Gewaltprävention im Alltag: Eigensicherung, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung
Von Dirk Zeuge
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Buchvorschau
Gewaltprävention im Alltag - Dirk Zeuge
Über mich
Lieber Leser,
bereits in meiner Jugendzeit faszinierten mich die Kampfkünste. Inspiriert durch Bruce Lee und die vielen anderen Kampfkünstler begann meine Karriere auf dem „Tatami" (Japanisch: Matte) im Jahr 1994.
Zuerst übte ich mich unter den wachen Augen von Roland Herr im „Jiu-Jitsu" bevor ich mich, knapp zweieinhalb Jahre später, dem Karate zuwandte.
Im September 2007 legte ich die Prüfung zum Schwarzgurt (1. Dan) unter Ochi Hideo Sensei ab. 2012 folgte die Graduierung zum 2. Dan und im August 2018 zum 3. Dan.
Seit 2010 bin ich als Dozent und Trainer im Bereich Gewaltprävention, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung tätig. Die hierfür notwendige Weiterbildung absolvierte ich bei Roland Herr (6. Dan Jiu-Jitsu). Roland war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2020 als Einsatztrainer und Ausbilder bei der Polizei in Baden-Württemberg tätig. 2012 folgte die Weiterbildung zum „Zertifizierten Gewaltschutztrainer" beim Karate-Verband Baden-Württemberg. Seit 2019 bin ich zudem Mitglied beim Verband für Gewaltprävention und Selbstschutz e.V.
Die Grundlage meines Trainings und meiner Recherchen waren schon immer die Themen Eigenschutz, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung. Immer stellte sich die zentrale Frage: Was kann ich tun, damit gewalttätige Situationen vermieden werden können?
Unter ganzheitlichen Gesichtspunkten betrachtet, umfasst der Selbstverteidigungsaspekt meines Erachtens mehr als die reine „körperliche" Verteidigung. Es gibt nämlich auch die Möglichkeit, sich bereits vorher (im Rahmen der Eigensicherung und der Selbstbehauptung) gegen Gewalt zu schützen. Ziel ist es, Gefahren frühzeitig zu erkennen. Denn nur dann können die Maßnahmen ergriffen werden, die notwendig sind, um Gewalt und körperliche Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Die eigentliche Selbstverteidigung stellt dabei die Ultima Ratio dar.
Einleitung
„Der Gewalt auszuweichen ist Stärke."
Laotse
Gewalt ist ein Thema, welches uns auf unterschiedlichen Ebenen begegnen kann. Ob es sich dabei um Mobbing, Gewalt am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum, im privaten Umfeld oder auch um häusliche Gewalt handelt, zusammenfassend es kann festgestellt werden, dass die Welt weit weniger friedlich ist, als wir sie gerne hätten.
Spätestens wenn wir unsere eigenen sicheren vier Wände verlassen, erwarten uns vielfältige Gefahren. Doch auch in unseren privaten Räumlichkeiten kann es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen.
Nach den Vorfällen zum Jahreswechsel 2015/2016 in Köln hatten Selbstverteidigungskurse Hochkonjunktur. Kampfsportvereine jeglicher Couleur begannen, Selbstverteidigungskurse anzubieten. Bestimmt hatte jeder Verein, jede Schule und jeder Anbieter die beste Absicht, nämlich die Vermittlung der Grundlagen, die notwendig sind, sich präventiv und effektiv zu verteidigen.
Gleichzeitig hofften Vereine und Schulen¹, ihre Mitgliederzahlen nachhaltig zu steigern. Es konnte der subjektive Eindruck gewonnen werden, dass besonders einige Vertreter der „klassischen Kampfkünste", wie bspw. Karate, Jūdō², Taekwondo und andere, sich diesen positiven Effekt erhofften. Ein legitimer Wunsch.
Problematisch wird es dann, wenn Kurse lediglich schnell aus dem Boden gestampft werden und diese sich nur bedingt oder überhaupt nicht an bestimmte Normen halten. Das Landeskriminalamt in Niedersachsen hat unter der Federführung der Kriminalhauptkommissarin Paul ein Regelwerk entwickelt, an denen sich Dozenten, Vereine und Schulen orientieren können und sollen.³
In diesem Ratgeber werden sämtliche Standards zu Selbstverteidigungskursen erläutert. Diese umfassen – neben inhaltlichen Themen – auch weitere Details wie z. B. Gruppengröße, inhaltlicher und zeitliche Umfang sowie den Umgang mit den Kursteilnehmern.⁴
Für den interessierten Laien, der sich für dieses Themengebiet interessiert und sich fortbilden lassen möchte, ergeben sich verschiedene Schwierigkeiten. Wer richtet sich nach welchen Standards und welchen Umfang sollte ein solcher Kurs haben? Reicht die Vermittlung von Selbstverteidigungstechniken aus? Gibt es noch andere wichtige Punkte, die angesprochen werden müssen?
Hinzu kommt, dass es auf der Anbieterseite Kampfsportler⁵ gibt, die felsenfest davon überzeugt sind, dass sie sich mit der von ihnen ausgeübten Sportart selbst verteidigen können. Dies mag sogar der Fall sein, scheint es gleichzeitig so zu sein, dass einige Anbieter keinen Blick darauf werfen, was sich VOR einer Gewaltsituation ereignet. Der Fokus wird fast einzig und allein auf die Vermittlung einer Vielzahl von Techniken gelegt.
Themen wie Eigensicherung und Selbstbehauptung werden zum Teil kaum oder im schlechtesten Falle überhaupt nicht behandelt. Hinzu kommt, dass gefährliche Situationen einer besonderen Dynamik unterliegen und sich somit permanent verändern.
Der Blick wird somit eben nicht auf die realen Erfordernisse und die natürlichen Bewegungsabläufe der Teilnehmer gelenkt. Vielmehr orientiert sich das Konzept an den Trainingsmethoden, die seit Jahren in der ausgeübten Kampfsportart verwendet werden. Diese richten sich im schlechtesten Fall an den Erfordernissen des Wettkampfsports aus, nicht jedoch an denen der Straße.
In der Literatur lässt sich eine Vielzahl von Büchern finden, die die Unsicherheit und das erhöhte Sicherheitsgefühl der Menschen bedienen möchte. Dabei belassen es manche Autoren bei einer sehr kurzen (ich möchte fast schreiben: mangelhaften) Einführung in die theoretischen Grundlagen zu diesem Thema. Wesentliche Aspekte, wie bspw. Eigensicherung und Selbstbehauptung sowie die damit verbundenen Möglichkeiten der Prävention werden vernachlässigt oder gänzlich ignoriert. Stattdessen wendet man sich bereits nach wenigen Seiten der Praxis zu, indem eine Vielzahl von Fotoreihen mit unterschiedlichen Selbstverteidigungstechniken gezeigt wird.
Zudem gibt es Bücher, in denen die oben bereits erwähnten Begriffe „Eigensicherung und „Selbstbehauptung
nicht einmal verwendet werden. Des Weiteren werden andere Aspekte wie Kommunikation oder auch Rechtsgrundlagen nicht angesprochen.
Es sind jedoch gerade diese Punkte, die uns helfen können, Gewalt präventiv zu begegnen! Fast immer geht einer körperlichen Auseinandersetzung eine Vielzahl an unterschiedlichen Warnsignalen voraus. Diese gilt es zu erkennen und soll in diesem Buch näher behandelt werden. Ziel ist es, eine Gefahr frühzeitig zu identifizieren, damit Maßnahmen ergriffen werden können, die notwendig sind, um körperlicher Gewalt zu entfliehen bzw. dieser präventiv zu begegnen. Durch eine gute Umgebungsaufmerksamkeit und richtiges Verhalten gelingt es oftmals, Gewalt zu vermeiden. Hierzu ist kein jahrelanges Kampfkunsttraining notwendig. Wie meinte Morihei Ueshiba (Begründer des Aikidō)? „Der beste Kampf ist der, den man nicht kämpft."
Unglücklicherweise werden diese Themengebiete in SV-Kursen teilweise nur eingeschränkt behandelt. Ob aus Zeitmangel, geringer Priorisierung, Unkenntnis oder anderen Gründen, das sei einmal dahingestellt. Fakt ist, dass dieses Wissen dann den Teilnehmern nicht zur Verfügung steht und deshalb in einer Notsituation auch nicht abgerufen werden kann.
Dieser Ratgeber soll Abhilfe schaffen und die evtl. vorhandene Wissenslücke schließen. Es wird aufzeigen, wie den Gefahren präventiv begegnet werden kann und welche Möglichkeiten es hierfür gibt.
¹ Mit Vereinen und Schulen sind grundsätzlich Kampfsport-Vereine und/oder Kampfsportschulen gemeint.
¹ Bei japanischen Fachtermini wird die entsprechende Schreibweise verwendet.
³ Booklet zur Information Interessierter außerhalb der Polizei – Standards polizeilicher Selbstbehauptungs-/Selbstverteidigungstrainings, LKA Niedersachsen, Hannover 2005, Susanne Paul.
⁴ In diesem Buch wird die maskuline Form verwendet. Gleichwohl sind alle Menschen angesprochen.
⁵ Die Begriffe Kampfsport und Kampfkunst werden in diesem Buch synonym verwendet.
Selbstverteidigung
„Ich fürchte nicht den Mann,
der 10.000 Kicks einmal geübt hat,
aber ich fürchte mich vor dem,
der einen Kick 10.000-mal geübt hat.
" Bruce Lee
Was ist eigentlich unter Selbstverteidigung zu verstehen? Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter dem Begriff der kampfbezogene Aspekt verstanden. In diesem Kontext geht es fast immer darum, einen gewalttätigen, körperlichen Angriff abzuwehren. Diese Definition umfasst den Begriff recht eng und schließt andere Themenbereiche aus. Zudem ignoriert dieser Terminus, dass eine gewalttätige Situation eben nicht plötzlich gegeben ist. Vielmehr spitzt sich die Lage mehr und mehr zu, bis es „plötzlich" zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommt.
Durch das Ignorieren der Vorphasen und den entsprechenden Warnsignalen hat es dann oftmals den Anschein, dass das Opfer keine Chance hatte, diese gewalttätige Situation zu vermeiden. Dies ist jedoch ein Irrtum. Häufig senden Täter unbewusst unterschiedliche Signale aus, die auf eine drohende Gefahr hindeuten. Diese gilt es zu erkennen. Denn dann ist es möglich, frühzeitig die Maßnahmen zu ergreifen die notwendig sind, um gefährliche Konflikte zu vermeiden.
Bei manchen Selbstverteidigungskursen (häufig ist dies bei Kursen für Frauen zu beobachten) wird der Schwerpunkt fast ausschließlich auf Verteidigungstechniken gelegt. Gleichzeitig neigt manch ein Dozent dazu, den Teilnehmern möglichst viele Techniken zeigen und beibringen zu wollen. Der Gedanke ist dabei, dem Kursteilnehmer ein breites Spektrum an Wissen und Können mitgeben zu wollen. Jedoch wird vergessen, dass sich eine Routine bzw. ein Automatismus nur durch eine Vielzahl an Wiederholung erreicht werden kann. Besser wäre es, wenige, aber realitätsbezogene Techniken immer wieder zu üben, damit der Drill möglichst schnell verinnerlicht wird.
Die Erfahrung zeigt, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, Techniken nachhaltig im Unterbewusstsein zu verankern. Dies geschieht entweder durch viele hunderte, tausende Wiederholungen, wie es beispielsweise im traditionellen Karate der Fall ist. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass der Teilnehmer unter Stress gesetzt wird. Nun muss er die geübten Techniken unter Druck und vor allem ohne nachzudenken abrufen.
In Anbetracht der Kürze der Zeit wird in Kursen i. d. R. die zweite Variante genutzt. Hierzu werden unterschiedliche Situationen möglichst realitätsnah simuliert. Der oder die Teilnehmer haben dann die Aufgabe, sich gegen einen (oder auch mehrere) Angreifer zur Wehr zu setzen. Teilweise wird, auch um den Druck zu erhöhen, aber auch um Verletzungsrisiken zu minimieren, Vollschutzanzüge verwendet.
Diese Methode beinhaltet aber auch ein mögliches Risiko. Nämlich, dass sich in einem Kurs Teilnehmer befinden, die in der Vergangenheit bereits Opfer von Gewalttaten wurden. Es ist daher wichtig, dass sich die Teilnehmer im Vorfeld des Kursbeginns dem Dozenten vertrauensvoll öffnen bzw. öffnen können. Es muss vermieden werden, dass alte Wunden neu aufgerissen werden.
Es sind daher beide, der Dozent als auch der Teilnehmer, gefordert. Zum einen der Teilnehmer, der den Trainer über seine Erfahrung berichten sollte. Zum anderen der Dozent selbst, der nach solchen negativen Erlebnissen fragen sollte! Gleichzeitig sollte der Dozent den Teilnehmern die Möglichkeit einräumen, dass sich Trainierende ihm unter vier Augen offenbaren können. Selbstredend sind die Grenzen der Teilnehmer zu akzeptieren, zu respektieren und dürfen nicht überschritten werden.
An dieser Stelle möchte ich anführen, dass häufig die Sinnhaftigkeit von Selbstverteidigungskursen angezweifelt wird. Erfahrene Kampfsportler, die oftmals über Jahre eine oder mehrere Kampfsportarten trainieren, äußern ihre Bedenken in Bezug auf solche Kurse. Wie soll es denn möglich sein, dass ein Teilnehmer eines solchen Kurses sich nach wenigen Stunden verteidigen können soll, wenn man doch selbst viele Jahre hart trainiert?!
Verständlich. Doch zugleich zeigt die Fragestellung auf, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden. Die Vielzahl von Kampfsportlern lernen, sich einem