglich. Besonders, wenn alle ihre eigenen Wege suchen müssen und nicht auf Unterstützung zählen können. Und von Drakkan fehlt darüber hinaus jede Spur…
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum11. Juni 2021
ISBN9783754131602
Auf getrennten Wegen: Die sieben Siegel der Dakyr - Band 4

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    Buchvorschau

    Auf getrennten Wegen - Christian Linberg

    - 1 Ein Bad im Sumpf -

    Im ersten Moment war alles falsch herum.

    Außerdem stank es nach totem Fisch. Spontan beschloss er, sehr flach zu atmen. Seine Anstrengungen wurden damit belohnt, dass er nur wenig Wasser schluckte. Hustend hob er den Kopf – oder versuchte es zumindest.

    Er hing in einem Seil fest, in das er sich hoffnungslos verheddert hatte.

    Bei dem Versuch, den Helm abzunehmen, musste er darüber hinaus feststellen, dass die Schnalle fest gerostet war.

    Fluchend riss er daran, bis sie sich mit einem Ruck löste. Der Helm rutschte gehorsam vom Kopf und versank platschend im Wasser.

    „Das darf doch nicht wahr sein!", schimpfte er – worauf hin er von einem neuerlichen Hustenanfall ergriffen wurde.

    Nur allmählich gelang es ihm, seine Atmung zu beruhigen. Immerhin konnte er ohne den Helm wenigstens etwas erkennen. Die Sonne unter ihm nach zu urteilen, war es spät am Tage. Es war kalt und windig. Jetzt fiel ihm auch auf, dass er kopfüber in einem Seil gefangen, knapp über der Wasseroberfläche eines Sees mit dem Rücken auf einer Ölplane lag.

    Nur: wo war er gerade? Droin, der stets pragmatisch dachte, sah sich gründlich um, soweit er das in seiner misslichen Lage konnte.

    Worauf immer er lag, es war uneben, aber stabil. Zudem gab es einen metallischen Klang ab, als er mit den Knöcheln dagegen klopfte.

    Wenigstens Etwas.

    Er lag nur eine Handbreit über der Wasseroberfläche, des wohl am übelsten stinkenden Sees, den er je zu riechen das Missvergnügen gehabt hatte.

    Sein Körper meldete so viele blaue Flecken und Prellungen, dass er sich nicht sicher war, ob es dazwischen überhaupt noch Lücken gab.

    Er spürte nichts, das ihm nicht wehtat.

    Sehr vorsichtig tastete er sich ab. Zum Glück fand er keine Brüche, dafür aber schmerzte seine Brust bei jedem Atemzug wegen des Wassers, dass er geschluckt hatte.

    Mit einiger Anstrengung gelang es ihm schließlich, seinen rechten Arm soweit aus dem Seilgewirr zu befreien, dass er seinen Dolch am Gürtel erreichen konnte.

    Nachdem er das Seil an mehreren Stellen zerteilt hatte, konnte er sich endlich aufrichten. Ein Schwindel erfasste ihn, als das Blut langsam aus seinem Kopf zurück in den Körper floss.

    Sein Magen meldete Hunger, doch seine Nase wandelte das in Übelkeit, so dass er zunächst die Fische fütterte, obwohl er ernsthaft bezweifelte, dass es in diesem Gewässer welche gab.

    Behutsam rutschte er auf seinem unbequemen Sitz herum, um die Umgebung gründlich in Augenschein zu nehmen.

    Er befand sich in der wohl trostlosesten Landschaft, die er je gesehen hatte. Ein eintöniges Sumpfgebiet in Grau- und Brauntönen. Nirgends war ein grüner Halm zu entdecken, geschweige denn ein Baum oder Strauch.

    Das Wasser war verdorben, kein Vogel zeigte sich am Himmel. Seine Sitzgelegenheit war nicht größer als ein Schritt im Rund und sorgfältig verpackt. Zum Glück ragte sie aus dem Wasser heraus, ohne dass Droin sagen konnte, wie oder warum.

    Während er darüber nachgrübelte, wie er wohl ans Ufer kam, stellte er sich erneut die Frage, wo er überhaupt war.

    Vorsichtig wandte er sich auf seiner winzigen Insel herum, bemüht, einen Anhaltspunkt dafür zu finden.

    Dem Sonnenstand nach verlief der See von Ost nach West. In der Ferne konnte er Berge erkennen, das war nicht seine Heimat, die musste weiter im Norden liegen. Die genaue Richtung ließ sich nur mit einer Sonnenuhr oder einem…

    Beinahe wäre er vor Schreck ins Wasser gestürzt.

    Er saß auf Attravals Kompass. Dem wertvollsten und seit langem verschollenen Artefakt seines Volkes.

    Und dies hier war Narfahel. Die verlorene Provinz, auch Land der Toten genannt. – Einer der gefährlichsten Landstriche der bekannten Welt.

    Er war mit Drakkan, Jiang, Kmarr und Anaya, Phyria und Shadarr hierher gekommen, um den Kompass vor dem ausbrechenden Krieg im Bergreich von Kalteon in Sicherheit zu bringen, dessen Bergspitzen sich am Horizont zeigten.

    Hier hatten sie eines der sieben Siegel aufgespürt, dass seit Jahrhunderten eine Armee von Dämonen gefangen hielt.

    Phyria, die als Hüterin der Flamme einem geheimen Orden angehörte, der die Siegel bewahrte, hatte sie angeführt. Es war ihr mit Drakkan, Jiang und Anaya zusammen gelungen, den Siegelstein mit neuer Kraft zu speisen, so dass er ein weiteres Jahrhundert das Gefängnis verschließen würde. Bis zu diesem Moment hatten sie Erfolg gehabt.

    Narfahel wurde jedoch nicht umsonst als „verloren" bezeichnet.

    Einst hatte es zum Imperium gehört, aber die nördlichen Provinzen Orenoc, Denelorn, Morak und Narfahel hatten sich vor Jahrhunderten losgesagt.

    Der Krieg um ihre Unabhängigkeit war lang, blutig und letztlich für die Provinzen auch erfolgreich gewesen. – Nur Narfahel war dabei dauerhaft verändert worden. Sein erster Regent, Fern Tarn hatte einen Fluch gewirkt, der das gesamte Land betraf. Alles wurde feindlich, giftig oder verdorrte – manchmal auch alles auf einmal.

    Hier gab es kein Wasser, keine essbaren Pflanzen, keine Nahrung. Nur Raubtiere und Geister der einstigen Bewohner.

    Daher war Droin nicht unbedingt scharf darauf, einen Schwimmversuch zu machen.

    Bleiben konnte er an Ort und Stelle aber auch nicht.

    Langsam, um nicht zu früh ein Bad zu nehmen, legte er seine Rüstung ab. Mit dem Rest des Seils band er sie zu einem ordentlichen Bündel zusammen.

    Wenn er nun das längste Seilstück um seine Hüfte knotete, sollte er den Kompass hinter sich her ziehen können. Er hoffte inständig, dass das Artefakt nicht beschädigt worden war.

    Noch mehr Sorgen machte er sich dabei um seine Gefährten, von denen er nirgends etwas entdecken konnte.

    Die riesige Flutwelle, die sie alle hinweg gefegt hatte, hatte sie zugleich auch in alle Winde verstreut. – Zumindest hoffte er, dass sie lediglich einige Meilen voneinander entfernt gelandet waren.

    Wäre es nur die Welle gewesen, hätte er sich keine größeren Sorgen gemacht.

    Doch er hatte das vor Wut verzerrte Gesicht gesehen, dass sich im Wasser gezeigt hatte, kurz bevor er das Bewusstsein verloren hatte. – Und er hatte die Stimme gehört.

    Vermutlich war er der Einzige gewesen, denn die Sprache, in der sie gesprochen hatte, war längst untergegangen.

    Droin war über dreihundert Winter alt. In seiner Jugend hatte es sie noch in vielen Teilen der Welt gegeben: Imperyal, die alte Sprache des Imperiums.

    „Raus aus meinem Land!", hatte sie gebrüllt.

    Viel half ihm dieses Wissen allerdings nicht. Besonders nicht dabei, seine Gefährten zu finden, denn zunächst blieb das Problem, wie er zum Ufer kam.

    Strömung gab es keine, ein Ruder hatte er nicht und auch nichts, aus dem er eines hätte bauen können. Sein Speer wäre eine Hilfe gewesen. Leider war der irgendwo in den schlammigen Fluten versunken. Naurim waren einfach nicht für das Wasser gemacht.

    Es blieb also wirklich nur die bei weitem unangenehmste Form, sich aus der Lage zu befreien: Schwimmend. Auch wenn er bereits vor einer Weile schon zu dieser Erkenntnis gekommen war, zögerte er lange, ehe er sich langsam in die eisigen Fluten sinken ließ.

    - 2 Fell und Hörner -

    Ein stechender Schmerz im Nacken war es schließlich, der sie aus ihrem Dämmerzustand riss.

    Vorsichtig tastete sie nach der schmerzenden Stelle. Es war nichts gebrochen oder gerissen, sie hatte nur ziemlich lange in einer äußerst unbequemen Pose gelegen. Möglicherweise wären auch ernstere Schäden entstanden, aber Anaya war eine Aliana, eine Tochter der Waldgeister von Galladorn, die ihr eine wandelbare Gestalt verliehen. Sie konnte ihre Gliedmaßen verlängern und verkürzen, ihre Haut mit Rinde überziehen, sich die Sinne von Tieren leihen und auch die Natur um sich herum manipulieren oder um Hilfe bitten.

    Daher war die Lage nur unbequem, nicht gefährlich.

    Zwischen ihren Füßen hindurch konnte sie die Sterne sehen.

    Es war tiefste Nacht, als sie endlich halbwegs wach war. Wie sie feststellte, hatte sich ihr Geweih bei der Landung in einem Dornenbusch verheddert, während ihre Füße in einem Ast festhingen. Daher kam ihre unbequeme Position.

    Jeder Alian wählte seine erste Erscheinungsform bei der Initiation in einen Druidenzirkel selbst.

    Viele hatten ein Geweih oder Hörner, wenn auch meist kleiner als ihres, oft trugen sie Fell oder Federn, manche hatten sogar Flügel. Hufe und Klauen waren dagegen annähernd zu gleichen Teilen vorhanden.

    Es dauerte länger als gewöhnlich, die Konzentration aufzubringen, die sie benötigte, um eine Veränderung herbei zu führen.

    Schließlich gelang es ihr. Von ihrem Geweih waren nur noch zwei kurze, glatte Hörner übrig, die aus ihrer Stirn wuchsen.

    Langsam erhob sie sich.

    Der Schmerz im Nacken war noch da, ebenso wie eine Reihe Prellungen. Insgesamt waren es keine ernsthaften Verletzungen. Sie nahm Kontakt zu der sie umgebenden Natur auf, indem sie ihre Hände im Schlamm versenkte. Erneut wurde sie beinahe von der Lebenskraft überwältigt, die sie umgab. Mochte das Land noch so verdorben und tot wirken, tatsächlich pulsierte es vor verborgenem Leben.

    Rasch schwanden ihre Schmerzen, kurz darauf fühlte sie sich wieder frisch und munter. Sie war nicht übermäßig besorgt, ihre Gefährten waren nicht so leicht umzubringen.

    Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte sie begriffen, dass es nicht die waghalsigen Taten geistig Verwirrter waren, sondern wohl überlegte Handlungen. Sie schienen stets genau zu wissen, was möglich war und was nicht.

    Bei Droin und Jiang war das nicht weiter verwunderlich. Der Naurim war alt und erfahren genug zu wissen, was er konnte. Die kleine Shâi war zwar verschlossen, aber auch diszipliniert. Sie durchdachte jeden ihrer Schritte dreimal, bevor sie ihn machte.

    Drakkan hingegen…

    Sie seufzte. Keine Zeit für sentimentale Gedanken. Ziemlich sicher war sie drei oder vier Meilen weit vom Siegel entfernt. Die Welle – oder besser Ferrn Tarn – hatte sie alle von dort herunter gefegt. Die Präsenz des Arkanisten von Narfahel war überdeutlich gewesen.

    Er beschützte sein Land noch immer. Der Wahnsinn in seiner Stimme hatte ihre Sinne überflutet und ihr das Bewusstsein geraubt.

    Zunächst sah sie sich daher gründlich um. Seine Präsenz mochte noch immer in der Nähe sein.

    In ihrer unmittelbaren Umgebung waren nur Büsche und schlammiger Grund. Kein einziger Blutbaum wankte in der Nähe umher. Es war eisig kalt, wie sie jetzt erst bemerkte. Ihre Kleidung war durchnässt und sie zitterte. Wieder versenkte sie die Hände im Schlamm. Sie erinnerte sich an das warme Fell eines Höhlenbären, mit dem sie früher einmal einen Bau geteilt hatte. Sie spürte, wie sich ein zarter Flaum auf ihrer Haut bildete, dann sprossen einzelne Haare. Immer mehr und immer dichter wurden sie, bis Anaya von zottigem Fell bedeckt war.

    Fast sofort verschwand das Gefühl von Nässe und Kälte. Zufrieden schritt sie den nächsten, kleineren Hügel in Richtung Stadt hinauf.

    - 3 Eine Mahlzeit -

    Ein scharfer Schmerz bohrt sich in ihren Knöchel. Ein Ruck zerrte an ihr, der sie aus dem Nichts ihrer Ohnmacht befreite.

    Mühsam versuchte sie, die Augen zu öffnen. Sie hatte nur bei einem Erfolg. Das andere wurde von irgendwas blockiert.

    Schlamm.

    Das war alles, was sie zunächst sah. Dann gab es wieder einen plötzlichen Ruck an ihrem Bein.

    Die Schmerzen, die durch ihren Körper schossen, weckten sie vollends auf. Sie hing kopfüber in der Luft, in der Krone eines Baumes. Langsam hob sie den Blick vom Boden, gerade rechtzeitig, um das riesige Maul vor sich zu entdecken, das sich soeben im Stamm auftat. Eine zähe Ranke zerrte sie Stück für Stück darauf zu.

    Drei Reihen Zähne schnappten gierig nach ihr und eine schleimige Zunge züngelte sabbernd dazwischen nach ihr, wie ein Blutegel, der Witterung aufgenommen hatte.

    Andere Ranken griffen bereits nach ihren Armen. In wenigen Augenblicken würde sie vollständig darin gefangen sein.

    Sie versuchte, das Feuer in ihrem Inneren zu erwecken, doch wie bei nassem Holz wollte der zündende Funke nicht so recht Halt finden. Da erst bemerkte sie, dass sie vor eiskaltem Wasser nur so triefte. Schlamm verklebte ihre Haare und zog ihre Kleidung nach unten. Blitzschnell wurde ihr klar, dass sie der Blutbaum nur deshalb noch nicht verschlungen hatte, weil er Probleme mit ihrem Gewicht hatte. Sie zappelte so gut sie konnte, um es den Ranken schwerer zu machen, sie zu erreichen. Es funktionierte.

    Dabei kam sie nur dem Maul immer näher. Die Zunge konnte sie beinahe berühren. Aufgeregt sabberte das Maul im Angesicht der nahen Beute. Der Atem stank nach verwesendem Fleisch und verdorbenem Blut.

    Panisch versuchte sie wieder, sich in Flammen zu hüllen, doch die Kälte der Sachen, die sie trug, verhinderte, dass es ihr gelang.

    Wieder zog die Ranke um ihr Fußgelenk sie näher zum Ziel. Die pinkfarbene Zunge leckte ihr einmal durch das ganze Gesicht, als ihre zappelnden Bewegungen sie kurz zu nahe heran brachten. Die übrigen Äste und Ranken bogen sich nach innen, um ihr den Bewegungsspielraum zu nehmen. Ein erregtes Zischen entwich dem Maul der Kreatur. Phyria musste darum kämpfen, sich nicht zu übergeben, während ihr der klebrige Speichel langsam über die Wange rann.

    Ihre Gedanken rasten, was war zu tun? Sie musste überleben. Sechs Siegel warteten noch auf sie. Versagen war keine Option. Gefressen werden erst recht nicht. Sie hatte die Dämonen überlebt, die ihre Heimat verwüstet hatten.

    Verglichen damit war das hier nichts. Sie erinnerte sich an den Tag des Überfalls auf das Kloster, an die Schafe, an die schwarz gekleideten Soldaten…

    „Nein."

    Sie schlug ihre Augen auf und blickte ruhig genau in das Maul des Blutbaumes. Eine blaue, beinahe weiße Flamme schoss aus ihren Händen genau hinein. Die Hitze war so gewaltig, dass die Kreatur praktisch explodierte. Gekocht von den eigenen Säften brach die Borke auseinander. Kleine Flammen züngelten aus den Rissen, die Äste und Ranken verkohlten so schnell, dass sie noch in der Luft hing, als eine riesige Stichflamme oben aus der Krone hervorbrach und die gesamte Kreatur einhüllte.

    Phyria wurde fallengelassen, weil die Ranke, die sie festgehalten hatte, vom Rumpf abgerissen wurde. Noch bevor sie auf dem Boden landete, war der schlammige Sumpf zu steinhartem Lehm vertrocknet. Der Aufprall raubte ihr den Atem. Mühsam rappelte sie sich wieder auf.

    Gerade rechtzeitig, um den Baum krachend umstürzen zu sehen. Zu ihrer Erleichterung bemerkte sie dabei, dass er nicht mehr dazu gekommen war, um Hilfe zu rufen.

    Sie trat näher an die brennenden Reste heran. So wie er brannte, machte er nicht den Eindruck eines intelligenten Wesens. Auch der Brandgeruch sagte eindeutig Holz.

    Zufrieden über die Erkenntnis trat sie noch näher, um ihre Kleidung von der Wärme des Feuers trocknen zu lassen. Dabei warf sie einen ersten Blick in die Ferne.

    Trostloser Sumpf voller schlammiger Hügel und verdorrter Pflanzen erwartete sie bei hereinbrechender Nacht in jeder Richtung. Nirgends eine Spur ihrer Gefährten. In der Umgebung lag die Insel im Fluss, auf der sich das Siegel befand. Das felsige Plateau ragte mitten in der Stadt empor. Sonst hatte sie keine Anhaltspunkte zur Orientierung. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie schlecht sie auf das Leben in der Wildnis vorbereitet war.

    Fröstelnd trat sie zwischen die Flammen.

    Vollkommen regungslos verharrte er im Schatten eines frisch erlegten Blutbaums. Die vielen, kleinen Wunden überall an seinem muskulösen Körper störten ihn nicht mehr als Mückenstiche. Der Kampf war kurz und brutal gewesen, doch am Ausgang hatte von Anfang an kein Zweifel bestanden. Nur sehr wenige Kreaturen waren einem Kargat im Kampf gewachsen. Schon gar nicht, wenn sie den Angreifer zu spät bemerkten. Nur in einem Punkt hatte Shadarr sich geirrt. Der Leichensammler, wie die verfluchten, fleischfressenden Bäume auch genannt wurden, war alles andere als schmackhaft. Nach ein paar Bissen hatte er den Rest wieder ausgespuckt. Ein Schrank schmeckte auch nicht besser.

    Seine kleinen Augen glänzten von wacher Intelligenz, die man bei einer klauenbewehrten Bestie seiner Größe nicht erwarten würde.

    Aufmerksam beobachtete er einen kleinen Trupp Blutbäume, der ganz in seiner Nähe ungeschickt durch einen brackigen Bachlauf wankte. Dahinter erhoben sich flache Hügel aus der monotonen Sumpflandschaft. Der Gestank des verdorbenen Wassers mischte sich mit den fauligen Ausdünstungen des toten Baums zu einer kaum erträglichen Geruchskomposition. Trotzdem bewegte Shadarr keinen Muskel. Nur die Nasenflügel bebten hin und wieder kaum merklich.

    Er witterte durch die zehn Nasenlöcher dutzende unterschiedliche Noten aus dem Geruch heraus. Dazu konnte er genau sagen, wie weit die einzelnen Geruchsquellen entfernt und wie alt die Spuren waren.

    Nichts entging ihm. Er war der beste Jäger des Rudels und der stärkste noch dazu. Dennoch war ein Anderer der Rudelführer. Shadarr erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Beinahe hätte er Drakkan als Beute verschlungen. Erst im letzten Augenblick hatte er dessen Herkunft erkannt und so hatten seine Klauen ihn nur gestreift.

    Danach war der Kampf sogar beinahe ausgeglichen gewesen. Seit diesem Ereignis reisten sie gemeinsam.

    Drakkan glaubte, die telepathische Verbindung zwischen ihnen wäre Shadarrs Werk, doch das war falsch. Er hatte lediglich dafür gesorgt, dass Drakkan sich an sein Erbe erinnerte. – Nicht an das dämonische, an das Andere.

    Daher wusste er auch, wo ungefähr Drakkan gerade war und wie weit entfernt. Die Flutwelle hatte sie auseinander gerissen. Fünf Meilen trennten sie bereits und es wurden stetig mehr. Zeit aufzubrechen.

    In einer geschmeidigen Bewegung, langsam und zugleich kraftvoll, erhob er sich. Die Blutbäume bemerkten ihn nicht, sie wankten weiter ziellos umher.

    Gerade als er sich in Bewegung setzen wollte, drang der schwache Geruch nach Jasminblütenseife in seine Nase. Hier im Sumpf gab es nur eine Erklärung: Jiang konnte nicht weit entfernt sein. Sein Magen knurrte.

    Das war ein reizvoller Leckerbissen. Wenn sie nur entfernt so schmeckte, wie sie stets roch, wäre sie eine echte Delikatesse. Lautlos schlich er ihrer Duftspur hinterher. Sie war nicht weit weg, kaum eine halbe Meile.

    Bei all dem Gestank stach dieser Geruch so deutlich aus der Umgebung hervor, wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Zweimal musste er unterwegs anhalten, um sich vor einer Gruppe Blutbäume zu verbergen. Solange er sich nicht bewegte, war er praktisch unsichtbar, eine Gabe, die er bislang sorgsam vor seinem Rudel verborgen hatte. Sie hielten ihn immer noch für ein intelligentes Raubtier. Arkane Kräfte wären da nur schwer zu erklären gewesen. Doch Anaya hatte ihre Ansicht geändert, weil er den Fehler gemacht hatte, das Königsrudel zu erwähnen, was eine soziale Rangordnung unter allen Kargat verriet. Jetzt wussten die Alian Bescheid und bald die ganze Welt. Dann würden die Dämonen davon erfahren und sich fragen, was die Kargat noch alles verborgen hielten.

    Alles Sorgen für einen anderen Tag. Jetzt galt es zuerst, seinen Hunger zu stillen. Obwohl sein Gewicht dafür sorgen sollte, dass er tief im Morast versank, hinterließ er kaum mehr als flache Mulden, die sich rasch mit schlammigem Wasser füllten. Ein geübter Fährtenleser hätte keine Mühe, ihnen zu folgen, für die meisten Kreaturen, die er hier im Sumpf vermutete, waren sie jedoch praktisch unsichtbar.

    Auf dem Weg, den er eingeschlagen hatte, schwenkte er den Kopf gleichmäßig hin und her, weil er sicher gehen wollte, dass es wirklich nur Jiang war, die er witterte.

    Besser wenn ihn niemand beobachtete.

    Trotz seiner Sorgfalt wurde der Abstand zwischen ihnen rasch geringer. Hinter dem nächsten Hügel musste sie irgendwo sein.

    Geduckt schlich er zwischen niedrigem Gestrüpp und den Stümpfen abgestorbener Bäume um den Fuß des Hügels herum.

    So dauerte es zwar länger, bis zu seiner Beute, aber oben auf dem Hügel bot seine massige Gestalt ein zu gut sichtbares Ziel.

    Immerhin war Jiang mit arkanen Kräften ausgestattet, deren vollen Umfang er noch nicht gänzlich ergründet hatte. Möglich, dass sie ihm schaden oder ihm zumindest entkommen konnte.

    Lautlos folgte er einem dünnen Rinnsal, das zwischen verkrüppeltem Buschwerk hindurch ans Ufer eines träge vorbei strömenden Flusses führte. Fauliges Schilf säumte das Ufer an dieser Stelle. Flechten und Algen hatten sich darin verfangen. Zusammen mit abgebrochenen Zweigen zeigten sie an, dass vor Kurzem erst eine Flutwelle hier vorbei gerauscht war und den Unrat hier zurückgelassen hatte.

    Es dauerte einen Augenblick, bis er trotz seiner scharfen Augen die zierliche Gestalt von Jiang darunter ausmachen konnte.

    Sie lag regungslos halb im Schilf unter einem großen Ast eingeklemmt im Wasser.

    Zur Sicherheit witterte Shadarr sorgfältig in alle Richtungen. Außer dem schwachen Geruch von Seife, der von ihr ausging, konnte er keine anderen Lebewesen identifizieren, die in der Nähe verborgen lauerten.

    Äußerst vorsichtig schlich er näher heran. Keinen Augenblick ließ er die Umgebung aus den Augen.

    Gierig sog er den Geruch von Jiang auf. Das Wasser lief ihm im Maul zusammen, beinahe wie von selbst entblößte er seine gewaltigen Reißzähne. Die zierliche Frau bedeutete nicht mehr als zwei Bissen, allerdings zwei sehr wohlschmeckende.

    Gerade als er sie verschlingen wollte, nahm er ihre Witterung neu auf. Ihre Temperatur war erhöht, sie war krank. Das bedeutete, sie würde weniger gut schmecken, als erhofft. Er zögerte.

    Missmutig knurrte er einmal, dann schlossen sich seine mächtigen Kiefer um ihren zierlichen Körper.

    - 4 Leonide am Spieß -

    Kaum zu ertragende Agonie zerriss die Träume. Ein stechender Schmerz beendete die Bewusstlosigkeit auf einen Schlag. So musste es sich anfühlen, bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden. Wenn sich die Zähne in den Körper bohrten.

    Doch wieso nur an einer Stelle?

    Knapp unterhalb der Rippen pulsierten Wellen der Pein durch Bauch und Brust. Eine Bewegung war unmöglich, Gegenwehr auch. Hoffentlich war es bald vorbei.

    Leider hatte er kein Glück. Kmarrs Gebete blieben ungehört. Er schämte sich für den fehlenden Mut nachzusehen, was passiert war, doch die Schmerzen waren zu groß. Er schmeckte Blut – sein eigenes – im Maul. Das Atmen fiel ihm schwer, außerdem hatte er Probleme damit, sein rechtes Bein zu bewegen. Sogar laut fluchen, knurren oder eine einzelne Kralle zu krümmen, sandte ein Stechen durch seine rechte Seite in alle Gliedmaßen.

    Mühsam besann er sich auf Jiangs Meditationstechniken. Eine gefühlte Ewigkeit konzentrierte er sich ausschließlich auf seine Atmung. Keine anderen Gedanken ließ er zu.

    Zunächst gelang es ihm nicht, doch er gab nicht auf und ganz allmählich lockerten sich seine verkrampften Muskeln.

    Das Luftholen fiel ihm leichter und die Schmerzen verringerten sich von unerträglich zu kaum auszuhalten. Er behielt seine Atemübungen bei, bemüht alle Muskeln zu entspannen so gut es ging.

    Schließlich erinnerte er sich an seine Umgebung. Ohne die Augen zu öffnen, rief er sich die Ereignisse der letzten Tage ins Gedächtnis. Die Flucht aus Kalteon, die abenteuerliche Wildwasserfahrt über die Brücke der Titanen, die kurze Reise durch die tödlichen Sümpfe Narfahels bis zur verfluchten Stadt ohne Namen in deren Mitte das erste der Siegel von Lahar gelegen hatte, und schließlich die gewaltige Flutwelle, mit der jemand versucht hatte, sie alle zu töten. – Möglicherweise mit Erfolg.

    Erst jetzt blinzelte er vorsichtig, um sich ein Bild von der Verletzung zu machen, die er erlitten hatte. Geschockt musste er feststellen, dass ein zwei Schritt langer Ast aus seiner rechten Seite ragte, knapp unterhalb seiner Rippen.

    Das andere Ende hatte sich tief in den Schlamm gebohrt und hielt ihn aufrecht.

    Zum Glück lehnte er mit der linken Seite von der Hüfte bis zu den Schultern an dem Baumstumpf, zu dem der Ast gehört hatte.

    Der Aufprall hatte ihn abgerissen und Kmarrs Gewicht hatte ihn tief in den Morast gedrückt.

    Viel mehr als dort zu verharren, war dadurch unmöglich.

    Immerhin bot sich ihm eine gute Aussicht.

    Er war nur eine halbe Meile von der Stadt entfernt gelandet, nahe dem Ufer eines breiten Flusses. Ihre Mauern wurden von der untergehenden Sonne beleuchtet. Bald würde die Nacht hereinbrechen.

    Er konnte sogar Shadarr spüren, allerdings war dieser mehrere Meilen weit weg und entfernte sich stetig weiter. Es schien ihm gut zu gehen, doch mehr vermittelte ihm das geistige Band nicht.

    Zumindest einer hatte die Ereignisse also unbeschadet überstanden. Nicht das Kmarr sich darüber gewundert hätte. Das Kargat war unverwüstlich.

    Noch nie hatte er Shadarr ernstlich verwundet gesehen. Nur ganz zu Beginn, als Drakkan ihn das erste Mal mitgebracht hatte, hatten beide so gewirkt, als würden sie jeden Augenblick tot umfallen, so schwer waren ihre Verletzungen gewesen.

    Ähnlich wie die die er selbst gerade erlitten hatte.

    Ohne Hilfe würde er hier sterben, das war ihm sofort klar geworden, als er den Ast entdeckt hatte.

    Möglicherweise konnte er sich davon befreien, aber dann würde er verbluten. Doch solange er ihn nicht entfernte, würde die Wunde nicht heilen, sondern sich entzünden und ihn auf diese Weise schwächen, bis er schließlich starb.

    - Wenn nicht zuvor ein Schwarm Libellenegel oder eine Gruppe Blutbäume über ihn stolperte.

    Die Situation war ziemlich aussichtslos. Überrascht stellte er fest, dass er nicht bedauerte, nicht im Kampf gefallen zu sein, wie es bei seinem Volk als höchstes Ziel galt, sondern nicht mehr in der Lage zu sein, all die wunderbaren Erfindungen aus Biraanogks Buch nachzubauen, die nur darauf warteten von ihm wiederentdeckt zu werden.

    Außerdem würde er wohl nicht mehr erleben, wie Drakk zwischen Jiang und Anaya gefangen allmählich gezähmt würde. Auch wenn er als Leonide zu einer wilden und ungestümen Kriegerrasse gehörte, konnte er es an reiner Stärke und unterdrückter Wut nicht mit Drakkan aufnehmen. Seine einzige Schwäche waren schöne Frauen und seine unbeherrschte Art. Doch Anaya und Jiang konnte sein Temperament möglicherweise zügeln.

    Erstere mit Leidenschaft, Letztere mit Exotik.

    Von der Neuen in der Runde hielt Kmarr nicht besonders viel. Sie war jung und unerfahren und zu engstirnig. Zwar hatte sie beträchtliche Fähigkeiten und war äußerst zielstrebig, doch es mangelte ihr an Einfallsreichtum, den sie brauchen würde, um die Hindernisse auf dem Weg zu den anderen Siegeln zu überwinden.

    Außerdem, so überlegte er, war er sich nicht sicher, ob Droin ihr überhaupt weiter dabei helfen würde. Ohne Bezahlung taten Naurim für gewöhnlich gar nichts für Fremde, und Reichtümer besaß Phyria nun wahrlich keine.

    Er selbst war dennoch neugierig, wohin die Reise führen würde. Eines hatte er nämlich sehr deutlich im Gedächtnis: In dem Augenblick, in dem das Siegel zu neuem Leben erwacht war, hatte er plötzlich eine Vision gehabt. Darin hatte er das Bild einer Lichtung vor Augen gehabt, tief in den überwucherten Ruinen einer Stadt im Wald. So düster wie es zwischen den mächtigen Bäumen gewesen war, konnte es sich nur um den Schattenwald handeln. Ebenso tödlich wie Narfahel, konnte der Weg tiefer in den Wald leicht das Ende für sie alle bedeuten. Bedauerlich, denn die Geheimnisse des Waldes zu ergründen war ihm immer ein Anliegen gewesen.

    In seiner Jugend hatte er sogar versucht, ihn zu durchqueren. Doch das hatte sich als undurchführbar erwiesen und so war er mit ein paar Narben mehr daraus zurückgekehrt. Jetzt mit den anderen dorthin zu reisen war äußerst reizvoll. Schade nur, dass er hier in den stinkenden Sümpfen elend verenden würde.

    Als hätte Talia, die Göttin des Glücks ihn erhört, wandte sie sich sogleich von ihm ab. Über einen Hügel ganz in der Nähe hinweg, konnte er die Kronen einer kleinen Gruppe Blutbäume sehen, die langsam in seine Richtung wankten. Sie hatten ihn zwar noch nicht entdeckt, doch das würde sich ändern, sobald sie die Kuppe überschritten. Vorsichtig tastete er nach dem zerstörten Griff seiner Flamberge. Wenigstens mit der Waffe in der Hand wollte er sterben.

    - 5 Traumreise -

    Heiße Luft fuhr ihr über die Kehle, gleichzeitig war ihr rechter Fuß kalt und ihre Kleidung klitschnass. Ihr Gesicht fühlte sich taub und steif an. Zusätzlich hatte sie das Gefühl zu glühen, dabei fühlte sie Schweißtropfen über ihren Rücken laufen.

    Sie wurde grob hin und her geschleudert, während sich spitze Steine oder Dornen in Brust, Beine und Rücken bohrten.

    Sie wollte einen Arm heben, doch er rührte sich keinen Fingerbreit. Auch der andere schien zwischen glatten, gezackten Steinen eingeklemmt.

    Eigentlich sollte ihr das Sorgen machen, doch sie hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen.

    Irgendwie wollte ihr Verstand nicht so, wie sie es gewohnt war. Daher dauerte es sehr lange, bis ihr bewusst wurde, dass sie gar nicht auf dem Boden lag, sondern anscheinend durch die Luft schwebte, jedenfalls wippten ihre Beine und ihr Kopf immer wieder auf und ab, ganz regelmäßig, so wie auch die heiße Luft immer wieder über ihre Haut fauchte.

    Sie konnte nicht sagen, wie lange die Reise dauerte, doch ihre Nackenmuskeln sandten bald bei jeder Bewegung Wellen von Schmerz durch ihren Körper. Die unangenehmen Zacken fühlten sich inzwischen an, als würde sie langsam von ihnen zermahlen. Hätte sie die Kraft gehabt, sich zu wehren, hätte sie es getan, aber so blieb ihr nichts anderes übrig, als sie stumm zu ertragen. Der Schmerz sammelte sich, wurde stetig schlimmer, bis sie das Gefühl hatte, ihr Kopf müsste jeden Augenblick platzen, wenn nicht zuvor ihre Muskeln rissen. Fieber hatte sie gepackt. Ihr Körper verkrampfte sich.

    Zwischendurch fiel sie zum Glück in die schwarze Leere der Bewusstlosigkeit, nur um unsanft wieder herausgerissen zu werden. Jedes Mal, wenn sie glaubte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, wachte sie mit noch größeren Schmerzen wieder auf.

    Ein leises Wimmern entwich ihren Lippen. Obwohl kaum hörbar, schien es als wäre es doch bemerkt worden, denn plötzlich hörte das rhythmische Schaukeln abrupt auf. Zu den heißen Luftstößen gesellte sich ein leises Donnergrollen, das ihren ganzen Körper vibrieren ließ.

    Shadarr hatte ihre leisen Schmerzlaute sehr wohl vernommen.

    Knurrend stand er auf einer flachen Hügelkuppe in Sichtweite des Flusses, an dem er mit Jiang im Maul seit einigen Kerzenlängen folgte. Trotz der hereingebrochenen Dunkelheit hielt er sicher stets den gleichen Abstand.

    Er spürte und vor allem roch er, dass sie krank war. Als er sie mit seinen Zähnen gepackt hatte, um sie aus dem Sumpf zu tragen, hatte er wieder einmal gemerkt, wie merkwürdig es war, Gedanken zu formen, die nicht dem entsprachen, was er anschließend auch tatsächlich tat. Er übte sich darin, seit er Drakkans Gedanken und Gefühle empfing.

    Natürlich hätte er Jiang fressen können. Und sie hätte auch gut geschmeckt. Davon war er überzeugt.

    Doch wenn er das wirklich hätte tun wollen, hätte er es längst getan. – Vor vielen Wintern schon, als er sie zum ersten Mal gerochen hatte.

    Jetzt darüber nachzudenken, erschien ihm merkwürdig verwirrend. Für gewöhnlich tat er auch, was er dachte oder dachte was er tat oder höchstens noch, wie er es am besten tun konnte.

    Jiangs Geruch lud in der Tat dazu ein, sie zu fressen, doch sie war Drakkans Weibchen, auch wenn sie sich noch nicht gepaart hatten. Er verstand nicht, warum nicht, denn sein Rudelführer paarte sich sonst gerne und oft und mit vielen Weibchen. Ganz so wie es gut und richtig war.

    Sehr langsam ließ er Jiang zu Boden gleiten, damit sie sich ausruhen konnte.

    Sie mussten den Sumpf möglichst bald verlassen, damit er für sie beide etwas jagen konnte.

    Außerdem war das Wasser hier ungenießbar.

    Statt nach den anderen Mitgliedern des Rudels zu suchen, beschloss er, erst das zierliche Weibchen in Sicherheit zu bringen. Die Übrigen waren körperlich stärker und würden ohne seine Hilfe zu Recht kommen.

    Er blickte auf Jiang hinunter, die sich unruhig hin und her wälzte, ihre Hände abwehrend vor sich haltend.

    Ihr war nicht ganz klar, wo sie sich befand und warum ihre Reise aufgehört hatte, denn sie versuchte gerade, Zi tsin Tau davon abzuhalten, sie in sein Bett zu zwingen. Obwohl sie wusste, dass es keinen Zweck haben würde, versuchte sie immer wieder, ihn von sich weg zu schieben.

    Dieses Mal hatte er sie in einen kleinen Raum gedrängt, mit hartem, kaltem Boden. Er hatte sie zu Boden gezwungen, offenbar in einer Wäschekammer, denn alles um sie herum war feucht, klamm und dunkel.

    Sie wehrte sich nach Kräften, doch das schien ihn nur anzuspornen. Sie wagte nicht, ihre mystischen Fähigkeiten einzusetzen, denn er war ein hoher Beamter des Kaisers. Sie konnte sich nur wehren, bis er hoffentlich bald von ihr abließ.

    Shadarr stand ein wenig ratlos neben der zappelnden Shâi, die sich unsinniger Weise im Schlamm hin und her wälzte. Vielleicht half ihr das, wieder gesund zu werden. Dafür erregte ihr Gezappel mehr Aufmerksamkeit als seine massige, aber reglose Gestalt.

    Sein Magen knurrte. Zeit aufzubrechen.

    Jiang wurde plötzlich von starken Armen gepackt, die Ihr jeden Bewegungsspielraum nahmen. Wie eiserne Fesseln hielt man sie fest, so dass sie sich nicht mehr wehren konnte.

    Rücken und Beine meldeten sofort wieder Schmerzen.

    Beinahe sämtliche Muskeln verkrampften sich, aber wenigstens war ihr Nacken entlastet, weil sie auf dem Bauch lag. Obwohl sie voller Angst drauf wartete das Zi tsin Tau sie wie ein Stück Vieh bestieg, ergab sich ihr Körper schließlich den Anstrengungen und dem Fieber. Dunkelheit umhüllte sie, als sie allmählich das Bewusstsein verlor.

    - 6 Badefreuden -

    Das Wasser war sogar noch kälter als erwartet. Tausend Nadelstiche bohrten sich in seine Haut. Wie Öl klebte die Brühe an ihm, als er mit kräftigen Schwimmstößen auf das Ufer zu strebte. Auch der Gestank war so knapp über der Oberfläche noch unerträglicher. Droin hatte das Gefühl, sich durch Sirup ziehen zu müssen. Mühsam kämpfte er sich vorwärts. Es war nur etwas mehr als zwei Seillängen bis zu dem Streifen öden Landes, den er als Nordufer auserkoren hatte. Ganz überzeugt war er noch nicht, allerdings ziemlich sicher. Dort würde er einen Weg zurück bis zur Stadt suchen, um unterwegs nach seinen Gefährten Ausschau zu halten. So unübersichtlich die Landschaft auch war, allzu weit dürften sie nicht auseinander gerissen worden sein. Attravals Kompass alleine durch ein derart feindliches Territorium zu schaffen, war fast unmöglich. Er brauchte die Unterstützung seiner Gefährten. In Gedanken versuchte er die Bedeutung des Fundes zu ergründen. Einer der bedeutendsten Schätze der Naurim so nah bei sich zu haben war erschreckend und beflügelnd zugleich.

    Er mochte seinen Klan und dem gesamten Nordreich die Gelegenheit geben, in Gebiete vorzudringen, die sie vor vielen Wintern an die Schrecken der Tiefe verloren hatten. Eine reizvolle Vorstellung. Dafür musste er jedoch zunächst heil aus Narfahel entkommen.

    Die Kälte bohrte sich immer tiefer in seinen Körper und lähmte langsam seine Muskeln. Er durfte keinen Augenblick länger im Wasser bleiben als unbedingt nötig.

    Etwas streifte sein Bein.

    „Das hat mir noch gefehlt!", fluchte er, während er seinen Dolch zog. Noch zehn Schritte bis zum Ufer. Wieder eine Berührung, dieses Mal an der Schulter.

    Es streifte seinen Ellenbogen.

    Droin hatte den flüchtigen Eindruck von rauer Schuppenhaut.

    Dann fühlte er plötzlich einen scharfen Schmerz an seiner Wade. Etwas hatte ihn gebissen.

    Fluchend unterdrückte er das Bedürfnis, die Wunde zu untersuchen. Stattdessen mühte er sich, noch schneller zu schwimmen. Wieder ein Biss, dieses Mal in die Hüfte, dann ein weitere in seinen Arm.

    Er betrachtete kurz die Wunde, die knapp neben seinem Handgelenk war. Sie war kleiner als befürchtet. Ein kreisrundes Stück Haut von der Größe einer Münze fehlte dort. Die Ränder zeugten ganz deutlich die Abdrücke kleiner scharfer Zähne.

    Droin erhöhte sein Tempo. Nur fünf Schritte bis zum Ufer. Als wären seine Bemühungen das Stichwort, bissen ihn mehrere Kreaturen zugleich.

    Er schlug und trat wütend um sich, traf aber keinen seiner Peiniger. Immerhin schaffte er es so, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Er sprang regelrecht auf das Ufer. Keuchend blieb er einen Atemzug liegen, den Blick auf das Wasser gerichtet. Sein Körper war mit zahlreichen Wunden übersäht.

    Er hatte sie noch nicht alle gezählt, als er plötzlich ein platschendes Geräusch neben sich hörte. Er wandte den Kopf in die entsprechende Richtung. Eine kleine, unförmige Kreatur hockte im Schlamm neben ihm. Sie war nicht viel länger als seine Hand, hatte vier Froschbeine mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen und einen langgestreckten Körper wie eine Schlange. Anscheinend war sie blind, denn er konnte keine Augen entdecken.

    Leider schien es sie nicht zu behindern, denn das Maul öffnete sich sofort und wandte sich in seine Richtung. Es passte genau zu den Wunden.

    Bevor er reagieren konnte, schoss plötzlich eine unmöglich lange Zunge daraus hervor. Sobald sie seine Wade berührte, hüpfte das Biest wie ein Frosch zu ihm hinüber und biss hinein.

    Droins Dolch zuckte vor und spießte den Schlagenfrosch auf. Er stieß einen leisen, quakenden Laut aus, dann rutschte sie leblos von der Klinge.

    Wie aufs Stichwort begann das Wasser plötzlich zu brodeln. Schlangenfrösche hüpften oder kletterten ans Ufer. Eine regelrechte Horde. Sie quakten wild durcheinander, wie ein schlecht abgestimmter Chor. Dafür richteten sie ihre Aufmerksamkeit alle auf Droin.

    Obwohl die Bisswunden wie Feuer brannten, blieb Droin nicht liegen, um herauszufinden, wie groß der Schwarm war. Er hatte schon beim ersten Anzeichen den Rückzug angetreten. So schnell er konnte, zerrte er den Kompass vom Flussufer weg. Seine alten Knochen protestierten gegen die neuerliche Anstrengung und nicht zum ersten Mal überlegte er, ob es nicht allmählich an der Zeit war, in den Rat der Ältesten einzutreten.

    Er war bereits der älteste Naurim von Clan Fenloth, der noch immer die Welt bereiste.

    Auf der anderen Seite fühlte er sich gerade in Augenblicken wie diesen lebendig. Im Kampf auf Leben und Tod, in feindseligen Landstrichen, wo nur die Starken und Mutigen überleben konnten.

    Erst hielten die Schlangenfrösche noch mit ihm mit, doch mit jedem Schritt, fielen sie weiter hinter ihm zurück, je weiter er sich vom Wasser entfernte. Als der Boden unter seinen Füßen schließlich fest und trocken wurde, kehrten die kleinen Biester endgültig um. Ihr Quaken klang wütend, bevor die trübe Brühe sie wieder verschluckte.

    Droin beglückwünschte sich zunächst zu seinem Instinkt, dann ließ er sich ächzend zu Boden sinken.

    Genau rechtzeitig, um in der mittlerweile angebrochenen Nacht kaum zwei Bogenschussweiten entfernt eine gewaltige Flammensäule in den Himmel schießen zu sehen. Sie schrumpfte fast sofort wieder zu einem schwachen, rötlichen Lichtschein, der kaum über die Hügelkuppe hinweg leuchtete.

    Für Droin war sie jedoch völlig ausreichend gewesen.

    „Warum nicht einen Moment früher?", schimpfte er, als er sich mühsam wieder auf die Füße kämpfte.

    Zielstrebig marschierte er auf die Stelle des Feuers zu. Er war sich ziemlich sicher, dass nur Phyria so unachtsam gewesen sein konnte, allen Kreaturen der Umgebung anzuzeigen, wo es etwas zu fressen gab. Auf der anderen Seite: wenn er ihre Gaben hätte, wäre ihm das vermutlich auch egal.

    Bei den Kreaturen hier war Heimlichkeit allerdings die bei Weitem bessere Wahl.

    Ohne mehr als seine Stiefel anzuziehen und sich um die blutenden Wunden zu kümmern, marschierte er los, so schnell er konnte. Er sah sich gründlich um, mied alle Hügelkuppen und behielt Bolzenwerfer und Kriegshacke in den Händen. Das raue Seil, mit dem er die Ausrüstung und den Kompass hinter sich her zog, scheuerte über seine nackte Haut. Die Wunden brannten unangenehm, außerdem bluteten sie noch immer. Bald musste er anhalten, um sich darum zu kümmern, oder er würde zu viel von seiner Ausdauer verlieren, gleich ob sein Klan dafür berühmt war.

    Er schätzte die Distanz zu Phyria ab und entschied sich dann dafür, weiter zu marschieren. Obwohl er durch Senken und schlammige Rinnsale stapfte, die nicht auf direktem Weg zu ihr führten, kam er rasch voran. Er hatte in dem unbewaldeten Gebiet keine Mühe, die Richtung zu halten. Lautlos näherte er sich der unvorsichtigen Flammentänzerin.

    Phyria wärmte sich noch immer an dem brennenden Baum. Zwar war ihre Kleidung längst getrocknet, doch sie verspürte nicht die geringste Lust, sich auf den Weg zu machen. Erst hier und jetzt wurde ihr wirklich bewusst, dass sie ohne die Hilfe ihrer neuen Gefährten niemals so weite gelangt wäre. Sie konnte nur hoffen, dass sie sie davon überzeugen konnte, ihr auch weiterhin zur Seite stehen. Gerade in diesem Moment konnte sie…

    Was sie alarmiert hatte, war ihr nicht so ganz klar.

    Mit flammenden Händen wirbelte sie herum.

    Der Anblick, der sich ihr bot, war so grotesk, dass sie unwillkürlich lachen musste. Keine zehn Schritt von ihr entfernt stand Droin, die Arme in die Hüften gestemmt. Dass es der Naurim war, erkannte sie allerdings erst, auf den zweiten Blick. Er war von oben bis unten mit Schlamm bedeckt. Außerdem trug er nicht mehr als einen Lendenschurz und Eisenstiefel.

    „Was gibt es denn da zu lachen?"

    - 7 Dornen und Bären -

    Auch Anaya konnte die Stichflamme in der Entfernung erkennen. Leider befand sie sich mehr als zwei Meilen weit weg, mit dem Fluss dazwischen.

    Ein Bad erschien ihr für den Moment wenig erstrebenswert, denn sie konnte Dutzende armlanger Lebewesen darin ausmachen. Und ziemlich sicher waren das keine Fische.

    In Richtung Feuer entdeckte sie eine kleine Gruppe Blutbäume, die zielstrebig langsam auf einen anderen Punkt ganz in ihrer Nähe zu wankten. Aus ihrem Verhalten schloss sie, dass sie Beute gewittert haben mussten.

    Rasch prüfte sie ihren eigenen Geruch und maskierte ihn dann mit dem von vermoderndem Holz. Außerdem sorgte sie dafür, dass ihre Beine kürzer und ihre Hufe breiter wurden, damit sie nicht so deutlich sichtbare Spuren hinterließ. Das Bärenfell behielt sie vorerst bei, es war schön warm.

    Sie musste einen lustigen Anblick bieten. In braunes Fell gekleidet, kurze Beine, breite Hufe, kleine Hörner und eine grünliche Hautfarbe.

    Schulterzuckend setzte sie sich wieder in Bewegung.

    Wenn sich ihre Überlegungen als richtig herausstellten, würde sie gleich hinter dem nächsten Hügel auf die Beute der Blutbäume treffen. Sie musste sich beeilen, wollte sie ihnen zuvorkommen.

    Da sie die Bäume nicht für Kannibalen hielt, musste es eine andere Beute sein. Wahrscheinlich einer ihrer Gefährten. Sie eilte in gleichmäßigem Tempo voran, wobei sie sich bemühte, eine niedrige Silhouette zu bieten, um die Aufmerksamkeit der Leichensammler nicht auf sich zu ziehen.

    Solange die Bäume sich weiter in eine Richtung bewegten, waren sie noch nicht am Ziel. Das gab ihr die Chance, sie zu überholen, oder doch zumindest vor ihnen am Ziel zu sein.

    Kmarr sah seinem Schicksal ruhig entgegen. Die Flamberge war nutzlos, die Axt irgendwo verloren gegangen. Nur der Bolzenwerfer war übriggeblieben.

    So sehr er seine Erfindung auch schätzte, gegen die Blutbäume würde die Waffe wenig nutzen. Nicht umsonst fällte man Bäume mit einer Axt.

    Er hatte nur einen Versuch gemacht, aufzustehen. Die Schmerzen hatten ihm beinahe das Bewusstsein geraubt, noch bevor er sich überhaupt richtig bewegt hatte. Lieber blieb er sitzen und schoss, solange er konnte, Bolzen auf seine Feinde.

    Danach konnte er nur hoffen, dass sie ihn schnell fraßen.

    Ruhig hob er die Waffe zum ersten Schuss. Wie nebenbei bemerkte er, dass eine Vorrichtung zum Zielen nützlich wäre. Der Hebel zum Nachladen ließ sich bestimmt ebenfalls verbessern. Er hatte Mühe, ihn zu betätigen.

    Dafür war der kleine Wald aus Blutbäumen nur schwer zu verfehlen.

    Obwohl er sich bemühte, den Rückschlag mit den Armen abzufangen, ging trotzdem eine Welle der Agonie durch seinen Körper, die einen Schweißausbruch bewirkte.

    Mit zitternden Fingern quälte er den nächsten Lauf in Schussposition. Ohne darauf zu achten, ob er getroffen hatte, schoss er erneut. Dieses Mal tanzten bunte Punkte vor seinen Augen. Zwei Anläufe, dann hatte er den dritten Lauf feuerbereit gemacht. Dafür wurde er dieses Mal mit Schmerzgeheul belohnt, dass er leider nicht genießen konnte, weil er die verbleibende Kraft dafür brauchte, nicht das Bewusstsein zu verlieren.

    Zu den Flecken vor seinen Augen gesellte sich der bittere Geschmack von Galle im Mund, doch aufgeben kam nicht in Frage.

    Wieder schoss er auf die Bäume, die soeben den Abstieg von der Hügelkuppe begonnen hatten.

    Für einen Moment musste er doch die Besinnung verloren haben, denn im nächsten Augenblick lag der Bolzenwerfer in seinem Schoß und ein Bär, der Anaya bis auf den Kopf verschluckt hatte, kniete neben ihm.

    „Du solltest sie wieder ausspucken, riet er dem Bären: „Sie hat es nicht gerne, wenn man sie frisst.

    Doch der Bär wühlte mit seinen Pranken einfach nur im Dreck neben ihm. Bestimmt suchte er nach Wurzeln. Ehe er ihn fraß.

    „Nimm die Wurzeln von den Bäumen da. Die schmecken viel besser als ich", wollte er sagen, aber seine Zunge verweigerte ihm den Dienst.

    Anaya bemühte sich, zu verstehen, was Kmarr zu sagen versuchte, mehr als unverständliche Knurrlaute gab er dabei jedoch nicht von sich.

    Für mehr blieb keine Zeit.

    Sie hatte ihren gesamten Vorrat an Würgedornsamen im Kreis um sie herum im Schlamm verteilt. Jetzt lenkte sie die unbändige Lebenskraft des Sumpfes in ihr schnelles Wachstum.

    Dabei musste sie gleichzeitig aufpassen, nicht Kmarrs ohnehin schon schwache Lebenskraft anzuzapfen.

    Die Belastung zwang sie dazu, ihre eigene Verwandlung aufzugeben.

    Zunächst tat sich nichts, doch dann drängten sich die ersten Keimblätter aus dem Boden ans Licht.

    Sie entfalteten sich rasch zu jungen Trieben, die sich sofort weiter verzweigten.

    Anfangs wucherten die Ranken noch über den Boden in alle Richtungen. Erst mit Anayas Einfluss formten sie nach und nach einen Ring, der gut drei Mannslängen durchmaß. Die einzelnen Äste verhakten sich in den Pflanzen links und rechts, während sie gleichzeitig nach oben wuchsen. Schnell gewannen die Stämme an Umfang und Größe.

    Als die Blutbäume noch zwanzig Schritte entfernt waren, hatte die Hecke bereits einen halben Schritt Höhe erreicht und war einen Schritt tief. Die Ranken waren fingerdick geworden, mit kurzen Dornen und kleinen, rundlichen Blättern an allen Seiten, die nicht nur bitter schmeckten, sondern obendrein auch noch giftig waren.

    Obwohl ihre Anstrengungen die Konzentration forderten, warf sie zwischendurch dennoch einen Blick auf Kmarr, dessen Kopf nach vorne gesunken war. Er hatte das Bewusstsein verloren. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig, so dass keine akute Gefahr für ihn bestand.

    Die Hecke wuchs unterdessen weiter in die Höhe. Als sie einen Schritt erreicht hatte, neigte Anaya sie langsam nach innen, um über ihnen ein Dach zu formen. Nur so würde das Gebilde dem Ansturm der Blutbäume Stand halten.

    Diese waren mittlerweile schon bis auf zehn Schritte heran gewankt. Ihre Tentakel streckten sich erregt nach vorne, in Erwartung leichter Beute.

    Unterdessen schlangen sich die dornigen Ranken immer höher und höher. Unten hatten sie inzwischen die Dicke ihres Handgelenks erreicht und die Dornen waren so lang, wie ihre Finger.

    In Galladorn formten die Druiden aus ihnen Hecken um ihre Hütten und Dörfer, als Schutz vor Raubtieren.

    Außerdem umschloss der Grüne Wall das gesamte Reich. Dreißig Schritte hoch, und ebenso tief, bildete er eine undurchdringliche Barriere für alle ungebetenen Besucher, sofern sie nicht über Flügel oder Luftschiffe verfügten.

    Manche Druiden formten sogar ihre Häuser aus Würgedornen. Von innen verkleidet mit Brettern oder Lehm, mit natürlich vergitterten Fenstern, waren sie durchaus gemütlich zu nennen.

    Die Kuppel, die Anaya gerade schuf, war diesen Hütten nachempfunden, nur hatte sie nicht vor, Fenster oder eine Tür in ihren Entwurf zu integrieren.

    Das Dach würde nicht rechtzeitig fertig werden, also zwang sie einzelne Ranken, wie bei einer Gewölbehalle Stützbögen zu bilden. Die Zwischenräume füllte sie nach und nach mit kleineren Ranken.

    Keinen Augenblick zu früh.

    Schon brandeten die Blutbäume gegen das Hindernis. Sie kreischten überrascht, denn auch wenn sie viele Gemeinsamkeiten mit richtigen Bäumen hatten, eine harte Borke besaßen sie nicht. Deshalb bohrten sich die Dornen in ihre stammartigen Körper. Die Hecke erbebte unter ihrem Ansturm, hielt aber ohne Probleme stand. Sorge machten Anaya nur die Tentakel. Statt durch die Lücken im Dach zu greifen, versuchten sie direkt durch die Hecke zu gelangen.

    Ihre Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Die Blutbäume waren zu dumm für solch eine ausgeklügelte Taktik. Sie begriffen nicht, dass die Hecke vor ihnen kein abgestorbenes Buschwerk war, auf das sie normalerweise trafen.

    Und je länger sie brauchten, das Problem zu verstehen, je geringer waren ihre Chancen, doch noch zu einer Gefahr für Kmarr und sie zu werden, denn die Lücken im Dach wuchsen rasch zu.

    Gleichzeitig wurde es immer dunkler, denn das dichte Geflecht blockierte das ohnehin spärliche Tageslicht beinahe völlig.

    Als sie mit ihrem Werk schließlich zufrieden war, blieb nur das Kreischen der Bäume draußen zurück. Erschöpft zog Anaya ihre Hände aus dem Schlamm.

    Gerne hätte sie eine Weile ausgeruht, aber dafür blieb ihr keine Zeit. Die Verletzung von Kmarr war schwer und musste dringend versorgt werden.

    Vorsichtig begutachtete sie den Schaden, den der Ast im Körper des Leoniden angerichtet hatte. Es handelte sich um eine ernste Verletzung, die mit Sicherheit tödlich war, wenn sie nichts unternahm. Zum Glück war es ein Ast, auf dem er gelandet war. Wäre es ein Felsen oder ein eiserner Pfahl, hätte sie nichts für ihn tun können, aber so…

    Entschlossen griff sie nach dem spitzen Ende.

    Kmarr stöhnte leise, ohne aufzuwachen.

    Sie lockte das tote Holz mit dem Versprechen neuer Kraft, gesunder Erde und warmer Sonnenstrahlen Sie spendete etwas ihrer eigenen Lebenskraft, um es zu wecken.

    Schließlich spürte sie ein dünnes Rinnsal neuer Energie. Sie lenkte es behutsam in die Rinde, glättete sie, schrumpfte den Ast vom Durchmesser ihres Unterschenkels bis auf die Dicke ihres Armes. Zusätzlich wurde das Holz so glatt, bis es glänzte, als hätte sie es tagelang poliert. Am Rücken verstärkte sie es, damit Kmarr nicht noch weiter rutschen konnte. Zuletzt schwächte sie das Holz knapp vor seiner Brust, so dass sie den Rest ohne Mühe dort abbrechen konnte.

    Wieder stöhnte Kmarr knurrend. Ein dünner Blutstrom sickerte aus der Wunde.

    Für den nächsten Schritt brauchte sie ihn wach und einigermaßen bei Kräften.

    Da sie ihn nicht wecken wollte, entfachte sie mit ihren Vorräten aus Kohle und dem abgebrochenen Ast ein Feuer.

    Erst dann ließ sie sich erschöpft zu Boden sinken.

    Obwohl die Blutbäume ein nervtötendes Kreischen verursachten, war sie kurz darauf eingeschlafen.

    - 8 Jagdwetter -

    Sie erwachte mit Fieber und Schüttelfrost auf einem Berg abgestorbenen Schilfgrases. Ihr Lager befand sich zwischen zwei Hälften eines gespaltenen Felsens, die sie vor dem Regen schützten, den der Wind von Norden heran peitschte. Ihre Decke, die halb neben ihr lag, war verrutscht, doch sie fühlte sich zu schwach, um mehr zu tun, als sie halbherzig nach oben zu ziehen. Selbst den Kopf zu heben, strengte sie aufs Äußerste an. Immerhin lag ihr Wasserschlauch neben ihrer Hand.

    Dennoch dauerte es, bis sie ihn geöffnet hatte, um einen Schluck zu trinken. Anschließend zitterten ihre Muskeln wie nach einem Marsch von fünfzig Meilen ohne Pause.

    Das eiskalte Wasser war die Anstrengung jedoch wert. Danach sank

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