Der Ostrock ist tot... Es lebe der Ostrock!: Zur Entwicklung des Ostrock in der Zeit von 1960 bis1990 und dessen Einfluss auf die internationale Musikszene bis heute.
Von Frank Flemming
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Über dieses E-Book
Nach umfangreicher Recherche und dem damit verbundenen Wieder- und Neuentdecken vieler wunderbarer Stücke entstand so zunächst eine Liste, welche nicht nur Erscheinungsjahr, Titel und Band, sondern auch die mediale Form der Erstveröffentlichung, Chartplatzierung und eine persönliche Wertung jedes Stückes enthält.
Der Textteil des Buches beschäftigt sich mit einem chronologischen Abriss der Entwicklung von Rock- und Popmusik im Osten Deutschlands und anderer ehemaliger Ostblockstaaten in der Zeit von 1960 bis 1990, somit solcher Fragen wie:
- Was ist Ostrock? Was sind dessen Charakteristika und Alleinstellunsmerkmale?
- Welchen Einfluss hatte "Westmusik" auf ihn?
- Was ist davon heute noch hörenswert? Was nicht?
- Welche Rolle spielten die nationalen Hitparaden?
- Was waren die wirklichen Nr. 1-Hits?
- Gab es dreiste Plagiate?
- Wer komponierte die besten Songs?
- Wer schrieb die besten Texte? Wie wirkten sie auf uns?
- Gab es politische Vereinnahmung?
- Lebt der Ostrock nach 1990 weiter?
- Wer sind dessen Erben?
- Welche Bedeutung hat dieses Genre für nachfolgende Generationen?
In 62 Kapiteln versucht der Autor an Hand zahlreicher Fakten Antworten auf o.g. Fragen zu finden. Angereichert mit Episoden aus dem eigenen Erleben entsteht so - ganz nebenbei - ein authentisches Bild des Lebens und "Kulturbetriebes" im Osten Deutschlands.
Mit einer - bisher erstmaligen - statistischen Auswertung der DDR-Jahrescharts, einer persönlichen Top-400 des Ostrock sowie weitere musikalischer Empfehlungen der Zeit nach 1990 wendet sich dieses Buch nicht nur an ein mit dieser Musik aufgewachsenes, sonder allgemein an ein an Rock- und Popmusik interessiertes Publikum.
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Buchvorschau
Der Ostrock ist tot... Es lebe der Ostrock! - Frank Flemming
0 Ostrock – „Zwischen Liebe und Zorn"
Im Jahr 1993, fast vier Jahre nach dem Fall der Mauer und drei Jahre nach dem Beitritt des kleinen zum großen Deutschland, singt Veronika Fischer eine Komposition von Franz Bartzsch mit einem Text von Kurt Demmler ein. Sie heißt Es war ein Land und enthält in ihren 2:04 Minuten inhaltlich und musikalisch all das, was den so genannten Ostrock ausmacht: Man hört eine ausgebildete, klare Stimme zu einer von Klavier und Streichern gespielten Ballade und lauscht einem Text, der das Befinden des größten Teils der Menschen dieses untergegangenen Landes treffsicher und mit wenigen Worten schildert:
„Es war ein Land, mein Land
Mir so verwandt
Dass ich weinte, als ich es verlor
Es war ein Land, mein Land
Und war es doch nicht mehr
Als es die Menschen band an sich
Mit Macht und Hinterlist
Ich hab’s geliebt, gehasst, geliebt, gehasst
Doch nie war es mir gleich!
Es war mein Land, kein Land
So schnell wie es verschwand
Von einem Tag zum anderen
Dass kein Mensch es wiederfand
Es war ein Land, gebaut auf Sand
Und einem Traum
Und als das Land verschwand
Blieb nur der Traum, auf dem es stand."⁴⁷
Auf mich wirken diese Worte wie ein Schlussakkord: die drei Großen des DDR-Rock - Fischer, Bartzsch und Demmler - setzen ihn.
Schon damals bei seiner Veröffentlichung 1993 und auch jetzt, weitere 28 Jahre nach Entstehung dieses kleinen Meisterwerkes, stellt sich die Frage, was von alldem heute noch erinnerungswürdig und bewahrenswert ist.
Viel ist in der Zeit nach der sogenannten Wende über Politik, Planwirtschaft, Alltagsleben, Recht und Unrecht, Schule, Armee, Erziehung, Überwachung, Freud und Leid und eben auch über Beat, Rock und Popmusik aus der DDR und den sogenannten Bruderländern geschrieben worden:
Das „Rocklexikon der DDR" von Götz Hinze¹ listet alle wichtigen Bands, Interpreten, Texter, Radiosendungen und Begriffe rund um den Ostrock auf. Birgit und Michael Rauhut haben alle Veröffentlichungen des einzigen Schallplattenlabels Amiga für den Bereich Rock- und Popmusik von 1964 bis 1990 in Buchform veröffentlicht.²
Im Interviewbuch „Du hast den Farbfilm vergessen³ äußern sich einige der wichtigsten Vertreter des DDR-Rock mit vielen interessanten Episoden zu Geschichte, Musikeralltag, Erfolgen und Rückschlägen innerhalb dieser Szene. Zahlreiche Biografien von bzw. über Renft, Puhdys, Karat, Veronika Fischer, Cäsar, Reinhard Lakomy, City, Stern-Meißen/Lift/electra als „Sachsendreier
und Bands aus den sogenannten Bruderländern Ungarn, Polen und Tschechien sind erschienen.
Nicht zu vergessen ist die von 2004 bis 2017 in zweimonatlichem Abstand wiedererschiene Zeitschrift „Melodie und Rhythmus". Sie lieferte zumindest im Zeitabschnitt bis 2009 beste Informationen zur aktuellen Entwicklung des Ostrock, Christian Hentschel sei gedankt.
Doch wer will schon ausschließlich über Musik lesen? Musik ist ja eigentlich zum Hören da. Zum wieder und wieder hören. Das konnte man im Osten bis 1989 nur vom Medium Schallplatte oder von selbst mitgeschnittenen Tonbandaufnahmen.
Als nach der Wende auch CDs in ostdeutschen Haushalten Einzug hielten, erschien natürlich auch einiges aus dem Bereich Ostrock auf diversen Samplern bei „Mediamarkt, „McDonalds
, „FF-Dabei, „Super-Illu
und anderen als „Beigabe. Hier wurde meist wahllos zusammengestellt und Ostrock für eine schnelle Mark regelrecht verramscht. Anspruchsvoller und interessanter waren dann die ab 1995 erschienen CD-Sampler „Beatkiste
und „Notenbude, sowie die 1998 erschienene und thematisch geordnete 16-CD-Box „TD64-Story
. 2008 erfolgte dann endlich unter der ordnenden Hand von Jörg Stempel die Veröffentlichung der CD-Box „Amiga-Hit-Collection sowie in jüngster Zeit die Wiederveröffentlichung diverser Vinyl-Amiga-Alben. Vieles davon, jedoch nicht alles, kann man sich zudem über Amazon oder iTunes anhören, bzw. digital oder eben auch „körperlich
erwerben.
Das ist tröstlich, denn es zeigt, dass es für Ostrock scheinbar noch immer einen Markt gibt. So ist nach Kurt Demmlers Worten zwar ein Land verschwunden, dass kein Mensch mehr wiederfindet, die Musik, die in diesem Land entstanden ist, verschwand jedoch nicht.
Sie wird immer noch durch Auflegen alter Vinyl-Schallplatten gehört, mehrheitlich jedoch als CD oder Download neu- oder nacherworben.
Was macht eigentlich den Reiz dieses Genres aus? Im internationalen Vergleich, das heißt den deutschen, englischen oder gar amerikanischen Single-Charts spielte er keine Rolle⁴/⁵. Abgesehen von ein paar wenigen Platzierungen von Frank Schöbel mit Wie ein Stern (Platz 37 in 1971), Jürgen Hart mit Sing mei Sachse, Sing! (Platz 56 in 1980) und Karat mit immerhin 5 Titeln von 1981 bis 1990 findet Musik aus dem Ostblock im Westen Deutschlands kaum statt.
Günther Ehnerts „Hitbilanz der Deutschen Charts"⁵/⁶ weist zudem nachfolgende LP-Nennungen aus:
– City, LP City, ohne weitere Angaben
– Karat, LP Schwanenkönig, 29.09.1980, Platz 26, 24 Wochen platziert
– Karat, LP Albatros, 16.02.1981, Platz 40, 7 Wochen platziert, Goldene Schallplatte
– Karat, LP Der Blaue Planet, 19.04.1982, Platz 8, 48 Wochen platziert, Goldene Schallplatte
– Puhdys, LP Computer-Karriere, 21.03.1983, Platz 64, 1 Woche platziert
– Karat, LP Die sieben Wunder der Welt, 09.01.1984, Platz 54, 3 Wochen platziert.
Die Single-Nennungen betreffen ausschließlich Karat mit:
– Über sieben Brücken, 05.01.1981, Platz 15, 13 Wochen platziert.
– Der blaue Planet, 09.11.1981, Platz 14, 30 Wochen platziert.
– Jede Stunde, 19.07.1982, Platz 9, 29 Wochen platziert.
– Hab dem Mond mit der Hand berührt, 18.06.1985, Platz 36, 1 Woche platziert.
– Immer so, 19.02.1990, Platz 87, 4 Wochen platziert.
Nach oben genannten Nennungen tröstet es vielleicht, dass in den deutschen Charts auch kaum Titel aus den Nachbarländern Frankreich und Schweiz oder gar aus Dänemark vertreten sind, obwohl es dort sicher auch eine passable Rockmusikszene gab. Die fehlende Präsenz ostdeutscher Rockmusik im westlichen Teil Deutschlands liegt schlicht und ergreifend am politischen und kommerziellen Unvermögen der dafür verantwortlichen Funktionäre.
Wenn ich höre, dass die erste Puhdys-LP-Veröffentlichung im Westen mit allen dazugehörenden Rechten für eine Einmalzahlung von 25.000 DM verscherbelt wurde, reicht dies als Beleg. Ostrock hätte eine größere Beachtung verdient. Nicht nur wegen der zum Teil originellen, eingängigen Melodien und professionellen Arrangements, sondern vor allem wegen der gehaltvollen deutschen Texte.
Jahre bevor Udo Lindenberg sein erstes deutschsprachiges Album herausbrachte (Daumen in den Wind, 1972), sangen Omega, Illès, Niemen, Natschinski, Horst Krüger, Renft und Puhdys schon in ihrer Landessprache. Dies war zwar zunächst „von oben", das heißt den Kulturpolitikern verordnet, wurde jedoch vom Publikum zunehmend akzeptiert und später sogar gewünscht. Bands wie Puhdys oder Renft traten aus ihrer Ersatzfunktion für internationale Vorbilder heraus und kreierten Eigenes. Und sie zeigten Mut, wenn sie sangen:
„…was in deinem Kopf steckt zählt
nicht die Haare und auch nicht der Hut"⁴⁸
oder
„…irgendwann will jedermann
raus aus seiner Haut
irgendwann denkt er dran
wenn auch nicht laut"⁴⁹
Solche Texte berührten, rüttelten auf, waren Aufbegehren, ein wenig Revolution, Glaubwürdigkeit.
Leider - das sei wiederum grundsätzlich vorangestellt - war nicht alles, was da aus den Boxen und Kopfhörern in unsere Ohren gelangte, aufrührerisch, tiefsinnig und originell. Im Gegenteil, das Wenigste davon ist heute noch hörenswert, hat heute noch Bestand.
Und somit kommen wir also zum Kernpunkt dieses Buches: Wir wollen herausfinden, welche aus der Fülle der in der Zeit von 1960 bis 1990 bei Rundfunk und Platte produzierten Titel wirklich hörenswert sind.
Welche Wirkung sie bei Erscheinen und heute auf uns hatten bzw. haben.
Welche Erinnerungen sie wecken.
Welche Bedeutung sie für nach uns folgende Generationen haben könnten.
Es geht somit um Fragen wie: Was ist Ostrock? Was brachte er an „guter und „schlechter
Musik hervor? Soll heißen: Was ist heute noch hörenswert, was nicht? Welche Rolle spielten die nationalen Hitparaden? Welche Titel waren die wirklichen Nummer-1-Hits? Welchen Einfluss hatte die Westmusik auf den Ostrock? Gab es dreiste Plagiate? Wer schrieb die besten Songs? Wer schrieb die besten Texte? Lebt der Ostrock auch nach dem Untergang der so genannten sozialistischen Staatengemeinschaft - gemeinhin Ostblock genannt - als eigenständige Musikform weiter?
Ich habe lange darüber nachgedacht, welchen Ansatz man zur Beantwortung oben genannter Fragen wählen sollte? Einen rein wissenschaftlichen sicher nicht.
Dafür sind die mit dem notwendigen kulturhistorischen und philosophischen Wissen ausgestatteten Kritiker und Musikwissenschaftler zuständig. Stattdessen will ich versuchen, mit Hilfe der eingangs erwähnten Literatur, vor allem aber aus eigenem Erleben als Hörer, Fan und aktiver Rockmusiker und Texter oben genannte Fragen kritisch, jedoch objektiv zu beantworten.
1 „Seltsam ist die Welt" – Ostrock in den 1950er und 1960er Jahren
Mit der Neuaufteilung der Welt nach dem Ende des 2. Weltkrieges ging nicht nur eine territoriale, militärische und wirtschaftliche Teilung einher, sondern auch eine kulturelle. Diese wiederum hatte ihre Wurzeln bereits in den 1930er Jahren, in welchen beispielsweise seitens Nazideutschlands jegliche Musik, die aus dem Westen, sprich aus den USA kam, als „Affenmusik" und minderwertig bezeichnet und verboten wurde. Gemeint waren hierbei Musikstile der aus Afrika verschleppten Schwarzen, die als Sklaven unter unmenschlichen Bedingungen den Reichtum der USA mitbegründeten und die während der Arbeit bzw. in Kirchen eine Musik zelebrierten, aus der sich später Musikstile wie Gospel, Blues und Jazz entwickelten.
Diese Auffassung hielt sich auch weitere 10 Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges sowohl in West- als auch in Osteuropa. Selbst als die Welle des Rock ’n’ Roll ab 1955 von den USA nach England schwappte und erstmals eine von der Erwachsenenwelt losgelöste Jugendkultur begründete, wurde dieses Phänomen von der Politik als eine kurzzeitige Laune abgetan. Hört man sich die herausragenden Rock ’n’ Roll-Titel der Jahre 1955 bis 1959 an, stammen diese ausschließlich von Künstlern aus den USA: Bill Haley, Elvis Presley, Little Richard, Chuck Berry, Jean Vincent, Buddy Holly usw.
Die Saat war zwar gelegt, ging jedoch im Rest der Welt erst Jahre später auf. Selbst in England, dem sprachlich und wirtschaftlich verwandtesten Land dauerte es bis 1960, ehe sich dort heimische Bands wie die Shadows oder Ventures mit eigenen Titeln etablieren konnten.
Was ab 1963 dann mit der Musik der Beatles losgetreten wird, ist hinlänglich bekannt. Kaum bekannt ist jedoch, was in den Jahren 1955 bis 1960 im Ostblock, das heißt in den von der Sowjetunion besetzten Ländern im Bereich der Jugendmusik passierte.
Glaubt man den Schilderungen der einschlägigen Literatur, wurde in den Jahren 1955 bis 1965 auf den Tanzsälen des Ostblocks größtenteils nur das nachgespielt, was gerade „in" war und was man auf Radio Luxemburg oder den wenigen aus dem Westen illegal eingeschleusten Schallplatten anhören konnte. Eigene Ideen im Bereich Jugendmusik waren weder vom Publikum, noch von den Kulturfunktionären gewünscht.
Einzig das 1964 in Ostberlin stattfindende „Deutschlandtreffen", welches drei Jahre nach dem Mauerbau stattfand und sogar ein eigens dafür gestartetes Rundfunkprogramm - TD64 - kreierte, brachte ein wenig Tauwetter in den zwischen Ost und West herrschenden kalten Krieg. Erste eigene Produktionen entstanden. Das einzige ostdeutsche Plattenlabel - Amiga - brachte zu dieser Zeit sogar zwei Beatles-Singles mit den 1962 in Hamburg entstandenen Bert-Kaempfert-Aufnahmen, sowie eine Beatles-LP heraus.
Aus eigener Produktion erschienen die LP-Sampler „Big Beat I und II mit Aufnahmen der „Gitarrencombos
Butlers, Sputniks, Theo-Schuhmann-Combo, Franke-Echo-Quintett, Olympic aus Prag und anderer sowie eine Reihe von Singles.
Über Veröffentlichungen aus den so genannten Bruderländern Sowjetunion, Bulgarien, Rumänien und Ungarn ist aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre nichts bekannt. Lediglich aus Polen taucht bei discogs.com im Bereich Beat/Jazz/Rock/Pop seit 1962 immer wieder ein Name auf: Czeslaw Niemen.
Infolge des Beat-Verbotes von 1965 - Originalton Staatschef Walter Ulbricht: „Ich denke, Genossen, mit diesem Yeah-Yeah-Yeah und wie das alles heißt sollte man doch Schluss machen!" - war in der DDR auf Jahre das Tauwetter beendet, was sich auch in den Veröffentlichungen bei Amiga widerspiegelt.
Hört man sich heute - also mehr als 50 Jahre nach Erscheinen - die wenigen, weil politisch höchstens geduldeten, jedoch eher nicht gewollten Beatproduktionen des Ostrocks der 1960er Jahre an, bleibt leider nicht viel Hörenswertes hängen. So finden sich in meinem Musik-Archiv lediglich 5 hörenswerte Titel aus dem Bereich Schlager und weitere 15 Produktionen aus dem Bereich Beat bzw. Rock. Wirklich herausragend sind jeweils zwei Produktionen von Niemen aus Polen und Omega aus Ungarn. Allen bis 1969 erschienen DDR-Produktionen von Thomas Natschinski, Theo Schumann, Butlers, Sputniks, Klaus Lenz, Günther Fischer und Horst Krüger fehlt schlicht und ergreifend der Biss, das Originelle.
Aufnahmen aus der Zeit vor 1960, das heißt des Rock ’n’ Roll sind nicht zu finden. Die älteste mir bekannte Aufnahme namens Susi-Baby-Twist stammt von DDR-Rock-Urgestein Dieter Birr, ist auf der CD „Puhdys-Raritäten" zu finden und auf das Jahr 1960 datiert, was jedoch zweifelhaft erscheint.
Für das Jahr 1961 finden sich bei Ostlabels keine Veröffentlichungen aus dem Bereich Beat/Rock.
Für 1962 findet man bei discogs.com einen 2011 veröffentlichen CD-Sampler mit drei Aufnahmen von Czeslaw Niemen aus Polen.
Für 1963 sind in oben genannter Quelle drei weitere Titel von Czeslaw Niemen sowie bei Amiga eine Single mit zwei Titeln der Prager Band Olympic aufgeführt.
Erst 1964 erscheinen mehrere Singles von Bands wie den Amigos, Olympic, Theo Schuhmann und Sputniks sowie die beiden bereits erwähnten LP-Sampler „Big Beat I und II", auf denen sich dann zwei wirklich hörenswerte Titel befinden: Melodie für Barbara vom Franke-Echo-Quintett und Butlers Boogie von den Butlers unter der Leitung von Ost-Rock-Legende Klaus Renft. Dem Titel Quartermasters Stores von den Butlers hat übriges Dieter Hertrampf seinen Spitznahmen „Quaster" zu verdanken, da er diesen Song mit den Puhdys nachspielen wollte. In Polen erscheinen weitere Singles von Czeslaw Niemen und hierbei entdecke ich eine erste kleine Sensation: eine Ballade namens Der Fluss der Zeit (Czas Jak Rzeka), die vor allem in der Coverversion von Janusz Radek von 2010 absolut zeitgemäß klingt.
Im Jahre 1965 herrscht auf dem Gebiet der Beatmusik in der „Ostzone" Totenstille. Abgesehen von zwei Singles der Amigos und Frank Schöbels Schlager Party-Twist…nichts! Niemen veröffentlicht sechs Titel.
1966 darf Thomas Natschinskis Gruppe Team 4 auf einer Single Frank Schöbel begleiten und selbst zwei Singles veröffentlichen. Die Theo-Schuhmann-Combo bringt es auf drei Singles, wobei ein Trompeter namens Klaus Lenz sich mit ihnen eine Single mit dem Titel Corso teilen darf. Hörenswert ist davon aber leider nichts.
Nun ist bereits das Jahr 1967 angebrochen und im westlichen Teil der Welt scheint musikalisch alles möglich zu sein: Beatles, Kinks, Hollies, Rolling Stones, Bee Gees und Pink Floyd auf der einen Seite des Atlantiks sowie Lovin' Spoonful, Mamas & Papas, Jimi Hendrix, Flower Pot Men, Beach Boys, Simon & Garfunkel und Vanilla Fudge auf der anderen Seite des Atlantiks frönen im „Summer of Love" einer grenzenlosen Vielfalt an Musikstilen. Und der Osten?
Der hängt musikalisch meilenweit zurück, steht irgendwo noch immer in der Tradition der Shadows von 1961. Auch erste Aufnahmen von Bands aus Ungarn wie Illès, Metro und Omega klingen schlagerhaft und harmlos. Einzig drei Titel von Niemens 67er Album Seltsam ist die Welt (Dziwny Jest Ten Swiat) sind wirklich auf der Höhe der Zeit: Du wirst es nie erfahren (Nigdy Sie Nie Dowiesz) und Sie ist nicht mein Typ (Nie Dla Minie Dziewczyna), was ein wenig an Paul McCartneys Eleanor Rigby erinnert, sind gut gelungen. Herausragend ist jedoch der Titelsong der LP Seltsam ist die Welt. Ein 6/8-Blues mit psychedelischen und klassischen Einflüssen, vorgetragen mit einer hellen, kräftigen, leicht rauen Stimme, die sich im Laufe des Liedes mit der Dramatik der Komposition in höchste Höhen schwingt und die markerschütternden Schreie von Deep Purples Sänger Ian Gillen in Child in Time um drei Jahre vorweg nimmt.
Geht es im Text anfangs um das Seltsame, Böse, Verachtende, Beschämende, was sich Menschen anzutun fähig sind, heißt es im zweiten Teil des Liedes dann voller Hoffnung:
„Doch Leute guten Willens gibt es immer mehr
Und ich glaube fest daran,
Dass diese Welt dank ihnen niemals zugrunde geht.
Nein! Nein! Nein! Die Zeit ist gekommen,
Höchste Zeit, den Hass in uns zu zerstören!"²⁸
Dem ist auch heute, 50 Jahre nach Erscheinen des Titels, nichts hinzuzufügen.
Im DDR-Rundfunk wurde der Titel erst fünf Jahre später in der Radiosendung „Beatkiste vorgestellt, erreichte Platz 1 und ist sowohl auf der einzigen 1972er Niemen-Amiga-LP als auch auf dem Amiga-Sampler „2 x 10 Beat-Erfolge
von 1975 erhalten.
Doch wenden wir uns zunächst dem Jahr 1968 zu. Mit dem Beatverbot von 1965 wurden nicht nur das Hören und Nachspielen von „dekadenter West-Musik untersagt, auch Westfernseh-Antennen wurden durch linientreue FDJ-Mitglieder von Hausdächern demontiert, was heute einem Hausfriedensbruch gleich käme. Trug man als Schüler oder Lehrling in der Öffentlichkeit Nietenhosen (Jeans) oder lange Haare, wurde man als „Gammler
beschimpft und lief Gefahr, zum Umziehen nach Hause oder zum Friseur geschickt zu werden.
Als im August 1968 eine nicht enden wollende Kolonne russischer Panzer, Panzerwagen, LKWs und Jeeps von Altenburg kommend durch unser kleines Erzgebirgstal in Richtung tschechische Grenze rollte und immer wieder zum Stehen kam, war das für uns Kinder zwar äußerst interessant - endlich passierte mal was - versetzte unsere Eltern jedoch in größte Aufregung. Der Beginn des 3. Weltkrieges stand laut „Deutschlandfunk" kurz bevor. Bekanntlich griff der Westen nicht ein, die Russen walzten den Prager Frühling nieder und alles blieb beim Alten.
Von eben dieser Stagnation zeugt dann auch eine 1968er Amiga LP mit dem verheißungsvollen Titel „Das zündet - Tanzmusik für junge Leute", welche durchweg altbacken, belanglos und leider ohne zündende Ideen ist.
Luise Mirsch, Urgestein und verdienstvolle Rundfunk-Produzentin, berichtet in Christian Hentschels Interviewbuch „Du hast den Farbfilm vergessen…"³ über die Anfänge von Rockmusik-Produktionen: „…meine erste Pop-Produktion machte ich mit dem Horst-Krüger-Sextett. Das war 1968.
Damals war es durchaus ungewöhnlich, dass ein Redakteur zu den Produktionen ging – so ging es aber los."³
Einigermaßen auf der Höhe der Zeit befinden sich die Produktionen von Illès und Omega aus Ungarn, die 1968 eine bzw. sogar zwei LPs veröffentlichen dürfen. Omega klingen ein bisschen wie die britischen Marmelade oder Tremeloes. Wirklich bemerkenswerte Stücke sind jedoch noch nicht dabei.
Wenn auch die Produktion eigener Stücke noch weit hinter der Qualität der großen Vorbilder hinterher hinkt, waren jedoch Lebensgefühl und Live-Betrieb auf der Höhe der Zeit. Peter „Cäsar Gläser berichtet aus dieser Zeit: „Um 1968 schwappte die Hippie-Welle auf die DDR über, schlug die Revolutionierung von Lebensweise durch. Es brach eine richtige Sehnsucht nach Freiheit und Freizügigkeit auf. Dinge wie Gruppensex wurden ausprobiert, Toleranz im Miteinander-Umgehen geübt. Ich habe damals beim Tanzen selten Schlägereien erlebt. Die Leute haben sich gut vertragen, sie wollten sich leiden können, wollten sich lieben. Das war halt „in
. Es war eine sehr emotionale, aber auch total verrückte Zeit – überhaupt die heißeste Zeit die ich je miterlebt habe. Völlig ausgeflippt und exzessiv. Leute haben sich auf dem Saal die Klamotten vom Leib gerissen, haben wie wild gesoffen (entblößt seinen rechten Knöchel und zeigt eine Narbe). Hier hat mich ein Mädel gebissen, als ich mit meiner Gitarre gerade am Bühnenrand gestanden habe. Die war in absoluter Ekstase, nicht mehr zu bremsen."²²
Wenden wir uns somit dem letzten Jahr des Beatjahrzehnts, 1969 zu. Bei Amiga erscheint erneut nur altbackene Schlagermusik, nichts rockiges, aber weiter östlich bzw. südöstlich geht’s endlich zur Sache: Niemen veröffentlicht gleich zwei Alben. Eines mit Beatmusik Czy Mnie Jeszcze Pamietasz und eines mit Jazzrockmusik Enigmatic.
Eindeutige Überflieger sind jedoch die ungarischen Omega mit ihrem Album 10.000 Schritte, auf welchem der Bluesrocker Unterbrochenes Konzert (Felbeszakadt Konzert) und die Allzeit-Überballade Perlenhaariges Mädchen enthalten sind.
Gecovert von Frank Schöbel und den Scorpions (!), von Omega selbst auf Englisch und Deutsch veröffentlicht, lassen diese beiden Songs auf Großes hoffen. Sie läuten das beste Jahrzehnt des Ostrock, die 1970er Jahre gebührend ein.
Meine Top-5 der 1960er Jahre
2 1970 – War da schon was?
Niemen aus Polen und Omega aus Ungarn haben es uns also vorgemacht: Rockmusik in der Muttersprache ist machbar und kommt an! Es muss also nicht unbedingt in Englisch gesungen werden.
Dies bewiesen Omega mit ihrem 1970 erschienen Folgealbum Auf der nächtlichen Landstraße erneut. Wenigstens vier Titel davon sind auch heute noch hörenswert:
– Auf der nächtlichen Landstraße (Az Ejszakai Orszagüton), platziert in der „Beatkiste" 1970,
– Oh Barbarella, platziert in der „Beatkiste" 1971,
– Nur ein Wort (Van Egy Szo), platziert in der „Beatkiste" 1971 und
– Sie ruft alle Tage herbei platziert in der „Beatkiste" 1972.
Auch „im Untergrund", d.h. auf den Tanzsälen der DDR darf wieder gerockt werden. Belege hierfür sind die Neugründung von Bands wie der Klaus-Renft-Combo aus Leipzig (1968), Joco-Dev (1967) und den Puhdys (1969) aus Berlin, dem Dresden-Sextett (1969) und electra (1968) aus Dresden oder den Nautics (1969) aus Erfurt.
Einen authentischen Zustandsbericht zum Live-Betrieb dieser Zeit liefert uns hierzu Stefan Trepte: „Die Leute, das Publikum, das war ein ganz anderes als heute. Die waren mit dieser Szene verbunden, die waren zufällig keine Musikanten geworden, aber die waren wie eine Familie, wie ein Herz und eine Seele, was man heute nur bei ganz großen, gelungenen Konzerten noch findet. Du konntest in jeden Saal kommen, das war ein herrliches familiäres Gefühl zwischen Publikum und dir als Musiker – du hast dich ja überhaupt noch nicht getraut, so zu nennen.
Du warst eben einfach in 'ner kleinen Band und hast Musik gemacht, und hast den Leuten eigentlich das, was sie gerne selbst hätten machen wollen, mehr schlecht als recht, irgendwie dargeboten. Und das trug zu einem unheimlichen Selbstbewusstsein bei. Du hattest riesigen Erfolg – ich habe dort Säle erlebt da haben wirklich Hunderte voller ekstatischer Begeisterung gerast, voller Glückseligkeit, möchte ich mal sagen, aber ehrlich! Da war an hervorragenden Sound oder exzellente musikalische Leistung oder Qualität noch gar nicht zu denken. Das war nicht etwa, weil sie nun hingekommen sind und sich abreagieren mussten – die Zeit war so, das war das, was die Leute gebraucht haben zu der Zeit und das ist gekommen"²².
Die Produzentin Luise Mirsch berichtet aus diesen Tagen über die Talentsuche: „Wir organisierten in den Sendesälen oder den Kulturhäusern sogenannte Vorspiele und dadurch stießen wir eben auf die ersten Gruppen, das war z.B. in Greifswald das Baltic-Quintett mit Wolfgang Ziegler an der Spitze, in Weimar hörten wir die Nautics, später Kerth und Bayon und in Dresden hörten wir das Dresden-Sextett. Davon kriegte wiederum electra Wind. Und Modern-Soul, das war - glaube ich - schon 1968/1969, hatten sogar schon eigene Lieder: Unser Haus und Unsere Stadt zum Beispiel, das wurde dann bei uns auch produziert."³
Sogar das Fernsehen der DDR beteiligt sich mit insgesamt acht - von Ende 1969 bis Mitte 1972 in unregelmäßigen Abständen - ausgestrahlten Sendungen unter dem Titel „Die Notenbank" an der Popularisierung deutschsprachiger Rockmusik. Initiator ist der bereits 1964 mit einem Film über Achim Mentzels Diana-Show-Quartett in Erscheinung getretene Bernd Maywald.
Ende 1969, Anfang 1970 steigt die Gesangs-Studentin Veronika Fischer bei der Tanzband Fred-Herfter-Combo aus und bei Stern-Combo-Meißen ein. Neben Ein Tag in der Stadt werden noch weitere, jedoch nie veröffentliche Titel produziert. Vroni wird 1971 wiederum von Panta Rhei abgeworben.
Leider bekommt das dafür zuständige Schallplattenlabel Amiga von dieser „Untergrundbewegung" kaum etwas mit. Die veröffentlichen zwar je zwei Singles der polnischen Band Skalden und von den Roten Gitarren (plus LP), sowie eine weitere LP von Thomas Natschinski und Theo Schuhmann; wirklich Bemerkenswertes ist allerdings nicht dabei. Einzig auf der 1970 produzierten Horst-Krüger-LP sind zwei - wenn auch schlagerhafte - interessante Titel: Wirst du gehen und Hast du vielleicht geweint.
Was Amiga nicht packte, versuchte also der Rundfunk, mit der Sendung „Franks Beatkiste", einer nationalen wöchentlichen Hitparade, moderiert von Frank Schöbel, und einer groß angelegten republikweiten Talentsuche auszugleichen: Unter der Leitung der Musikproduzentin Luise Mirsch durften Amateur-Bands ihre eigenen Titel nach vorheriger Auswahl in den Studios der 14 Bezirke produzieren. Neben musikalischer Originalität und Beherrschung der Instrumente machte man allerdings deutsche Texte zur Bedingung, was vielen Bands zunächst zuwider war. Eigentlich - so die landläufige Meinung - ging Beatmusik in Deutsch gar nicht! Dass es dann doch ging, beweisen die vielen von Gerulf Pannach, Kurt Demmler, Wolfgang Tilgner, Ingeborg Branoner, Jan Witte, Bernd Maywald, Joachim Krause und anderer geschriebenen Texte für Bands in den 1970er Jahren.
Hierzu nochmals Luise Mirsch: „… im Vorfeld gab es schon Demobänder, die wurden gehört und dann wurde über die Komposition, über den Text usw. geredet. An und für sich bemühten sich auch die Tonmeister, die Soundwünsche der Künstler oder der Rocker zu erfüllen, weil sie instinktiv fühlten, dass sich die Musiker umhörten, genau Bescheid wussten, die internationalen Platten hatten… Da gab es nicht so eine Rechthaberei… Und eigentlich haben die Tonmeister auch durch die Rocker viel gelernt, genau wie wir Produzenten. Da wir alle noch am Anfang standen, war das eine gute Teamarbeit. Es ging darum, mit unseren Mitteln das Bestmögliche aus der Sache zu machen."³ „…wir Rockleute nutzten eigentlich die Nächte.
Das ging dann nachts um zehn los und dauerte bis zum nächsten Morgen sechs Uhr früh. Wir arbeiteten nachts und am Wochenende, praktisch immer dann, wenn die Musiker aus den anderen Bereichen (Tanzorchester, Sinfonieorchester, Rundfunksender) in den Studios nichts zu tun hatten."³
Kurios ist eine auf der CD „Beatkiste Vol. 4" erschienene Aufnahme von Herbert Dreilich & Alexanders mit dem Titel Hoffnung, welche sich jedoch als CSNaY’s Helplessly Hoping" mit deutschem Text herausstellt.
Meine Top-5 des Jahres 1970
3 „Türen öffnen sich zur Stadt" – Ostrock im Jahr 1971
Nach wie vor ist es mühsam, einen Gesamtüberblick über die Entwicklung des Ostrock in seiner Frühphase zu erhalten: Titel von Czeslaw Niemen findet man zum Zweck des Reinhörens auf iTunes noch immer nicht. Auf ostbeat.de findet man Platzierungen der „Beatkiste nur von Anfang September und für die Monate November und Dezember 1971. Aufnahmen der Amiga-Sampler „Rhythmus 71
und „Dann bist du da", sowie LPs von No To Co, dem Skalden und den Roten Gitarren findet man ebenfalls nicht vollständig im Netz. Somit wird die Neuanschaffung der Originalschallplatten unumgänglich. Immerhin lassen sich aktuell ca. 170 Titel des Produktionsjahres 1971 in der im Anhang befindlichen Liste dieses Buches auflisten.
Neben den bereits bekannten Bands aus „Bruderländern" wie Niemen, Illès, Skalden und Omega tauchen 1971 erstmals Namen wie Locomotiv GT, Hungaria, Breakout, Blue-Effect, Halina Francowiak & ABC und No To Co in den Sendelisten des Rundfunks bzw. bei Amiga auf.
Im nationalen Bereich scheint endgültig der Knoten geplatzt zu sein: Neben den bereits erwähnten Bands von Theo Schuhmann,