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Im Sog des Kraken: Beinahe ein historischer Kriminalroman
Im Sog des Kraken: Beinahe ein historischer Kriminalroman
Im Sog des Kraken: Beinahe ein historischer Kriminalroman
eBook270 Seiten3 Stunden

Im Sog des Kraken: Beinahe ein historischer Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Altona 1812: Ein toter Polizist! Der Tatverdacht fällt auf einen Jakobiner im Geiste der Französischen Revolution. Das passt!Freunde des Verdächtigen stoßen auf weitere Tote. Die napoleonische Kontinentalsperre hat die Lebensader Elbe zerschnitten. Kein Handel mehr in Hamburg und Altona, die Menschen leiden! Ein Aufstand in Hamburg und dessen Niederschlagung verschlimmern die Lage. Die Mühlen der Rechtsfindung geraten im Nebel der Ereignisse ins Stocken. Ist die letzte Konsequenz zur Herstellung der Gerechtigkeit die Selbstjustiz? Nichts ist mehr, wie es war. Die Zukunft ist düster. Da scheint ein "unmögliches" Liebespaar Hoffnung auf eine bessere Zeit in einer Welt zwischen Verharren und Werden und unmöglichem Ankommen zu geben. Diese Welt lässt keinen Helden zu! Oder doch?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Okt. 2013
ISBN9783849568900
Im Sog des Kraken: Beinahe ein historischer Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Im Sog des Kraken - Jochen Pragal

    Das Licht der Tranfunzeln reichte zu einem Halbdunkel. Henning Hauser erkannte die Männer nur in Umrissen. Früher war er im „Club der Jakobiner, der die Ideen der Französischen Revolution hochgehalten hatte, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, „Aufbruch zum Licht der Vernunft." Gemessen an diesem Licht war es hier ziemlich dunkel.

    Die Clubmitglieder waren untergetaucht. Im ehemals toleranten Dänemark, besonders in Altona, hatte der Ruf nach mehr Freiheit und Gerechtigkeit fürs Volk nicht sonderlich gestört, nicht einmal den Magistrat. Jetzt aber, 1812, waren Jakobinerclubs verboten, es wurde verschärft zensiert und mehr geschnüffelt. Henning wurde vorsichtig, suchte nach verbesserungswürdigen Missständen in der Stadt und fand erst einmal den Namen für einen neuen Club: „Verein zur Förderung der Bildung des einfachen Volkes. Für die Polizei hatte der Wolf nur einen Schafspelz übergezogen und Kreide gefressen. Einen Missstand hatte er bei der Arbeit der Nachtwächter ausgemacht und wartete auf Jan Krus, seinen Freund und Mitkämpfer. Der sollte eine Eingabe an den Magistrat schreiben und hier vorstellen, möglichst vor vielen Zuhörern im bereits erleuchteten, aber immer noch leeren Hinterzimmer. Henning sah kommen, dass sie mit sich selbst diskutieren müssten, er und Jan. „Alles Große hat klein angefangen, beruhigte er sich. „Der Funke macht das Feuer!" Und wo war Jan? Er hätte längst da sein müssen!

    Einstweilen nickte Henning Anerkennung zu Antje Poelsen hinüber, „gute Deern! Die rührte ihr Geheimrezept im Topf überm Feuer: Fliederbeersaft, geschmuggeltes Anis aus dem Morgenland, Köm und Rübensirup, statt Rum und Zucker, kriegsbedingt. Gegen Ende des abendlichen Suffs verdünnte sie gewöhnlich ihr Gebräu geschäftstüchtig mit Elbwasser. Ihre Augen waren Leuchttürme, sie sollten gesehen werden. „Die Männer trinken, in guten Zeiten, weil es ihnen gut geht, in schlechten, weil es ihnen schlecht geht. Hopfen und Malz erleichtern die Balz. Saft und Köm tun es auch. Sie lachte zu Henning herüber, nahm mit einem Fingerschnipsen die Bestellungen auf, signalisierte dem Wirt die Bier- und Köm-Orders, balancierte ihr Blechtablett unter wippenden Brüsten zwischen den Tischen, entlang an den Bankreihen und vorbei an den Bierlachen mit Pfeifenasche und ausgespucktem Kautabak, überhörte die Anzüglichkeiten aus rauchrauhen Männerkehlen und schaffte es, ohne grapschende Hände ihre Runde zu machen. Die Geldtasche am roten Gürtel schlug im Rhythmus ihrer Schritte gegen die Hüfte, was ihm vorkam wie ein Lob für ihre Arbeit und den geschmeidigen Leib. Er nahm eine Prise Schnupftabak und wäre gern ihre Geldtasche gewesen. Einmal war ihr eine Hand unter den Rock gefahren, da hatte sie den heißen Punsch auf die unbeschäftigte Hand gegossen, und die Spitze eines Messers stand unter dem Kinn von dem Kerl: „Beim nächsten Mal schneid ich dir die Hand ab. Damit!" Sie kratzte mit der Messerspitze den Hals hinunter bis zum zitternden Adamsapfel. Ein gefährliches Spiel! Aber sie gewann es. Seitdem hatte sie Ruhe und die Achtung der Männer, die plötzlich mit dampfenden Gefühlen ihre Jungfernschaft beschützen wollten. Außerdem waren ihretwegen noch mehr Burschen hier, volles Haus. Sie konnte beim Wirt ungewöhnliche 10 Prozent von jedem Getränk für sich durchdrücken, gutes Geld. Und zahm war der Mann, weil sein Strohsack leer war. Die Frau war ihm weggestorben. Blut gespuckt hatte sie, bis sie daran erstickt war. Schlecht für einen Wirt mit einem Bein. Die Matratze wartete auf Antje. Die war allerdings eine von den guten Frauen, nah und unnahbar zugleich. Für den Wirt war sie nur unnahbar. Sie machte seiner Geilheit keine Hoffnung und gab seiner Berechnung keine Nahrung, aber sie ließ ihn auch nicht fühlen, dass sie ihn widerlich fand. Solche Ehrlichkeit war zuviel Luxus. Sie hatte genug Elend gesehen und am eigenen Leibe gespürt. Sie wusste, was sie wollte. Ihr Lachen war traumwandlerisch, es galt den Gutwilligen und bewahrte die Deern davor, sich gemein zu machen.

    Henning wurde unruhig. Wo blieb Jan?

    Der einbeinige Wirt war schon eine Weile raus- und reingehüpft. Draußen ratterte eine Karre auf dem Kopfsteinpflaster. Rufe! Dann stand Ralf Tietjen, der Polizeimeister, in der Tür. Einige Männer zogen gesenkte Köpfe zwischen die Schultern und vertrauten auf die dicke Luft in der Kneipe. Der Mann schien durch die wabernde Halbfinsternis hindurch trotzdem alles zu sehen. Er schlängelte sich ins Hinterzimmer. Dort rief er mit der Heiterkeit eines Schlachters, der zum Messer greift: „Hier sollte also die Erleuchtung stattfinden. Dann stellte er sich an Hennings Tisch in Positur und sagte schläfrig: „Da wird es heute wohl nichts mit der Förderung der Bildung. Aber vielleicht wird es jetzt was mit der Beförderung der Wahrheit ans Licht der Welt. Dann schob er sich hinaus aus dem „Blauen Anker und machte den Nachtwächter, Antjes Vater, zum Türsteher. Tietjens’ Assistent notierte sich alle Namen und Adressen der Anwesenden und rief, die Herren hätten sich am nächsten Tag in der Polizeiwache einzufinden, 18 Gentlemen! Er grinste, wedelte mit seinem Adressenpapier zum Trocknen der Tinte in der Luft, bedankte sich mit übertriebener Verbeugung und verließ das Lokal. Und Henning murmelte: „Hundsfott! Er kannte diesen Tietjen. Der sah aus, als schlafe er sogar beim Gehen, in Wirklichkeit war der hellwach, vor allem, wenn er einen armen Schlucker nach allen Regeln der Kunst beim Verhör die Kehle zudrückte, bis der die Wahrheit ausspuckte.

    Im „Blauen Anker bewegte sich niemand. Stille, als sei das Verhör bereits kurz vor der Wahrheitsfindung angekommen. Nur das Holz im Feuer knackte, und Antje rührte mit dumpfem Scharren den Holzlöffel im Punschtopf, als wolle sie damit den gewohnten Gang der Dinge zurückholen. Der Wirt löste sich als Erster aus der Starre, hüpfte zur Tür, schaute auf die menschenleere Elbstraße hinaus und brüllte in den Schankraum hinein: „Alle raus! Antje und Henning waren die Letzten. Der Wirt hielt sie zurück und wollte die Nachtriegel vorschieben, als sich Charles hereinzwängte.

    Charles Petersen, der Gnom mit dem Wasserkopf unter der Kapuze und mit der Sing-Sang-Stimme. Im letzten Sommer war er mit Rollschuhen auf dem Teil des Rathausplatzes herum gefahren, der mit Marmorplatten ausgelegt und ebenmäßig genug war für seine Kunst. Rollschuhe! Noch nie hatte einer Rollschuhe gesehen oder von ihnen gehört: Walzen aus Buchenholz, vorne eine, hinten eine, unter jedem Fuß. Die Walzenachsen und die Befestigungsplatten unter seinen Holzschuhen kamen vom Schmied, kostenlos, weil der so begeistert war von der Idee des Pioniers. Der zierliche Mann mit der Kapuze hatte zur Begeisterung der Leute rollschuhlaufend Geige gespielt, war in eine Pferdekarre gerollt, da ihm Bremsen an den Schuhen fehlten und hatte mehr oder weniger elegante Pirouetten, sogar Sprungpirouetten aufs marmorne Parkett gelegt und sich dabei blaue Flecke geholt.

    Henning und Antje fragten und der Wirt und Charles antworteten. Dabei ordnete sich ein wenig, was vor der Tür des „Blauen Anker" geschehen war: Ein Polizist lag auf der Straße in seinem Blut. Der Stadtmedicus erklärte ihn für tot, Herzstich. Jan Krus, der Student mit dem Herzen für die Nachtwächter, lag ebenfalls in seinem Blut, ohnmächtig. Der Medicus verband die Wunden notdürftig, der Polizeigehilfe verschwand mit der Leiche und dem Bewusstlosen auf seiner Handkarre, und Tietjen befragte zwei Zeugen draußen.

    Die Stille legte Beklemmung auf den Tisch. Antje fühlte sich bedroht und wusste nicht, warum. Für Henning war der Bildungsverein gestorben, bevor er geboren war. Es gab ungefährlichere Versuche, sich zu blamieren und sich selbst die Polizei auf den Hals zu hetzen. Der Wirt erklärte mit Getöse das Hausverbot für den Bildungsverein. Ein toter Polizist vor seiner Haustür! Schankverbot! Wofür? Für nichts! Er wusste nicht einmal, wie der Verein dem Volke nun eigentlich helfen wollte. Das wollte er jetzt vom Drahtzieher Henning hören, ganz genau, jetzt! Der Drahtzieher Henning sah sich im Mordkomplott! Wahrscheinlich hatte der Magistrat nur auf den toten Polizisten gewartet, um gegen ihn und die Jakobiner vorgehen zu können. Er hatte keine Lust auf Kerker und Zwangsarbeit. Ihm wurde klarer als ihm lieb war, dass er sich längst in seinem kleinen Glück in Altona eingerichtet hatte und daraus nicht vertrieben werden wollte.

    Der „Klugscheißer Charles wurde Hennings Erwartungen gerecht: „Erstens, hackte die monotone Stimme unter der Kapuze herunter, „wird der Jan Krus eines Mordes angeklagt, den er nicht begangen hat. Das müssen wir verhindern. Zweitens, er starrte Henning an, „erhalten die Jakobiner in Altona eine angemessene Lektion, denn es ist leicht, auf den Wolken der Revolution zu reiten, aber schwer, eine gerechte Revolution auf Erden zu machen. Statt Revolution gibt es vielleicht eine Hinrichtung des Jan Krus, an der sich die Gaffer satt sehen, die die Jakobiner zu Revolutionären hatten machen wollen. So ist das! Herzlichen Glückwunsch! Drittens, jetzt sah Henning hochgezogene Brauen, „ist es nicht falsch, wenn die Jakobiner begreifen, dass sie beim Bau der gerechten Weltordnung neues Unrecht schaffen. Dieses Wissen wird ihnen helfen, ihre Schritte zum Glück und zur Gerechtigkeit mit Bedacht zu wählen, schließlich kann das neue Unrecht größer sein als das alte! In diesem Falle stehen die Jakobiner direkt vor dem Eingang zur selbstverschuldeten Unmündigkeit. Träume sind schön. Jakobiner sind darin eingesperrt. Das können sich nur Kinder erlauben."

    Henning fuhr Charles ins Wort: „Dank an den Erwählten für die Belehrung! Hier geht es aber nicht um die Revolution, sondern um die Arbeit der Nachtwächter. Im Übrigen weiß ich im Gegensatz zum allwissenden Charles nicht, was da draußen vor der Tür passiert ist. Der Wirt sprang trotz amputiertem Bein hoch, brüllte „Gequatsche, wieder nur Gequatsche! und warf die Drei raus.

    Henning schimpfte auf dem Heimweg. „Wir müssen das verhindern, hatte Charles gesagt. „Wir! Was ging diesen aufgeblasenen Frosch das an? Der hatte sich bislang bei den Jakobinern zusammen mit seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht blicken lassen. „Wer ist dieser Hahn? Der glaubt, wenn er kräht, geht die Sonne auf."

    II

    Vor einer Heirat war Luise-Marie davongelaufen. Mit trockenen Tränen in den Augen, ineinander verkrampften Händen unter der Kniedecke, Steinen im Bauch, Brechreiz wegen der Schnapsfahnen der Männer war sie vier Tage und Nächte lang in der Kutsche auf ihrer Flucht nach Hamburg durchgerüttelt worden. Trotz, Zorn und die Gewissheit, dass weibliche Wesen mehr sind als Zuchtvieh und Muttertiere, hatten sie aufrecht gehalten. Im Kopf hatte sie weibliches Geistesschaffen und ihm Gepäck den Roman Das Paradies der Liebe vom Schotten James Lawrence gehabt, in dem die Freiheit des Weibes die Menschen beglückt und vor den Schrecken der Ehe bewahrt. Sie liebte dieses utopische Paradies der Liebe und fürchtete sich davor. Erst einmal hatte sie damals mit dem Kopf unter der Bettdecke den feierlichen Schwur abgelegt, nur einen Mann zu lieben, dem die Gleichwertigkeit der Geschlechter so heilig war wie ihr. Sie würde keinem Mann auf den Leim gehen, der Liebesschwüre für die einzige Frau schluchzte und gleichzeitig dem ganzen weiblichen Geschlecht die Treue hielt.

    Ihre Flucht aus Gotha endete in Hamburg im Hause des Buchhändlers Perle am Jungfernstieg, in dem sie als Mädchen für alles die Erwartungen einer Familie mit sieben Kindern, einer Köchin, einer Waschfrau, einem Hausknecht und einem Hauslehrer erfüllen sollte. Ein dahergelaufenes Mädchen empfahl sich nicht als Kindermädchen, auch nicht, wenn sie sich mit Kost und Logis und einem kleinen Taschengeld zufrieden gab. Mit einer guten Portion Vertrauensvorschuss wurde ihr die Flucht aus der wohl situierten Familie eines Kaufmanns in Gotha sowie die Rebellion gegen väterliche Bestimmung und mütterliche Ergebenheit nachgesehen. Das war viel, und sie war dankbar dafür. Sie lebte aus ihrer Reisetruhe und beklagte sich nicht über ihren Verschlag oben auf dem Dachboden mit einem Bett, einer Waschschüssel, einem Nachttopf, und ein paar Haken an der Wand.

    Sie fand sich schnell in den häuslichen Gewohnheiten am Jungfernstieg zurecht, lachte die Stacheln im Dickicht der vielfältigen Empfindlichkeiten weg und fragte sich bald, ob sie den Familienkäfig in Gotha nur gegen den in Hamburg getauscht hatte. Sie begriff den Unterschied schnell. Der in Gotha hatte goldene Stäbe, der in Hamburg eine offene Tür. Sie war immer schon hin- und hergerissen zwischen den beiden Frauen in ihr, zwischen Luise und Marie, aber in Hamburg besonders. Luise kämpfte um ihre ständig bedrohte Freiheit, und Marie mühte sich ab im Gezerre an der Haushaltshilfe und Zusatzmutter, der Kinderherzen zuflogen. Marie wurde zum ältesten Kind der Familie. Weibliches Geistesschaffen und freie Liebe erschienen ihr schäbig. Luise hatte neue Fluchtphantasien und Marie schämte sich dafür. Beide zusammen waren gekränkt, weil es für Mamsells allgemein und für angestellte Mamsells besonders verboten war, unten in der Buchhandlung herum zu schmökern oder gar mit einem belesenen Galan anzubändeln. Bücher verkaufen war Männersache, was Luise zum Beben brachte. Marie war angerührt von einem vor Schüchternheit bebenden Romanschreiber, der ihr gegenüber kein verständiges Wort herausbrachte, kein Geld hatte und sich tagelang durch das Sortiment der Buchhandlung las, besonders wertvoll für einen, der kein Holz für seinen Ofen hatte. Wie gern wäre sie mit ihm auf Lesereise in ihre Phantasiewelten gegangen! Aber der Anstand und seine Sprachlosigkeit waren davor. So entschädigte sie sich mit Aufgaben außerhalb des Hauses.

    Eine dieser Aufgaben war, Briefe des Buchhändlers Perle, die streng beschwiegen wurden, zu einem befreundeten Arzt zu tragen. Die Geheimnistuerei hing an der Hamburger Bürgergarde. Die war gegründet worden, als die Hamburger im Jahre 1811 eines Abends wie immer als Hamburger und gefühlte Deutsche ins Bett gegangen und am nächsten Morgen in der neben Lübeck östlichsten Stadt des Französischen Imperiums wach geworden waren, als Franzosen in Hambourg. Die neuen Franzosen wurden allerdings weiter von der französischen Besetzung traktiert. Der Bücher-Perle überzeugte den General und Stadtkommandanten St. Cyr von dem Vorteil, der Bürgergarde Polizeiaufgaben anzuvertrauen. Die Hamburger in der Bonne Ville Hambourg würden unter der Wachsamkeit der eigenen republikanischen Bürgergardenpolizei nachts friedlich schlafen, und die Militärregierung habe Ordnung in der Stadt, ohne Soldaten von der Kriegsführung abziehen zu müssen. So geschah es. Aber Luise-Marie war nicht entgangen, dass die neue Polizei öffentlich auf dem Pferdemarkt den Bürgerschutz und geheim auf dem Dachboden des Hauses Perle die Befreiung von der französischen Besatzung übte. Nebenan in ihrem Verschlag las Luise-Marie im „Paradies der Liebe" und unten im Buchladen gingen französische Offiziere ein und aus. Es war verständlich, warum das Thema Bürgerwehr im Hause unterm Tisch blieb und warum die Hausherrin, Caroline Perle, keine Ruhe fand. Die Mamsell Luise-Marie war also mit den Briefen in geheimer Mission unterwegs. Die Wahl war wohl auf sie gefallen, da sie als weibliches Wesen und Hausangestellte hinreichend harmlos erschien.

    Die Postbotin verband ihre Aufträge mit Erkundungsgängen in der Stadt. Kein Aprilregen in „uns Herrgott sien Pisspott" störte sie. Vor einem Jahr war sie in Hamburg angekommen und sprachlos durch die Gassen gelaufen. Nein, sie war nicht erstaunt über den Hausmüll einschließlich der durch die Fenster entleerten Nachttöpfe, über den Mist aus Hinterhofställen, über die verwesenden Tierkadaver und die Reste vom Auswurf der Fleischerschlachtungen auf der Straße. Alle diese Hinterlassenschaften des Lebens, Überlebens und Ablebens machten aus der Gosse in der Mitte der Straße bei Regen eine Kloake, die die Leute, über ausgelegte Ziegelsteine balancierend, unbefleckt zu überwinden suchten. Nein, nicht darüber war sie erstaunt, sie kannte das von Verwandtschaftsbesuchen in Hannover und auch aus ihrer Heimatstadt Gotha. Der Unterschied war, dass in Hamburg alles ins Ungezügelte und Unermessliche wuchs.

    Ein Senatsschreiber war im Kot der Gosse ausgerutscht, saß auf einer Treppe zum Hochparterre und schaute sich mit abstehenden Armen den Zustand seiner Jacke einschließlich der Ärmelschoner an. Die Leute lachten über den Aktenkacker. „Baden musst du zu Hause! Das hätte es auch in Gotha geben können, aber es wäre ein zeitungsreifes Ereignis gewesen. Hier in Hamburg überschlugen sich die Fälle und Unfälle, und sie waren schon vergangen, während sie noch passierten. Viehtreiber, Lastträger, Milchhöker, Karren hinter altersklapperigen Gäulen, die keine Requirierung durch die Franzosen zu befürchten hatten, waren beladen mit Säcken aus den Schuten, Ziegelsteinen aus dem Alten Land, Weißkohl, Rüben und Kartoffeln. Kartoffeln, die neuerdings die von der Besatzung Gebeutelten am Leben hielten und mit allem wieder Verwertbaren, was die Fleetenkieker, die Jungs mit den starken Nasen, in Wathosen bei Ebbe zwischen den Ratten aus dem Schlamm geklaubt hatten. Karren verkeilten sich auf dem Kieselsteinpflaster vor den in die Straße hereinragenden Treppen, vor den an die Häuser geklebten Buden und Ständen der Handwerker und Trödler und vor den Prellsteinen, die mit Ketten verbunden waren, hinter denen die Fußgänger auf den Granitfliesen, wenn schon nicht vor dem herumspritzenden Dreck, so doch wenigstens vor den Fuhrwerken sicher waren. Blökende Ochsen, aufgescheuchtes Federvieh, fluchende Fuhrknechte, zeternde und kreischende Frauenstimmen! Bordsteinschwalben mit hochgeschürzten Röcken stritten um die seefahrende Beute, Zurufe und Sprüche der Trödler und der laufenden Händler verschmolzen zu Lärmkaskaden. „Aal, grön Aal, „Hummers von de Kars, „Bürsten, sind alle patente Ware und halten an die hundert Jahre, „Hier, min kleen Deern, scheuer die Stube rein, und denn lass man dein’ Bräutgam rein!"

    Sie sah sie noch vor sich, die alte Frau. Die wich einer Karre aus, fiel dabei die Treppen zu einer Kellerwohnung hinunter und brach sich das Genick. Doch, doch, ein paar Leute hatten sich gekümmert, redend und gestikulierend, aber sie wirkten so, als seien sie mit dem Kopf schon wieder auf der Straße unterwegs. Die Tote schien nur ein weiterer Kadaver in der allgemeinen Verwesung zu sein. Luise-Marie hatte das Atmen vergessen, und dann war schon alles vorbei. Sie wurde wieder zu einem Teilchen in dem reißenden Fluss. In den Kellergeschäften zogen alle Kuriositäten und Wunder der Welt an ihr vorbei: Schrumpfköpfe aus Polynesien, Totempfähle, ausgestopfte Kängurus, Riesenmuscheln, in denen man das Meeresrauschen hören konnte, lebendige Leguane sowie schwarz- und rothäutige menschliche Wesen, die sich als lebendig erwiesen, wenn man sie mit den Zeigefinger antippte, verödete Kolonialwarenläden mit leeren Schubfächern, aber mit Reis, Kaffee, Kakao, Schokolade, braunem Zucker und Rum unter dem Ladentisch, die in diesen Kriegszeiten ein Vermögen kosteten. Und Lakritz aus England, das schwarze Gold aus Süßholz, Sirup, Gummi arabicum, Agar-Agar und Salz! Über allem waberte das Meer der Gerüche: geröstete Mandeln, frische Fische, abhängendes Fleisch, weggeworfene Fischreste, um die sich Katzen und Hunde in der Gosse stritten, glühende Hufeisen auf dem angebrannten Horn der Klappergäule vor der Schmiede. Und die Gassenkloake, besonders in den Hasenmooren hinter den Häusern, Gestank zum Ersticken.!Hier reihten sich die Abtritte und sammelte sich der Inhalt der Gossen aus den Straßen, der zähflüssig oder regenbeschleunigt in der Alster, den Fleeten und dann in der Elbe verschwand.

    Die gewaltige Stadtverdauung war Luise-Marie anfangs anrüchig bis zum Brechreiz gewesen. Besonders im heißen Sommer war der Regen ein freispülendes Glück, zumal jetzt in der Besatzungszeit die offizielle Straßenreinigung mangels Geld und Leuten ausfiel. Es gruselte sie und zog sie hin. Eine große Verwertungsmaschine war das, ein Perpetuum mobile der Gier nach Leben, ein gleichgültiges Uhrwerk, das nach dem Willen eines unbekannten Meisters den Takt schlug wie das Herz den Puls. Und der Turm von St. Petri schaute gelassen auf diese Ameisenhektik herab.

    Eine dieser Ameisen war sie jetzt unter einem Schirm und mit einem Brief in der Hand, der zum Arzt in der Bergstraße zu bringen war. Es goss in Strömen. Sie hüpfte über die ausgelegten Ziegelsteine, die bereits im Strom der Wassermassen verschwunden und von der Straßenreinigung des Himmels beiseite geschoben waren, verfehlte einen der Steine, knickte im Fußgelenk um, schlug mit dem Kopf auf das Straßenpflaster, weil sie versucht hatte, den Brief vor der Dreckflut zu retten. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, lehnte ihr Kopf an den Knien eines Mannes mit Blondschopf auf einer Treppenstufe. Der benutzte den Regen und sein Schnupftuch dazu, ihre Kopfwunde vom Kot zu reinigen. Dann ließ er eine Handkarre mit einem Jungen aus dem Straßengewühl kommen. Am Jungfernstieg lag sie auf der Karre. Sie konnte sich nicht erinnern, dem hilfsbereiten Mann die Adresse gegeben zu haben. Sie wusste aber genau, dass sie auf der Karre den aufgeweichten Brief noch in der Hand hatte. Abgeliefert wurde sie im Hause Perle allein von dem Jungen, gesäubert von der Dusche des Himmels, mit rosa schimmernden Schlieren am Kopf und mit geschwollenem Knöchel, aber ohne Brief. Später attestierte ihr der Arzt, bis zu dem sie auf ihrem Botengang nicht vorgedrungen war, eine robuste Natur, denn sie erinnerte sich, dass die blonde Bürste ihr schon gefolgt war, als sie das Haus verlassen hatte, ein

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