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Die Legende von Oasis
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eBook344 Seiten4 Stunden

Die Legende von Oasis

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Über dieses E-Book

Brielle ist ein rebellisches Mädchen, das ihr Leben auf einem Segelschiff verbringt und täglich auf der Suche nach Abenteuern ist. Seit Kindertagen träumt sie davon, so wie die Orkusianer, eine Fischflosse zu haben und durch die Meere von Oasis zu schwimmen. Eines Tages macht sie unter Deck eine grausige Entdeckung: ein Gefangener, von dem niemand sonst auf dem Schiff zu wissen scheint. Dieser behauptet, der vergessene Gott Isea und König der Orkusianer zu sein. Brielles Mutter, so behauptet er, die selbst eine Göttin sei, habe ihn gefangen genommen, um sich an ihm zu rächen.
Brielle ist misstrauisch, aber könnte Isea ihre Chance sein, um endlich eine Orkusianerin zu werden – ihre Chance auf Freiheit?
Doch sie hat keine Zeit, ihre Entscheidung zu überdenken, denn sie wird vom Strudel der Ereignisse mitgerissen. Die zornige Göttin Este rüstet zum Krieg, um die sechs Unterwasserreiche von Oasis zu zerstören. Und Brielle findet sich plötzlich inmitten eines schrecklichen Feldzugs wieder – angefacht von ihrer eigenen Mutter.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Juli 2015
ISBN9783739274935
Die Legende von Oasis
Autor

Janine Tollot

Die Schweizerin Janine Tollot wanderte im Jahr 2009 nach Kanada aus, wo sie heute mit ihrer Familie lebt, arbeitet und schreibt. Besuchen Sie die Autorin unter www.janinetollot.com

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    Buchvorschau

    Die Legende von Oasis - Janine Tollot

    rächen.

    BRIELLE

    Wie ein perfektes Ebenbild der Galionsfigur hing Brielle übers Wasser hinaus. Die Arme zu einem V hinter ihrem Rücken gespreizt und die Beine wie ein Affe um den Klüverbaum geschlungen, so hielt sie sich fest. Würde sie die Kraft verlieren, würde sie fallen und von dem mächtigen Klipper zermalmt werden. Aber das kümmerte Brielle nicht. Das Wasser spritzte ihr ins Gesicht, sie schmeckte das Salz auf den Lippen, und es brannte in ihren Augen. Sie war wie berauscht. Das Schiff glitt über die Wellen hinweg, als wären seine Segel Flügel, als wollte der Wind es zum Himmel tragen. Gischt wirbelte wie Schnee um den Bug.

    Und dann kamen sie – die Delfine. In einem Wettschwimmen jagten sie neben der Bugspitze her, ritten mit der stolzen Emerald die Wellen. Es waren Spinner-Delfine, die Meister unter allen Meeresakrobaten.

    Brielle lachte, während sie ihnen bei ihren Sprüngen zuschaute. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Drehungen zu zählen, und heute hoffte sie, dass einer den Rekord brechen würde.

    »Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben!«, zählte sie schreiend. »Komm schon, Junge, in dir steckt mehr!« Der Rekord lag bei dreizehn. »Wer gibt mir heute vierzehn?« Brielle dachte nur einen Moment über ihren Leichtsinn nach, verwarf den Gedanken sofort wieder und ließ mit einer Hand los. Sie streckte den Arm aus und beugte sich noch ein bisschen tiefer. Ein Delfin sprang aus dem Wasser und berührte mit der Nasenspitze ihren Mittelfinger.

    »Brielle!«, schrie eine schrille Stimme. »Komm sofort zurück aufs Schiff!«

    Das Mädchen griff mit der freien Hand nach dem Klüverbaum und schwang sich mit einem Schub aufwärts. Wie eine Raupe bewegte sie sich den Bugspriet rückwärts hinunter und kam nach einem geschickten Sprung auf dem Deck zum Stehen. Hier sah sie sich einer groß gewachsenen, schlanken Gestalt gegenüber, die mit ihrem langen Hals an einen Schwan erinnerte. Sie trug eine eng an ihrem Körper liegende königsblaue Cotte. Das dunkelblonde, gewellte Haar wehte wie ein Banner im Wind.

    Es war ihre Mutter Trielle, und in ihren sonst grünen Augen brannte ein Feuer der Wut. Die Männer auf dem Schiff ihres Vaters respektierten sie für ihre Gabe, das Wetter vorherzusagen und die Emerald durch sichere Gewässer zu lotsen, und natürlich liebten sie sie für ihre Schönheit und Güte. Die Frauen an Bord schätzten sie für ihre Geschicklichkeit im Nähen von Segeln und verehrten sie für ihre Weisheit und Großzügigkeit. Trielle war perfekt, so perfekt, dass es Brielle zuwider war. Sie liebte ihre Mutter, aber manchmal verspürte sie ihr gegenüber eine Abneigung, die sie sich nicht erklären konnte.

    »Wirst du nie lernen zu gehorchen, Kind!« Ihre verzweifelte Stimme ließ die Frage wie eine Feststellung klingen, an der selbst in hundert Jahren nichts zu ändern sein würde. Ihre Mutter schaute sie kopfschüttelnd an, wie sie tropfend nass vor ihr stand. Erkannte sie denn nicht, dass sie sich genau so wohlfühlte?

    »Wie oft haben dein Vater und ich dir gesagt, du sollst nicht vom Klüverbaum hängen?«

    Brielle antwortete nicht. Sie hatte es längst aufgegeben, ihrer Mutter begreiflich zu machen, warum sie dieses Spiel so liebte. Es gab keine Worte, keine Erklärungen. Mutter würde es nie verstehen.

    »Hast du deine Studien des Tages erledigt?«, fragte sie in einem Ton, der verriet, dass sie die Antwort kannte.

    »Nein.« Brielle rollte die Lippen zu einem Schmollmund. Der Befehl lag in Mutters Augen, sie brauchte ihn nicht auszusprechen. Mit zwischen den Schultern eingezogenem Kopf schlurfte sie an ihr vorbei. »So langweilig!«, murmelte sie. »Die Lehre von Garnen und Tauwerken. Als gäbe es nichts Wichtigeres in dieser Welt zu lernen.«

    Trielle wandte sich nach ihr um. »Jedes Kind auf der Emerald hat seine Studien erledigt, nur die Tochter des Kapitäns nicht.«

    »Tschuldige, dass ich eine solche Schande für dich bin.«

    Ihre Mutter packte sie am Arm, drehte sie zu sich um und schlug ihr ins Gesicht. Für einen Moment starrten sich die beiden an – etwas wie Hass gedieh zwischen ihnen. »Geh und trockne dich, zieh dir was an und beende deine Studien!«

    Brielle riss sich los und stampfte ohne ein weiteres Wort des Widerspruchs davon.

    Brielle bahnte sich ihren Weg durch das Gewühl aus Männern und Frauen, die sich gegenseitig Anweisungen zuriefen, wie die Rahen zu brassen und die Segel zu trimmen waren. Die Windrichtung hatte sich gerade geändert, und nun mussten die Segel neu ausgerichtet werden, damit sie weiter ihren Weg nach Osten fortsetzen konnten.

    Die Emerald war ein Vollschiff mit drei vollgetakelten Masten – der Stolz von Tjarus und Trielle, ihren Eltern. Die Mission des Schiffs war es, neue Länder und Inseln zu finden, sie zu benennen und zu kartieren, sowie die Meeresforschung, wofür sich Brielle am meisten interessierte. Die Mannschaft war immerzu geschäftig; wie Bienen im Stock kamen sie ihr vor. Segeln nähen und flicken. Segeln einziehen, hochfahren und reffen. Segeln bergen, setzen und festmachen. Taue herstellen und Wache halten. Reparaturen an Rumpf, Wanten und Masten. Fische fangen und Mahlzeiten zubereiten. Reinigungsarbeiten wie Deck fegen und die Pflege von Material waren tägliche Arbeiten auf der Emerald.

    Brielle aber standen die knochentrockenen Studien bevor, welche Heldar, der Schullehrer der Emerald, der Klasse heute Morgen aufgebürdet hatte. Sie ging die Stufen hinab unter Deck zu ihrer Kajüte, um sich trockene Kleider anzuziehen. Noch immer spürte sie das Brennen von Mutters Hand auf der Wange. Dann begab sie sich ins Klassenzimmer. Hier standen dreizehn kleine Tische mit je einem Stuhl für die Kinder und Jugendlichen der Emerald. Morgens fand der Unterricht für die Älteren, nachmittags der für die Kleineren statt. Nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen lernten sie, sondern auch alles, was es über das Segeln zu wissen gab, über Geologie, Flora und Fauna der Festlande, die für die meisten Seefahrer von Oasis eine faszinierende und neuartige Welt war.

    Mit einem vor Selbstmitleid schweren Seufzer ließ sich Brielle auf einen Stuhl sinken und schlug ein Buch über die Lehre von Tauwerken auf. Nachdem sie ihre Hausaufgaben erledigt hatte, kletterte sie auf den Fockmast, der vorderste der drei Masten, wo ihr Freund Pero im Krähennest saß und nach Land Ausschau hielt. Land! Das ach so kostbare Gut dieser Welt.

    Die Luft war erfüllt von dem kreischenden Hah-hah – Hah-hah der Sturmvögel und Sturmtaucher, die das Schiff umkreisten.

    »Hast du heute welche gesichtet?« Sie schaute zu dem alten Mann empor. Peros Haar war weiß und grau und reichte ihm bis in den Nacken. Vom Leben auf See seit Kindesbeinen, von der Hitze der tropischen Meere, der Kälte der Pole und den geißelnden Stürmen war seine Haut ledrig und schroff. Er hatte schon Maurius, ihrem Großvater, als Schiffsjunge auf der Emerald gedient, und heute war er der erste Steuermann von Kapitän Tjarus.

    »Nein, seit drei Tagen nicht mehr. Die letzten, die ich sah, haben nur ganz schnell die Köpfe aus dem Wasser gereckt und sind abgetaucht, sobald sie unser Schiff bemerkt haben.«

    »Warum?«

    »Die Orkusianer sind sehr schüchterne Menschen. Wenn sie nicht gerade mit einer Schule Delfine um die Wette schwimmen oder sich an Phytoplankton satt essen, meiden sie das Epipelagial die meiste Zeit.«

    »Was ist das Epipelagial?«

    »Das ist die lichtdurchflutete Zone. Sie reicht nur etwa zweihundert Meter in die Tiefe. Dann kommt die schlecht durchleuchtete Welt, die wir die mesopelagische Zone nennen. In diesen Bereichen herrscht ewiges Zwielicht. Und in etwa neunhundert Meter Tiefe beginnt die aphotische – die lichtlose – Zone.«

    »Hast du jemals einen Meermenschen aus der Nähe gesehen, Pero?«

    Sein Blick verlor sich in der endlos blauen Weite von Himmel und Meer, und seine Augen wurden wässerig. »Nur ein einziges Mal, und das ist lange her. Eine Orkusianerin hat sich auf einem Felsen in einer Brandung gesonnt. Was für ein Anblick!« Er lächelte. »Schön sind sie, die Mädchen dieser Rasse, Brielle. Eine Schönheit, die sich nicht in Worte fassen lässt. Ihre Haut ist sehr bleich, weil sie meistens in den dunklen Zonen schwimmen.«

    »Mutter sagt, die Orkusianer sind keine Menschen.«

    Pero erwiderte nichts und blinzelte wieder in die glitzernde Wasserwüste.

    »Sie sagt, sie seien gefährlich und bösartig. Einer hat ihren Bruder getötet.«

    Pero schwieg auch dazu.

    »Glaubst du auch, dass sie gemeine Wesen sind, Pero?« Jetzt sah Brielle ihn von der Seite an.

    Der alte Mann zog die Stirn kraus und überlegte eine Weile. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Ich habe noch nie einen kennengelernt. Und wir Schifffahrer wissen nicht viel über die Fischmenschen. Vielmehr interessiert sich die Mannschaft für die Ländereien. Wir haben keinerlei Kontakt zu ihnen, und sie spielen bei unserer Suche nach Land keine Rolle. Sie leben in einer Welt, in die wir nie gehen können, und wir leben ein Leben, das die Orkusianer niemals haben werden. Wir sind zwei völlig verschiedene Arten Mensch in zwei völlig verschiedenen Umgebungen. Wir wüssten nicht einmal mit ihnen zu kommunizieren. Zudem meiden sie uns, wie die Tiefseeangler die lichtreichen Zonen meiden.«

    »Manchmal stelle ich mir vor, eine Orkusianerin zu sein«, gestand Brielle in leisem Ton. »Ich frage mich, wie schnell ich mit Fischflossen schwimmen könnte, wie ich atmen würde und was ich essen müsste.«

    »Soviel ich weiß, sind die Meermenschen reine Phytoplanktonfresser.«

    »Wo leben sie? Ich meine, haben sie Häuser oder so was? Wie die Menschen, die sich auf dem Land angesiedelt haben?«

    Pero lachte vergnügt auf. »Wie ich hörte, hausen sie in Korallenriffen. Ganze Städte aus Riffen! Aber sie bauen sich ihre Häuser nicht so wie wir, weil sie weder Holz noch Leinen, weder Lehm, Metalle oder irgendwelche Werkzeuge kennen. Stattdessen lassen sie die Korallen ihre Städte bauen.« Jetzt glänzten seine Augen, wie schon viele Male zuvor, wenn er ihr von den Meermenschen erzählt hatte, und sie sah die Sehnsucht in seinen Augen. Pero war derjenige, der in ihr den Traum wachgerufen hatte, mit einer Fluke durch die Meere zu schwimmen. Ein Traum, von dem sie ihren Eltern niemals erzählen konnte. Seine Geschichten über Abenteuer und von der fremden Welt viele Tausend Meter unter ihnen waren der Grund, warum sie jeden Tag hier heraufkletterte und ihn während seiner Schicht im Mastkorb besuchte. Aber auch, weil sie hoffte, eine Schule Orkusianer oder nur einen von ihnen aus der Nähe zu sehen. Ja, sie fühlte die Macht des Meeres, staunte über sein tiefes Blau, atmete seinen salzigen Atem, aber in Wirklichkeit sah und wusste sie rein gar nichts über diese Tiefen unter ihr, die sie so faszinierten. Brielle verzehrte sich danach, mehr zu sehen als nur dieses Schiff mit seinen ewig im Wind flatternden Segeln und den öden Teppich aus Wasser, der sich rundherum in die Endlosigkeit erstreckte. Doch der Traum, in den Tiefen und Weiten der Ozeane zu schwimmen, war ein törichter, und wahrscheinlich würde er mit dem Alter verblassen.

    Brielle betrachtete die Emerald in ihren Einzelheiten. Sie war ein Vollschiff, und ihre drei Masten waren alle rahgetakelt. Das machte sie zwar nicht zum schnellsten Schiff, aber sie war gewandt und robust. Im Widerspruch zu ihrem Namen waren ihr Holz aus weiß angestrichener Eiche und ihre Segel aus Hanf. Die Mannschaft bestand aus hundertachtzig Leuten. Davon waren neunzig Männer, fünfundsechzig Frauen und fünfundzwanzig Kinder.

    »Da! Schau!«, riss Peros aufgeregter Ruf sie aus dem Grübeln. Er sprang auf und zeigte aufs Meer hinaus, wo eine riesige Schule Delfine sich tummelte. In hohen Sprüngen schossen sie aus dem Wasser, drehten sich in der Luft, vollführten akrobatische Drehungen und spielten miteinander. Und unter sie mischten sich Orkusianer. In Sachen Eleganz, Anmut und Schnelligkeit standen sie den Delfinen in nichts nach. Es war ein heiteres Schauspiel, und Brielle klatschte lachend in die Hände.

    »Hart steuerbord! Hart steuerbord!«, hörte sie ihren Vater weit unter ihnen brüllen, und sofort wieselte die Mannschaft umher wie ein aufgescheuchtes Rudel Mäuse.

    »Nicht gut«, murmelte Pero.

    »Was ist los?«

    »Wir geraten direkt in den Fischschwarm. Bei dieser Anzahl kann das gefährlich werden.«

    »Aber unsere Emerald ist so groß und schwer!«

    »Ja, aber das müssen beinahe tausend Delfine und Orkusianer sein. In diesem hohen Tempo üben sie die Kraft eines Orkans aufs Wasser aus.«

    Die Emerald bockte auf den Wellen auf und ab, hin und her. Brielle schaute zu, wie sich die Rahen drehten, die Rundhölzer knackten, die Taue knirschten, und endlich wandte sich das massige Schiff steuerbord – nach rechts. Fast den ganzen Tag lang war die Emerald mit Höchstgeschwindigkeit vor dem Wind gefahren, jetzt traf er quer auf die Segel und sorgte für Abdrift. Die Matrosen hielten sich an dem fest, was gerade in greifbarer Nähe war, manche hingen mit ihrem Leben an den Leinen, strauchelten, um die Balance zu wahren, während sie die Segel auf den neuen Kurs ausrichteten.

    »Ich muss sie aus der Nähe sehen!«, rief Brielle und hüpfte aus dem Mastkorb. Auf der Wante kletterte sie abwärts, und wäre sie nicht so aufgeregt gewesen, hätte sie unten angekommen festgestellt, dass sie ihren Rekord im Absteigen erneut gebrochen hatte. Peros Rufe nahm sie jedoch nicht wahr. Sie schwankte von der Wante zu den Schoten zum Bugspriet. Wie zuvor kraulte sie auf den Klüverbaum hinaus, der wie der Zahn eines Narwals weit über das Wasser ragte. Dieses Spiel hatte sie schon oft mit den Delfinen gespielt, wenn ihre Mutter außer Sichtweite war. Aber noch nie hatte sie die Gelegenheit gehabt, den Orkusianern so nahe zu sein.

    Delfine und Meermenschen wühlten die See auf, Gischt spritzte ihr ins Gesicht. Brielle kniff die Augen zusammen, in denen das Salz brannte. Aber es war ihr egal, sie musste sie sehen oder sie würde sterben.

    Da! Da war gerade einer in hohem Bogen aus dem Wasser gesprungen, nur wenige Meter zu ihrer Rechten. Er schien so groß gewachsen und seine im Sonnenlicht glitzernde Fluke so lang. Sie war tief bewegt von dieser Schönheit und Anmut, und ihre Sehnsucht wurde zum Fieber. Da war wieder einer, eine Orkusianerin, und Brielle stellte fest, dass die Meermenschen die verschiedenfarbigsten Fluken hatten. Keine glich der anderen, sie alle waren einzigartig. Wenn sie doch nur auch eine Fluke hätte! Sie würde loslassen, sich fallen lassen und selbst mit den Delfinen um die Wette schwimmen.

    Die Emerald steuerte weiter von der Schule ab und vergrößerte die Distanz.

    »Brielle!«

    Oh nein, ihre Mutter hatte sie schon wieder erwischt! Zwei Mal an einem Tag. Sie hatte eine Strafe verdient.

    DIE VERBORGENE TÜR

    Die Strafe war, das Holzdeck des Zwischendecks zu schrubben und einzuölen. Es war heiß hier unten, das Haar klebte ihr an den Wangen wie Spinnfäden. Brielle saß auf den Knien und schrubbte so hart, als wäre der Boden ihre Mutter und die Bürste das Ventil ihrer Wut. Warum musste sie ihr immer den Spaß verderben? Warum war sie immer zur falschen Zeit am falschen Ort? Ihr Vater war lange nicht so streng mit ihr. Er war der Abenteurer, der Spaßmacher, der Geschichtenerzähler, während ihre Mutter die Aufpasserin, die Verboteaufstellerin und die Strafenausteilerin war. Warum…

    Brielle hielt in ihrem wütenden Schrubben inne. Dort im Dunkeln war ein Umriss, der Umriss einer Tür. Sie setzte sich gerade auf und runzelte die Stirn. Nicht einmal Kapitän Tjarus kannte die Emerald so gut wie sie. Jedes Versteck und jeden Winkel hatte sie gefunden, hatte sämtliche Kajüten und Stauräume durchforscht, die Küche, Speisekammern, Ruderräume, ja sie wusste sogar, wo die Balken splitteten, die Segel neu genäht werden mussten, wo der Rumpf leckte. Nicht umsonst hatte Tjarus ihr den liebevollen Titel Die erste Hüterin der Emerald verliehen. Aber diese Tür war vorher nie da gewesen – oder doch? Sie lag im Dunkel einer lichtlosen Ecke, Weinfässer verbargen sie fast ganz, und wenn man nicht genau hinsah, war sie nicht auszumachen.

    Während sie aufstand, kam es ihr vor, als wäre die Tür gerade erst erschienen, als hätte sie… auf sie gewartet?

    Brielle schüttelte leise lachend den Kopf. »Blödsinn.« Doch dieses Gefühl, magisch von der Tür angezogen zu werden, wurde mit jedem Schritt stärker. Und jetzt, da sie vor ihr stand, schien etwas nach ihr zu rufen, sie zu bitten… nein, sie anzuflehen, einzutreten. Neugierde und Aufregung beflügelten sie – ein Gemütszustand, den sie nur noch selten erlebte. Sie drückte die Türklinke nach unten – sie war abgeschlossen.

    »Natürlich«, murrte sie und drehte sich enttäuscht ab. Eine weitere Entdeckungsreise, welche sie seit vielen Jahren in stiller Frustration Die Reise im Kreise nannte und die nur noch als Zeittotschläger diente, hatte bereits ein Ende genommen. Sie kehrte in ihre Kajüte zurück, Bürste und Boden vergessen, und legte sich aufs Bett. Mit gerunzelter Stirn starrte sie zur Decke empor. Was war hinter dieser Tür? Warum war sie abgeschlossen? Und warum hatte sie sie bis heute nicht bemerkt?

    Sie entschied, noch nicht aufzugeben und der Sache auf den Grund zu gehen.

    »Papa, ich habe gestern eine Tür gefunden.«

    Tjarus wandte sein Blick vom Meer ab und schaute auf sie herab. Ihr Vater war ein stämmiger Mann mit grimmigem Gesicht, aber gütigen Augen. Sein Haar war gekraust und schwarz, hier und da von ergrauenden Strähnen durchzogen. »Wo denn?«

    »Zwischendeck, wo die Weinfässer gelagert werden.«

    Er zog die Stirn in Falten. »Ich wusste nicht, dass da eine Tür ist.«

    »Ich bis gestern auch nicht.«

    »Was ist dahinter?«

    »Gute Frage.«

    »Abgeschlossen?«

    »Mmh.«

    In seinem Gesicht erkannte sie, wie sehr es dem Kapitän missfiel, dass es anscheinend eine Kajüte, eine Kammer oder was auch immer die Türe verbarg, auf seinem Schiff gab, von der er nichts wusste. »Geh und frag deine Mutter!«

    Und das tat sie.

    »Mama, ich habe gestern eine Tür gefunden.«

    Trielle schaute von der Landkarte auf, welche sie mit absoluter Hingabe und Sorgfalt selbst gezeichnet hatte. Seit Jahren arbeitete sie daran, den Planeten Oasis und die neu entdeckten Länder und Inseln zu kartieren. »Ach ja? Wo?« Ihr Ausdruck sprach von Neugier.

    »Zwischendeck. Wo die Weinfässer lagern.«

    »Ich wusste nicht, dass da eine Tür ist.«

    Dieselbe Antwort, die sie von ihrem Vater erhalten hatte. Aus einem ihr unerfindlichen Grund glaubte Brielle Tjarus, nicht aber ihrer Mutter.

    »Warum ist sie abgeschlossen?«

    Trielle widmete sich wieder ihren Zeichnungen. »Ich weiß nicht, von welcher Tür du sprichst.«

    »Hast du einen Schlüssel?«

    »Nein, habe ich nicht«, zischte sie. »Hast du den Boden dort fertiggeschrubbt und eingeölt?«

    »Ähm…«

    »Geh und beende deine Arbeit, oder du schrubbst für die nächsten sieben Tage das ganze Schiff!«

    Beleidigt drehte Brielle sich um. Immer nur Befehle von diesen Erwachsenen und kaum Antworten. Dann würde sie diese verflixte Türe eben aufbrechen.

    Mit einer Axt in der Hand stand sie mitten in der Nacht vor der mysteriösen Tür. Sie war keine Handwerkerin und hatte keine Ahnung, wie man Türschlösser knackte. Sie würde sich ganz einfach durch das Holz hindurch hacken. Genial! Wenn niemand von dieser Tür zu wissen schien, dann würde es auch niemanden kümmern, wenn sie kaputt war. Doch um ganz sicher zu gehen, drückte sie noch einmal die Türklinke nach unten. Wer weiß, vielleicht hatte jemand sie in der Zwischenzeit geöffnet und vergessen, sie wieder abzuschließen.

    Das Schloss gab tatsächlich nach.

    »Oh«, hauchte sie, und ihr Herz begann, vor Aufregung zu rasen. Sie ließ die Axt fallen und gab der Tür einen sanften Stoß. Vorsichtig, als könnte sie etwas von innen anspringen, spähte sie in den Raum. Mondschein fiel durch eine Luke und tauchte ihn in ein silbrig-dunkles Licht. Fäulnisgeruch schlug ihr wie eine Faust entgegen.

    Da hing eine Gestalt im Halbdunkel, hinter einem Gitter aus massivem Eisen, das von der einen Wand zur anderen reichte. Der Kerker war nur etwa zwei Meter lang und einen Meter breit. Die Handgelenke des Gefangenen waren in Schellen gequetscht, welche an zwei schweren Eisenketten von der Decke hingen.

    Brielle trat zögernd ein. Mit erhobener Öllampe schritt sie auf den Gefangenen zu, dabei wurde ihr ganz mulmig. Der Lichtkegel fiel auf ein zombiegleiches Gesicht und sie schrak abrupt zurück. Ihr Atem ging stoßweise, dennoch gab sie sich einen Ruck, das Licht noch einmal das erhellen zu lassen, was sie gerade gesehen hatte. Nein, kein Zombie, sondern ein heruntergekommener Mann mit schiefen, faulenden Zähnen saß auf einer hölzernen Kiste. Ihr war, als würde sein irrer Blick mit kalten Fingern über ihre Wangen streicheln. Die Bart- und Kopfhaare waren zu einem wirren, verfilzten Busch verknotet. Der Körper war völlig ausgemergelt, dreckige Lumpen hingen ihm von Knochen, die so dünn wie Zweige waren. Wo die Schellen seine Handgelenke umfassten, war die Haut verbrannt und faulig. Die Ausdünstungen, die von dem Mann ausgingen, waren unerträglich. Er roch, als hätte er sich seit Jahrzehnten nicht mehr gewaschen. Der Gestank von in der Hitze verrottenden Fischinnereien war dagegen wie Parfum.

    Noch nie hatte Brielle einen solch bemitleidenswerten Menschen zu Gesicht bekommen, und doch: wider des Ekels, den sie empfand, ging von dieser vergammelnden Kreatur etwas Anmutiges aus. Die unerklärlich anziehende Kraft, die sie draußen vor der Tür gespürt hatte, war hier drinnen um vieles stärker.

    »Wer bist du?«, fragte sie leise.

    »Hallo, Brielle. Bist du gekommen, um mich zu befreien?«

    Sie schreckte erneut zurück. »Woher kennst du meinen Namen?«

    »So lange habe ich auf dich gewartet. Sie hat mir von dir erzählt.«

    »Wer?«

    Er schwieg.

    »Und wie lautet dein Name?«

    Er sagte eine Weile nichts, als müsste er darüber nachdenken. Hatte er seinen Namen vergessen oder dachte er sich gerade einen falschen aus? »Isea«, antwortete er schließlich.

    »Isea.« Sie kostete den Namen auf der Zunge. Ein sehr hübscher Name für eine so grässlich anzuschauende Gestalt, die in ihrem eigenen Dreck und Gestank dahinvegetierte.

    »Warum hält man dich gefangen, Isea?«

    Er legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Es waren gemeine, sarkastische Laute, und dabei wurden die ganzen Überreste seines Gebisses sichtbar – schwarze, kantige Zapfen, die nur noch an Fäden am Fleisch hingen. »Man hält mich nicht gefangen, Frau tut es. Deine hochehrwürdige, liebenswerte Mama.«

    »Blödsinn. Mutter würde einem Menschen niemals so etwas antun.«

    Isea versuchte nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, und das beunruhigte sie. Schön, sie und Mama waren nie einer Meinung, sie war frech zu ihr und manchmal ertrug sie ihre bloße Gegenwart nicht. Dennoch war sie ein guter Mensch. Trielle war hochmütig, vielleicht arrogant, sie war aufbrausend und herrisch, aber sie war auch gerecht, gütig und sie liebte jedes einzelne Mitglied ihrer treu ergebenen Mannschaft. War diese traurige Gestalt wirklich Trielles Werk? War sie tatsächlich fähig, einen Menschen so sehr leiden zu lassen? Aber wer sonst würde diesen Mann eingekerkert halten, wenn nicht ihre Mutter oder ihr Vater? Schließlich waren sie die Kapitäne der Emerald.

    Isea schien zu merken, dass sie wankte und mit ihren Gedanken rang. »In den Augen deiner Mutter bin ich kein Mensch«, sagte er, »und damit hat sie recht.«

    »Na gut«, gab sie sich dieser Antwort fürs Erste hin, »aber warum hält sie dich gefangen?«

    Er grinste noch breiter und senkte seine Stimme zu einem Flüstern herab. »Weil ich etwas sehr, sehr Böses getan habe, Brielle.«

    Sie runzelte die Stirn, dachte nach, dann dämmerte ihr etwas. Sie zog die Luft mit einem erschreckten Laut ein. »Du bist derjenige, der den Bruder meiner Mutter umgebracht hat!« Sie schaute nachdenklich zu Boden, schüttelte dann den Kopf. »Nein, das kann nicht sein«, sagte sie leise zu sich selbst. »Ein Orkusianer hat meinen Onkel getötet.«

    Wieder das schallende, hämische Lachen. »Haha! Ja, aus der Sicht deiner Mutter könnte man das wohl so sagen.«

    »Aber du bist kein Orkusianer.«

    »Pst«, wisperte er, »komm näher, dann verrate ich dir ein Geheimnis!«

    Brielle schüttelte heftig den Kopf.

    »Komm schon! Ich beiße dich nicht. Siehst du denn nicht, dass ich wie ein Stück Schinken zum Räuchern aufgehängt bin?«

    Brielle atmete tief ein und fasste Mut.

    »Näher!«, zischte er.

    Sie nahm zögernd drei Schritte und stand nun direkt am Gitter. Der Mann lehnte sich so weit nach vorne, wie die Ketten es zuließen. Sein Atem roch irgendwie nach Tod. »Ich habe nie laufen gelernt«, flüsterte er und grinste grimmig.

    Verwirrt schaute sie auf seine Beine. Sie waren dünn wie Seile und sahen wie die eines Kindes aus – zu dürr und zu kurz im Vergleich zu seinem restlichen Körper. Sie passten so überhaupt nicht zu ihm.

    »Wie lange bist du schon hier?«, wisperte sie und fragte sich, wer zum Henker sie hier unten hören konnte. Doch ihr war klar, dass Mutter es mit Sicherheit nicht mögen würde, wenn sie mit diesem Mann redete, dass sie gar von ihm wusste. Die von allen so geliebte und hoch geachtete Trielle hatte ein schmutziges Geheimnis, das sie sogar ihrem Mann verschwieg.

    »Seit dreiundsiebzigtausendeinhundertsechs Tagen. Ich habe jeden einzelnen gezählt.«

    Sie rechnete fieberhaft, um diese Zahl in eine verständlichere Zeitspanne umzuwandeln. »Aber das sind ja über zweihundert Jahre!«

    Isea schaute zur Decke hinauf. »Du musst jetzt gehen, Brielle!«

    »Aber…«

    »Sie kommt!«

    Ihr Herz tat einen Sprung. Sie wollte nicht

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