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Office Boy
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eBook302 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Robert Lenz ist 24 Jahre alt und arbeitet als Angestellter in einem Großhandelsunternehmen für Motorenersatzteile mit angeschlossener Servicewerkstatt. Er hasst seinen Job, seine Kollegen und seine eigene Abhängigkeit hiervon so sehr, dass er sich in eine Fantasieidentität flüchtet. Office Boy, wie er sein Gedankenkonstrukt nennt, ist nicht nur der kompetenteste Drehstuhlakrobat, den eine Schreibstube je gesehen hat, sondern obendrein auch noch der Inbegriff all dessen was Robert selbst nicht ist. Er kämpft gegen alltägliche Ungerechtigkeiten und gegen das Fehlverhalten seiner Mitmenschen, um eine Welt zu schaffen, die vor allem von Eigenverantwortlichkeit geprägt ist. Eine Welt, in der Robert nur allzu gerne leben würde. Allerdings weiß Robert im Gegensatz zu seinem Alter Ego nicht, wie er sich eine solche Welt schaffen soll. Er irrt durch sein Leben und hat außer abstrusen Rockstarphantasien keinerlei Ziele. Robert leidet dermaßen unter seiner Arbeit in der Seelenmühle, dass er einen festen Termin im Therapiekalender von Frau Doktor Sperber-Nagel hat. Während es den meisten Männern in seinem Alter bereits nach wenigen Monaten gelingt sich von ihren Ex-Freundinnen zu lösen, dreht sich Roberts Gefühlswelt jedoch auch Jahre nach der Trennung noch um seine ehemaligen Geliebten. Aus diesem Grund fällt es ihm auch einigermaßen schwer eine Beziehung mit Eva einzugehen, obwohl sich die zwei ihrer Gefühle füreinander äußerst sicher sind.Office Boy beschreibt das Arbeits- und Privatleben des Protagonisten Robert Lenz auf tragisch-komische Weise. Handlungsorte sind neben der eigenen Wohnung und der Psychotherapiepraxis seiner Therapeutin vor allem dessen Arbeitsstelle. Zentrales Thema der Handlung ist das Spannungsfeld zwischen Realität und imaginierter Scheinwelt, in dem sich die Hauptfigur bewegt. Nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen zwischen verzweifeltem Kopfschütteln und herzhaftem Lachen kann Robert sich am Ende nicht nur endlich wieder über leidenschaftliche Begegnungen außerhalb seiner Fantasie freuen, sondern auch darüber einen Entschluss gefasst zu haben, der seine Lebensziele ein wenig realistischer gestalten wird und ihn endlich aus seinem verhassten Job befreit.
SpracheDeutsch
HerausgeberSelbstverlag
Erscheinungsdatum13. Sept. 2021
ISBN9783985510689
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    Buchvorschau

    Office Boy - René Feldvoß

    Take This Job And Shove It

    Es begann wie an jedem verdammten Morgen in den letzten zweieinhalb Jahren.

    „Morgen."

    „Morgen."

    „Morgen."

    „Guten Morgen."

    Robert hasste es. Nicht nur, weil es ihn wurmte tagtäglich einer Tätigkeit nachzugehen, die er verabscheute, sondern auch, weil er sich an diesem Ort so fehlbesetzt fühlte wie der Papst auf dem Christopher Street Day.

    Er war 24 Jahre alt, knapp 1,80 groß und hielt sich selbst für überdurchschnittlich intelligent. Schließlich wird man nicht ohne Grund schon mit fünf Jahren eingeschult. Lesen und schreiben konnte er bereits vor seiner Schullaufbahn, worauf er sich einiges einbildete.

    Eine dünne Drahtgestellbrille, die ihm ständig von der Nase rutschte, zierte das kantige Gesicht. Sein Haar war von einem recht dunklen braun, das manch Unwissender fälschlicherweise für schwarz hielt und stets akkurat nach rechts gescheitelt.

    An guten Tagen, die äußerst spärlich gesät waren, hatte er einen naiv-hoffnungsvollen Gesichtsausdruck, ansonsten wirkte selbst der Versuch eines Lächelns wie die Musterstudie einer miesepetrigen Leidensfratze.

    Leider hatte Robert schon seit einiger Zeit mit einem eklatanten Schuppenproblem zu kämpfen, was sich auch sehr deutlich auf seinem Hemd abzeichnete, das vorzugsweise hellblau oder, wie an diesem Montagmorgen, senfgelb war. Diese von Geschmack zeugende Oberbekleidung rundete er, modisch selbstbewusst, mit blauen Jeans und strahlend weißen Turnschuhen ab.

    Normalerweise hätte man einen adretten jungen Mann wie ihn in den Großraumbüros einer renommierten Versicherungsfirma erwartet. Doch stattdessen fristete er sein Dasein in dieser schäbigen Treckerinstandsetzungsklitsche.

    Und dann diese verfluchte aufgesetzte Freundlichkeit H.s! Musste er auch noch „guten" Morgen sagen? Und dabei war es gerade einmal 7:04 Uhr. Viel zu früh, um überhaupt irgendetwas gut finden zu können, erst recht an einem so beschissenen Ort wie diesem und schon gar nicht wenn H. etwas sagte.

    Eine durch und durch indiskutable Person dieser H., mit seinem ekelhaften Schnauzbart, diesem Relikt aus längst vergangenen Zeiten, von denen er offenbar keinen Abschied nehmen konnte oder wollte und der aussah wie eine jahrzehntelang abgenutzte Schuhputzbürste.

    H., mit seinem verquollenen, fettigen Gesicht und den kleinen Schweinsaugen hinter der deplatziert wirkenden Brille. Dazu diese ewig dreckigen Hände, die andauernd mit irgendwelchen kleinen Wunden übersät waren.

    Und dann noch T., den Robert eigentlich noch am ehesten von diesem inkompetenten Haufen mochte. Dennoch machten ihn seine abscheulich schmalen, hervorstehenden Lippen und die immerzu wie irre blinzelnden Glubschaugen zu einem durch und durch unsympathischen Zeitgenossen. Wäre er T. nur zufällig auf der Straße begegnet, während dieser wieder eines seiner Liedchen vor sich hin pfiff und mit einem unpassenden Text versah, käme ihm zu allererst der Gedanke bei T. handele es sich um einen einschlägig vorbestraften Sexualstraftäter. Mit seinem hutzelmännchenartigen Gebaren und der unangenehmen Fistelstimme komplettierte er diesen nicht gerade positiven Eindruck.

    Die Blechhütte in der er jeden Tag neun Stunden seiner kostbaren Zeit absaß, war nichts weiter als eine ordinäre Werkstatt mit gerade einmal vier Mitarbeitern. Und eigentlich noch nicht einmal das. Vielmehr war sein Halbtagskerker nichts weiter als die Außenstelle eines regional semierfolgreichen Großhandelsunternehmens für Baumaschinen- und Traktorersatzteile mit angeschlossener Servicewerkstatt.

    Doch diese Filiale war lediglich theoretisch eine Handelsniederlassung. In Wirklichkeit tobten sich hier nur die beiden Landmaschinenschlosser H. und T., sowie der nicht wesentlich höher qualifizierte Niederlassungsleiter K., nach Herzenslust in der Baggerhalle aus, während er ein einsames Dasein im so genannten „Büro" fristete.

    Dieses linoleumbeklebte Loch war lediglich durch ein lächerliches Holzgestell mit darin eingesetzten Fensterscheiben vom ständig lärmenden Wirkungsbereich seiner Kollegen abgetrennt. Nicht nur, dass er somit deren ewig monotones Treiben permanent vor Augen hatte, sein Blick wurde auch immer und immer wieder auf ein ganz besonderes Werkzeug gelenkt, das zentriert vor seinem Schreibtisch aufragte.

    Vielleicht drei oder vier Meter Luftlinie trennten ihn von dem faszinierenden gelben Gerät, das ihn aber auch gleichzeitig an seine fatale Fehlentscheidung erinnerte, eine Stelle in dieser Seelenmühle angetreten zu haben. Dieser gelbe Kran war oft die einzige Aussicht, die er über Stunden hinweg hatte. Stand ein Bagger oder Radlader in der Halle, versperrte dieser den trostlosen Blick durch das große Rolltor am Ende der Werkstatt, wo Robert die Jahreszeiten an sich vorbeiziehen sah.

    Im Laufe der Wochen, Monate und mittlerweile sogar Jahre, hatte Robert dieses ekelhafte Stück Metall genau beobachten können. Es wurde von einem Elektromotor angetrieben, der ein nervtötendes „ÄÄÄÄÄÄÄ von sich gab, wenn man den daran hängenden Haken mittels der seitlich am Arm baumelnden Steuereinrichtung auf oder ab bewegte. Um den Schlitten vor oder zurück zu bewegen, musste man ein kratzendes „SCHUUUSCH in Kauf nehmen.

    Zwei Tonnen konnte das Ding heben, obwohl keiner der Motoren die dort drangehängt wurden jemals mehr als eine Tonne gewogen hätte. Aber die hauseigenen Kretins zweckentfremdeten Roberts speziellen Freund ohnehin fortlaufend. Um sich vor der Herbeischaffung eines Wagenhebers zu drücken, wurde der Kran dazu genötigt die voll bepackten Kundendienstwagen zwecks Reifenwechsel anzuheben. Robert hatte keinen Zweifel daran, dass diese, inklusive des schweren Spezialwerkzeugs und den haufenweise gehorteten Ersatzteilen darin, weitaus mehr als zwei Tonnen wiegen würden.

    Des Weiteren konnte sich die Hebemaschine auch noch drehen und zwar um 360 Grad, was Robert immer wieder erstaunte, denn die Abmessungen der Halle waren so knapp berechnet, dass er oft das Gefühl hatte, der schwefelfarbene Arbeitsarm würde geradewegs in eine der Blechwände hinein rasen, wenn man den für die Drehung vorgesehenen Knopf drückte.

    Es machte „BRRRRRT", während die Maschine sich um ihren, fest im Fundament verankerten, Stahlfuß drehte. Ferner klebte eine große TÜV-Plakette an der runden Säule, die dem Kran eine unbedenkliche Nutzung bis zum März 2007 bescheinigte.

    Man zählte den elften Monat des Jahres 2006 und Robert fieberte besagtem Datum bereits entgegen, seit er angefangen hatte hier zu arbeiten. Er hatte diesen Termin nach ein paar Wochen der Tristesse schon recht bald zu seinem persönlichen Highlight auserkoren. Es würde fast so werden wie im letzten Jahr, als die Wartungscrew für das Rolltor anrückte und ihn eine ganze Stunde lang damit fesselte, was man so alles an einem popligen Tor inspizieren konnte. Allein das Herbeisehnen dieses erwartungsvollen Moments ließ ihm ein ums andere Mal deutlich werden was für einen bejammernswerten Arbeitsalltag er hatte. Der intellektuelle Anreiz fehlte völlig. Man verrohte und verdummte, stumpfte ab und litt schließlich an Depressionen und psychosomatischen Stresssymptomen, wenn man nicht rechtzeitig den Absprung schaffte.

    „Ich war noch nicht hinten.", riss ihn K.s sonore Stimme aus seiner kurzen Träumerei.

    K. war Roberts direkter und einziger Vorgesetzter, obwohl die beiden Schrauber H. und T. sich selbst ebenfalls für höhergestellt hielten. Warum gerade K. und nicht einer der anderen beiden Trottel diesen Posten bekleidete, wollte Robert bis heute nicht so ganz klar werden. K. hatte keinerlei kaufmännische Ausbildung genossen, und war noch nicht einmal Schlossermeister oder etwas Vergleichbares.

    Er war sogar der jüngste dieser armseligen Gestalten und demnach auch nicht unbedingt der Erfahrenste der drei. Aber irgendein unwissender Schwachmat aus der Zentrale hatte ihn vor gut zwanzig Jahren hier eingesetzt und diese Entscheidung wurde in den vergangenen zwei Dekaden offenbar auch nie wieder hinterfragt. K.s Gesicht wirkte ständig zerknautscht und seine Art sich zu bewegen hatte etwas hölzernes, so als sei er sich bei jedem Schritt unsicher, was seine beiden Beine eigentlich tun sollten. Überhaupt machte er bei vielen Dingen, die er zum ersten Mal zu bewältigen hatte einen ratlosen Eindruck. So war es auch erst kürzlich bei der Inbetriebnahme des nagelneuen Navigationsgerätes für seinen Dienstwagen gewesen. Zwei Wochen lang führte das vertrackte Ding ihn in die Irre, bis er endlich durchschaut hatte, was die Knöpfe „On und „Select zu bedeuten hatten. Einfach die Bedienungsanleitung zu studieren war selbstverständlich keine Option gewesen! Der herkömmliche Handwerker wirkte absichtlich desinformiert, um den Eindruck zu erwecken, auch ohne viel nachzudenken ein angenehmes Leben führen zu können.

    Nicht so jedoch bei Abläufen die er bereits seit Jahren kannte. Diese hatten sich auf immer und ewig in sein Hirn eingebrannt. Sollte er eines Tages auf dem Sterbebett liegen und jemand würde ihn nach dem Spaltmaß irgendeines Motors fragen, so könnte er diese Information in seinen letzten Atemzügen prompt herunterbeten.

    K.s scheinbar motivationslose Aussage war als Aufforderung an Robert zu verstehen, die am Freitag bestellten Ersatzteile aus dem Anlieferungsraum zu holen, wohinein der Nachtkurier stets die Kartons platzierte und in den Robert auch die zum versenden vorgesehenen Pakete immer ablud, bevor er nach Hause fuhr.

    Wortlos schnappte er sich den Schlüsselbund mit dem gelben Ring, an dem sich auch der Schlüssel für den Briefkasten befand, den Robert ebenfalls würde leeren müssen. Montags war der Kasten immer randvoll, da der Postbote es freitags meistens nicht mehr schaffte die Briefe rein zu bringen, da bereits um 12:45 Feierabend war und am Samstag erst gar nicht gearbeitet wurde.

    Der Weg war jedes Mal der gleiche. Hinter seinem Schreibtisch, der nicht viel mehr war als ein abenteuerlich zusammengezimmertes Provisorium aus Brettern und Metallstangen, ging es am blechernen Aktenschrank vorbei. Dann links zum Büroausgang, durch die Tür und in den Flur mit der großen Übersichtskarte an der Wand, auf der sämtliche regionale Niederlassungen seines Brötchengebers eingezeichnet waren. Von hier aus schließlich nach draußen, dann rechtsherum an der Halle entlang, bis kurz vor den Drahtzaun, der das Gelände vom benachbarten Grundstück einer Gummifabrik trennte. Heute hatte Robert Glück. Die Produktion lief noch nicht auf Hochtouren. An manchen Tagen stank es vor der Tür so sehr nach verbranntem Gummi, dass man sich eine Duftbäumchenmanufaktur auf der anderen Straßenseite herbeisehnte.

    Jedenfalls befand sich dort die Tür zum Heizraum, welche schon arg verrostet war und beim öffnen ein beunruhigendes Knarren von sich gab. Robert hatte das Gefühl, sie ging jedes Mal ein klein wenig schwerer auf. Drinnen roch es nach Moder und irgendwelchen nicht näher definierbaren Chemikalien. Auf einem kleinen Rollwagen, der bereits ein infernalisches Geklapper entfachte, wenn er nur leicht bepackt war, lagen die zwei Kartons.

    Und wieder war Robert sein wahnwitziges Glück hold, denn einer der Kartons sah ziemlich schwer aus und er erinnerte sich wieder, am Freitag noch vier Sätze Zylinder und Kolben bestellt zu haben, die einiges auf die Waage brachten. Nur schnell raus aus diesem Drecksloch dachte er sich, während der Wagen unrund über den gepflasterten Hinterhof rumpelte, bis zum Eingangsbereich, in dessen Schutz sich der Briefkasten befand.

    Irgendwelche Randalemacher hatten die rechte untere Ecke bereits vor Jahren versucht aufzubiegen, was ihnen jedoch misslungen zu sein schien. Vielleicht hatten sie aber auch schon nach kurzer Zeit die Lust daran verloren. Robert fragte sich, warum überhaupt jemand Interesse daran hätte haben sollte. Hier kamen nur belanglose Rechnungen und interne Hauspost aus der Zentrale an. Zwei große Umschläge, vermutlich Rechnungen, und ein kleines Briefchen förderte er schließlich zutage. Der Wagen überwand die Schwelle an der Eingangstür wie gewöhnlich nur durch massive Gewaltintervention.

    Der Weg führte wieder zurück ins Büro, vorbei an H., der mittlerweile seinen Kaffee hörbar in sich hinein schlürfte. Seit jeher hockte H. seitlich an Roberts Schreibtischfront, so dass er T. direkt gegenübersaß, welcher in der gleichen Haltung den allmorgendlichen Koffeindrink in sich rein kippte.

    K. selbst hockte vor seinem Computer, den er eher rudimentär, wenn überhaupt, beherrschte. Vermutlich checkte er die E-Mails. Er machte dann immer so ein angestrengtes Gesicht, als würde er etwas ungemein Wichtiges tun, das nur er und kein anderer bewältigen konnte. Dabei waren die Mails die ihn erreichten so wichtig wie eine Lieferung Pferdedung in Kambodscha. Dreiviertel davon waren, trotz des neuen hoch gelobten Spamfilters, Müll und der Rest absolut nichtige Mitteilungen des Geschäftsführers, die sich meist damit befassten, wo welcher Lufterfrischer im Großraumbüro der Zentrale aufzustellen sei, oder wer das „Rauchen verboten" Schild aus der Herrentoilette entwendet hatte.

    Eine permanent offenstehende Tür, die Robert tatsächlich noch nie geschlossen vorgefunden hatte, führte ins Lager. Es bestand aus fünf doppelseitigen Regalen, von denen die Hälfte leer stand, oder lediglich den Staub der vergangenen Jahrzehnte verwaltete. Oben an den Enden waren die Regale mit kleinen Pappschildchen von eins bis elf beschriftet. Der Rollwagen wurde immer zwischen den Regalen vier und fünf geparkt. Warum? Das spielte keine Rolle. Robert hatte auch noch nie gewagt danach zu fragen. Generell galt als oberste Regel: „Nicht fragen! Akzeptieren!"

    Wenn man das erst einmal begriffen hatte, war es auch nicht mehr weit, bis man sich vollends seinem Schicksal ergeben konnte und den Irrsinn nicht mehr hinterfragte.

    Doch bevor er sich daran machte die Kartons mit dem stumpfen Teppichmesser aufzuschlitzen, führte ihn sein Routineweg noch bis jenseits des elften Regals in einen kleinen Abstellraum, in dem Besen und Kehrblech, sowie dreckiger alter Mist, wie z. B. ein verschimmelter Eimer oder spinnennetzbedeckte Getränkekisten lagerten.

    An der Wand hinter der schief in den Angeln hängenden Tür war ein massives Holzbrett in die Wand geschraubt worden, das mit vier Nägeln verziert war und als Garderobe fungierte. Die hieran hängenden Hosen und Jacken waren während der gesamten Zeit, die Robert bereits seine Jacke an diesem Brett aufhängte, nicht ein einziges Mal benutzt worden. Warum er gerade diesen Abort als seine persönliche Kleiderkammer benutzte war ihm selbst auch nicht so ganz klar.

    K. hatte ihm schon mehrmals nahegelegt, seine Jacke zu denen der anderen in den Aufenthaltsraum, der sich gegenüber dem Büroeingang befand, zu hängen. Aber die Macht der Gewohnheit ließ Robert immer wieder hinter die Regale verschwinden.

    Jetzt konnte Robert endlich die Ersatzteile auspacken und darüber staunen, mit was für einer unmotiviert zusammengeschusterten Ansammlung von Metall und Plastik so unverschämt viel Geld zu verdienen war. Mit geübtem Griff entfernte er die stabilisierenden Plastikbänder um die Kartons herum und stieß die Schwingtür zur Werkstatt auf, die ein Geräusch produzierte das sich auf ewig in seinen Gehörgängen festgesetzt hatte.

    „KNAA-KLACK machte sie, während Robert die Tür mit einer Hand aufhielt und mit der anderen die Mülltonne öffnete, an deren Boden sich der Dreck der letzten Wochen und Monate festgesetzt hatte und trotz der zweiwöchentlichen Leerung auch nicht mehr verschwand. Schnell schmiss er die Plastikbänder hinein und ließ die Tür, „KNAA-KLACK, wieder hinter sich zu schwingen.

    Die heutige Ausbeute umfasste neben den Kolben und Zylindern ein paar Keilriemen, ein Sammelsurium an Dichtringen und zwei Austauscheinspritzdüsen. Robert legte die Ersatzteile auf den Tresen, der nichts weiter war als ein massives Holzbrett auf einem ebenso rustikalen Gestell aus Spannholzplatten. Ursprünglich war die Oberfläche einmal weiß lackiert gewesen, aber der nicht gerade pflegliche Umgang hatte an den meisten Stellen das blanke Holz zutage gefördert. Noch dazu war alles mit altem, verkrustetem Öl zugeschmiert, so dass der Eindruck entstehen musste, die hier gehandelten Waren seien ausschließlich doppelt und dreifach wiederverwerteter Müll.

    Vom Gegenteil zeugten die blitzsauberen Lieferscheine, die Robert aus den aufgeklebten Plastiktaschen herauszog, um sich damit auf den Rückweg zu seinem Arbeitsplatz zu machen. Die übrige Unordnung auf der weißen Platte ignorierte er, wohlwissend dass es keinen Sinn hatte eine Ordnung zu schaffen, da die gedankenlosen Mechaniker einfach alles, was sie gerade nicht mehr benötigten, dort drauf warfen, nur um es später dann verzweifelt zu suchen. Im Büro war bereits eine dieser Unterhaltungen im vollen Gange, wegen derer Robert sich am liebsten eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte, damit er diesen Stuss nicht mehr ertragen musste.

    Für gewöhnlich ging es um das sonntagabendliche reißerische Actiondrama im Privatfernsehen, sowie Anne Will mit ihren unumstößlichen Wahrheiten. Besonders T. hatte an dieser demagogischen Sendung einen Narren gefressen und freute sich den Arsch ab, wenn dieses inhaltslose Politikgeschwafel tags darauf zum Thema Nummer Eins erkoren wurde. Doch an diesem Tag sollte alles noch schlimmer kommen.

    „Was ist los mit Hansa Rostock?", eröffnete T. die Diskussion.

    Er hatte sich an H. gewandt, in dem er einen Experten für sämtliche Mannschaften aus den neuen Bundesländern zu erkennen meinte, da sich nicht nur dessen Heimat dort befand, sondern er zudem auch noch sämtliche Stufen der sozialistischen Erziehung in seinen 54 Lebensjahren durchlaufen hatte. Allerdings hatte H. nicht die geringste Ahnung von Fußball und von den Begebenheiten in der 3. Liga schon gar nicht, was ihn aber nicht davon abhielt trotzdem seinen Senf dazuzugeben.

    „Och, das passiert halt mal", druckste er herum.

    Aus T.s Äußerung las er vermutlich heraus, dass Hansa Rostock am Wochenende verloren hatte und ging nun auch, wie erwartet, vollends darauf ein.

    „Das war jetzt schon das dritte Unentschieden hintereinander, oder nicht?", brachte T. ihn aus dem Konzept.

    Doch seinen entgleisten Gesichtszügen folgten vorerst keine Worte, da K. noch eine viel abenteuerlichere Variante parat hatte.

    „Nee, die haben doch letzte Woche in Karlsruhe 4:1 verloren."

    Damit wollte sich T. nicht zufriedengeben.

    „Waaas?! Das kann ich ja gar nicht glauben. Ich mein der Reporter hat gesagt, die haben jetzt dreimal Unentschieden gespielt."

    Die Wahrheit war eine gänzlich andere, aber das behielt Robert für sich. Richtig Bescheid wusste keiner von den Dreien. Weder über die aktuellen Ergebnisse oder Tabellenstände, noch über die einfachsten Spielmechanismen dieses Ballsports.

    „Jaa? So wird das jedenfalls nichts mit dem Aufstieg.", dröhnte T. erneut.

    „Dann müssen sie eben ein paar neue Spieler kaufen. Was ist mit Frings? Warum holen sie den nicht?"

    H. war wirklich ein Laie in Sachen Fußball. Und dennoch war der Glaube an die Richtigkeit seiner Aussagen unerschütterlich.

    „Ach Frings, meinte K., „den sollten die Hamburger schnell wieder verkaufen. Wieso haben die den Toppmöller damals gehen lassen? Das ist doch bescheuert den Trainer zu entlassen mit dem man Meister geworden ist.

    Eine solche Verkennung der Tatsachen grenzte schon an Bildungsanarchie. Die nächsten Minuten blendete Robert größtenteils aus, um sich voll und ganz darauf konzentrieren zu können, seinem Computer beim hochfahren zuzusehen.

    Doch schon nach wenigen Minuten schwenkte das Gespräch wieder auf das Thema um, auf das es immer hinauslief. Das erbärmliche Leben dieser Menschen hatte einfach keinen anderen Inhalt. Sie waren nicht glücklich, wenn sie nicht über das sprechen konnten, was ihr ganzes Dasein legitimierte und ihnen den einzigen Sinn auf diesem Planeten gab: Ihre Arbeit.

    „Weißt du noch wo wir letztes Jahr bei diesem Radlader in Grabow waren?", platzte es aus H. heraus, als hätte er es gar nicht abwarten können, endlich wieder über Motoren und Maschinen zu reden.

    Überhaupt kam es Robert oft so vor, als wäre all das andere Gequatsche nur so eine Art verbales Vorspiel, bis sie schließlich zum eigentlichen Akt kamen und sich dabei immer weiter, bis zum Höhepunkt hochschaukelten, um dann in weiteren Details zu versinken.

    „Wieso, was ist damit?", fragte K.

    „Jaaaa…, der hat mich Gestern Abend angerufen. Der Motor hat keine Leistung."

    „Ha! Wie kann das denn sein?, schaltete sich nun auch T. ein, „Da haben wir doch alle Pumpen getauscht und das Ventilspiel neu eingestellt.

    Jetzt ging’s erst richtig los. Ab diesem Punkt war jeder hoffnungslos verloren, der nicht mit den technischen Details und den Eigenarten des jeweiligen Kunden vertraut war. Robert hatte von beidem nicht die blasseste Ahnung. Nicht, dass er sich in den letzten Jahren das eine oder andere hätte aneignen können, aber er wollte das alles gar nicht wissen. Drauf geschissen ob Bauer Piepenbrinks bekackter Trecker von neunzehnhundertachtundfuffzich mit oder ohne Glühwendelkerze lief, oder ob Zylinder 3 seit Jahren stark ölt und mal neu abgedichtet werden müsste. Aber die drei Kasper vor und neben ihm hatten solche Angelegenheiten zu ihrer heiligen Mission auserkoren.

    „Ja, ich sag’s ja nur.", entgegnete ihm H. schnippisch.

    Das forderte T. natürlich heraus. Er lehnte sich mit skeptischer Miene zurück und spielte mit dem Plastikbecher, aus dem er sich zuvor noch den letzten Rest Kaffee gegönnt hatte, an seiner Lippe herum.

    „Na, wenn der da mal nicht am Regler rumgespielt hat. Du kennst doch die Bauern."

    K. zündete sich eine seiner stinkenden Zigaretten an. Er war übrigens der Einzige in dem Laden, der rauchte. Ein Umstand den vor allem Robert zu spüren bekam, da nur er den ganzen Tag in den blauen Dunstwolken hocken musste. Deutlich hörbar atmete K. den Rauch aus, den sich einzuverleiben vermutlich eine der wenigen Freuden in seinem Leben war. Neben der Arbeit natürlich!

    „Und nu? Hat er gesagt, dass wir vorbeikommen sollen?", wollte K. wissen.

    „Hat er nicht gesagt. Er war nur gerade beim Ölfilterwechseln, da fiel ihm das ein."

    „Hat er ne Nummer dagelassen?"

    „Er sagt die hast du im Computer."

    Die Kunden gingen immer davon aus, dass alles was je mit ihren Geräten passierte „im Computer" war. Für diese geistig Minderbemittelten waren das hellsehende Wundermaschinen, in die man nur hineinsprechen musste, damit alle ihre Wünsche in Erfüllung gingen. Dass aber stattdessen ein irrsinnig unsinniges Warenwirtschaftssystem aus den frühen 90ern dafür sorgte, dass eben nicht alles, ja nicht einmal die wirklich hilfreichen Daten, nachvollziehbar archiviert wurden, das ahnte keiner von ihnen.

    „Irgendwo hab‘ ich die auch", merkte K. an.

    Währenddessen wurde T. unruhig.

    „Was ist mit dir los?, wollte H. wissen, „Musst du wieder was tun?

    „Ich kann mir das nicht erlauben hier nur rum zu sitzen. Wir können ja nicht alle unser Geld so verdienen wie Robert. Ich muss was machen."

    Sekunden später war er bereits in der Werkstatt verschwunden und pfiff vor sich hin.

    Wenn man ehrlich war, hatte er durchaus recht; Robert saß praktisch sieben von seinen acht Arbeitsstunden (zuzüglich einer Stunde offizieller Pause) nur herum und las Zeitschriften. Aber dass er damit Geld verdiente war ein Witz. Er bekam sogar weniger als den ohnehin erbärmlichen Tariflohn. Warum, darüber hatte er sich nie allzu viele Gedanken gemacht. Ihm reichte das Geld trotzdem.

    Wozu hätte er auch viel Geld gebraucht? Die Hauptsache war, dass er seine Miete zahlen konnte und genug zu essen hatte. Er war ein sehr genügsamer Mensch, fast schon ein Asket, der sich oft einfach nur selber geißelte. Weder T. noch die anderen hätten seiner Meinung nach allerdings Grund gehabt, sich über ihre Bezahlung zu beschweren. Roberts Informationen zufolge verdienten diese unfähigen Dilettanten locker das drei- bis vierfache seines Gehaltes. Netto!

    K. vermutlich sogar noch mehr, in seiner Position als Niederlassungsleiter. Genau dieser Umstand war es, der Robert am Gehaltsgefüge so wurmte. Dummheit wurde allem Anschein nach auch noch honoriert. Dabei war H. nicht einmal in der Lage eines der Telefone

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