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Die Augen des Habichts: Roman
Die Augen des Habichts: Roman
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eBook534 Seiten6 Stunden

Die Augen des Habichts: Roman

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Über dieses E-Book

Die Piloten des schnellsten Spionage-Jets der Welt glauben, ihre provokanten Missionen im Auftrag der CIA unentdeckt fliegen zu können.
Radar-Experten der Luftverteidigung verfolgen das gefährliche Treiben der Blackbird SR-71 und die aggressiver werdenden Täuschungsmanöver aus ihrem geheimen Bunker heraus.
Wird es dem jungen Offizier Arndt Tanner rechtzeitig gelingen, effektive elektronische Systeme gegen überlegene Angriffsmittel zu installieren? Werden die USA den geplanten Enthauptungsschlag ausführen? 1986 bis 1989 hielten die Insider den Atem an. Öffentlich wurden die Details dieser hochexplosiven Phase erst nach 30 Jahren.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Mai 2021
ISBN9783347235106
Die Augen des Habichts: Roman

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    Buchvorschau

    Die Augen des Habichts - Arndt Matthias Heigl

    1. Kapitel

    „Kein größeres Verbrechen gibt es, als nicht kämpfen wollen, wo man kämpfen muss."

    Friedrich Wolf

    Seit Wochen hatte es nicht geregnet. Die Kiefern verströmten in der Vormittagshitze ihren intensiven aromatischen Duft. Ein Eichelhäher stieß zum dritten Mal seinen rau schnarrenden Warnruf aus. Arndt Tanner nahm von alledem nichts wahr. Er kauerte seit Minuten hinter den Resten einer Kiefer, die einer der heftigen Stürme des letzten Herbsts umgeworfen hatte. Das Wurzelgeflecht des Baumes hielt jede Menge Sand der Barnimer Jungmoräne umklammert und bildete so einen akzeptablen Sichtschutz im sonst lichten und sonnendurchfluteten Wäldchen.

    Sprungbereit beobachtete der 22-Jährige den amerikanischen Jeep, der zehn Meter vor ihm im Unterholz abgestellt war. Eine handliche Parabolantenne neben der Beifahrertür zeigte genau in die Richtung, aus der in der Ferne Geräusche zu hören waren. Es waren Geräusche großer Radaranlagen, die der junge Offizier nur zu gut kannte. Seine Beine schmerzten vom langen Kauern. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

    Vielleicht sind die Räder eine Möglichkeit?

    Er tastete nach der linken Tasche seiner Uniformhose, umfasste das kleine Messer, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Den Reifen des Jeeps würde die Klinge nichts anhaben können!

    Inzwischen hatte der seichte Wind gedreht. Die Geräusche aus der Technischen Zone wurden nun immer deutlicher wahrnehmbar. Er musste versuchen, die Parabolantenne am Jeep zu erreichen, sie unbrauchbar machen. Vielleicht gelang es ihm ja, das Beweisstück zu ergattern. Auf alle Fälle musste er die Messung verhindern!

    Drei, zwei, eins!

    Arndt Tanner schnellte aus der Deckung hoch, dann ging alles blitzschnell: Ein Knacken hinter ihm, ein schmerzhafter Schlag gegen die rechte Schulter, ein gedämpftes „Aua!. Tanner wich nach links aus, rollte sich ab, parierte den nächsten Hieb und traf den Angreifer dabei mit voller Wucht ins Gesicht. Der taumelte jaulend zurück und fasste sich an die Nase. „Scheiße, mach doch wat!

    Dieser herausgepresste Ausruf hatte zwei Botschaften: Der Angreifer war mit Sicherheit kein Ami und er hatte einen Komplizen! Letzterer handelte schneller, als Tanner sich der neuen Situation bewusst werden konnte: Ihn durchzuckte ein kurzer stechender Schmerz, diesmal links. Dunkelheit!

    Zwei Männer in Schwarzkombi schleiften ihr Opfer in Richtung Waldrand. Einer wischte sich dabei wiederholt mit dem Ärmel übers Gesicht.

    „Scheiße, nuschelte der blutende Schwarzkombiträger, „wat wollte dieser verfluchte Amateur, Klaus?

    „Was fragst Du mich? Ich weiß nur: Diesmal gibt es Ärger, richtig Ärger!"

    Als das ungleiche Trio den Rand des Kiefernwäldchens erreichte, war Tanner immer noch im Dunkeln. Nur der harzige Duft der Kiefern drang bis zu ihm durch.

    2. Kapitel

    „Intelligenz ist die Fähigkeit, seine Umgebung zu akzeptieren."

    William Faulkner

    „Nein, Genosse Hauptmann, ich darf Sie nicht mitnehmen in die Kabine! Mit gleichmütiger Miene stand Unteroffizier Peters am Fuße des Gefechtshügels. Nur das prägnante Geräusch der Hydraulikpumpe, die eine riesige Paraboloid-Antenne monoton auf- und abschwenkte, war zu hören. Die Morgensonne stand noch tief genug, um über das Gesicht des vorgesetzten Offiziers jede Sekunde einen Schatten huschen zu lassen, den Schatten der Hauptantenne. Das Gesicht von Hauptmann Michael Schäfer war inzwischen rot angelaufen. Es lief immer rot an, wenn er vor Wut gern aufstampfen würde. Und Schäfer stotterte, wenn er in Rage geriet. „Ich ko-komme mit in die Ka-ka-kabine!

    Peters schielte auf seine Uhr. Noch vier Minuten und das Nicken der Antenne würde aufhören. Mehrere Tage im Diensthabenden System waren dann geschafft. Für die Station stand ein Wartungstag an. In wenigen Minuten würde er seine Besatzung dafür einteilen. Udo hatte das Aggregat zu überprüfen, Filter zu wechseln und die russischen Stahlgewindebolzen der Kabelverschraubungen gegen nagelneue Messingstifte auszutauschen. Konrad und Olaf waren für den Sichtgerätehänger zuständig. Selbst musste er heute die Sende-Empfangs-Kabine übernehmen. Die war normalerweise das Reich vom Chef.

    Peters fühlte sich etwas unwohl. Die Abstimmarbeiten der empfindlichen Technik in dem 20-Tonnen-Koloss da oben auf dem steilen Hügel waren kompliziert. Noch vor Wochen lief der PRW, wie die russische Abkürzung für die Radarstation lautete, ziemlich instabil. So gut wie kein Tag verging ohne Ausfall. Oft hatte der Chef jede einsatzfreie Minute in der Kabine für Reparaturen genutzt oder er war in der Nacht von zu Hause geholt worden, weil die Technik schon wieder bockte. Glücklicherweise lief der PRW-13 nun seit fast einem Monat stabil.

    Das soll möglichst so bleiben!

    „Rühre nur Dinge an, die Du hundertprozentig beherrschst, hatte ihm Leutnant Tanner eingeschärft, „und denke daran, dass niemand etwas in der Kabine zu suchen hat, außer Dir und mir!

    Jörg Peters hatte genickt. Wer, außer dem Stationsleiter und ihm sollte denn auch Lust verspüren, da auf den Hügel zu klettern, um sich in der Enge und Hitze zwischen den surrenden Apparaturen aufzuhalten? Ein kleiner Bedienfehler konnte tagelange Reparaturen nach sich ziehen! Peters hatte Respekt vor der sensiblen Technik in der Sende-Empfangs-Kabine.

    Die Antenne wippte ein letztes Mal gen Himmel, um dann langsam nach unten auszuschwingen. Die Hydraulik verstummte und auch die Lüfter gaben endlich Ruhe. Dies waren die abschließenden Handlungen der 24 Stunden andauernden letzten DHS-Schicht, ausgeführt in mehr als 150 Metern Entfernung tief unter der Erde.

    Dort, im modernsten Gefechtsbunker der NVA, hatte Olaf Hübner die Schalter am Bedienpult in die Stellung выключить (ausschalten) umgelegt und die Station beim Diensthabenden abgemeldet. Die Wartung konnte beginnen!

    „Ich bestehe darauf, die Wartung zu ko-ko-kontrollieren!"

    Da war es wieder, das zentrale Problem des heutigen Morgens. Natürlich war Schäfer der deutlich ranghöhere Vorgesetzte. Als derzeit kommissarisch eingesetzter Stellvertreter für Technik und Ausrüstung zeichnete er streng genommen für die Einsatzbereitschaft verantwortlich – und zwar für alle fünf Radarstationen und die zwei Automatisierten Objekte der Funktechnischen Abteilung.

    Doch da gab es noch das ungeschriebene Gesetz, dass besonders sensible Systeme nur von den Stationsleitern persönlich angefasst werden sollten. Dazu kam, dass Schäfer nie selbst auf einer Radarstation gedient hatte. Ihm wurde krankhafter Ehrgeiz nachgesagt. Die übrigen Offiziere mieden den schmächtigen Hauptmann, wo es nur irgend ging.

    „Zu Befehl, Genosse Hauptmann! Peters hatte es aufgegeben, sich zu widersetzen. „Ich übernehme die Kabine noch auf örtlichen Betrieb. Sie können in fünf Minuten nachkommen.

    Peters erklomm die Anhöhe mit schnellen Schritten und kletterte über die Lafette in den drehbaren Technikraum.

    Unaufgefordert steckte Hauptmann Schäfer schon bald seinen Kopf durch den Einstieg. „Wir beginnen mit der Ko-ko-kontrolle der Reservefrequenz!"

    Peters zuckte zusammen. Die Sendefrequenzen des PRW-13 wurden durch leistungsstarke Magnetrone erzeugt. Die Sendeleistung eines einzigen PRW war dreißigfach stärker als die UKW-Leistung des RIAS Berlin. In Friedenszeiten arbeiteten die PRW-13 in den Staaten des Warschauer Vertrags mit dem Magnetron „Z". Dessen Frequenz war der NATO durch die vielen Einsatzstunden im Diensthabenden System natürlich nur zu gut bekannt. Im Kriegsfalle würde genau diese Wellenlänge massiv mit Störungen belegt werden, da waren sich die Fachleute einig. Auch deshalb gab es je PRW vier Reservemagnetrone mit anderen Werten. Drei davon lagerten im Panzerschrank der VS-Stelle, eines war in der Kabine im Kanal II eingebaut. Auf Befehl stand es sofort einsatzbereit zur Verfügung.

    „Worauf warten Sie? Schalten Sie auf Kanal II!".

    Natürlich wusste Peters, wie sich der Sender auf die Kriegsfrequenz umschalten ließ. Sein Chef hatte ihn erst vor wenigen Wochen eingewiesen. „Im Ernstfall ist ja nicht garantiert, dass ausgerechnet ich als Stationsleiter überlebe. Wieso sie euch das auf der Unteroffiziersschule nicht beibringen, weiß der Geier!".

    Den Hebel umgelegt hatte aber auch der Leutnant nicht. „Das Umschalten erfolgt ausnahmslos auf Befehl! Zweimal im Jahr wird das Reservemagnetron formatiert. Den Termin erfahre auch ich aus Sicherheitsgründen frühestens zwölf Stunden vor der Wartung. Die Antenne wird dann in einer festgelegten Richtung auf den tiefsten Punkt geschwenkt und fixiert. Die Sendeenergie geht nicht nach draußen. Sie wird in einer gekühlten Röhre, dem sogenannten Äquivalent, in Wärme umgewandelt."

    Der Leutnant hatte auf den schwarzen Zylinder sowie den Umschaltmechanismus gezeigt und gewarnt: „Die Energie ist so hoch, dass immer noch ein Teil den Weg über den Hohlleiter zur Antenne findet und draußen gemessen werden kann. Deshalb sichern angeblich Spezialisten der Verwaltung 2000 das Gelände Kilometer im Umkreis, genau weiß ich das aber auch nicht."

    Hauptmann Schäfer, der sich hinter der zentralen Drehsäule verschanzte, wurde unruhig. Dreimal hatte er in den letzten zwei Minuten auf seine etwas überdimensionierte WOSTOK geschaut, auf die Uhr mit der Gravur im Edelstahlboden, die er irgendwann als Auszeichnung bekommen hatte, damals, als mit seiner Karriere noch alles im Lot schien. „Schalten Sie endlich um. Wir haben keine Zeit mehr, Genosse Unteroffizier!" Diesmal stotterte er nicht, doch die Stimme hatte einen leicht hysterischen Beiklang.

    Peters wusste, dass auf Verstöße gegen die Geheimhaltung harte Strafen standen: Schwedt, das Militärgefängnis oder noch Schlimmeres! In einem Jahr wollte er sein Elektronikstudium beginnen und mit seiner Manuela zusammenziehen, vielleicht eine Familie gründen. Das hier brauchte er überhaupt nicht! Mit Schweiß auf der Stirn unternahm er einen letzten Anlauf: „Die Frequenzen dürfen nur auf Befehl umgeschaltet werden, Genosse Hauptmann!"

    „Dann befehle ich jetzt: Frequenzwechsel!"

    Trotz der Hitze in der Kabine fühlte sich der Hebel kühl an. Mit einem Schmatzen zog die Feder die Hohlleiterweiche über den Totpunkt: klack! Das Magnetron im Kanal II sendete.

    ---

    „Zwei Verletzte, angeblich Schlägerei zwischen den Objekten A und D, ein Leutnant Tanner und dann noch ein Hauptmann, der nicht sagen will, wer er ist. Der Leutnant ist noch nicht ansprechbar." Stabsarzt Hoffmann nickte nachdenklich und legte den Hörer auf das graue Telefon zurück. Die Abwechslung kam willkommen. Zügig verließ er das Stabsgebäude durch die Hintertür.

    Die Politschulung wird trotzdem ganz sicher ein grandioser Erfolg werden - wie immer!

    Der stämmige Militärarzt mit dem etwas zu langen Haar lächelte bei diesem Gedanken in sich hinein.

    In Polen und Ungarn steht alles kopf. Gorbatschow hat Glasnost und Perestroika ausgerufen und die Genossen Politoffiziere referieren munter weiter über den Sozialismus in den Farben der DDR!

    „Weit sind wir gekommen und jetzt kloppen sich Offiziere schon am Vormittag!", murmelte Hoffmann und schlenderte durch die offenstehende Tür in sein Reich, den Med.-Punkt der Fla-Raketenbrigade.

    Als er Minuten später den Streifen mit dem roten Millimeterpapier aus dem EKG-Gerät zog, brummte er: „Ein paar Rhythmusstörungen, sonst sieht das hier jedenfalls erst mal ganz gut aus. Wo ist eigentlich der andere Patient, der mit der Nase?"

    Sanitätsfeldwebel Helm hatte Atropin aufgezogen, ohne auf eine entsprechende Anweisung zu warten. Er und Hoffmann kannten sich schon Jahre. Beide waren keine Männer großer Worte.

    „Der andere Typ sieht ziemlich übel aus. Ich tippe auf Nasenbeinbruch!"

    „Ok, was sonst noch?", wollte Hoffmann wissen, während er mit einer kleinen Taschenlampe die Pupillen seines Patienten untersuchte.

    Helm musste kurz nachdenken. „Also, das hier ist jedenfalls Leutnant Arndt Tanner. Der kommt drüben von den Blauen."

    „Von welchen Blauen?", gab Hoffmann leicht genervt zurück. Ihn interessierte so gar nicht, ob jemand die blauen Litzen der Flieger an der Uniform trug oder die hellgrauen der Fla-Raketentruppen. Er hatte sowieso fast immer den weißen Kittel drüber und sah sich eher als Arzt, denn als Offizier.

    „Wer dieser andere ist, war noch nicht rauszukriegen, kein Wehrdienstausweis, keine sonstigen Papiere! Helm zog nun demonstrativ die Schultern hoch. „Der Dritte ist gleich mit dem Auto wieder weg. Irgendein Postfach, von dem ich noch nie gehört habe, will sich bei uns melden.

    ---

    Schäfer war endlich weg. Jörg Peters schüttelte es immer noch, wenn er an die letzte Viertelstunde zurückdachte. Fünf Minuten hatte er das Reservemagnetron zuschalten müssen, genau fünf Minuten nach Schäfers Armbanduhr. Dann wollte der Hauptmann ganz plötzlich weg. „Sie beginnen jetzt mit der planmäßigen Wartung! Übrigens ist die Reservefrequenz geheim. Zu niemandem ein Sterbenswörtchen, auch keine Protokolleintragung!" Diese Sätze sprudelten, wie auswendig gelernt, aus des Hauptmanns Mund. Auch stotterte Schäfer diesmal nicht.

    Mit einer oft geübten Bewegung überwand Unteroffizier Peters die Distanz zwischen der Schwelle der Sende-Empfangs-Kabine und der Betonplatte auf dem Gefechtshügel, dabei nutzte er die ausgeklappten Stützen der Lafette. Von hier aus waren es genau 120 Schritte über den steilen Plattenweg hinab zu den massiven Splitterschutztoren. Hinter den Toren standen die übrigen zwei Hänger des Höhenmessers PRW-13 aufgebockt. Die Drucktore waren heute nur angelehnt, trotzdem kostete es gehörig Kraft, einen der reichlich acht Tonnen schweren Flügel in eine Drehbewegung zu versetzen. Drin warteten Udo, Konrad und Olaf auf ihre Aufgaben.

    „Was wollte denn der Hilfs-T-T-T-A?, äffte Udo das Stottern Schäfers nach. Udo Roloff war Aggregatewart und Kraftfahrer, ein sonniges Gemüt! Der Unteroffizier arbeitete im Zivilleben als Busfahrer bei den Berliner Verkehrsbetrieben, wollte nicht studieren und diente trotzdem drei Jahre. „Wenn ich gebraucht werde, dann mach ich das!, soll er die Musterungsoffiziere verblüfft haben. Nun war er Mitglied der PRW-Besatzung Tanner, hatte noch zwei Jahre zu dienen und würde heute die beiden 30-Kilowatt-starken Dieselaggregate warten.

    Peters hatte keine Lust, sich mit Udo über den Auftritt des Hauptmanns auszutauschen. Er verteilte die Aufgaben laut Wartungsplan und verzog sich auf den Hügel. Im Schutz der Kabine konnte er nachdenken. Von hier aus schweifte sein Blick bis Ladeburg und das dahinter liegende Bernau, bis nach Rüdnitz und nach Lobetal. Dazwischen duckten sich größere Nadelwälder. Zumindest sah das von hier oben so aus. Kumpels aus der Unteroffiziersschule hatten es da deutlich schlechter getroffen! Die meisten Funktechnischen Kompanien lagen weitab jeglicher Zivilisation. Ausgang lohnte sich da überhaupt nicht.

    Obwohl, wie lange liegt noch mal der letzte Ausgang zurück? Verfluchtes DHS und dann noch der Spuk mit dem Schäfer!

    „Ich werde mit dem Leutnant reden!", murmelte Peters schon zum dritten Mal vor sich hin. Er würde alles erzählen.

    Doch, was ist, wenn der Schäfer abstreitet? Wieso wurde der Stationsleiter überhaupt so plötzlich irgendwohin abkommandiert, wo doch der heutige Wartungstag schon lange geplant war?

    ---

    Der betongraue dreistöckige Neubaublock der Funktechnischen Abteilung wirkte wie ein Fremdkörper. Alle anderen Gebäude im Stabsbereich der Fla-Raketenbrigade lagen, von Wald umschlossen, scheinbar willkürlich verstreut im Kasernenobjekt. Zur Tarnung waren die Fassaden mit grünen, gelben und braunen Flecken überzogen. An der Beton-Ringstraße reihten sich Stabsgebäude, Unterkünfte, Med.-Punkt, verschiedene Versorgungseinrichtungen, ein kleiner Laden und Hallen des Fuhrparks in loser Formation aneinander.

    Gleich nach dem Kontrolldurchlass am Eingang des Objektes zweigte hinter der MHO-Gaststätte ein Fahrweg nach links ab. Früher war dies lediglich die Zufahrt zur Bekleidungskammer gewesen. Seit einigen Monaten prangte hier wie ein Eindringling der Neubau der FuTA, der Block 70. Als Kommandeur der Funktechnischen Abteilung war vom ersten Tag an Oberstleutnant Finke eingesetzt.

    Norbert Finke stand am Fenster und beobachtete fasziniert ein rostbraunes Eichhörnchen und dessen Weg über das spärliche Grün auf dem schmalen Streifen vor dem Gebäude. Die einzelnen Grashalme taten sich schwer, auf dem Sandboden zu überleben. Vor Monaten angesät, hatten sie sich offenbar noch nicht entschieden, tiefere Wurzeln zu entwickeln. Die Umgebung gab sich abweisend, wenn nicht gar feindlich. Finke schüttelte unmerklich den Kopf. Er fühlte sich heute unsicherer denn je, ob er die Entscheidung, sich nach Ladeburg versetzen zu lassen, nicht schon bald bereuen würde.

    „Ich erwarte Ergebnisse! Lösen Sie diesen Schlendrian auf! Sie sind nicht mehr bei den Funktechnischen Truppen! Hier weht ein anderer Wind!, hatte sich Oberst Rockstroh in Rage geredet. Es war wie so oft gewesen, zur heutigen Besprechung im Stab. Erst kamen die aktuellen Probleme bei der Aufstellung der weitreichenden Fla-Raketensysteme S-200 zur Sprache. Danach wurde an der schleppenden Einführung der neuen Technik zur automatisierten Gefechtsführung herumgenörgelt. Zum Schluss war Finkes FuTA dran: „Die Haare Ihrer Soldaten sind genau so viel zu lang, wie das Gras an Ihren Gefechtshügeln!.

    Einer der Stabsoffiziere neben Finke wollte gerade laut auflachen, fing sich aber unter Rockstrohs eisigem Blick innerhalb einer halben Sekunde.

    „Die Grußerweisung ist jämmerlich! Man würde Ihre Leute auch ohne die lächerliche blaue Litze auf 100 Meter Entfernung erkennen. Ihre Abteilung ist eine Schande für die gesamte Brigade!", hatte Rockstroh seine Schimpftirade dann irgendwann beendet.

    Finke hatte die Hände an die Hosennaht gelegt. „Zu Befehl, Genosse Oberst!"

    Rockstroh war daraufhin mit leicht schräg geneigtem Kopf noch röter angelaufen, als ohnehin schon. Drei lange Sekunden waren in Grabesstille vergangen. „Kollmeder: Sie bleiben hier. Rest: wegtreten!".

    Das hatte sich vor einer reichlichen Stunde abgespielt. Major Kollmeder, der als Politoffizier in Finkes Abteilung eingesetzt war, hatte sich bis jetzt noch nicht aus dem Stab zurückgemeldet. Finke stand die ganze Zeit am Fenster, unfähig, sich zu lösen, unfähig, den Stapel Unterlagen auf seinem Schreibtisch in Angriff zu nehmen. Auf der Stirn des athletischen Mittvierzigers zeichneten sich deutliche Zornesfalten ab, die sich von Minute zu Minute tiefer eingruben. Er wusste nur zu gut, dass auch Rockstrohs heutiger Wutausbruch keinerlei Nachwehen haben würde. Was ihn beunruhigte, war die neue Rolle Kollmeders.

    Was will Rockstroh ausgerechnet von diesem Schreibtischhengst? Wo bleibt der Kollmeder? Verdammt!

    Draußen sprintete das Eichhörnchen zur nächsten Kiefer, kletterte drei, vier Meter in nur wenigen Sätzen nach oben und hielt dann inne. Um den Baum herum spähte es aufmerksam in Richtung Ringstraße. Von dort trabte eine Gestalt in Schwarzkombi heran. Finke glaubte, geflochtene Offiziersschulterstücke zu sehen. Allerdings war es keiner von seinen eigenen vier Majoren. Er riss sich vom Fenster los und war mit wenigen Schritten draußen. So stand er bereits auf dem Flur, als seitlich die Eingangstüren aufgestoßen wurden. Ein Flügel schrammte dabei hörbar über die Terrazzoplatten.

    Verdammter Baupfusch!

    Die Gestalt in Schwarzkombi bog links ab und verschwand hinter einer grauen Gittertür, die den Flur absperrte. Finke spürte schon wieder diese Beklemmung in sich aufsteigen, er fühlte sich beobachtet, gegängelt, eingezwängt. Seit seinen ersten Tagen in Uniform hatte er immer selbst entscheiden können. Er hatte Funktechnische Posten geführt, dann eine Funktechnische Kompanie. Die vorgesetzten Stäbe waren stets weit weg gewesen. Er konnte selbst Verantwortung übernehmen, ohne ständige Gängelei. Solange die Aufgaben erfüllt wurden, ließ man die Kompaniechefs in Ruhe, aber hier in Ladeburg fühlte sich das an wie im Kindergarten. Der Brigadestab war nur einen Steinwurf entfernt und dann hatte man ihm auch noch diese Wanzen in den Bau gesetzt.

    Das braucht wirklich keiner: Die Verwaltung 2000 gastiert auf dem eigenen Flur!

    Obwohl ihm das Gebäude unterstand, war er noch nie hinter der Gittertür gewesen.

    Vielleicht auch besser so!

    Als Verwaltung 2000 firmierte einer der Arme des Ministeriums für Staatssicherheit, der Militärgeheimdienst. Die Mitarbeiter dieser Einheit waren hier normalerweise in Offiziersuniform der Fla-Raketentruppen gekleidet, um im Objekt nicht aufzufallen.

    Weiß der Kuckuck, was der heutige Auftritt in Schwarzkombi nun wieder bedeuten soll!

    Finke hatte seine Augen immer noch nicht von der Gittertür gelöst, als diese erneut aufgerissen wurde und der vorgebliche Major mit schnellen Schritten in Richtung Ausgang verschwand. Dabei würdigte er den Abteilungskommandeur mit keinem Blick. In dem kurzen Moment, den die schwere gepolsterte Holztür hinter dem Gitter brauchte, um ins Schloss zu fallen, war eine überschnappende Stimme zu hören, die irgendetwas Unverständliches brüllte. Dann war Stille.

    ---

    „Welch angenehme Überraschung!", freute sich Stabsarzt Hoffmann über den unerwarteten Besuch aus dem Stab. Oberfähnrich Katja Engler, zierlich, blond, ein Lächeln auf zwei höchst attraktiven Beinen, eilte quer über den Rasen auf die Raucherecke am Med.-Punkt zu. In ihrer rechten Hand schwenkte sie einen dünnen, grauen A4-Umschlag über dem Kopf.

    „Bringst Du mir die Einladung zu einem Stelldichein, Katjuscha?", scherzte der sonnengebräunte Stabsarzt im Aufstehen.

    „Ich glaube nicht, dass Du heute auch nur irgendein Stelldichein haben wirst, eher irgendwelche Probleme!"

    Katja Engler hielt ihm die Kladde mit dem Quittungsstreifen und einen Kuli unter die Nase. „Quittieren, öffnen, lesen, vernichten!"

    „Was soll das? Ist die Pest ausgebrochen? Hoffmann drehte und wendete den Umschlag. Katja hatte nicht gelacht, wünschte ihm noch „Viel Glück! und war schon wieder aus der Sichtweite entschwunden.

    Sanitätsfeldwebel Helm beobachtete seinen Chef durch eines der Fenster. Er selbst stand an der Liege des geheimnisvollen Patienten mit dem Nasenbeinbruch, der abwechselnd vor Schmerzen wimmerte und Flüche ausstieß.

    An der offenen Zimmertür schoss der Stabsarzt vorbei.

    „Soll ich die Dosis noch mal erhöhen?", wollte Helm wissen. Doch Hoffmann war schon in seinem Dienstzimmer verschwunden. Schnell hatte er den Umschlag aufgerissen.

    FERNSCHREIBEN +++ GVS +++ R+++

    FERNSEHPROGRAMM 526

    LTN. TANNER UND WEITEREN PATIENTEN

    VONEINANDER UND VON ANDEREN PERSONEN

    ISOLIEREN AUFZEICHNUNGEN VERNICHTEN

    STRENGSTE GEHEIMHALTUNG

    WEITERE BEFEHLE ABWARTEN

    +++ 12.15++++

    OVAL 520

    Hoffmann drehte das Papier vorsichtig um, als könnte auf der Rückseite noch die Auflösung des Ganzen zu finden sein. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er diese ganz sicher nie erfahren würde.

    „Kann ich die Dosis nun erhöhen?, platzte Helm ins Dienstzimmer. „Der Gorilla wird immer …, verschlug es ihm angesichts der skurrilen Szene die Sprache. Sein Chef hielt gerade ein Feuerzeug unter ein Blatt Papier, das in Flammen aufging und nach fünf Sekunden als graue Asche im Waschbecken verschwand.

    „Holen Sie die Aufnahmebögen der beiden Kampfhähne her und schließen Sie die Behandlungszimmer ab!"

    „Aber…!"

    „Nichts aber! Ausführung!"

    So ernst hatte Helm seinen Chef selten erlebt, nicht mal damals, als das Ding mit dem medizinischen Alkohol aufgeflogen war und er degradiert werden sollte. Hoffmann hatte ihm seinen Stern gerettet, das Verlesen der Missbilligung mit einem kaum merklichen Augenzwinkern abgeschlossen und in dem Feldwebel einen dankbaren und loyalen Unterstellten gewonnen.

    Der musste die Schlüssel erst noch suchen. Es war nicht üblich, Patienten einzuschließen.

    Vielleicht sollen die beiden lädierten Offiziere auch nur getrennt werden, damit sie sich nicht wieder an die Gurgel gehen?

    Helm verwarf diesen Gedanken. Schließlich hätte der Stabsarzt dann nicht auch noch die Papiere verbrennen müssen!

    „Zu niemandem ein Sterbenswörtchen über all das hier! Zu niemandem! Hoffmann blickte Helm konzentriert an. Sein Ton ließ keine Spielräume für Interpretationen, egal welcher Art. „Sie sichern die Außentür und melden mir sofort, wenn sich was tut! Hoffmann bedachte die beiden Beige gestrichenen Türen zu seiner Linken mit einem Nicken. „Ich sehe jetzt mal nach den beiden Kampfhähnen."

    Den Stabsarzt, der sich in den sechs Jahren, die er hier im Wald zwischen Ladeburg und Biesenthal schon diente, an die Langeweile in einem Regiments-Med.-Punkt gewöhnt hatte, beschlich Panik. Er fühlte, dass er schweißige Hände bekam. Ein Fernschreiben aus dem Stab der Division! So etwas gab es nur, wenn einmal jährlich die Impfdosen für die Teilnehmer am Gefechtsschießen in Aschuluk angekündigt wurden. Allerdings war das dann Routine.

    „R,S,T! Hoffmann zog den Blechtrog der Hängeregistratur der G-Bücher mit den Namen Riemer bis Turner heraus. Mittel- und Zeigefinger eilten über die A5-Heftchen mit den dunkelbraunen Deckeln. „Sommer… Tacke… Tröger, zu weit, Tanner! Hoffmann richtete sich auf.

    „Tanner, Arndt, 1963 in Meißen geboren. Neben diesen Angaben fand sich ein durchgestrichener Dienstgrad „Offz. - Schüler, ersetzt am 26. August 1985 durch „Leutnant. Das Heftchen wurde durch einen Aktendulli zusammengehalten. Die ersten Blätter waren schon stark vergilbt und stammten von der Musterung, die noch keine zehn Jahre zurücklag. Auf der letzten Seite erkannte Hoffmann seine eigene Handschrift. Auch dieses Blatt schien schon Jahrzehnte gealtert. „Wehrmachtsbestände" hatte Icke, der Fähnrich von den Rückwärtigen, gescherzt, als er die Formulare für die Jahresgrunduntersuchung vorbeibrachte. Die Tinte aber glänzte frisch. Hoffmann hasste es, seinen Füller über dieses raue Papier zu quälen. Er überflog seine Notizen auf dem Blatt. Arndt Tanner, 178 cm, 71 kg, Puls 68, Blutdruck 120/75, Sehstärke links 110, rechts 105.

    „Werte wie aus dem Katalog für Elitekämpfer" hätte der Professor an seiner Uni in Greifswald in so einem Falle wohl ausgerufen.

    Auch die wenigen übrigen Seiten brachten nichts Auffälliges zutage. Der Abschlussbericht einer Luftfahrtmedizinischen Untersuchung in Königsbrück: „bedingt tauglich", stand dort, datiert auf 1980 und war später durchgestrichen.

    Da war Tanner ja gerade mal 16 gewesen!

    Hoffmann wollte die kleine Mappe schon zuklappen, da fiel ihm ein weiterer Zettel mit seiner eigenen Handschrift auf. „Verdacht auf Sialolithiasis bestätigt."

    Sofort hatte er die Situation plastisch vor Augen. Es war Sonnabend gewesen und natürlich kein Zahnarzt in der Kaserne. Ein Leutnant stellte sich nach seinem Bunkerdienst mit starken Zahnschmerzen vor und hatte riesiges Glück. Der Dentist hätte ihm sicher erst mal drei Backenzähne gezogen. So hatte eine Zitrone genügt! Hoffmann erinnerte sich an einen freundlichen, zurückhaltenden und sehr dankbaren Patienten. Fast zwei Stunden hatten sie sich unterhalten: Bernau als Standort, die Umstellung von der Offiziershochschule auf die Truppe und Macken von Vorgesetzten. Der Leutnant hatte sich als ein sehr offener Gesprächspartner gezeigt, war aber immer dann wortkarg geworden, wenn Hoffmann Fragen zum Dienst oder zur Technik anschnitt.

    Dieser sympathische Offizier sollte den Gorilla aus Zimmer B-04 grundlos attackiert und sich einer Straftat schuldig gemacht haben, wie es dieser andere Kerl in der Schwarzkombi angeblich behauptet hatte? Hoffmanns Misstrauen war geweckt. Nachdenklich schob er die Registratur zu. Das braune G-Buch wanderte in die mittlere Schublade des beige gestrichenen Blechschrankes mit den zwei abschließbaren Glastüren. Hoffmann fiel auf dem Deckel noch ein eingekreistes Kürzel auf. „E-K-SB" stand da in einem nicht ganz geschlossenen Kringel.

    „Wie ist die Lage?"

    „Ohne Befund, Genosse Hauptmann!", versuchte Helm hinter dem Schiebefenster der Aufnahme einen Scherz, blickte aber sofort wieder zur Eingangstür. Von dort drohte Unheil, daran gab es inzwischen keinerlei Zweifel mehr.

    Knirschend drehte sich der einfache Schlüssel in dem Schloss an der Tür zu B-06. Hoffmann drückte die Klinke aus schwarzem Bakelit vorsichtig nach unten. Durch die zwei großen Barackenfenster flutete das Licht der Sommersonne im Übermaß in den spartanisch eingerichteten Raum. Die Helligkeit schmerzte nach der dämmrigen Atmosphäre des Flurs. Der Stabsarzt zog die eine Gardine zu, die andere fehlte, soweit er sich erinnern konnte, schon immer.

    „Danke! Sobald die gleißende Helligkeit weg war, ließen die Kopfschmerzen nach. Leutnant Tanner lag bereits seit zwei Stunden hier auf dieser Pritsche. In seinem Kopf drehte eine Dampflok mal langsamer und mal wieder schneller ihre Runden. Manchmal pfiff sie auch kurz, dann konnte er nicht anders, als sein Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen. Die Wirkung der Spritze hatte nachgelassen. Die Gedanken wurden etwas klarer und die Schmerzen meldeten sich der Reihe nach zurück, zuerst unter der Schädeldecke, dann in den Schultern und nun noch am Hals. Tanner hatte versucht, seine Lage zu verändern, das aber schnell aufgegeben. Er blickte in das Gesicht des „Wunderdoktors, der ihn schon einmal von fiesen Schmerzen befreit hatte.

    Damals hatte ein Speichelstein regelrechte Krämpfe im Kiefergelenk verursacht. Er hatte seinen 24-Stunden-Dienst im Bunker trotzdem durchgezogen und sich innerlich schon auf die Zange des Zahnarztes vorbereitet.

    Da hatte dieser Arzt, der jetzt im Stehen den Puls kontrollierte, sich aus der Küche eine Zitrone bringen lassen und diese quälend langsam aufgeschnitten. „Schauen Sie mir genau zu. Genießen Sie den Schmerz, der ist ein gutes Zeichen!"

    Tanner waren damals bei der Beobachtung des zeitlupenhaften Sezierens der Zitrone die Tränen in die Augen geschossen. Der Schmerz hatte sich noch mal deutlich verstärkt und war dann plötzlich wie weggeblasen gewesen. Aus Tränen des Leidens waren Freudentränen geworden. In tiefer Dankbarkeit hatte er sich mit dem sympathischen Arzt noch lange unterhalten. So hatte er auch erfahren, dass dieser seine Dissertation über den Einsatz der Sonografie bei Erkrankungen der Speicheldrüsen geschrieben hatte. Den Speichelstein des Leutnants hatte er aber ganz ohne Ultraschall erkannt und mit dem Aufschneiden der Zitrone ausgetrieben.

    „Ihr Puls ist normal, der Blutdruck hat sich auch wieder erholt", hörte Tanner seinen Arzt sagen. Die Worte wurden von einem permanenten schrillen Ton überlagert, der nun schon seit Minuten zwischen den Ohren pendelte.

    „Sie waren mindestens eine Viertelstunde ohne Bewusstsein! Mit beiden Händen hielt der Arzt Tanners Kopf von hinten umfasst und bewegte ihn langsam nach rechts und links. „Ein starker Bluterguss am Hals rechts. Den Wirbeln ist nichts passiert. Die Schultermuskulatur wirkt gezerrt, noch ein Bluterguss! Der Arzt stand an der mit blauem Kunstleder bezogenen Liege und versuchte einen Scherz. „Bis zur Hochzeit ist das alles wieder gut!"

    „Hoffentlich!", kam es leise über Tanners Lippen.

    „Kann ich Ihnen helfen? Was ist dort draußen passiert? Mit wem haben Sie sich da angelegt?", sprudelten flüsternd die Fragen. Hoffmann lief es beim Gedanken an das Fernschreiben noch mal kalt über den Rücken.

    „Ich - weiß - es - nicht!", brachte Tanner jetzt ebenfalls flüsternd hervor.

    „Zumindest haben Sie einem Gorilla das Nasenbein gebrochen!", wollte Hoffmann seinem Patienten auf die Sprünge helfen und deutete dabei auf die Wand mit dem Spiegel über dem Waschbecken.

    Tanner begann, den Kopf zu schütteln, ließ das aber schnell, als ein stechender Schmerz aus der Halsgegend wie ein Pfeil bis hinauf zur Schädeldecke schoss. „Ich wollte doch nur die MVM stoppen."

    „Die MVM?"

    „Ja, die amerikanische Militär-Verbindungs-Mission!"

    „Hier bei uns?"

    „Zwei Mann in einem Jeep, einem Messfahrzeug im Wald zwischen Objekt A und D. Ich hatte 24-Stunden-Dienst im Bunker. Gestern kam dann der Befehl, dass ich mich heute bis 12.00 Uhr an einem anderen Standort melden soll, um dort die technische Wartung an einer P…, an einer Station durchzuführen. Das war allerdings aus mehreren Gründen merkwürdig!"

    „Erzählen Sie!"

    „Kann ich nicht!"

    „Gut!"

    „Da mir wenig Zeit blieb, bin ich gleich nach der Dienstübergabe aufs Rad. Am Abzweig Richtung Ladeburg sah ich weit drin im Wald irgendetwas blinkern."

    „Dort ist doch Sperrgebiet?"

    „Genau, und Waldbrandwarnstufe IV außerdem. Ich habe mein Rad abgestellt und versucht, näher ranzukommen. Hinter einer Wurzel konnte ich in Deckung gehen, bevor die mich entdeckt haben."

    „Wer?"

    „Ich hatte vermutet, die Amis. Es war ein grüner Range Rover!"

    „Kann es nicht auch ein UAZ von den Freunden gewesen sein?" Hoffmann kannte sich mit den Fahrzeugmodellen etwas aus. Er wusste, dass die Militärfahrzeuge der Amis genauso altertümlich aussahen wie die russischen.

    „Nein, es war eine MVM der Amerikaner - Amiflagge und die 26 oder 28 auf dem Kennzeichen."

    „Ok und dann?"

    „Die hatten als Messantenne einen Parabolspiegel aufgebaut. Sie wollten meinen P…, meine Station ausspionieren!"

    Hoffmann strich sich über sein etwas groß geratenes Kinn. Das tat er immer, wenn er zweifelte, aber aus gutem Grund nicht den Kopf schütteln wollte. Erst vor zwei Stunden hatte er sich gleich mehrfach übers Kinn gestrichen. Der Politnik hatte ausgiebig über die Gefahren konterrevolutionärer Elemente in den Bruderstaaten referiert und die Vision eines „Sozialismus in den Farben der DDR" als zwingend siegreich gepriesen.

    So gern er dem Häufchen Elend da auf der Pritsche auch glauben wollte, es gelang ihm nicht. Er wusste nicht viel über das, was im sogenannten Objekt D vor sich ging, aber spannender als diese Funktechnische Abteilung waren doch allemal die neun Standorte mit den Raketen. War es nicht in Badingen gewesen, wo ihm ein Sanitäter unter vier Augen ausgeplaudert hatte, es würden dort SS-20 stationiert?

    Das sind doch eher hochwertige Spionageziele als die Radaranlagen! Obwohl, der Bunker….

    Leutnant Tanner zog seinen rechten Unterarm auf den Brustkorb hoch. Schmerzen durchzuckten sein Gesicht. „Ich bin mir ganz sicher. Mehr kann ich dazu nicht sagen!"

    „Ok, wir kennen uns lange genug. Was passierte dann?"

    „Ich hatte überlegt, wie ich den Jeep an der Flucht hindern könnte. Dazu fiel mir nichts ein, was wirklich funktioniert hätte. Die einzige Chance wäre ein Überraschungsangriff gewesen. Ich wollte die gut 15 Meter vorsprinten und hatte gehofft, dass sie mich erst spät bemerken und ich die Chance habe, die Messantenne zu erbeuten. Damit hätten sie keine Ergebnisse gehabt und die Antenne wäre ein Beweis für die Spionage der Amerikaner gewesen!"

    „Aber die waren schneller?"

    „Ich weiß nicht. Die saßen noch in ihrem Jeep, als ich aufgesprungen bin. Ich habe im selben Moment ein Geräusch hinter mir gehört und wollte mich gerade umdrehen, als eine schwarze Gestalt in meine Richtung sprang. Ich konnte mich kurz wehren, dann hat er mich zu Boden gerissen …, Tanner zögerte nachdenklich, „und da war noch eine schwarze Gestalt, glaub ich! Er stöhnte kurz auf. „Dann weiß ich nichts mehr. Aufgewacht bin ich erst wieder hier. Wer war das?"

    Hoffmann war kurz versucht, seinen Patienten in den Inhalt des geheimnisvollen Fernschreibens einzuweihen, verwarf den Gedanken aber sofort und zuckte stattdessen mit den Schultern. „Wenn Sie das nicht wissen! Er widerstand auch der Versuchung, über den zweiten Offizier, über den mit der Nase, zu plaudern. „Hören Sie, ich weiß nicht, was das hier alles bedeuten soll. Ich werde Ihnen aber helfen, soweit das in meiner Macht steht.

    Doch die Macht haben in dem Fall ganz gewiss andere!

    3. Kapitel

    „Grobe Fehler werden oft, wie dicke Seile, aus einer Vielzahl dünner Fäden gemacht."

    Victor Hugo

    „Bis 13.00 Uhr wollen die Spezialisten versuchen, eine Strategie zu entwickeln, wie die Kuh wieder vom Eis kommt!"

    Der dickliche Major Vetter beendete gerade sein unerfreuliches Telefonat mit seinem Vorgesetzten, als Mummert am Türrahmen des offenen Besprechungsraums anklopfte. Vetter fuhr herum, rot im Gesicht mit blutunterlaufenen Augen.

    Er sieht heute aus, wie ein Stier!

    Als dieser Gedanke Mummert durchzuckte, schnaubte Vetter schon los. „Sie Idiot, Sie dämlicher! Wie konnte so was nur passieren? Sind Sie Anfänger?"

    Mummert, der in seiner Schwarzkombi mit hängenden Schultern immer noch im Türrahmen stand, straffte sich. Vetter lehnte an dem quadratischen Besprechungstisch mit der Sprelacartplatte. Hinter ihm auf einem der Alustühle hockte ein Oberleutnant, den Mummert noch nie gesehen hatte und dem die Szene offenbar recht peinlich war. Schräg über Vetter hing nicht wie üblich das Konterfei des Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretärs, sondern eine nicht mehr ganz aktuelle Fotografie vom ewigen Chef, dem anderen Erich. Mummert wusste immer noch nicht, weshalb die Aktion von heute Morgen einen derartigen Zornesausbruch heraufbeschwor.

    „Verschwinden Sie! 13.00 Uhr, Cottbus!", presste Vetter heraus, um sich dann auf einen der Stühle fallenzulassen. Sein rundes Gesicht verfärbte sich jetzt ungesund violett. Der Oberleutnant blickte immer noch betreten auf seine nicht vorhandenen Notizen. Mummert trat grußlos ab.

    Das kommt von dieser verdammten Geheimniskrämerei!

    Klaus Mummert könnte platzen vor Wut. Er straffte sich in seiner ungewohnten Verkleidung und wollte nur noch weg hier. Ein übereifriger Kontrollposten verlangte sogar die Rückseite des Ausweises zu sehen und blickte dem merkwürdigen Major nach, bis dieser bereits umständlich seinen Lada bestiegen hatte und vom Parkplatz rollte. Klaus Mummert musste sich beeilen.

    ---

    „Wir sollen zwei Verletzte überführen, einen Leutnant Tanner und einen Patienten, der mit ihm gemeinsam eingeliefert wurde, dazu alle Papiere." Der schlaksige Feldwebel überragte Helm um einen reichlichen Kopf. Er hatte eng stehende Augen und den Anflug eines Dreitage-Bartes.

    Lass Dich so nur nicht von Rockstroh erwischen, sonst gehst Du in den Bau, dachte Helm, sagte aber: „Ich hol gleich mal den Stabsarzt!"

    „Den Namenlosen können Sie mitnehmen. Papiere gibt es eh keine."

    „Und der Leutnant, Genosse Hauptmann?"

    „Leutnant Tanner bleibt hier, der ist nicht transportfähig!, und im Davoneilen, „Helm, Sie helfen beim Verladen, damit hier wieder Ordnung einzieht!

    Unschlüssig tappte der fremde Feldwebel hinter Helm her. Er würde gern telefonieren, sich absichern, doch das hatte irgendwie so endgültig geklungen: „…nicht transportfähig!"

    „In welches Krankenhaus fahrt ihr eigentlich?", wollte Helm wissen, um überhaupt etwas zu sagen.

    „Krankenhaus? Nee, Cottbus - vergiss es!"

    Helm fragte nicht weiter. Er half dem Namenlosen noch bis

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